Antje Babendererde

DER
GESANGDER
ORCAS

Roman

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Weitere Titel von Antje Babendererde im Arena-Programm:
Lakota Moon (Band 2936)
Talitha Running Horse (Band 2937)
Libellensommer (Band 50019)
Die verborgene Seite des Mondes (Band 50111)
Indigosommer (Band 50222)
Rain Song (Band 6522)
Findet mich die Liebe? (Band 6364)

Antje Babendererde,
geboren 1963 in Jena/Thüringen, war zunächst
als Arbeitstherapeutin in einem Fachkrankenhaus
für Psychiatrie und Neurologie tätig.
Seit 1996 ist sie freiberufliche Autorin mit einem speziellen
Interesse an der Kultur der Indianer. Nach intensiven
USA-Reisen und den Besuchen verschiedener Reservate
erschienen von ihr mehrere Romane für Erwachsene zu diesem
Thema. »Der Gesang der Orcas« ist ihr erstes Jugendbuch.

... mit einer Prise mystischem Pathos und (...) vor allem
der zarten Liebesgeschichte (...) sorgt die Autorin
für ein kurzweiliges Leseerlebnis.

BULLETIN JUGEND & LITERATUR

Ein außergewöhnlicher Jugendroman, der auf vordergründige
»Action« verzichtet, sehr ruhig und gefühlvoll und dabei
unglaublich spannend ist.

WESTDEUTSCHE ZEITUNG

 

 

 

Für Sophie und Friedrich

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12. Auflage als Arena-Taschenbuch 2012
© 2003 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Frauke Schneider
Umschlagtypografie: KCS GmbH · Verlagsservice & Medienproduktion, Stelle/Hamburg
ISSN 0518-4002
ISBN 978-3-401-80296-1

www.arena-verlag.de
Mitreden unter forum.arena-verlag.de

»Worte können das Unheimliche des
Walgesangs nicht beschreiben;
über Jahrmillionen zu einer
unübertrefflichen Reinheit gestimmt,
ein Klang, den die Menschen jeden Morgen
hören sollten, damit er sie an den Morgen der
Schöpfung erinnert.«

Peter Matthiessen,
Blue Meridian, Random House 1971

image 1. Kapitel

Die Knie ans Kinn gezogen und meine Arme fest darum geschlungen, hockte ich auf der blauen Holzbank, meinem Lieblingsplatz. Hier, auf dem jüdischen Friedhof in Berlin Weißensee, hatte die Stille einen ganz eigenen Klang. Die vielen Geräusche der Stadt und der Straßenlärm blieben ausgesperrt hinter dicken, hohen Mauern. Sie umgaben den alten Friedhof wie ein Festungswall. Es waren dunkle Mauern aus Sandstein, bewachsen mit Efeu, Farnen und Moosen in den verschiedensten Grüntönen. Die Luft unter den dicken Kronen der hohen Bäume war kühl und schwer und über allem lag der Atem längst vergangener Zeiten.

Ich war jeden Tag hier. Eigentlich hätte ich auf einem ganz anderen Friedhof sein müssen als diesem, aber auch fünf Monate nach dem Tod meiner Mutter fiel es mir immer noch schwer, ihr Grab zu besuchen. Sie war nur 35 Jahre alt geworden. Die letzten vier davon hatte sie gegen den Krebs gekämpft, der ihren Körper durchwucherte und immer mehr zerstörte, ohne dass Operationen oder Chemotherapien ihn aufhalten konnten. Sie hatte gekämpft und verloren. Ich konnte immer noch nicht begreifen, dass sie nicht mehr da war.

Wenn Mama mir ganz besonders fehlte, ging ich hierher, an diesen stillen Ort mitten in der Stadt. Ich hatte den alten Friedhof vor zwei Jahren gefunden, gleich nachdem wir aus unserem kleinen Dorf in Brandenburg nach Berlin gezogen waren. Damals wollte ich nicht weg von dort, wo meine Großmutter lebte und ich Freunde hatte, die ich schon aus dem Kindergarten kannte. Aber ich sah ein, dass der Umzug notwendig war. Meine Mutter musste immer häufiger ins Krankenhaus und Papa und ich, wir wollten in ihrer Nähe sein, um sie jeden Tag besuchen zu können.

