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Inhaltsverzeichnis

Das Buch
Die Autorin
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Epilog
Danksagung
Copyright

Danksagung

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Der Roman Engelssturm – Azrael enthält einige Elemente, die mir besonders am Herzen liegen, nicht zuletzt die Stadt, in der die Handlung spielt. Aus diesem Grund möchte ich zuerst San Francisco danken. Danke, Bay City, für dein Flair, deine Geheimnisse und Kicks und deine unglaubliche Großartigkeit. Danke, Golden Gate Park, für deine vierblättrigen Kleeblätter. Danke, Ocean Beach, für deine Sanddollars. Danke, Pier 39, für die wunderbare Aussicht, deine Melodien und die einladende Atmosphäre. Danke, Susan in den South Beach Marina Apartments, für dein strahlendes Lächeln und die grenzenlose Herzenswärme. Und danke, Golden Gate Bridge, aus offensichtlichen Gründen.

Ich möchte meinem Agenten und Trident Media für den Glauben an mich danken, für die Hilfe bei der Veröffentlichung dieser Serie, ebenso meinen Verlegern.

Wie immer – und ewig – danke ich den Menschen, die ich liebe und die mich lieben, für all die nötige und unschätzbare Unterstützung, die ich brauche, um meine Bücher zu schreiben.

Das gilt auch für Sie, meine Leserinnen und Leser, die Sie mir treu zur Seite stehen und mich mit dem emotionalen Zuspruch ermuntern, den alle Autoren brauchen. Für euch, meine hilfreichen Musen, die ihr mich anregt und motiviert, meine Künstlerseele stets neu belebt und meine Feder in Schwung bringt. Und für meine Familie, die in der Berg-und-Talfahrt des Lebens immer wieder an meiner Seite auftaucht und meine Hand nimmt, ganz egal, wie unsanft es zuweilen zugeht. Sowie vor allem für meinen Ehemann, mein unerschütterliches Gibraltar, meinen Hafen in allen Stürmen.

Ich liebe euch und danke euch.

Die Autorin

Heather Killough-Walden wurde in Kalifornien geboren. Sie studierte Jura, Religionswissenschaften und Archäologie und bereiste die Welt, bevor sie beschloss, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Texas.

 

Weitere Informationen zu Autorin und Werk erhalten Sie unter: www.killough-walden.com

Epilog

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Der Central Park war natürlich der berühmteste Park von New York. Theoretisch konnte Sam auch jeden anderen Park auf der Welt gemeint haben, aber weil Michael in New York lebte und der Vergewaltiger hier sein Unwesen trieb, musste es wohl der Central Park sein.

Am 1. Mai arbeiteten die Gärtner rund um die Uhr, stutzten Hecken und Bäume, düngten Blumenbeete und mähten Rasenflächen. Jetzt, am späten Nachmittag, tummelten sich unzählige Leute im Park – Familien mit Frisbees, junge Paare und Betrunkene. Im Schatten schliefen Junkies und waren hoffentlich nicht tot.

Michael stand neben einer Parkbank und schaute sich langsam um.

Ein paar Schritte entfernt lockte ein Hotdog-Kiosk mit dem Geruch von heißen Würstchen und Senf. Tauben pickten die Essensreste auf. Hin und wieder versuchte ein angeleinter Hund, die Vögel zu verscheuchen.

Alles normal.

Aber die letzten zweitausend Jahre hatten Michael gelehrt, dass nichts so normal war, wie es aussah. Mit der Zeit würde sich das herausstellen.

Und so setzte sich der Beamte in Zivil vom New York Police Department auf die Bank, lehnte sich geduldig zurück und schlug die Füße übereinander.

Eine Stunde verstrich. Dann noch eine. Ein Mann setzte sich zu ihm und versuchte, ihn anzumachen. Höflich lehnte Mike ab. Ein paar Frauen gingen vorbei und lächelten ihn an, eine Gruppe junger Mädchen wollte seine Aufmerksamkeit erregen, indem sie sich albern benahm. Aber die meisten Leute hielten sich von ihm fern. Er strahlte eine gewisse Aura aus. Intensiv, vielleicht ein bisschen beängstigend. Vermutlich merkten sie ihm an, dass er ein Cop war.

Oder sie spürten, dass er noch etwas mehr war.

Als die Nacht hereinbrach, gingen die Lampen an und warfen schwaches Licht auf die Wege. Insekten umschwirrten die Glühbirnen, mit jeder Stunde wurden es mehr. Allmählich verschwanden die Leute, die Art der Besucher des Parks änderte sich. Die Familien kehrten heim, Liebespaare rückten näher zusammen, und einige verschwanden im Gebüsch.

Aus braunen Papiertüten tauchten Schnapsflaschen auf. Feuerzeuge flackerten im Dunkel. Wie Mike wusste, würden sie nicht nur Zigaretten anzünden.

Dafür müsste sich der Polizist in ihm interessieren. Aber da er seit Generationen inmitten der Menschen lebte, kannte er ihre Leiden und verstand das Bedürfnis, dem Elend zu entfliehen. Jeder hatte das Recht, sein Leben etwas erträglicher zu gestalten. Nur wenn dadurch anderen geschadet wurde, mischte er sich ein.

Bei diesem Gedanken runzelte er die Stirn. Vor langer Zeit war er an der Spitze eines Engelsheers dahingeflogen. Das Schwert hatte einen Abdruck in seiner Handfläche hinterlassen  – unsichtbar, aber sehr tief, und der diktierte seine Handlungsweise als Cop und als Mann. Er war ein Verteidiger, ein Krieger. Aber auch ein Heiler. Doch derzeit besaß Azrael die magische Fähigkeit Michaels, Wunden zu heilen. Noch immer war sie nicht zu Mike zurückgekehrt, was zweifellos an Samaels hinterhältigen, mysteriösen Machenschaften lag. Wer wusste schon, was der Gefallene so trieb? Michael erkannte nur, wie schmerzlich er diesen Teil seines Wesens vermisste, und er hoffte, er würde ihn vorerst nicht brauchen.

