Peez, Georg / Richter, Heidi (Hg.):
Kind - Kunst - Kunstpädagogik.

Beiträge zur ästhetischen Erziehung

Festschrift für Adelheid Sievert zum 60. Geburtstag im Februar 2004

Frankfurt am Main / Erfurt, 2004

ISBN: 9-783-8482-6821-4

Alle Rechte liegen bei den Autorinnen und Autoren.

Umschlaggestaltung: Barbara Vogt & Michael Schacht, Frankfurt am Main

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

Bezug: über jede Buchhandlung

mit Beiträgen von:

Katharina Bütikofer, Axel von Criegern, Gabriele Faust, Ariane Garlichs, Ina-Maria Greverus, Helga Kämpf-Jansen, Constanze Kirchner, Marie-Luise Lange, Wolfgang Legler, Christiane Maier, Daniela Neuhaus, Georg Peez, Birgit Richard, Karin-Sophie Richter-Reichenbach, Heidi Richter, Horst Rumpf, Doris Schuhmacher-Chilla, Hanne Seitz, Ellen Spickernagel, Jutta Zaremba, Angela Ziesche

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Mit der vorliegenden Festschrift möchten wir unsere Freundin und Kollegin Adelheid Sievert zu ihrem 60. Geburtstag beglückwünschen und ihr für den neuen Lebensabschnitt alles erdenklich Gute wünschen.

Die Autorinnen und Autoren, die sich mit einem Beitrag an diesem Buch beteiligt haben, kommen aus verschiedenen Bereichen der Kunst- und Kulturpädagogik sowie der Kunstwissenschaft und Erziehungswissenschaft. Sie sind mit Adelheid Sievert in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten fachlich ein Stück ihres Weges gegangen. In der vorliegenden Festschrift werden deshalb unterschiedliche Facetten der gegenwärtigen Kunstpädagogik bzw. Kunstdidaktik behandelt, die meist auch mit Adelheid Sieverts Namen aufs Engste verbunden sind. Die Vielfalt dieser aktuellen Positionen wird von den Autorinnen und Autoren in Bezug auf drei Themenfelder entwickelt:

Zunächst geht es in Teil I um fachdidaktische Fragen einer „Ästhetischen Erziehung an schulischen und außerschulischen Lernorten“. Adelheid Sieverts Engagement gilt der Bewusstwerdung, Wertschätzung und Förderung der ästhetischen Anteile von Bildung und Erziehung. Für sie ist ästhetische Erziehung stets eine komplexe - im wörtlichen Verständnis eine „sinn-volle“ - Bildungsaufgabe vor allem im Grundschulbereich. Hierbei richtet sie ihren Blick auf die ästhetischen Zugänge zur Welt sowohl in Bezug auf die Allgemeine Pädagogik als auch in Bezug auf das Gebiet der Kunstpädagogik im Besonderen. Ästhetische Erziehung ist angesiedelt „zwischen Sinnlichkeit, Kreativität und Vernunft“. Erst in einem reflexiven Prozess kann aus einer sinnlichen Empfindung eine ästhetische Erfahrung werden. „Deshalb ist auch die ästhetische Dimension der Wahrnehmung nie auf Dauer abtrennbar von der inhaltlichen Bedeutung des Wahrgenommenen - schon gar nicht für Kinder“ (so Adelheid Sievert in ihrem Aufsatz „Ästhetische Erziehung und Kunst“ im „Handbuch Grundschule“, 1993).

In den Texten dieses Buches, die sich auf die verschiedenen Bereiche des kunstpädagogischen Studiums und der Ausbildung beziehen, werden deshalb die Leserinnen und Leser dazu angeregt, solche Prozesse der ästhetischen Selbst- und Welterfahrung aktiv nachzuvollziehen und zu erkunden, um diese später auch in pädagogischen Situationen authentisch „vermitteln“ zu können.

Die Wechselbeziehungen zwischen der Erziehungswissenschaft und der Kunstpädagogik sieht Adelheid Sievert - und mit ihr die Autorinnen und Autoren dieser Festschrift - für beide Arbeitsfelder als unabdingbar, anregend und belebend sowie erkenntnisfördernd an. In diesem Sinne verfasste Adelheid Sievert im Laufe der Jahre grundlegend wichtige Beiträge insbesondere für erziehungswissenschaftliche Fachlexika und Nachschlagewerke. Mit ihrem Namen ist das Konzept „Mit allen Sinnen lernen“ (ab 1984) untrennbar verbunden.

Kunstpädagogik sollte sich ferner immer auch von ihren Anfängen, von ihren historischen Wurzeln her verstehen. Adelheid Sievert brachte aus diesem Grunde häufig die Förderung des ästhetischen Verhaltens von Heranwachsenden mit der Fachgeschichte in Verbindung - so z. B. mit der Zeichenstunde des 19. Jahrhunderts, der reformpädagogischen Kunsterziehung in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts oder mit dem Kunstunterricht in der noch jungen Bundesrepublik Deutschland. Denn Reformen und Innovationen basieren in wichtigen Anteilen zumeist auf der Analyse des Vergangenen. Gleiches sollte heute mit der Integration der digitalen, inzwischen nicht mehr ganz so neuen Medien passieren - eine Erweiterung der Gegenstandsbereiche des Faches Kunstpädagogik, die Adelheid Sievert seit Beginn der 1990er Jahre in ihre kritisch-konstruktiven Überlegungen mit aufnahm.

In Teil II dieses Buches werden verschiedene „Dimensionen ästhetischen Verhaltens“ sowie Aspekte der „Kinder- und Jugendzeichnungsforschung“ behandelt. Ästhetisches Verhalten umfasst nach Adelheid Sievert sowohl Wahrnehmungstätigkeiten als auch produktive und reflexive Prozesse im weitesten Sinne. Beide Aspekte beeinflussen sich wechselseitig.

Man kommt an der mit dieser Festschrift Geehrten und ihren Forschungen in den letzten drei Jahrzehnten nicht vorbei, wenn es um Fragen der ästhetischen Ausdrucksweisen von Kindern und Heranwachsenden bis zum Erwachsenenalter geht. Früh beschäftigte sie sich mit dem ästhetischen Verhalten von Vorschulkindern als einer bis dahin kaum beachteten Ausgangsvoraussetzung für Kunstpädagogik in der Schule (1975) und schuf damit ein Standardwerk, das noch keine Ergänzung gefunden hat. Aber schon hier wird deutlich, dass nicht nur die schulischen Lernfelder der Kunsterziehung im Blickfeld ihrer Beobachtungen und Forschungen liegen, sondern dass auch die außerschulischen Bereiche, der Alltag mit seinen facettenreichen, durchaus auch ambivalenten ästhetischen Erfahrungspotenzialen, ihr wissenschaftliches Interesse geweckt haben. Ihre Freude an der Unmittelbarkeit und Ernsthaftigkeit ästhetischer Welterkundungen von Kindern, die noch „anders“ und tiefgreifender wahrnehmen können, die sich spontan über Zeichenerfindungen mitteilen und noch fähig sind, zu staunen und ihre Welt mit Kopf, Herz und Hand zu erleben, diese Freude hat sie sich bis heute bewahrt, wohl auch in dem Bewusstsein, dass wir als Erwachsene diese ursprüngliche Form der kindlich-intensiven Weltzuwendung so nicht mehr erreichen. Aber künstlerische Zugänge können uns dabei helfen, Dinge und Erscheinungen unserer gesellschaftlichen und kulturellen Realität sensibler sowie bewusster wahrzunehmen, sie differenzierter zu erfahren und zu erkennen. In diesem Sinne sind viele der Aufsätze in Teil II als Anregung und durchaus auch als Anstoß zu verstehen.