Wenn ich jetzt in ihrer Nähe sein wollte, kam ich hierher, auch wenn auf keinem der vielen verwitterten Grabsteine mit den hebräischen Schriftzeichen der Name Sabine Tanner stand. Meine Mutter hatte diesen Ort geliebt und ich tat das auch, denn hier spürte ich ihre Gegenwart mehr als anderswo.

Als ihr das Laufen bereits schwer fiel, waren wir auf diesen Wegen zusammen spazieren gegangen. Ganz langsam. Mama eingehüllt in ihren dicken Mantel. Wir hatten Gespräche geführt über Dinge, die sie mir eigentlich erst erzählen wollte, wenn ich älter sein würde und alles besser verstehen konnte. »Die Zeit läuft mir davon«,höre ich sie noch mit müder Stimme sagen. »Du sollst alles über mich wissen, Sofie, damit du weißt, wer deine Mutter war, und du deinen Kindern von mir erzählen kannst. Es tröstet mich, in dir weiterzuleben.«

Wir hatten über den Abschied geredet. Mama hatte versucht mich darauf vorzubereiten und ich war ungeheuer tapfer gewesen. Aber als es dann passierte, war ich überhaupt nicht vorbereitet. Ich glaube, das ist man nie, wenn jemand stirbt, den man sehr liebt.

Nun fand ich nur unter den riesigen alten Ahornbäumen und den Buchen mit ihren mächtigen Kronen ein wenig Trost. Die efeuumrankten Grabsteine erzählten traurige Geschichten, die mich von meinem eigenen Schmerz ablenkten. Jedenfalls für eine Weile. Ich hatte immer meinen Malkasten und einen Zeichenblock dabei, um die verschiedenen Stimmungen aufs Papier zu bannen und meiner Trauer eine Farbe zu geben. Zeichnen und malen waren meine Leidenschaft. Mit meinen grün-dunklen Bildern vom jüdischen Friedhof hätte ich ein ganzes Zimmer tapezieren können.

Es war Abend geworden.Als ich durch das schmiedeeiserne Friedhofstor trat, um nach Hause zu gehen, hatte ich das Gefühl, von meinen Problemen fast erdrückt zu werden. Ich konnte sie nicht loswerden. Tag für Tag trug ich sie mit mir herum wie eine nasse Pelzjacke.

Mein größtes Problem war meine Traurigkeit. Das zweitgrößte war ich selbst: Sofie Tanner, fünfzehn Jahre alt, rothaarig und sommersprossig, von den meisten in meiner Klasse für merkwürdig und eigenbrötlerisch gehalten. Und das nur, weil ich mich nicht nach der neusten Mode kleidete und gerne klassische Musik hörte. Außerdem war ich wissbegierig und das Lernen fiel mir leicht, was mir zu allem anderen noch den Ruf einer Streberin eingebracht hatte.

Zugegeben, in den letzten fünf Monaten war mein Verhalten wahrscheinlich immer merkwürdiger geworden. Mama war nicht mehr da. Die Stelle in mir, wo meine Liebe zu ihr gewohnt hatte, war jetzt leer. Als hätte man etwas aus mir herausgerissen. Ich hatte mich mehr und mehr in mich selbst zurückgezogen und war immer einsilbiger geworden.

Aber war das nicht verständlich? Konnte denn niemand nachvollziehen, wie mir zu Mute war? Meine Mutter und ich, wir waren wie verwachsen gewesen. Ich wurzelte in ihr. Und nun war sie nicht mehr da.

Mein Vater, der noch weniger mit ihrem Tod zurechtkam als ich, hatte sich wie ein Verrückter in seine Arbeit gestürzt und nahm nur noch am Rand wahr, dass es mich überhaupt gab. Ich war einsam. So einsam, dass es weh tat und ich mich immer wieder wunderte, warum ich nicht schrie vor Schmerz und Verzweiflung und Wut.

Aber das tat ich natürlich nicht. Ich machte weiter wie bisher: ging jeden Tag zur Schule, montags zum Flötenunterricht und mittwochs in einen Malzirkel. Ich war nicht bei der Sache, aber zumindest waren die Erwachsenen so höflich mir das nachzusehen. Sie waren ganz furchtbar verständnisvoll, denn schließlich hatte ich einen schweren Verlust erlitten.