Nach einem tiefen Atemzug stand er auf. Die Hände in den Taschen seiner Lederjacke, folgte er einem der Wege, hielt Augen und Ohren offen. Die Nacht wurde dunkler, die Schatten tiefer, das Laub ringsum raschelte leiser. In der immer deutlicheren Stille erklangen Michaels Schritte in den Stiefeln hart und einsam. Eine kühle Brise ließ seinen Nacken prickeln. Geistesabwesend klappte er seinen Kragen hoch.

Hinter ihm regte sich etwas, er spürte eine Veränderung in der Luft, und er fuhr herum. Aber der Weg war dunkel und leer. Sanft bewegte der Nachtwind einen Weidenzweig. Sonst rührte sich nichts.

Zu seiner Rechten blitzte etwas Blaues auf, und er wandte sich in diese Richtung. Wieder nichts Ungewöhnliches, nur ein kleiner Teich hinter einer Wiese, der den Mond reflektierte.

Aber irgendetwas stimmte da nicht.

Die abrupte Veränderung der Nacht ließ seine Haut kribbeln. Als hätte etwas darauf gewartet zu atmen und würde jetzt Luft holen, seine Lungen mit magischer Energie füllen. Er spürte Blicke, die ihn fixierten, hörte beinahe das Zischen zwischen scharfen Zähnen ausgestoßenen Atems. In seinen Adern schien das Blut zu blubbern und erinnerte ihn an seinen Kampf mit dem blauen Drachen vor zwei Wochen.

Ringsum frischte der Wind auf, am eben noch klaren Himmel grollte der Donner, und Michael schaute zu wirbelnden Wolken empor. Die Bäume neigten sich im Sturm, ihre Blätter zitterten und tanzten. Aus einer Baumgruppe stieg ein schwarzer Vogelschwarm auf, verließ den Park und suchte sich eine ruhigere Gegend.

Und dann, so unerwartet und heftig, dass es Michael unvorbereitet traf, schlug etwas Hartes seitlich gegen seinen Brustkorb. Er roch schwachen Parfümduft, sah etwas Rotes aufblitzen, schwankte und fand sein Gleichgewicht wieder. Irritiert wandte er sich seinem Angreifer zu.

Ich hatte recht, dachte er. Doch es war nur ein flüchtiger, wirrer Gedanke. Da stand ein großer Mann in einer schwarzen Lederjacke voll unzähliger Saphire und Aquamarine – ein blauer Drache.

Aber zwischen dem Drachen und Michael stand noch jemand. Eine Frau mit einem Körperbau, der auf stundenlanges tägliches Training hinwies. Ihr langes, gewelltes rotes Haar erweckte den Eindruck, sie wäre soeben dem Meer entstiegen. Vom Sturm gepeitscht, flog es umher. Sie trug schwarze Jeans, ein schwarzes T-Shirt und schwarze Stiefel.

Ihr Gesicht sah er nicht, weil sie ihm den Rücken kehrte. Aber ihre Haltung wirkte herausfordernd, und sie hatte die Arme ausgestreckt, als wollte sie etwas Böses abwehren.

Michaels Gedanken überschlugen sich. Beunruhigende Gedanken. Offenbar hatte die Frau ihn beiseitegeschoben, um ihn vor diesem »Mann« zu schützen, den sie für gefährlich hielt. Aber wieso wusste sie das? Er war nicht so groß wie Mike. Und Mike war bewaffnet, und alles an ihm deutete auf einen verdeckten Ermittler hin.

Und wieso bildete sie sich ein, sie wäre eher als Michael imstande, den Fremden zu bekämpfen? Wofür hielt sie sich?

Das verwirrte ihn am meisten. Wer war sie?

Obwohl er sie nur von hinten sah, erschien sie ihm seltsam vertraut. Ihr Anblick faszinierte ihn, beschwor ein altes Versprechen herauf, Äonen einer vergeblichen Suche. Wonach? Irgendetwas in ihm wusste, was es war. Aber es würde eine Weile dauern, bis er es klar erkannte. Und dazu fehlte ihm die Zeit.

Michael wollte gerade vorstürmen, um den Drachen selbst zu attackieren, da schlug das Biest in dem unglaublich rasanten Tempo seiner Rasse zu.

Aber das Monster hatte es gar nicht auf Michael abgesehen, sondern auf die Frau. Es schaute ihn nicht einmal an. Offenbar war es dem Drachen von Anfang an nur um sie gegangen.

Blitze erfüllten die Luft ringsum, und Michael wurde von einer dritten Partei angegriffen – so brutal, dass er durch die Luft geschleudert wurde und nach ein paar Metern gegen einen Lampenpfosten prallte. Ächzend verbog sich das Metall. Die Glühbirne knisterte und flackerte. Kurz bevor sie erlosch, sah Mike die rothaarige Frau einem Rückhandschlag ausweichen, dann trat sie den Drachen in die Brust.

Nachdem das Licht ausgegangen war, stand Michael auf. In der Finsternis hörte er die Geräusche eines grausigen Kampfes, ein Ächzen und Zischen und dumpfe Schläge. Kaum hatte er sich aufgerichtet, wurde er erneut attackiert. Die kalte Berührung, der plötzliche Frost in der Luft, der eisige Gestank des Atems wiesen den Angreifer als Phantom aus. Früher waren Phantome nur von den Mächtigsten in der übernatürlichen Welt angeheuert worden – Elitekiller, schwierig zu beauftragen, fast unbezahlbar. Aber neuerdings schienen sie scharenweise aus ihren Schlupflöchern aufzutauchen und arbeiteten sowohl mit ihresgleichen als auch mit anderen übernatürlichen Wesen zusammen.