Im Teil III wird unter historischen und aktuellen Bezügen zur Kunst und den Neuen Medien das Thema „Gender und Kunstpädagogik“ fokussiert.

Zu einer Zeit, als die Künstlerinnen, Kunst- und Kulturwissenschaftlerinnen schon längst ihre Ergebnisse in der feministischen Forschung vorweisen konnten, begannen auch die Kunstpädagoginnen, für sich ein neues Forschungsfeld zu eröffnen und öffentlich zu machen. Im September 1990 kam durch die Initiative von Adelheid Sievert die erste Tagung der Kunstpädagoginnen „FrauenKunstPädagogik“ in Frankfurt a. M. zustande. Das war gerade auch die Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs der DDR. Mit der ihr eigenen Aufgeschlossenheit für gesellschaftspolitische Ereignisse und Veränderungen sowie ihrem wachen Interesse an den Lebens- und Arbeitssituationen anderer Frauen und an deren fachlichen Entwicklungsmöglichkeiten bei Wahrnehmung familiärer und beruflicher Verpflichtungen, hat sie sofort auch ostdeutsche Kunsterzieherinnen zu dieser ersten Tagung eingeladen und ihnen Raum zur Diskussion gegeben und zur Darstellung ihrer Sichtweisen und ihrer „anderen“ Erfahrungen in Hinblick auf Gleichstellung und Geschlechterfragen. Einige dieser Frauen, die auch Autorinnen dieser Festschrift sind, gehörten von der ersten Tagung an zur Gruppe der Wissenschaftlerinnen, die mit feministisch geschärftem Blick fachspezifischen Fragen und Problemstellungen nachgespürt sind und die auch die nachfolgenden Konferenzen „FrauenKunstPädagogik“ inhaltlich mit vorbereitet und deren Ergebnisse in drei Büchern publiziert haben. Mit hartnäckiger Zielstrebigkeit hat Adelheid Sievert die Kunstpädagoginnen immer wieder zur Fortsetzung der frauenspezifischen Fachtagung herausgefordert, die heute als „FrauenKunstPädagogik“ einen Namen und eine Tradition hat. Im Zuge der Erfolge der Frauenpolitik und Frauenförderung ist frau heute der Auffassung, dass „Nischen“ dieser Art nicht mehr gebraucht werden. Aber als „Nische“ hat Adelheid Sievert diese Fachtagung nie verstanden, sondern als einen selbstorganisierten und inhaltlich gestalteten Raum, als ein eigenständiges Forum für Kunstpädagoginnen und Studentinnen, wo sie ihre Kräfte bündeln, Ressourcen vernetzen und sich als Wissenschaftlerinnen zu Fragen der Geschlechterspezifik und Geschlechterbeziehung/ Gender positionieren können. Dass sich mit diesen Tagungen die Kommunikation unter den Kunstpädagoginnen und die Vernetzung ihrer Ressourcen und Kompetenzen verbessert haben, zeigen die Referentinnen, die zwar auf oft langen Wegen durch die Instanzen, in ihrer beruflichen Karriere vorangekommen sind. Waren es 1990 zur Tagung in Frankfurt a. M. nur zwei Frauen, die eine Professur hatten, sind es heute bereits zwölf. Durch ihre große fachliche Kompetenz, aber auch ihren persönlichen Einsatz als Mitglied in Berufungskommissionen und als Gutachterin hat Adelheid Sievert an dieser positiven Entwicklung der Förderung von Wissenschaftlerinnen in der Kunstpädagogik entscheidenden Anteil.

Mit gleichem leidenschaftlichen Engagement, mit Beharrlichkeit und Konsequenz widmet sie sich als Professorin der Förderung und Betreuung des wissenschaftlichen Nachwuchses, Frauen wie Männern. Einige haben schon an verschiedenen deutschen Universitäten oder in anderen Ländern ihren wissenschaftlichen Weg genommen und die meisten stehen noch heute mit ihr in einem fachlich produktiven Dialog.

Die Autorinnen und Autoren haben uns die Arbeit als Herausgeber dieses Buches durch ihre spontane und freudige Zusage für einen Beitrag und prompte Termineinhaltung erleichtert. Ihnen möchten wir dafür ganz herzlich Dank sagen.

Zu Dank verpflichtet sind wir auch der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt, die mit ihrer finanziellen Unterstützung diese Publikation möglich gemacht hat.

In Gesprächen mit den Autorinnen und Autoren, mit Kolleginnen, Kollegen und Freunden, wurde immer wieder die Bedeutung von Adelheid Sievert hervorgehoben als Anregerin und Vordenkerin in Theorie und Praxis der ästhetischen Erziehung, die sie in ihrer allgemeinbildenden Funktion besonders für die Grundschulpädagogik versteht. Aber auch ihre hervorstechenden menschlichen Qualitäten werden immer wieder genannt, die eine berufliche Zusammenarbeit oder ein privates Zusammensein mit ihr so angenehm machen.

Mit diesem Buch, liebe Adelheid, wollen wir dir die Glückwünsche all derer überbringen, die an seinem Zustandekommen beteiligt waren.

Heidi Richter & Georg Peez

Teil I

Ästhetische Erziehung an schulischen und außerschulischen Lern orten

Ästhetische Erziehung als Allgemeinbildung

Ariane Garlichs

Liebe Adelheid,
in die große Zahl derer, die dich - als Fachfrau und als Mensch - im Laufe deiner umfangreichen Tätigkeiten kennen und schätzen gelernt haben, möchte ich mich einreihen und dir ein persönliches Grußwort schreiben. Wir kennen uns nun schon über 30 Jahre und haben in dieser Zeit die grundschulpädagogische Diskussion mitgeprägt, du im Rahmen der Kunstpädagogik und ich als Vertreterin der Allgemeinen Pädagogik. Aus unterschiedlichen Gebieten kommend, haben sich unsere Grundpositionen einander angenähert. Die Zusammenarbeit mit dir in der Grundschulzeitschrift habe ich als stärkend erlebt. Es erfüllt mich mit Dankbarkeit, dass ich dabei auch meine eigene Position klären und weiterführen konnte.