Meine Klassenkameraden dagegen veränderten ihr Verhalten mir gegenüber nur für ein paar Tage. Die meisten sprachen mir zwar ihr Beileid aus, aber gleich darauf taten sie so, als ob ich gar nicht mehr vorhanden wäre. Eine Woche nach der Beerdigung meiner Mutter schien die Sache für sie abgeschlossen zu sein und sie setzten ihre Spötteleien fort. Ich nahm es ihnen nicht übel, weil ich wusste, dass ihnen einfach die Vorstellungskraft fehlte. Jeder von ihnen hatte noch beide Eltern, auch wenn drei oder vier Ehen geschieden waren und Vater oder Mutter nicht mehr zu Hause wohnten.

Es war nicht dasselbe.

Wahrscheinlich würden auch sie noch irgendwann lernen, was wirklicher Schmerz ist, dachte ich mir. Mich hatte es eben nur früher erwischt und ich hatte keine andere Wahl, als damit zurechtzukommen. Auch wenn es Tage gab, an denen mir das unmöglich erschien. Ich hatte Angst, dass meine Einsamkeit mich nie mehr verlassen würde.

Doch jetzt waren Sommerferien und für ein paar Wochen brauchte ich mich wenigstens nicht der Großspurigkeit und dem Gespött meiner Mitschüler auszusetzen. Es war zwar nicht so, dass sie mich wirklich hassten oder quälten. Niemand war mein Feind. Aber ein paar hatten Freude daran, kleine, spitze Bemerkungen über mich fallen zu lassen. Besonders unter den Mädchen gab es einige, die es offensichtlich witzig fanden, mich zu ärgern. Ich weiß nicht, warum, denn ich hatte ihnen nie etwas getan. Ich glaube einfach, meine Welt war anders als ihre. Keine Ahnung, woran das lag, aber es wurde mir irgendwann klar und von da an kam ich besser damit zurecht.

Auf jeden Fall war ich froh, dass ich sie allesamt erst einmal für sechs lange Wochen nicht sehen musste. Fehlen würden sie mir bestimmt nicht. Ich hatte nämlich Pläne. In 14 Tagen wollte ich zu Tante Elisabeth nach Brandenburg fahren. Sie war die Schwester meines Vaters und lebte jetzt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in dem großen, alten Bauernhaus, in dem ich aufgewachsen war. Tante Elisabeth pflegte meine inzwischen bettlägerige Großmutter Lene und machte meinem Vater ab und zu Vorwürfe, dass er sich so wenig um seine kranke Mutter kümmerte. Als ich sie jetzt fragte, ob ich in den Ferien für ein paar Tage kommen könnte, hatte sie mir das gerne erlaubt.

Tante Elisabeth war ein bisschen hektisch und manchmal sehr laut. Trotzdem mochte ich sie. Vor allem aber mochte ich die Zwillinge Fabian und Sven, meine beiden gleichaltrigen Cousins, mit denen ich früher die verrücktesten Sachen erlebt hatte. Ich freute mich sehr darauf, sie wieder zu sehen. Ihre Späße würden mich vielleicht ein wenig ablenken.

Nach einem zehnminütigen Fußmarsch stand ich vor dem schmalen Mietshaus aus roten Backsteinen, in dem ich wohnte. Papa hatte es vor zwei Jahren gekauft. Unten, im Erdgeschoss, hatte mein Vater sein Fotoatelier und die Dunkelkammer,darüber befanden sich unsere Zimmer. Als Mama noch da war, hatten wir zwei Etagen bewohnt. Seit drei Monaten vermietete mein Vater die oberste Etage an einen Studenten, weil wir nicht so viel Platz, dafür aber das Geld brauchten. Papa verdiente zwar gut in seinem Beruf, aber in den letzten beiden Jahren hatte er nicht mehr so viele Aufträge angenommen und Mamas Krankheit hatte eine Menge Geld verschlungen.

»Bin wieder da«, rief ich in den dunklen Flur.