In Gregoris Auftrag? Steckte er auch hinter diesem Anschlag?

Mit einem kraftvollen Fausthieb schleuderte Michael das Phantom von sich und fragte sich, ob es mit dem Drachen unter einer Decke steckte.

Ging es ausschließlich um die Frau?

Ein plötzlicher stechender Schmerz in seiner rechten Schulter unterbrach diese Gedanken. Aus seiner Brust ragte die Klaue eines zweiten Phantoms, Raureif verkrustete die Ränder des zerfetzten Hemds und der Haut um die offene Wunde. Er biss die Zähne zusammen, unterdrückte einen Schmerzensschrei und versuchte, seinem Gegner den Arm zu brechen. Aber das Phantom verwandelte sich in körperloses Nichts, ehe er richtig zupacken konnte.

Zu seiner Linken öffnete sich das Dunkel der Nacht, ein drittes Phantom pirschte sich heran. Dann materialisierte sich ein vierter Widersacher, eine Koboldgestalt starrte Michael mit Katzenaugen an – ein Icaraner, ein Magie-Egel, zweifellos von der geballten Magie herbeigelockt.

Wenn sich in Michaels Schicksal nicht bald eine Wende vollzog, würde das Biest die Mahlzeit seines Lebens genießen.

Knapp fünfzig Meter entfernt schlugen jetzt Blitze in den Boden und ließen Mike die Ohren klingen. Schwindelgefühle erfassten ihn. Aber das Phantom hinter ihm riss seinen Arm brutal aus Michaels Körper und weckte seine Aufmerksamkeit erneut.

Hungrig fletschte der Icaraner seine grellweißen Zähne und kroch näher heran. Das Phantom, das er weggeschleudert hatte, stürzte sich auf ihn, ebenso das Monster zu seiner Linken, und das hinter ihm umfasste seinen Nacken und ließ seine Wirbelsäule fast gefrieren. Nicht weit entfernt rang die Frau, die ihn zu retten versucht hatte, immer noch mit dem Drachen. Sie bewegte sich unglaublich geschmeidig. Es war ein Wunder, dass sie noch lebte.

Nein, eigentlich nicht. In der Tiefe seines Herzens verstand er, was das bedeutete. Aber wenn er sich die Wahrheit eingestand, würde ihn seine Angst um die Frau lähmen. Und dann würden sie beide sterben.

Und so gestattete er seinem Blut, eine alte Melodie zu singen. Er erinnerte sich, wer er war, woher er, der Erzengel und Krieger, stammte. Mit geschlossenen Augen ließ er dieses uralte Wissen wie ein Elixier durch seine Adern fließen.

Als er die Augen wieder öffnete, spürte er ihre Glut. Der Park drehte sich um ihn, sein Körper bewegte sich wie von selbst. Jetzt kontrollierte Michael seine Aktionen nicht mehr, die Welt regte sich außerhalb von Raum und Zeit und schien sich ebenfalls zu erinnern.

Wenige Sekunden später lagen zwei Phantome tot am Boden. Vor lauter Angst war der Icaraner wieder unsichtbar geworden und zweifellos geflohen. Während Michael sich dem dritten Phantom zuwandte, kämpfte die rothaarige Frau weiterhin gegen den Drachen.

Doch dann quollen die Schatten von neuen Gestalten über, die massenweise in den Park strömten und die Luft mit ihrer bösen Aura verpesteten. Mindestens fünf schwarze Drachen zählte Michael fassungslos. Er taumelte, konnte eine Attacke nicht abwehren. Schmerzhaft spürte er eine zweite Eiswunde an seinem Körper. Er versuchte, die Drachen im Auge zu behalten, eine dunkle gefährliche Gruppe, die sich langsam näherte, das Terrain sondierte und zweifellos die Frau ansteuerte.

Michael verschwendete keine Zeit auf einen Warnschrei. Stattdessen konzentrierte er seine Kräfte auf die Feinde, die ihn umzingelten. In schneller Folge stürzten sie zu Boden. Wie ein schwingendes Schwert durchfuhr er die finstere Phalanx, so schnell, dass den tödlichen Schlägen keine bewussten Gedanken vorauseilten. Dafür war auch gar keine Zeit.

Inzwischen hatten sich die schwarzen Drachen getrennt, die Hälfte der Gruppe erkannte die Bedrohung, die von Michael ausging, und nahm es mit ihm auf. Ohne zu zögern, streckte er die furchterregenden Bestien nieder, hörte Knochen brechen, Haut bersten, qualvolles Stöhnen. Doch er ignorierte den Schlachtenlärm, bis die Frau aufschrie.

Es war ein herzzerreißender Schrei, hoffnungslos, eine Klage über eine unabwendbare Kapitulation. Ein Todesschrei.

Sekundenlang stand die Erde still. Ein letztes Mal spaltete ein Blitz den Himmel und fällte einen Baum. Was danach geschah, wusste Michael nicht genau. Alle Geräusche verstummten. Der Angreifer der Frau, der als Einziger noch stand, trat von ihrer reglosen, am Boden zusammengekrümmten Gestalt zurück und floh nach vollbrachter Tat, während Michael unnatürlich schnell und zugleich albtraumhaft langsam zu der Frau eilte. Halb lag sie im Gras, halb auf dem Parkweg, das Haar wie ein blutiger Wasserfall. Ihr Kopf war von ihm abgewandt.

Er kniete neben ihr nieder. Behutsam umfasste er ihr Gesicht und sah sie an.

O Gott.

Irgendetwas hielt ihn gefangen. Unsichtbar, unhörbar hinterließ es keine verwertbaren Spuren, war aber so real wie die Monster, die er eben noch bekämpft hatte. Gnadenlos verengte es seine Brust, krampfte sein Herz zusammen und jagte verzehrende Emotionen durch seine Seele.