I

Mir ist früh bewusst geworden, dass die Entfaltung der kindlichen Ausdruckskräfte eine Basisqualifikation für das Lernen insgesamt darstellt. Du hast stets die allgemeinbildende Funktion der ästhetischen Erziehung betont, die Abgrenzung der einzelnen Kunstsparten (Malen/Zeichnen, Musik, Theater, Bewegung/Tanz) immer wieder durchbrochen und fächerverbindende Konzepte entwickelt. In der „nach-PISA-Ära“ scheint mir diese Position wichtiger denn je. Was für ein Verständnis von Lernen und Leistung ist das, das messbare Lernergebnisse so sehr in den Vordergrund stellt und das kreative Potenzial von Schülerinnen und Schülern in seiner Bedeutung für Bildungsprozesse gering achtet?! Wohlgemerkt: Ich wende mich nicht dagegen, dass Schulen sich der Wirkungen (und Nebenwirkungen) ihres Unterrichts vergewissern, aber das Überbewerten normorientierter Leistungsergebnisse ist ein Problem. Gerade im Schulanfang sind Kinder reich an originellen Einfällen und Entdeckungen. Darauf sollte Unterricht aufbauen. Kinder brauchen qualifizierte und kontinuierliche Anregungen, ausreichend Zeit und bewertungsfreie (nicht leistungsfreie!) Räume, damit sich das kreative Potenzial entfalten kann. Das bedeutet zugleich:

- Kinder haben ein Recht auf ihre eigenen Fehler und Umwege, sie müssen sich selbst erproben dürfen.

- Sie haben ein Recht auf ihre eigene Wahrnehmung, die noch nicht dem erwachsenen Weltbild angepasst ist und sich noch unbefangen äußern kann.

- Sie haben ein Recht auf ihre eigenen Ausdrucksformen, die sich noch nicht den gängigen Konventionen und Klischees gefügt haben.

In diesem Zusammenhang fällt mir eine kleine Geschichte ein, die ich vor vielen Jahren gehört habe. Sie beginnt damit, dass eine Lehrerin die Schulanfänger ihre Lieblingstiere malen ließ. Ein Junge zeigte ihr am Ende der Stunde freudig seinen überdimensionalen Elefanten mit fünf mächtigen Beinen. Dieser Junge hatte in der Klasse (bei Kindern und Eltern) schon das Image, nicht ganz richtig im Kopf zu sein. Seine Mitschüler hatten sofort gemerkt, dass etwas mit den Elefantenbeinen nicht stimmte. Die Lehrerin dagegen spürte die Lust des Kindes an seiner Darstellung und fragte: Warum hat dein Elefant fünf Beine? Jonny - so will ich ihn nennen - darauf ohne Zögern und voll Stolz: Damit er besser stampfen kann! Schließlich akzeptierten auch die anderen Kinder dieses ausdrucksvolle Bild. Unbewusst hatten sie begriffen, dass Kunst ein Kind der Freiheit ist (wie sie schon Schiller verstand).

Im Anschluss daran entstanden viele originelle großflächige und farbige Bilder. Die Lehrerin kam auf die Idee, die Besitzerin eines „Tante-Emma-Ladens“ im Nachbarort zu fragen, ob sie die Bilder dort ausstellen dürfe. Die schönsten Bilder wurden von der Klasse ausgesucht. Jonnys Bild war dabei und errang - welch ein Glück! - überwältigende Beachtung, weil es von so kraftvoller Originalität war. Noch Jahre später soll er dazu geäußert haben, dass ihm dieses Erlebnis geholfen habe, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu bewahren - trotz seiner anhaltenden Mühe mit dem schulischen Lernen.

Diese Geschichte ist unwiederholbar, aber sie trägt ihre Wahrheit in sich. Sie dokumentiert, wie wichtig es ist, Kinderarbeiten nicht vorab nach Kriterien der Erwachsenenvernunft zu beurteilen oder gar Maßstäbe wie „richtig“ und „falsch“ anzulegen. Das Annehmen kreativer Ausdrucksformen hat im pädagogischen Bereich einen doppelten Sinn: Erwachsene lernen im Anschauen kindlicher Wort- und Bildschöpfungen etwas über deren Gedanken und Weltkonstruktionen. Die Kinder, die mit ihren Produktionen akzeptiert werden, fühlen sich gestärkt und zu weiterem Tun ermutigt.

II

Aus der Option, die musisch-ästhetische Grundbildung in ihrer allgemeinbildenden Funktion zu entfalten, ergeben sich zwingende Konsequenzen für die Lehrerausbildung: Die Didaktik dieses Lernbereichs sollte in den Grundkanon des Lehrerstudiums aufgenommen werden und nicht lediglich den Fachlehrer/innen überlassen bleiben. Alle Lehrer - gleich welcher Fachrichtung - müssten im Studium Gelegenheit erhalten, eigene Erfahrungen in ausgewählten Bereichen kultureller Praxis zu machen und über deren Bedeutung für Bildungsprozesse nachzudenken.

Für die meisten Lehrer hat der Unterricht weniger mit bildhaftem als mit exaktem Denken zu tun, und doch bedient er sich ständig irgendwelcher Bilder, Symbole, Vergleiche. Freilich sind dies in der Regel nicht die unbekümmert naiven und originellen Bilder der Kinder, in denen leibhaftige Erfahrung und magisches Denken noch beieinander liegen und ihren individuellen Ausdruck finden, sondern es sind Bilder, die der wissenschaftlichen Weltsicht verpflichtet sind, die von der konkreten Erfahrung abstrahieren und diese manchmal fast vergessen machen. So kann es passieren, dass in der Auseinandersetzung um Sachverhalte Weltbilder aufeinander treffen, die unvereinbar zu sein scheinen. Zur Illustration zitiere ich den einprägsamen Bericht eines Schweizer Kollegen:

,In Sao Paulo spielte kürzlich ein einheimischer Knabe von etwa 12 Jahren im Garten einer Auslandsschweizerfamilie mit deren Sohn. Dabei schilderte er seinem Kameraden in lebhaften Farben, wie man mit den Schiffen bis ans Ende der Welt fahren könne. Die Mutter des Schweizerkindes, erstaunt ob dem seltsamen Weltbild des Brasilianers, erklärte ihm anhand einer Orange, wie man sich die Erde vorzustellen habe. Er hörte interessiert und lernbereit zu, wie es schien. Im Verlaufe des weiteren Spiels jedoch flüsterte er zum Freund: , Deine Mutter ist wohl übergeschnappt. Sie glaubt wirklich, die Erde sei eine Kugel‘“ (Tobler, S. 3).