»Ich bin in der Dunkelkammer«, kam es hinter einer der Türen hervor. »Hab gleich alles fertig, dann komme ich.«

Mein Vater war Fotograf. Nicht irgendein Fotograf, der Passbilder oder langweilige gestellte Hochzeitsfotos machte, obwohl auch er einmal so angefangen hatte. Nein, Papa war ein richtig guter Fotograf, der ganz tolle Reportagen machte. Er hatte schon mehrere Preise gewonnen und seine Fotos wurden auf Ausstellungen gezeigt und in großen Magazinen abgedruckt. Der Name Frank Tanner stand für Qualität und Originalität. Seit Jahren war mein Vater in seinem Beruf viel unterwegs gewesen, oft auch in anderen Ländern und auf anderen Kontinenten. »Wenn du mal größer bist, Sofie«, hatte er immer gesagt, »dann nehme ich dich mit nach Afrika zu den Massai oder wir schauen uns die Pyramiden in Ägypten an. Du wirst meine Assistentin und begleitest mich überall hin.« Jedes Mal, wenn er wieder fortging, manchmal für einige Wochen, hoffte ich, dass ich bei seiner nächsten Reise groß genug sein würde, um ihn begleiten zu können. Aber es passierte nie.

Er fuhr alleine los und ließ Mama und mich zurück. Als sich sein Versprechen abgenutzt hatte, gab ich auch meine Hoffnung auf. Ich beschränkte mich darauf, mir seine wunderschönen Fotos in den glanzbeschichteten Magazinen und Bildbänden anzusehen und ungeheuer stolz auf ihn zu sein.

Einmal im Jahr machten wir zusammen Familienurlaub. Aber dann stand meinem Vater plötzlich nicht mehr der Sinn nach Abenteuern. Er wollte irgendwo in einem netten Hotel am Pool liegen und sich erholen. In den letzten beiden Jahren war meine Mutter ohnehin viel zu schwach gewesen, um solche Reisen zu machen. Unser Leben konzentrierte sich jetzt ganz auf sie und mein Vater begann Aufträge abzulehnen. Allerdings nicht ohne Folgen: Schnell musste er sich selbst wieder um Arbeit bemühen und sagte, in seiner Branche würde man sofort vergessen werden, wenn man nicht ununterbrochen präsent war.

Vor einem halben Jahr hatte er den Auftrag einer großen Gartenzeitschrift angenommen, Steinmauern zu fotografieren. Wir brauchten das Geld dringend. Mein Vater war in Irland unterwegs gewesen, als meine Mutter starb. Das kann er sich bis heute nicht verzeihen. Mama war gestorben und hatte ihn mit mir und seinen Schuldgefühlen allein gelassen.

Familie Tanner,das waren jetzt nur noch er und ich. Wir redeten nicht viel miteinander, über Mama schon gar nicht. Irgendwie funktionierte alles überhaupt nicht mehr.

Die Küche war unaufgeräumt. Ich warf einen Blick in den Kühlschrank und stellte fest, dass sich mal wieder keiner von uns beiden für den Einkauf zuständig gefühlt hatte. In den beleuchteten Fächern herrschte gähnende Leere. Nur zwei Flaschen Bier, eine Schachtel Margarine und eine Flasche Ketschup standen da. Im Gemüsefach schrumpelte eine welke Paprikaschote vor sich hin.

Irgendwie war uns beiden in den vergangenen Monaten der Appetit abhanden gekommen und manchmal vergaßen wir einfach zu essen. Papa würde mir keine Vorwürfe machen, das tat er nie. Aber natürlich mussten wir irgendetwas zu uns nehmen. Ich fand noch eine Pizza im Tiefkühlfach und steckte sie in die Röhre.

So viele Pizzaabendessen in den letzten Wochen.

Noch vor einem Jahr hätte Mama um diese Zeit in der Küche gestanden und einen herrlich duftenden Gemüseauflauf aus der Röhre gezaubert. Unsere gesunde Ernährung, auf die sie immer so geachtet hatte, war vollkommen im Eimer. So konnte es nicht weitergehen. Wir liefen herum, als wären wir nur noch Schatten unserer selbst. Ich wollte das nicht mehr. Ich wollte endlich wieder glücklich sein.