Sie war atemberaubend. Obwohl sie die Augen geschlossen hatte, wusste er, wie sie aussahen. Als hätte er es schon immer gewusst. Jede Linie ihrer zarten Züge kannte er, als hätte er sie selbst gezeichnet. Er wusste, wie ihre Stimme klingen würde, wenn sie jemals seinen Namen aussprechen sollte. Und wie sich ihre Berührung anfühlen würde.

Wie ein Engel sah sie aus.

Weil sie einer war.

Einer der Drachen hatte sie gebissen, Luft war in ihre Adern gelangt. Vor Michaels Augen färbten sich ihre Lippen violett. Die Folgen einer solchen Attacke kannte er. Nun drängte die Zeit. Unglücklicherweise würde es kostbare Sekunden dauern, einen solchen Schaden zu beheben. Sogar Minuten.

»Sie muss geheilt werden.«

Verwirrt blickte er von seinem Sternenengel auf. Neben ihm stand eine zweite Frau. Ihre Schritte hatte er nicht gehört, ihre Ankunft nicht bemerkt. Aber aus irgendeinem Grund fand er ihre Anwesenheit nicht seltsam.

Sie war mittelgroß und durchschnittlich gebaut, trug Jeans und ein Chicago-Blackhawks-T-Shirt. Als Michael ihr schulterlanges braunes Haar und die braunen Augen betrachtete, wusste er sofort, dass dies alles eine Tarnung sein musste. So sah sie nicht wirklich aus. Hinter der Fassade verbarg sich etwas anderes, etwas Größeres, eine Macht, die ihn an Samael erinnerte.

Wer sie war, fragte er nicht. In diesem Moment interessierte es ihn auch gar nicht. Die wichtigste Frau im ganzen Universum lag vor ihm – die Einzige, nach der er sich jemals gesehnt hatte, drohte zu sterben.

Was hatte die Fremde soeben gesagt? Das Wort »heilen« durchstach ihn wie eine eisige Lanze.

»Das kann ich nicht«, flüsterte er verzweifelt. Er konnte sie nicht heilen. Diese Macht war dank Samael von ihm auf Azrael übergegangen. Nun brauchte Michael eine Tür, um ins Herrenhaus zu gelangen. Aber in diesem riesigen Park gab es keine Türen, er würde seine Brüder und ihre Sternenengel nicht rechtzeitig erreichen. Selbst wenn er sie anrief, würden sie zu spät hier eintreffen, denn sie waren zu weit entfernt.

Was für ein Zufall war denn das? Warum war all das ausgerechnet hier geschehen? Warum jetzt? Wurde er bestraft? War er bei dem Alten Mann in Ungnade gefallen?

»Das kann ich nicht«, wiederholte er.

»Ich weiß«, sagte die Frau, kniete neben ihm nieder und musterte seinen Sternenengel. »Aber ich kann es.«

Verblüfft erstarrte er. Durfte er seinen Ohren trauen?

»Sie heißt Rhiannon«, erklärte sie lächelnd. Dann beugte sie sich vor und legte ihre Handflächen auf Rhiannons Brust, so wie Michael es getan hätte.

Wenig später färbten sich die violetten Lippen blau.

Rhiannon, dachte er. Ein schöner Name, ausdrucksstark, perfekt.

Nun spürte er die Welle der Magie, die von der Frau an seiner Seite in Rhiannons Körper überging und die tödliche Luft aus den Adern presste.

Aber plötzlich erstarrte die Frau, zog ihre Hände noch vor dem Ende der heilsamen Prozedur zurück, und Michael erschrak.

»Nein.« Ihr Blick schweifte von Rhiannons bewusstloser Gestalt zu ihm. »Jetzt kommt er hierher. Er darf mich nicht finden, ich kann nicht bleiben. Tut mir wirklich leid.« Verzweifelt begann sie zu zittern – und verschwand.

Benommen starrte er auf die Stelle, wo sie eben noch gewesen war. Sein Körper fühlte sich an, als würde er nicht existieren, die Realität riss ihn entzwei, die letzte Hoffnung war ihm geraubt.

»Nein«, würgte er hervor, von Entsetzen erfasst, und blickte auf seinen Sternenengel hinab. Rhiannons Lippen verdunkelten sich wieder. Da verkrallte er seine Hände in ihr warmes T-Shirt und warf seinen Kopf in den Nacken. »Neiiiiin!«, schrie er in die Nacht.

»Also wirklich, Michael«, ertönte eine kühle, vertraute Stimme aus den Schatten vor ihm. Ungläubig erstarrte er. »Wie dramatisch.«

Der einstige Krieger sah Samael aus der Finsternis treten, hochgewachsen und attraktiv, wie üblich in einem der teuren maßgeschneiderten Anzüge, die man mit Geld oder Magie kaufen konnte. Die Hände in den Hosentaschen, wirkte er ruhig und gelassen. Hinter ihm erschien sein »Assistent« Jason.

Weder freundlich noch unfreundlich blickte Sam auf Michael hinab, dann musterte er ebenso wie Jason die reglose Frau am Boden.

»Du musst sie bald heilen, Michael. Sonst verlierst du deinen Sternenengel, den du jahrhundertelang gesucht hast.«

»Verdammter Hurensohn«, fauchte Mike. »Ich werde dich töten. Und wenn ich dabei sterbe.«

Anscheinend hörte Sam nicht zu. Oder die Drohung interessierte ihn nicht. »Wenn du dich beeilst – ich glaube, am Ende dieses Weges liegt ein Videoladen, der rund um die Uhr geöffnet ist. Die einzige Tür weit und breit.« Sein Blick glitt von Rhiannon zu Michael. »In dem Tempo, zu dem du fähig bist, brauchst du nur ein paar Minuten.«

Diesen Worten folgte ein drückendes Schweigen. Noch nie war Michael einem Selbstmord so nahe gewesen, noch keine Nacht so dunkel.