Die Schilderung zeigt, dass der kleine Brasilianer zum Zeitpunkt des Geschehens noch mit festen Füßen auf der Erde stand. Er glaubte, was er sah und schloss von da aus auf den Rest der Welt. Die Schweizerin hatte bereits gelernt, von dem abzusehen, was ihre Sinne wahrnehmen. Sie glaubte theoretischen Sätzen, die sie dann wieder in Bilder transformieren konnte. Ihrem Gegenüber nützte das wenig, weil sich die Denkbewegungen der beiden nicht begegneten: Die Schweizerin begriff nichts vom Denken des brasilianischen Kindes oder hielt dieses nicht für einen ernstzunehmenden Anknüpfungspunkt. Wahrscheinlich hatte sie bereits vergessen, dass sie selbst einmal auf ähnliche Weise Kind war und sich womöglich mit der Frage beschäftigt hat, ob Schiffe vom Horizont aus in einen Abgrund fallen. „Lehrerin“ und „Schüler“ kommen mit ihrer Ansicht nicht zueinander. Es entsteht - genau besehen - kein Vermittlungsversuch, denn der Schüler wird lediglich belehrt, nicht aber mit seinem Denken einbezogen.

Die „Orangen-Geschichte“ soll hier ein Konzept von Lehre repräsentieren, die sich im Besitz der „richtigen“ Erkenntnis wähnt und sich deswegen für die Weltbilder der Schüler und deren unterschiedliche Verständnis- und Ausdrucksformen nicht interessieren muss. Dem entspricht, dass Kinderzeichnungen zwar für entwicklungspsychologische und kindertherapeutische Forschungen herangezogen werden, von der didaktischen Forschung jedoch so gut wie nicht zur Kenntnis genommen werden. Zeichnungen lassen sich als nach außen projizierte innere Bilder oder als gestalthaftes Darstellen imaginierter Zusammenhänge verstehen. Für die didaktische Forschung gibt es kaum aufschlussreichere Belege als freie Kinderarbeiten. Scheerer-Neumann hat als anschauliches Beispiel die Geografie-Zeichnung eines siebenjährigen Jungen präsentiert (1989, S. 52). Sie führt dazu aus, dass „selbstgesteuertes“ Lernen notwendigerweise auch das Akzeptieren entwicklungsspezifischer Zugänge zu den Lerngegenständen voraussetzt.

„Kindliche Lernwege führen zunächst nur zu Annäherungen an den Lerngegenstand, die nach den Kriterien der Erwachsenen oft ,falsch‘ sind: beim Schreibenlernen sind z. B. Phasen zu beobachten, in denen Kinder spontan eine rein ,alphabetische‘ Strategie anwenden, also die gesprochene Sprache möglichst genau in Buchstaben übersetzen: Erst später folgen orthografische Korrekturen. Die Abbildung zeigt eine Annäherung an einen anderen Lerngegenstand: Ein Kind im 1. Schuljahr zeichnet in einer freien Arbeitszeit aus dem Gedächtnis einen Globus: Verglichen mit unserem Standard gibt es viele Fehler; aus der Sicht der Annäherung an den Lerngegenstand sehen wir, dass schon sehr viele Kenntnisse vorhanden sind: Neben der grundlegenden Einsicht in geografische Darstellungen sind dies:

Abb.: Nordhälfte und Südhälfte der Erdkugel Freie Arbeit im 1. Schuljahr (Hanno 7;0 Jahre)

- Die Erde ist rund.

- Es gibt eine Nord- und eine Südhälfte.

- Es gibt zwei große Ozeane.

- Die Sowjetunion, Amerika und Afrika sind große Länder/ Kontinente.

- Moskau ist eine Stadt in der Sowjetunion.

- England ist eine Insel im Atlantischen Ozean.

- Hawaii besteht aus Inseln im Pazifischen Ozean.

- Deutschland, Holland und Luxemburg sind kleine Länder.

Massive Kritik an den Zeichnungen würden dem freiwilligen Globuszeichnen sicher ein Ende bereiten: Aufgabe des Lehrers wäre es, durch vorsichtige Hinweise allmählich an eine ,richtige‘ Darstellung heranzuführen.“ (Scheerer-Neumann 1989, S. 53).

Im Unterricht und darüber hinaus gibt es also gute Gründe, sich für bildhafte Ausdrucksformen der Schüler zu interessieren:

- Sie ermöglichen das gestalthafte Ordnen und Erfassen von Zusammenhängen, die dem kindlichen Denken entsprechen und spiegeln Wirklichkeitsbezüge wider, die von den Wissenschaften übergangen oder ausgeblendet werden.

- Als nach außen gewandte Bilder sind sie der Reflexion, Korrektur und Erweiterung durch den unterrichtlichen Dialog zugänglich.

- Sie sind unbewusster Ausdruck von Sinngebungen und machen Verstehensprozesse analysierbar.

Eine Gesellschaft, die die Menschen als Subjekte im Bildungsprozess stärken will, darf nicht allein der Differenzierung und Kultivierung der diskursiven Ausdrucksmittel der Lernenden Bedeutung beimessen - die in Schule und Universität übergewichtet werden - , sondern muss ebenso der Bildsprache verstärkt Beachtung schenken.

Die Beispiele sprechen für sich. Sie liefern zudem Argumente für die musisch-ästhetische Grundbildung von Lehrerinnen und Lehrern - mindestens der unteren Jahrgangsstufen, aber besser noch: für alle Altersstufen!

III

Wir erleben heute einen kulturellen Transformationsprozess, von dem Hartmut von Hentig einmal gesagt hat, er beschreibe den Übergang von einer dialogischen zu einer digitalen Kultur. Die tiefgreifenden Veränderungen auf Wahrnehmung, Bewusstsein und Verhalten der Menschen sind noch gar nicht zu ermessen. Mir scheint, dass davon auch das Verständnis von Schule und Ausbildung berührt wird, ebenso wie die Frage der Bedeutung von Kunst und Kultur im öffentlichen Raum. Wenn wir die Realität akzeptieren und gleichzeitig Gegenkräfte entwickeln wollen, brauchen wir heute nicht weniger, sondern mehr Kunst und Kultur. Die Kulturausschussvorsitzende des Bundestages, Monika Griefahn, äußert ihren Standpunkt so: „Kultur ist für mich ein Lebensmittel, das genauso notwendig ist, wie Essen und Trinken. Kultur ermöglicht überhaupt erst den Dialog zwischen Menschen. (...) Das Theater lehrt uns, wie wir uns mit anderen Mitteln ausdrücken können. (...) Die Theater haben, wenn wir für Kinder zunehmend Ganztagsschulen einrichten, heute die Funktion, auch in den Schulen Angebote zu machen. So entsteht eine andere Art des Lernens. (...) Mit zunehmender Globalisierung wird es immer notwendiger, sich mit anderen Kulturen auseinanderzusetzen. Wir müssen diese fremden Kulturen überhaupt erst einmal verstehen, damit wir uns verständigen können. Zur Verständigung gehört auch der künstlerische Anteil, denn unterschiedliche Kulturen haben auch unterschiedliche Ausdrucksformen.“ (Frankfurter Rundschau vom 10.1.2003)

Christa Wolf betont in einem Interview: „Wir müssen unsere Sehraster verändern und die Menschen von der Herrschaft des instrumentellen Denkens befreien.“

Liebe Adelheid, hier komme ich zum Schluss. Die Entfaltung künstlerischer Fähigkeiten, die Freude am Gestalten und an Gestaltung kann so etwas sein, wie die Fähigkeit, seinen eigenen Ausdruck zu finden, eine Befreiung zu sich selbst, zu einem Leben, das die bloßen Notwendigkeiten des Alltags überschreitet und Erfüllung in der Teilhabe an der Vielfalt kulturellen Lebens findet. In einer frühen Schrift (1971) hast du der ästhetischen Erziehung drei Funktionen zugeordnet: die kritische, die utopische, die hedonistische. Bis heute haben diese Ziele nichts von ihrer Bedeutung verloren, und ich möchte mit dir weiter darüber nachdenken, in welchen Projekten sie sich realisieren lassen. Sprich mich an, dann bleiben wir im Dialog.

