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Tilman Röhrig

1945 geboren, arbeitet seit 1973 als freischaffender Schriftsteller. Bereits für sein erstes Jugendbuch, “Thoms Bericht"“ wurde er mit dem „Buxtehuder Bullen ausgezeichnet, zahlreiche Auszeichnungen folgten, z.B. der „Deutsche Jugendliteraturpreis“ für „In dreihundert Jahren vielleicht“, der „KölnLiteraturpreis“ und der „Große Kulturpreis des Rheinlandes“

Sie finden mich im Internet unter:
http://www.tilman-roehrig.de

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editon til
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Röhrig, Tilman:
Der angebundene Traum / Tilman Röhrig
Neuauflage
ISBN 978-3-8423-9801-6

Neuauflage
© 2001 by edition til, Tilman Röhrig
Alle Rechte liegen beim Autor
Umschlag: Elke Sinn
Lektorat: Prof. Dr. Peter Conrady
Herstellung: Books on Demand GmbH

Inhalt

Die Spielplatzgranate

Die Erste und die Zweite

Zukunftsträume

Angst vor den Händen

Der Kompromiss

Das andere Milieu

Die Grausamkeit der Spinne

Die Stütze aus Eis

Erfüllte Sehnsucht

Revolution

Ehe man richtig weiß

Ohne Erbarmen

Schuhe haben Gesichter

Durch den Schmerz sehen

Ehe die Trostlosigkeit endgültig wird

Die Hauswolke

Benachteiligt und trotzdem....

Das ungleiche Paar

Gezacktes Entsetzen

Das bunte Sterben

Der angebundene Traum

Die Spielplatzgranate

Als der Krieg begann, läuteten die drei Glocken. Das Läuten war nicht für einen Gottesdienst gedacht. Sie läuteten den Krieg ein. Eine Zeit lang durften sie auch noch zum Gottesdienst rufen, dann nahm man sie ab und goss ein großes Kanonenrohr aus ihnen.

Auf Rädern gerollt kam die neue Kanone an die Front. Der erste Schuss war eine brillante Leistung, und die Soldaten umjubelten die ehemaligen Kirchenglocken. So viel Zustimmung und Begeisterung hatten die drei noch nie erlebt. Sie gaben sich alle Mühe, jeden Schuss zu einem Volltreffer zu machen. Ja, sie jauchzten, wenn sie wieder ein ganzes Haus mit Menschen des Feindes vernichtet hatten. Denn das Jauchzen hatten sie gelernt. Aber es war jetzt nicht mehr der volle, schöne Glockenton, sondern ein mörderisches Krachen und Ächzen.

Nach einem langen Kampftag wurde noch eine neue Granate in das Kanonenrohr geschoben, um am nächsten Morgen gleich schussbereit zu sein.

Die Granate roch den Pulverdampf und fand ihn zu abscheulich, um einschlafen zu können. Überhaupt fühlte sie sich als Granate sehr unglücklich. Bis zur vergangenen Woche war sie eine Turnstange auf einem Spielplatz gewesen. Kinder hatten ausgelassen an ihr herumgeturnt. Die Vorstellung, dass nun ausgerechnet sie Menschen töten sollte, brachte sie fast um den Verstand.

Sie stemmte sich gegen die Enge, klopfte an die Wände des Rohres und bat: „Ich hab in meinem Leben tausende von Kindern glücklich gemacht, denn ich war eine Turnstange auf einem Spielplatz, und ich kann jetzt nicht plötzlich Kinder umbringen. Bitte, schieß mich doch morgen über dein Ziel hinaus. Es darf niemand verletzt werden.“

Die Kanone sprach sonst nicht mit ihrer Munition. Die Worte der Granate erinnerten aber die drei umgeformten Kirchenglocken an ihr früheres Dasein. Sie hörten sich wieder zum Gottesdienst läuten. Sie ahnten wieder die friedvolle Stimmung, dachten an ihre eigentliche Aufgabe – und wurden unruhig.

Böse sagte die Kanone zu sich: „Diese dumme Granate, kommt hierher und macht mich nervös, anstatt an Pflichterfüllung zu denken. Aber man soll nicht sagen, ich hätte mein Kirchenmetall verleugnet.“

Zur Granate sprach sie dann laut: „Ich verspreche dir, dich so weit zu schießen, dass kein Feind getroffen wird.“

Bei Sonnenaufgang feuerte die Kanone die Granate viel zu weit in einen Sumpf.

Mit der Gewissheit, ein gutes Werk getan zu haben, zerstörte sie am selben Tag eine ganze Stadt.

Die Erste und die Zweite

In der Einsamkeit des Meeres. Dort, wo es ganz mit sich allein ist, wo selbst der Himmel nur blau oder verhangen ist, dort wo Möwen nie kreischen, dort geschah es.

Es war gerade Tag geworden. Eine Strömung ließ sich durch einen Sog verwirren, und zurückblieben zwei kleine Wellen.

Spielerisch lief die eine der anderen davon, doch die zweite Welle bemerkte es rechtzeitig und hastete der davoneilenden hinterher. Nach einem Tag besaßen die beiden schon eine weiße Schaumkrone. Die erste rief in dem wilden Auf und Ab der nachfolgenden spottend zu: „Du wirst mich nie erreichen, nie solch eine herrliche weiße Krone tragen und niemals dich so hoch aus dem Wasser erheben wie ich! Du wirst immer die zweite bleiben!“

Damit überließ sie der anderen Fische, Muscheln, Seepferdchen, mit denen sie zuerst gespielt hatte.

Zu Beginn war die zweite Welle sehr traurig, dass sie niemals zuerst mit den Spielgefährten des Meeres herumtollen konnte. Jedoch nach vielen Wellenstunden fiel es ihr auf, dass kein Seepferdchen, kein Fisch oder keine Muschel jemals von der ersten Welle erzählten. Froh und übermütig schaukelten sie in dem schäumenden Gischt. Keiner erzählte je, dass es schöner bei der ersten Welle war, ja, nicht einem schien es aufzufallen, dass sie selbst eine zweite Welle war.

Von nun an berührte sie der Spott der vor ihr hereilenden nur noch wenig.