»Oder ich könnte sie für dich heilen«, sagte Sam.

Die Schatten spitzten ihre Ohren, der Mond lauschte, die Welt wartete.

Mit tränennassen Wangen richtete Michael sich auf, ihm blutete das Herz. Bitte, dachte er verzweifelt. »Tu es«, flüsterte er mit zitternder Stimme.

Langsam verzog Sam seine Lippen zu einem emotionslosen Lächeln. Er trat neben Rhiannon und kniete anmutig nieder. Hinter seinen anthrazitfarbenen Augen verbargen sich unergründliche Geheimnisse, und Michael verspürte den grässlichen Impuls, sie dem Gefallenen aus dem Kopf zu reißen und sie sich wie Kaviar in den Mund zu stopfen.

Aber sein Leben zerrann ihm zwischen den Fingern, die das T-Shirt seines Sternenengels festhielten. »Bitte«, fügte er hinzu. Aller Stolz war vergessen.

Samael schaute ihn an. Dann legte er seinen schönen Kopf schräg. Im Mondlicht schimmerte der Stahl seiner Augen. »Dafür musst du einen Preis zahlen, Michael. Aber das wusstest du, nicht wahr?« Jetzt wirkte sein Lächeln fast wehmütig. »Nichts im Leben ist umsonst.«

Hilfloser Zorn verwandelte Michaels blaue Augen in arktisches Eis. Weder Sam noch er selbst gaben sich irgendwelchen Illusionen hin. Beide wussten sie schon seit Sams Ankunft, dass Michael alle Forderungen des Gefallenen erfüllen würde.

Samael berührte die Brust des Sternenengels.

Michael stockte der Atem, Sams Blick schien ihn zu durchbohren.

»Nun, Krieger?« In den Worten des Gefallenen spiegelte sich der Triumph angesichts seiner jahrtausendelang ersehnten Rache. »Was ist dir deine Seelengefährtin wert?«

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Gegenwart

 

Er ist ein Erzengel, sagte sie sich energisch und versuchte mit aller Macht, nicht so nervös zu sein, hier, vor dem Altar inmitten der Ruinen von Slains Castle in Schottland. Neben dem Bräutigam Gabriel stand Azrael, ihrer Meinung nach der Inbegriff eines Traummannes. Unglaublich groß und imposant gebaut, trug er einen maßgeschneiderten nachtschwarzen Anzug, der seine außergewöhnliche Gestalt perfekt zur Geltung brachte. In sanften Wellen fiel das dunkle Haar auf seine Schultern, und es juckte sie in den Fingerspitzen, es zu berühren. Seine helle Haut wirkte fast durchscheinend. In seinem teuren Smoking glich er einem hochherrschaftlichen Vampir, und die intensive Glut seiner goldenen Augen machte sie fast verrückt.

Dies war die Hochzeit ihrer besten Freundin Juliette Anderson, genannt Jules. Sophie hatte als Brautjungfer die Aufgabe, hilfreich dazustehen, den Strauß zu übernehmen und all das. Aber während der Priester die versammelten Hochzeitsgäste auf Gälisch begrüßte und die bittersüße Musik der Dudelsackpfeifer über das Grundstück des Schlosses hallte, konnte sie sich nur auf Azrael konzentrieren.

Auf Azrael, den Erzengel.

Ein paar Stunden, nachdem Sophie in Edinburgh aus dem Flieger gestiegen war, hatte Juliette ihr alles über die vier Lieblingserzengel des Alten Mannes erzählt. Soph hatte seit drei Wochen ihre eigenen Neuigkeiten loswerden wollen. Aber ein Blick in Juliettes Gesicht und der eindringliche Klang ihrer Stimme hatten Sophies Probleme sofort in den Hintergrund verbannt, wo sie immer noch warteten.

Der Bräutigam und seine Brüder waren die berühmtesten Erzengel: Gabriel, der Himmelsbote, Michael, der Krieger, Uriel, der Racheengel – und Azrael, der Engel des Todes.

So sieht er auch aus, dachte Sophie. Verstohlen musterte sie den attraktiven Mann. Er war einfach zu schön, auf eine Art, die es einem irgendwie erschwerte, ihn anzuschauen. Fast wie Dorian Gray. Hatte auch er seine Seele verkauft, um so auszusehen?

Laut Juliette waren die vier Erzengel vor zweitausend Jahren auf die Erde gekommen, um etwas Kostbares zu suchen – ihre Gefährtinnen. Das hörte sich an wie eine Werwolf-Romanze. Aber es musste wohl stimmen. Offenbar hatte der Alte Mann seinen vier Lieblingen perfekte weibliche Erzengel geschenkt, Sternenengel genannt. Die hatte er auf die Erde geschickt, bevor die vier Brüder sie finden konnten, verstreut und jahrhundertelang für ihre Partner verloren. Bis jetzt.

Aus unerfindlichen Gründen schienen alle Sternenengel auf einmal aufzutauchen. Nun ja, vielleicht nicht alle, überlegte Sophie, während nun Juliette, flankiert von ihren Eltern, in ihrem hinreißenden Brautkleid durch den Mittelgang zwischen den geschnitzten Stühlen zum Altar schritt. Immerhin war ihre beste Freundin erst der zweite Sternenengel, den ein Erzengel gefunden hatte. Und dass beide Frauen innerhalb weniger Monate auf der Bildfläche erschienen waren, konnte ein Zufall sein. Trotzdem. Zweitausend Jahre, ohne dass irgendetwas passierte, und dann plötzlich …

Sophie spähte unauffällig zu Uriel hinüber, dem ersten Erzengel, der seine Gefährtin ausfindig gemacht hatte. Auch er sah umwerfend aus in seinem eleganten Smoking, mit strahlenden grünen Augen und braunen Locken. Zu Sophies Verblüffung war er der berühmte Schauspieler Christopher Daniels, der in dem Film Ausgleichende Gerechtigkeit den »guten« Vampir Jonathan Brakes gemimt hatte.