Literatur

Garlichs, Ariane: Bilder im Bildungsprozeß. In: Schreier, H. u. a.: Zum Bildungswert des Sachunterrichts. Wegweiser für die Lehrerfortbildung, Band 94 (Landesinstitut Schleswig-Holstein für Praxis und Theorie der Schule) Kiel 1990, S. 32-47

Scheerer-Neumann, Gerheid: Was kommt schon dabei raus? In: Grundschule, 21. Jg., Heft 1 1989, S. 51-55

Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. 1973

Staudte, Adelheid: Ästhetische Erziehung. In: Belser, Helmut u. a.: Curriculum-Materialien II für die Vorschule und Eingangsstufe. Ästhetische Erziehung, Musik und Bewegung. Beltz-Verlag 1971

Tobler, Hans Jakob: Schulbildung zwischen zwei Welten. In: Primarstufe, Heft 1, 1984, S. 3f

Anschlussfähige ästhetische Bildungsprozesse im Grundschulalter

Gabriele Faust & Christiane Maier

1. Zur „Anschlussfähigkeit der Bildung“

Bildung und Lernen in der Grundschule werden seit dem Bestehen der Grundschule als „grundlegende Bildung“ verstanden: entsprechend den preußischen Richtlinien von 1921 als Grundlegung der Allgemeinbildung, auf der alle weiterführenden Schulen aufbauen können, und als Bildung für alle Kinder (Schorch 1998, S. 139ff.). In dieser nach wie vor gültigen Aufgabenbestimmung setzt die aktuelle Diskussion zwei neue Akzente: 1.) Es gibt Bemühungen um die Definition eines empirisch gehaltvollen Bildungsbegriffs. 2.) Die Eigenständigkeit der Grundschule wird nicht infrage gestellt, aber die Grundschule wird deutlicher als eine Stufe des Bildungssystems gesehen, die in Verbindung mit der vorherigen und der nachfolgenden steht.

Bildung ist einer der wichtigsten und schwierigsten Begriffe der Pädagogik, für den es zudem in anderen Sprachen kein Äquivalent gibt. Eine umfassende Operationalisierung wird also wohl kaum gelingen. Die aktuellen Definitionsversuche setzen deshalb an einzelnen Komponenten an und bestimmen vorläufig folgende empirisch untersuchbaren psychischen Dispositionen als Teile:

- die Verfügung über ein breites und vernetztes deklaratives (also auf Wissensgegenstände) und prozedurales (also auf Verfahrensweisen bezogenes) Wissen, das so integriert ist, dass die Umweltgegebenheiten verstanden und Probleme gelöst werden können; mit dem Wissen eng verbunden sind metakognitive Fähigkeiten, durch die der eigene Wissenserwerb gesteuert und kontrolliert wird;

- motivationale und emotionale Komponenten, die sich in Lernmotivation und Interesse äußern;

- soziale und moralische Werthaltungen.

Der Aufbau dieser Komponenten wird eng mit der Persönlichkeitsentwicklung und damit der „Identität“ verknüpft gesehen. Forschungsbefunde, die hierzu vorliegen, sind z. B. Erkenntnisse zum Erwerb eines positiven Selbstbildes und Selbstwertgefühls im Grundschulalter sowie zur Überzeugung von der eigenen Wirksamkeit (Einsiedler 2001).

Wenn es um die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems geht, wird die Anschlussfähigkeit der Bildung herausgestellt, so jedenfalls ein Gutachten der Bund-Länder-Kommission von 1997. Die Unbestimmbarkeit zukünftiger Entwicklungen verbiete es, Bildung statisch als Bevorratung anzusehen, d. h. als Ausrüstung für gegenwärtige und zukünftige Lebenssituationen. Schule sei durch diese Ansprüche auf unmittelbare Verwendbarkeit des Schulwissens heillos überfordert. Begründbar sei allein ein dynamisches Bildungsverständnis, nach dem die Schule die Grundlagen für inner- und außerschulisches Weiterlernen lege. Die allgemeinbildende Schule „... gewinnt (dadurch, G. F./Ch. M.) Freiraum für ein Bildungsprogramm, das synchron und diachron, also im Hinblick auf Gegenwart und Zukunft, nicht auf direkte Anwendung, sondern auf Anschlussfähigkeit (Hervorhebung i. O.) für nachfolgendes Lernen hin konzipiert ist...“ (BLK-Gutachten 1997, Abschnitt 2.1).

Die besondere Stärke der Schule liege dabei darin, kumulatives Lernen entlang der Sachstruktur der Fächer und bezogen auf die kulturellen Basisinstrumente zu gewährleisten. Die Schulfächer machten jeweils spezifische Wissensdomänen und damit zugleich unterschiedliche „... Formen der Rationalität...“ zugänglich, vor allem „... ästhetisch-expressiver, historischgesellschaftlicher, religiös-konstitutiver und nicht zuletzt mathematischer und naturwissenschaftlich-technischer Art.“ (ebd.) Zur Allgemeinbildung gehöre es, ein breites, vertieftes, vernetztes und bewegliches Basiswissen in diesen Domänen zu erwerben. Für manche Bereiche, z. B. die Mathematik, besitze die Schule nahezu das Vermittlungsmonopol, d. h. die Heranwachsenden erwürben dieses Wissen nur oder vornehmlich in der Schule. Dies gelte auch für die Beherrschung der kulturellen Basisinstrumente, vor allem der Muttersprache und zunehmend mehr einer Fremdsprache. Ohne die Schule könnten weder die Befähigung zum Erlernen eines Berufs noch die Grundqualifikationen für die Teilnahme am öffentlichen und gesellschaftlichen Leben erworben werden. Kumulatives Lernen heißt demnach, dass der Wissenserwerb in den einzelnen Bereichen systematisch aufeinander aufbauend vom Einfacheren bis zum Komplizierten erfolgt. Die Fähigkeit zu diesem „vertikalen Transfer“ wird in den Jahren des Lernens erworben. Die Fächer sind auch die Basis für metakognitive und Problemlösestrategien, hinzu kommen sozial-kognitive und soziale Kompetenzen.