Seinem Bruder Azrael gegenüber war sie noch weniger unbefangen, denn er war nicht nur der attraktivste Mann, den sie je gesehen hatte, sondern auch der Frontsänger von Valley of Shadow, der derzeit weltweit populärsten Rockband. Wobei deren namensgebender Song, in dessen Refrain es hieß »Yea, though I walk through the valley of the shadow of death … «, plötzlich noch ganz andere Dimensionen eröffnete, seit Sophie wusste, um wen es sich bei Azrael in Wirklichkeit handelte. Sehr passend.

Als Sänger trug er auf der Bühne stets eine geheimnisvolle, schwarze Maske, die sein halbes Gesicht vor den Fans versteckte. Seine schmachtende Stimme hypnotisierte das Publikum, seine Identität blieb verborgen.

Seit die Band Valley of Shadow existierte, war Sophie ihr begeisterter Fan, so wie zahllose Frauen in aller Welt. Der Anblick, das Charisma und die Persönlichkeit des Maskierten bezauberten sie. Wenn sie seine Songs auf ihren iPod herunterlud, schloss sie die Augen und stellte sich vor, er würde nur für sie singen. Verdammt, sie träumte sogar von ihm.

O Gott. Bei dieser Erinnerung errötete sie verlegen und verwirrt. Die Braut nahm ihren Platz vor dem Altar ein. Als die Zeremonie begann, übernahm Sophie den Brautstrauß. Unfassbar – nun stand sie nur wenige Schritte von dem Maskierten entfernt. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er ein Erzengel war, noch dazu der Todesengel. In ihrem Kopf drehte sich alles.

Er starrt mich an. Ja, eindeutig, der Erzengel, der ihr direkt gegenüberstand, fixierte sie, und sie zwang sich, die Lider zu senken. Wann immer sie aufsah, glaubte sie, er würde in ihre Seele schauen, ihre Gedanken lesen, ihren Geist mit diesen durchdringenden Augen in sich einsaugen. Das war zu viel. Und doch … Obwohl sie sich dagegen sträubte, weil er so intensive Gefühle in ihr weckte, wollte sie es gerade deswegen.

Wie eine Motte wurde sie zum Licht gelockt.

Als der Priester um die Ringe bat, schaute Azrael endlich weg. Mit einer geschmeidigen Geste nahm er zwei massive Goldringe aus der Innentasche seines Smokingjacketts und gab sie dem attraktiven Bräutigam. Gabriel grinste ziemlich irdisch und wandte sich seiner Braut zu.

Fasziniert beobachtete Sophie, wie er ihrer Freundin den breiten Reif an den schmalen Finger steckte. Im Mond- und Kerzenlicht funkelte die goldene Gravur keltischer Ornamente. Der Ring passte Juliette perfekt, glich einem endgültigen, unauslöschlichen Brandzeichen, und Sophie stellte sich vor, Azrael würde sie mit einem solchen Ring an sich binden.

Und dann blinzelte sie. Heftig hämmerte ihr Herz gegen die Rippen. Beinahe spürte sie das metallische Gewicht an ihrem Finger, Azraels warme Berührung an ihrer Hand. Woher zum Teufel kam diese Vision? Aus dem Nirgendwo, glasklar, und jetzt ließ sie sich nicht verscheuchen.

Sophie fühlte brennende Schamröte in ihren Wangen. Wenn er wüsste, woran sie dachte …

Verwirrt merkte sie, dass die Zeremonie beendet war. Die Dudelsackpfeifer spielten »Amazing Grace«, die Braut und der Bräutigam küssten sich. Danach sagte der Geistliche noch ein paar gälische Worte, die Juliette anscheinend verstand, und Gabriel führte sie den Mittelgang hinunter.

Es war die Nacht des Vollmonds, der das schöne Schloss in bläulich weißes Licht tauchte. Zwischen den steinernen Säulen und hoch oben von den Zinnen flatterten Fähnchen und Bänder, tief unten umspülten die sanften Wellen der Ebbe die Felsen, Möwen riefen, Rosen- und Lavendeldüfte erfüllten die milde, für die Jahreszeit ungewöhnlich warme Luft. Während die Hochzeitsgäste – hauptsächlich Leute von Gabriels schottischer »Heimatinsel« Harris – die Ursache des angenehmen Wetters nicht kannten, wusste Sophie Bescheid. Das verdankten sie Eleanore Granger, dem ersten Sternenengel, den die vier Lieblingserzengel des Alten Mannes gefunden hatten.

Eleanore, Uriels Seelengefährtin, besaß ähnliche Talente wie Juliette, was Sophie immer noch zu begreifen versuchte. Bis zu einem gewissen Grad konnten beide Frauen das Wetter kontrollieren, mittels telekinetischer Fähigkeiten Gegenstände herumwerfen und Feuer manipulieren, wo es bereits existierte. Vor allem aber verstand sie etwas von der Heilkunst. Die Gabe, Wunden und Krankheiten mit einer einzigen Berührung zu kurieren, unterschied die Sternenengel von sämtlichen anderen übernatürlichen Geschöpfen auf dieser Welt. Auch das hatte Sophie ziemlich schnell akzeptieren müssen: Offenbar lebten nicht nur Erz- und Sternenengel inmitten ahnungsloser Menschen, sondern auch andere überirdische, machtvolle Wesen.

Aber die konnten niemanden so schnell heilen und von Schmerzen befreien. Das vermochten nur die Sternenengel und Michael.

Mit diesen Erklärungen hatte Juliette ihrer Freundin einiges zugemutet. Zum Glück für Jules war Soph kaum zu erschüttern. Allzu gut erinnerte sie sich nicht an ihre frühe Kindheit. Aber was sie über diese kostbare Zeit wusste, bewahrte sie tief in ihrem Herzen. Nur sechs Jahre hatte sie mit ihren Eltern verbracht. Eine Woche vor ihrem sechsten Geburtstag waren sie bei einem Autounfall gestorben. Bis zu jenem Tag hatte Sophie in einem Paradies gelebt.

Ihre Mutter war Kuratorin im American Museum of Natural History in New York gewesen, ihr Vater Pilot. Wenn er unterwegs war, hatte Sophie ihre Mom zuweilen ins Museum begleitet. Dort erforschten sie außerhalb der Öffnungszeiten alte ägyptische Gräber, und die Mutter erzählte Geistergeschichten im Whale Room, wo ein blauer Wal hing.

Genevieve Bryce, Sophies Mom, war eine einzigartige, aufgeschlossene Frau gewesen. Nichts hatte sie für unmöglich gehalten. »Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.« Dieses Shakespeare-Zitat hatte Sophie mehrmals von ihr gehört, eine der wenigen Bemerkungen ihrer Mutter, an die sie sich erinnerte. Für Genevieve waren Magie und Wunder keine Hirngespinste gewesen, sondern reale Möglichkeiten. Diesen Respekt vor einer Welt jenseits des menschlichen Wissens hatte sie in der kurzen gemeinsamen Zeit an ihre Tochter weitergegeben.

Glücklichweise hatten die wenigen Jahre dafür genügt. Sonst wäre Sophie nach allem, was Jules ihr in den letzten paar Tagen erzählt hatte, in der Klapsmühle gelandet. Oder sie würde glauben, Jules würde dorthin gehören. Ohne Genevieves Einfluss auf ihre Tochter wäre es Juliette viel schwerer gefallen, die Freundin davon zu überzeugen, dass es sich bei den stattlichen jungen Männern tatsächlich um die vier Erzengel handelte.

Nun spürte Sophie die enorme physische Präsenz der Erzengel, begegnete ihren magnetischen Blicken, und es stand endgültig fest: diese magische Welt gab es tatsächlich. Gar nicht zu reden von dem Beweis, den Eleanore für ihre Macht geliefert hatte …

Außerdem hatte Juliette der Freundin ihre Flügel gezeigt  – echte Flügel. Jules konnte praktischerweise entscheiden, wann sie auftauchen sollten und wann nicht. Denn sie waren ziemlich groß, je etwa zweieinhalb Meter breit. Und was Sophie am meisten beeindruckte, sie funktionierten.

Das tat ihr ein bisschen weh. Gewiss, sie freute sich für Juliette und an deren Glück, weil Jules nur das Allerbeste verdiente. Schon immer war sie herzensgut gewesen, einfühlsam, verständnisvoll, großzügig. Eine bessere Freundin konnte Soph sich nicht wünschen. Sie hatten sich in der Highschool kennengelernt, kurz nach Sophies Ankunft bei ihren fünften Pflegeeltern. Dank eines günstigen Zufalls, wie er vielen Leuten zu engen Freundschaften verhilft, hatten ihre Spinde nebeneinander gelegen. Juliette entdeckte das Jack-the-Pumpkin-King-Poster in Sophies Spind und erwähnte, sie würde an diesem Freitagabend allein zu einer Reel-Classics-Aufführung des Films Nightmare Before Christmas gehen. Ohne zu zögern, fragte sie, ob Sophie mitkommen würde. Und das war’s gewesen. Erstaunlich schnell und innig entstand eine fast magische Freundschaft. Jules hatte Soph niemals vorgeworfen, sie habe keine »richtige« Familie und keine »gute Erziehung«. Für Sophie war das ein Geschenk des Himmels gewesen, und sie wusste nicht, was sie ohne Jules tun würde.

Und doch … Als Juliette sie auf eine Klippe geführt, diese großartigen Flügel ausgebreitet und sich in die Luft erhoben hatte, war Sophie von einem völlig neuen Gefühl erfasst worden. Eifersucht auf ihre beste Freundin. Neid.

Ein bitteres Gefühl, das einen schlechten Geschmack auf ihrer Zunge hinterlassen hatte und ihr den Magen zusammenzog. Dagegen konnte sie nichts tun. Alles würde sie für die Fähigkeit geben, den Fesseln der Erde zu entrinnen, den Dingen, die sie hier unten festhielten. Alles …

Nun erreichte das Brautpaar das Ende des Mittelgangs, und Gabriels schottische Freunde warfen Blütenblätter. Hunderte weißer Rosenblüten rieselten auf die beiden herab, Glückwünsche erklangen, untermalt von der grandiosen Musik der Dudelsackpfeifer, die sich wie Wachtposten entlang der Schlossmauer postiert hatten. Zutiefst bewegt von der romantischen Szene, flüsterte Sophie vor sich hin: »Meine beste Freundin hat geheiratet.« Erst jetzt wurde ihr die Bedeutung des Ereignisses richtig bewusst.

Lachend zupfte Juliette die Rosenblütenblätter aus ihrem schönen Haar. Dann sah Sophie, wie zärtlich Gabriel die Wange seiner Frau küsste und die Augen schloss, im Wunder seines neuen Eheglücks versunken.

Und Soph lächelte. »Alles Gute, Jules, du verdienst ihn.«

 

Azrael stand allein im Waschraum der Herrentoilette, die eigens für die Hochzeitsgäste vor Slains Castle errichtet worden war. In der Luft hing eine unheimliche Vorahnung. Stürme brauten sich zusammen. Heiße, zerstörerische Hurrikane wühlten Azraels Seele auf und flehten um ihre Entfesselung. Zitternd rang er nach Atem und presste seine Stirn gegen den Spiegel. Dann blickte er auf und betrachtete sein Gesicht.