Das BLK-Gutachten von 1997 bereitet als Reaktion auf das deutsche Abschneiden in TIMSS das Programm „Steigerung der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts“ vor. Es bezieht sich in erster Linie auf die Sekundarstufe und erwähnt die Grundschule nur am Rande. Der Elementarbereich kommt gar nicht vor. Weder das sprachliche noch das ästhetische Lernen werden betrachtet. Wenn die Bedeutung des Bildungswesens im aufeinander aufbauenden, über viele Jahre betriebenen Lernen liegt, gibt es jedoch keinen Grund, die Grundschule auszunehmen. Da die Bildungs- und Lernprozesse der Grundschule ihrerseits nicht am Anfang stehen, sondern auf der Persönlichkeitsentwicklung und den Vorläuferfähigkeiten aus den Jahren vor der Schule aufbauen, gehört auch der Elementarbereich dazu. Ob und in welcher Weise von einer „ästhetischexpressiven Rationalität“ gesprochen werden kann und welche Perspektiven die Kumulativität für die ästhetische Bildung und das ästhetische Lernen bietet, ist allerdings noch wenig untersucht.

2. Die Komplexität des Unterrichts erfordert mehrere Lehr-Lernkonzeptionen

Die Bedeutung des systematischen Lernens kann kaum überschätzt werden. In verschiedenen Untersuchungen ist das jeweilige fachspezifische Vorwissen der erklärungskräftigste Pfad für nachfolgende Leistungen, einflussreicher noch als die Intelligenz (z. B. in Bezug auf Mathematik und Rechtschreiben in der Grundschuluntersuchung SCHOLASTIK Helmke/ Schrader 1998, S. 25f., in Bezug auf mathematische Lernprozesse vom Kindergartenalter bis in die Sekundarstufe Stern 1998, S. 104ff.). Wie viele Schüler und Eltern erleben, können Lücken im Vorwissen fatale und später kaum mehr behebbare Folgen haben. Die Trennung der Schule vom Leben, die diese Kumulativität ermöglicht, hat jedoch die unerwünschte Folge, dass das Lernen allzu wenig auf die Lebenssituationen und Probleme der Lernenden bezogen ist. Dies bringt u. a. Nachteile für die Motivation der Lernenden mit sich. Noch schwerer wiegt, dass Wissen „träge“ sein kann, d. h. zur Lösung von praktischen Problemen nicht herangezogen wird, obwohl der Lernende im Prinzip darüber verfügt. Es ist dann gleichsam „verkapselt“ und inaktiv. In der kognitiv beeinflussten Instruktionspsychologie wird daraus die Konsequenz gezogen, dass auch der Transfer speziell geübt werden muss. Wahrscheinlich hat das deutsche Bildungswesen im Hinblick auf den „horizontalen Transfer“ besondere Schwächen: Sowohl in TIMSS (Baumert/ Lehmann u. a. 1997) als auch in PISA (Deutsches PISA-Konsortium 2001) lösten die deutschen Schülerinnen und Schüler anspruchsvolle Übertragungs- und Anwendungsaufgaben schlechter als ihre Altersgenossen in anderen Ländern, während sie bei Routine- und Kalkülaufgaben besser abschnitten. Das BLK-Gutachten von 1997 spricht deshalb davon, dass eine Balance zwischen systematischem und situiertem Lernen, d. h. Systematik und Kasuistik, zu finden sei (ebd., Abschnitt 3.1). Hinzu kommen Lernsituationen, die insbesondere die Selbststeuerung des Wissenserwerbs beanspruchen und üben.

Drei spezifische Lernkomplexe sind somit zu unterscheiden: der systematische Wissenserwerb in den verschiedenen Domänen („vertikaler Transfer“), das Erlernen der Anwendbarkeit des Wissens sowie der Fähigkeit zum Problemlösen („horizontaler Transfer“) und schließlich der Erwerb von Steuerungs- und Kontrollfunktionen beim eigenen Lernen („ lateraler Transfer“). Für jeden Zweck stehen besonders dafür geeignete Unterrichtskonzeptionen zur Verfügung: Es besteht Einigkeit, dass die direkte Instruktion, ein lehrerangeleitetes intensives Durchdringen des Lerninhalts, die effizienteste Form für den Wissenserwerb ist. Die Übung des Transfers erfordert „situiertes Lernen“, d. h. die Anwendung des Wissens in verschiedenen lebensnahen Situationen. Selbststeuerung kann nur erworben werden, wenn die Lernsituationen den Lernenden Spielräume dafür geben und ihnen eigene Entscheidungen bei der Wahl, Organisation, Kontrolle und Bewertung von Lerngegenständen, -zielen und -methoden ermöglichen. Dies sind die Charakteristika von „offenen“ Lernsituationen und den Formen selbstständiger Arbeit (Weinert 2001). In der Grundschuldidaktik wird weithin einseitig auf offene Unterrichtsformen gesetzt, obwohl die vorliegenden empirischen Befunde - soweit die Operationalisierungsschwierigkeiten überhaupt Aussagen erlauben - die Stärken, aber auch die Schwächen dieser Unterrichtskonzeption belegen (Brügelmann 1998, S. 11). Die Anerkennung mehrerer Unterrichtsziele mit jeweils spezifisch darauf abgestimmten Lehr-Lernformen könnte die Diskussionen entideologisieren und klarer machen. Wie die Unterrichtsbeispiele in diesem Beitrag zeigen werden, sind die drei theoretisch voneinander abzugrenzenden Lernkomplexe in der Unterrichtsrealität teilweise miteinander verwoben.

3. Ästhetisches Lernen als Aneignung der Wirklichkeit - Adelheid Sieverts Beitrag zur Ästhetischen Erziehung im Vor- und Grundschulalter

In der fachdidaktischen Diskussion wird um das Konzept der Ästhetischen Erziehung seit mehr als zwanzig Jahren gerungen. A. Sievert hat zentralen Anteil an der Explikation dieses Konzepts. Sie hat die fachdidaktische Debatte zur Ästhetischen Erziehung der Basisstufe, also Kindergarten und Grundschule, maßgeblich geprägt (Staudte 1980; 1993; Sievert 2001).