Noch ein menschlicher Mythos erwies sich auf schreckliche Weise als falsch. Vampire konnten ihre Spiegelbilder sehen. Nur Geister nicht. Die Zähne gefletscht, brach er in kaltes, hartes Gelächter aus. In diesem Moment schwirrten furchtbar dumme Gedanken durch seinen Kopf. Wie Glühwürmchen durch eine pechschwarze Nacht. Chaotisch, sinnlos, eine höchst unwillkommene Ablenkung.

In seinem Gehirn hallte Sophies gewisperte Sehnsucht wider. Alles würde ich dafür geben. Sie hatte an Juliettes Flügel gedacht und sich gewünscht, sie könnte fliegen. Wenn sie wüsste, welch eine gefährliche Verlockung ihre Gedanken waren … Ganz zu schweigen von ihrer Reaktion auf das Bild, das er so achtlos in ihre Fantasie geschickt hatte – die Vision von dem Ehering, den er auf ihren Finger streifte … Das hatte er nicht geplant, sondern es sich einfach nur selbst vorgestellt. Aber er war in ihrem Kopf gewesen, hingerissen von ihrer Persönlichkeit, und sie hatte das Bild prompt aufgeschnappt.

Ihr Herz war fast stehen geblieben, ihre Wangen hatten sich gerötet. Vom plötzlich schnelleren Blutstrom erfüllt, waren ihre Lippen voller geworden. Glasige Augen, stockender Atem … Und Az hatte auf der Hochzeit seines Bruders einen Teil seines Verstandes verloren.

So hatte er sich noch nie gefühlt. Nicht in seinen zweitausend Jahren auf der Erde, nicht in den vielen Tausend Jahren im Engelreich. Noch nie hatte er dermaßen die Kontrolle verloren. Irgendwie gewann er den Eindruck, er wäre an einer Grippe erkrankt. Aber Vampire bekamen keine Grippe. Erzengel auch nicht. Und der Todesengel schon gar nicht.

Azrael fluchte leise. Unter seiner Handfläche zersprang der Spiegel, Splitter schnitten in seine Haut. Er blinzelte und trat langsam zurück, drehte seine Hand um und starrte eine hervorquellende rote Linie an. Mit seinem Blick schloss er die Wunde. Dann musterte er wieder den Spiegel und sah die Konsequenz seiner Wut. Ein Blitz hatte das Glas zertrümmert, ein Effekt des Gewittersturms, der in ihm tobte und sich so entladen hatte. Reiß dich zusammen, ermahnte er sich streng. Immerhin war er der mächtigste Vampir auf Erden. Wenn er seine Emotionen nicht kontrollieren konnte, würden sie mit unglaublich zerstörerischer Kraft hervorbrechen.

Nun musste er nachdenken, einen Plan schmieden. Sophie Bryce war kaum zweihundert Meter weit weg, ein wandelnder, sprechender Sonnenstrahl, der ihm zu entgleiten drohte.

Im Waschraum der Männertoilette begannen die Lampen zu flackern, die Schatten in den Ecken wurden länger. Die Temperatur sank, in der Ferne grollte Donner, und Az fluchte wieder, denn er kämpfte auf verlorenem Posten. Der geborstene Spiegel reflektierte einen großen, breitschultrigen Mann, in stygisches Schwarz gekleidet. Dunkles Haar umrahmte sein wunderschönes, viel zu bleiches Gesicht mit den zu hellen Augen.

Und den zu langen Reißzähnen.

Mühsam zwang er seine Fänge, sich etwas zu verkleinern. Vollends loswerden konnte er sie nicht, seine Eckzähne würden immer etwas spitzer und länger sein als die menschlichen. Aber wenn er sich konzentrierte, schaffte er es, dass sie passabel aussahen – eine erlernte Vampirfähigkeit. Neue Vampire mussten das üben, und manchmal dauerte es Jahre, bis sie’s hinkriegten.

Das wusste Az nur zu gut. Als er vor zweitausend Jahren zusammen mit seinen Brüdern ihre Heimat verlassen hatte, um fortan auf der Erde zu leben, war etwas mit ihm geschehen. Nach Michaels Theorie hatten die Aktivitäten des Todesengels dessen Menschengestalt irgendwie negativ beeinflusst. Im Gegensatz zu seinen Brüdern war Azrael in ein übernatürliches Monstrum verwandelt worden.

Damals hatte es noch keinen Namen für seine neue Wesensart gegeben. Die Reißzähne, der fast unstillbare Durst nach Blut, die tödliche Abneigung gegen die Sonne – diese Symptome hatten nicht existiert, bis Azrael auf der Erde gelandet war, der erste Vampir. So hatte er sich selbst genannt, weil es ihm passend erschienen war.

Mehrere Monate hatte er gebraucht, um den Durst zu kontrollieren. Eine sehr schmerzliche Phase. Seither vergaß er niemals die Qualen, die seine Seele zerrissen hatten. Und jetzt dankte er jede Nacht, wenn er mit den Sternen erwachte, seinem Schicksal, weil er nicht mehr litt. Den Blutdurst musste er immer noch stillen. Um zu überleben, brauchte ein Vampir in allen Nächten ein gewisses Quantum an Menschenblut. Aber er akzeptierte das Bedürfnis als ein Merkmal seiner Physiologie, schätzte sich glücklich und hielt es nie für selbstverständlich, dass er der grausigen Gier seiner ersten Vampirzeiten entronnen war.

Doch in dieser Nacht …

Während er im Waschraum der Männertoilette vor den Mauern des Schlosses stand, wurde er von einer beklemmenden Angst erfasst, die sein Gehirn zu benebeln drohte. Denn er spürte ihn wieder, diesen triebhaften Durst, der alle klaren Gedanken und vernünftigen Wünsche verdrängte und totalen Gehorsam forderte. Und diesmal steuerte die Gier ein ganz bestimmtes Ziel an.

Wie ein Wahnsinniger dürstete und hungerte er nach Sophie Bryce. Seinem Sternenengel.