Das Konzept der Ästhetischen Erziehung zielt auf ein erkennendes Sich-Verhalten-zur-Welt als eine spezifische Erkenntnisweise, das durch folgende Merkmale charakterisiert ist: sinnliche Nähe zu den Dingen, multiple Sicht- und Interpretationsweisen, Subjektivität und Betroffenheit sowie die Verbindung von Wahrnehmen und Handeln. Die ästhetisch-produktive Tätigkeit als Transformation von Welterfahrung in ein symbolisches Medium ist wesentlicher Teil dieses Erkenntnisprozesses. Ästhetische Lernprozesse ermöglichen es deshalb den Kindern, in der Auseinandersetzung mit Sachverhalten aller Art ihre Weltsicht zu gewinnen und darzustellen. Weil die subjektorientierte Seite der Erfahrung interessiert und die ästhetischkünstlerische Sprache die Möglichkeit zu sinnenbezogenen, subjektorientierten und deutungsoffenen Aussagen bietet, leistet dieses Fach im Kanon der Schulfächer einen spezifischen Beitrag. Daran macht sich auch die überfachliche Relevanz fest. „It is that the arts are cognitive aktivities, guided by human intelligence, that make unique forms of meaning possible.“ (Eisner 1991, S. 310)

Im Konzept der Ästhetischen Erziehung hat die subjektive Konstruktion von Wirklichkeit einen zentralen Stellenwert. Im Mittelpunkt stehen die Lernenden, die auf der Grundlage der vorhandenen kulturellen Symbolsysteme und durch diese hindurch neue Bedeutungen generieren, ein Vorgang, der Nähe zur künstlerischen Produktion hat, in der das Überkommene verwandelt wird. Der Grad und die Art der Unterstützung, den die Lehrenden dabei leisten können bzw. sollen, ist innerhalb der verschiedenen Spielarten des Konstruktivismus umstritten. Die extreme Position des „endogenen Konstruktivismus“ reduziert Unterricht auf die Vorbereitung einer geordneten Lernumgebung, während der gemäßigte Konstruktivismus von einer aktiveren Rolle der Lehrenden ausgeht. Die Lehrpersonen können Modelle für die Lernenden sein und in Dialogen anleitende Hilfen geben. Diese dialektische Position ist durchaus mit traditionelleren didaktischen Positionen vereinbar („traditioneller Kognitivismus“), die - allerdings unter der Voraussetzung, dass es sich um komplexe Lernarrangements handelt - Vermittlungsprozesse zulassen und von einer Balance zwischen angeleiteten und selbstständigen Lernprozessen ausgehen (Dubs 1995, S. 22ff.). Wie die bestehenden kulturellen Repertoires genutzt und zugleich verändert werden und wie dabei eine persönliche Form bildsprachlichen Denkens und Mitteilens entsteht, ist Gegenstand ästhetischer Bildungsprozesse.

Unterricht beginnt nicht voraussetzungslos. Bei Schuleintritt verfügen Kinder bereits über ein differenziertes persönliches Gestaltungsrepertoire, an das schulische Lehr-Lernprozesse anschließen. In einer Untersuchung mit Vorschulkindern in Hamburg hat A. Sievert bereits 1977 das ästhetische Verhalten der Kinder im Zusammenhang mit curricularen Entscheidungen unter der Frage nach Anschlussfähigkeit in künftigen schulischen Lernprozessen untersucht (Staudte 1977). Diese Untersuchung ist ein Einzelfall geblieben. Es mangelt an empirischen Untersuchungen zum Aufbau ästhetisch-produktiver bzw. -rezeptiver Kompetenzen im Unterricht der frühen Bildungsstufen.

In einem kognitionspsychologisch beeinflussten Forschungsansatz zur Entwicklung der Kinderzeichnung werden mehrere Wissensbereiche unterschieden, die in ihrer Interaktion mitbestimmen, was beim Zeichnen entsteht. Das Wissen über den Wirklichkeitsausschnitt (Gegenstandswissen), über Möglichkeiten der graphischen Beschreibung (Abbildungswissen) und über Möglichkeiten der Ausführung bzw. Handlungspläne (Ausführungswissen) spielen bei der Realisierung einer Zeichnung ineinander (Schuster 1989). Zeichnen zu lernen im Sinne des Aufbaus eines Repertoires hieße dann, immer angemessenere Zeichnungs-Handlungspläne („Skripts“) zu entwickeln. Dieser Ansatz eröffnet Perspektiven auf kumulative Lernprozesse im Kontext Ästhetischer Erziehung. Die eine Komponente ist der Aufbau eines Darstellungsrepertoires im innerfachlichen Sinn (Abbildungswissen, Ausführungswissen), die ebenso bedeutsame andere der offene, fragende und subjektive Zugang zu allen denkbaren Sachverhalten der Welt. Komplexe Handlungskonzepte wie Sammeln und Ordnen, Phantasieren und Umdeuten, Probieren und Experimentieren, in erkundenden Prozessen eigenen Intentionen zu folgen und das Unvorhergesehene zu suchen bilden das erweiterte Repertoire. In ihm gibt es viele künstlerische Sprachen, nicht nur die der bildenden Kunst.

Abb. 1: „Miteinander kämpfen“, Zeichnung Kohle/Kreide, Klasse 4

Deshalb hat das Konzept der Ästhetischen Erziehung ein durchaus kritisches Potential gegenüber schulisch-organisierten, geplanten Lernprozessen in Beispielen der eigenen Fachgeschichte. Es richtet sich gegen eine ästhetische Praxis in der Schule, die das Können und das Interesse der Kinder nur unter dem Gesichtspunkt der erforderlichen Motivation und als Ausgangslage für die notwendige Unterrichtung in formalen Mitteln der Gestaltung benutzt (Staudte 1980). Vielmehr bemisst sich die ästhetische Sprache, die gefundene symbolische Form, an den Erkenntnis- und Aussageintentionen, die sich auf die Welt richten, und an der Authentizität, mit der ihnen nachgegangen wird.

Abb. 2: „Miteinander kämpfen “, Zeichnung Kohle/Kreide, Klasse 4

4. Aufbau und Erprobung eines Repertoires ästhetischer Darstellungsmittel - Beispiele aus einer Schweizer Grundschule

Die folgende Unterrichtsbeschreibung legt die These zugrunde, dass auch das ästhetische Lernen im Kontext der Anschlussfähigkeit der Bildungsstufen verschiedene deutlich voneinander abgrenzbare Ziele hat und deshalb verschiedene Unterrichtskonzeptionen miteinander verbinden muss. Vier verschiedene Lehr-Lernformen werden konkretisiert.

Zwei Schülerarbeiten

„Miteinander kämpfen“ ist der thematische Impuls, unter dem die beiden Zeichnungen (Abb. 1 und 2) entstanden sind. Es sind Schülerarbeiten aus dem 4. Schuljahr einer Primarschule bei Basel. In dieser Klasse wurden im 3. bis 5. Schuljahr folgende Lehr-Lernformen im Zeichnen/Malen und Werken praktiziert:

- Kurse

- Geführte thematische Arbeit

- Freie Arbeit/ Atelier

- Ästhetisches Arbeiten im fächerübergreifenden Kontext.

In der Primarschulmittelstufe (Klasse 3 bis 5) im Kanton Basel-Land stehen für ästhetische Lernprozesse wöchentlich 1 bis 2 Lektionen Bildnerisches Gestalten und 2 mal 2 Lektionen Technisches und Textiles Gestalten, die in Abteilungen unterrichtet werden, zur Verfügung. Durch diese großzügige zeitliche Basis von insgesamt ca. sechs Lektionen in der Woche, wird die Entfaltung verschiedener Lehr-Lernformen maßgeblich gestützt.

4.1 Kurse

Kurse bieten eine Folge von Übungen zu einem ausgewählten Gestaltungsproblem. Sie sind deklariert als Angebot, etwas Neues kennen zu lernen und dadurch das eigene Können zu verbessern („vertikaler Transfer“). Diese Lehr-Lernform ist durch eine Folge präziser Inputs durch die Lehrperson gekennzeichnet, der jeweils eine Phase des Probierens und Reflektierens durch die Schüler/-innen folgt. Das Übungsangebot ist so angelegt, dass das Darstellungsproblem sichtbar wird und zugleich Anregungen für Umsetzungen gegeben werden. Im Gefüge der Lehr-Lernformen tritt hier der Charakter der lehrergeleiteten Instruktion am deutlichsten hervor.

Die vorgestellten Arbeiten (Abb. 1 und 2) entstanden im Rahmen eines solchen Kursangebots. Die Schüler/-innen waren zunehmend unzufrieden mit ihren Menschenzeichnungen. Der Unterricht griff diese Schwierigkeit auf. Leitfragen im Gespräch mit der Klasse waren dabei z. B.: Woran liegt es, dass du nicht zufrieden bist? Was möchtest du können? Das Beispiel nimmt ein typisches Problem des Zeichenunterrichts in der Mittelstufe auf, die Integration der Elemente des Schemabildes in ein realitätsnahes Bildkonzept (Richter 1987, S. 62 ff.). In diesem Fall reagierte der Kurs auf Probleme mit der Proportion, Haltung und Bewegung dargestellter Figuren. Zunächst wurden in Papier gerissene Figuren auf Körperteilungen und Anordnungsmöglichkeiten der Glieder hin untersucht. Haltungen wurden charakterisiert: Der Sitzende, die Springende, der Hockende, die Knieende u.a.m. Schattenprojektionen halfen, die Orientierung auf die Gesamtform unter Verzicht auf Einzelheiten zu richten. Fünf-Minuten-Skizzen nach Modell (Abb. 3a und 3b), das Schüler/-innen stellten, führten zur Entdeckung, dass unsere Vorstellung vom Gegenstand - hier der menschlichen Figur - nicht dem entspricht, was man auf einer Zeichnung zeigen muss, wenn die Abbildung einem visuellen Realismus entsprechen soll.

Abb. 3a: Fünf-Minuten-Skizzen, Schülerin, Klasse 4

Wesentlichen Anteil an der Lehr-Lernform der Kurse haben Gespräche, in denen das Schwierige, das Gelungene und das scheinbar Misslungene thematisiert werden. Die Reflexion von Ergebnissen orientiert sich an der Intention, die Bildproduktion als das Schaffen einer eigenen Realität fassbar zu machen. Dabei kann das scheinbar Misslungene eine neue Bedeutung erfahren: Es kann ja auch das Unerwartete sein, das uns nur überrascht hat; oder es könnte das umwerfend Komische sein, das uns gerade deswegen begeistern könnte, wenn wir es zuließen. Dass jenseits einer Abbildtreue bedeutungsvolle Mitteilung liegt, wird immer wieder festgehalten.

4.2 Geführte thematische Arbeit

Diese Lernform ist durch eine verbindliche Aufgabenstellung mit gesetzten Ausführungsbedingungen charakterisiert. Es geht nicht mehr um vorläufige Übung wie bei den Kursen, sondern ein Ergebnis wird gesucht. Die Aufgabe fordert die Anwendung des eigenen Repertoires auf ein Darstellungsproblem. Es geht also um situiertes ästhetisches Lernen („horizontaler Transfer“).

Abb. 3b: Fünf-Minuten-Skizzen, Schülerin, Klasse 4

Im Beispiel setzten die Schüler/-innen eine Fünf-Minuten-Skizze aus der Übungsphase um oder skizzierten erneut. Die großformatige Ausführung (DIN A2) in Kohle wurde zur Bedingung gemacht. Das Motiv geht auf eine Phase heftiger Streitereien mit körperlichen Attacken zurück. „Wir kämpfen“, sagten die Schüler/-innen. Die Aufgabe ist also kein formaler Gestaltungsanlass, sondern greift diese Lebenssituation auf. Wenn die Schülerinnen Kampf- und Gerangelszenen stellen und quasi spielerisch inszenieren, wenn sie dabei das Befinden, die Enge im Schwitzkasten, die Über- oder Unterlegenheit, die Kraft, die Bosheit und die von ihnen empfundene Beleidigung ansprechen, arbeiten sie eng an ihrer Erfahrung. Ihre Zeichnungen werden Teil eines Gesprächs (mit und ohne Worte), das sie mit sich selbst und den anderen führen. Wie nahe die gefundene zeichnerische Lösung der authentischen Erfahrung kommen kann, lässt sich an beiden Abbildungen erkennen. Der Zeichner von Abbildung 1 kam zu jener Zeit häufig weinend, gekränkt und unterlegen aus der Pausenrangelei beim Fußballspiel zurück. Der Zeichner von Abbildung 2 gehörte zu diesem Zeitpunkt zur Führungsgruppe in der Klasse, die sich rivalisierend um einen starken Leader gruppierte.

Abb. 4: „Menschen in Bewegung“, Freie Arbeit, Klasse 4

Übungen und thematische Aufgabenstellungen beabsichtigen ein Bewusstsein dafür zu bilden, dass man beim Malen und Zeichnen Probleme der Darstellung auf unterschiedliche Weise lösen und dadurch unterschiedliche Wirkungen auf den Betrachter erzielen kann. Darauf zielen die Gesichtspunkte für das Auswertungsgespräch ab:

- Machen die Zeichnungen etwas von Kämpfen sichtbar? Welche Merkmale, welche Eigenschaften, welches Körpergefühl zeigt die Zeichnung in besonderer Weise?

- Wie wurde mit der Eigenheit der Zeichenkohle umgegangen?

- Wie wurde die Figur in das große Format gesetzt?

- Was macht die besondere, eigenwillige Wirkung der Zeichnung aus?

- Was würdest du jetzt gerne noch verändern - also lernen?

- Welche Gedanken, Bemerkungen ganz anderer Art möchtest du in das Gespräch einbringen?

4.3 Freie Arbeit/ Atelier

In diesem Teil des Unterricht wird ein Zeit- und Organisationsrahmen für selbstständige Arbeit angeboten. Die Schülerinnen und Schüler wählen ihre Themen, Materialien und Techniken aus einem Angebot von Möglichkeiten und stellen sich selbst eine Aufgabe. Die Freie Arbeit bzw. das Atelier ist der unterrichtliche Ort, an dem das eigene Lernen erfahren, angeleitet und reflektiert werden kann („lateraler Transfer“).