Papa kam wenig später nach oben und schnupperte in die Küche. »Hmm, Pizza«, sagte er, als hätte ich was besonders Ausgefallenes gekocht. Blass und müde sah er aus und die grauen Haare, die sich in seine blonden mischten, waren auffällig viele geworden. Er holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, setzte sich zu mir an den Tisch und fragte: »Na, wie war dein Tag heute?«

Müde hob ich die Schultern. »Ganz okay. Ich war auf dem Friedhof und habe gemalt.« Wie jeden Tag.

»Gut«, sagte er zerstreut, mit seinen Gedanken schon wieder ganz woanders. Es kam nur selten vor, dass er mich darum bat, ihm meine Bilder zu zeigen. Vielleicht waren sie ihm nicht gut genug, vielleicht war er auch einfach nur zu sehr mit sich selbst und seiner Arbeit beschäftigt.

Mama hatte sich meine Bilder immer angesehen und mir manchmal etwas dazu gesagt. Wenn sie nichts sagte, gefiel ihr, was ich gemalt hatte. Dann umarmte sie mich und ich fühlte mich gut.

Wir aßen schweigend unsere Pizza und danach räumte ich das schmutzige Geschirr in den Spüler. Ich sah noch ein bisschen fern, aber es kam nichts, das mich wirklich interessiert hätte. Da griff ich doch lieber zu meinem Walkman, legte eine Kassette mit Musik von Edvard Grieg ein und verschwand in einer Welt, die angenehmer war als die wirkliche. Ganz in dieser Welt zu bleiben, nicht mehr zurückzukehren, war eine verlockende Vorstellung. Wem würde ich schon fehlen?

Als ich meinem Vater später eine gute Nacht wünschte, saß er an seinem Schreibtisch über dem Lichtkasten und sortierte Negative. Er hob den Kopf und sah mich an, aber ich hatte das Gefühl, er würde durch mich hindurchsehen, als wäre auch ich nur ein Lichtbild.

Papa wollte auch wieder glücklich sein, das wurde mir in diesem Augenblick klar. Doch obwohl er mein Vater war und viel mehr Lebenserfahrung hatte, wusste er anscheinend auch nicht, wie er es anfangen sollte. Er fühlte sich genauso einsam und verloren wie ich.

Später, im Bett, lag ich wach und dachte, dass es vielleicht einfacher für mich sein würde, wenn ich eine richtige Freundin oder einen Freund hätte. Jemanden, der mich mochte – so, wie ich nun mal war – und mit dem ich über alles reden konnte. Aber eine richtige Freundin hatte ich hier in Berlin noch nicht gefunden und bisher hatte sich auch kein Junge für mich interessiert. Woran Letzteres liegen könnte, darüber machte ich mir keine Illusionen. Die Jungs am Gymnasium hatten ziemlich klare Vorstellungen davon, wie ihre »Bräute«, wie sie ihre Freundinnen nannten, auszusehen hatten. Das Wichtigste schien der Brustumfang zu sein und davon besaß ich nur kläglich wenig. Da war zwar was, aber es wollte nicht wachsen. Jedenfalls nicht so schnell wie bei den anderen Mädchen in meiner Klasse.

Wenn ich mit solchen Sorgen zu meiner Mutter gekommen war, hatte sie immer einen netten Spruch auf Lager gehabt, der mich darüber hinwegtröstete und zum Lachen brachte. Doch nun tröstete mich niemand mehr. Mamas Lachen fehlte mir so. Sie hatte immer alles in Ordnung bringen können.

Seit sie nicht mehr da war, fühlte ich mich unwohl in meiner Haut. Meinen eckigen Körper versteckte ich am liebsten unter weiten Kleidern und Hosen, sodass meine Figur überhaupt nicht mehr zu sehen war. Unauffällig wollte ich sein – oder wenigstens wie alle anderen. Aber etwas in meinem Inneren machte das immer unmöglich.

Das Einzige, was ich wirklich an mir mochte, war mein Haar. Es war dick und glänzte kupferrot. Meistens trug ich es offen bis auf die Schultern und trotzdem behandelten mich Jungs und Mädchen wie ein Neutrum. Wie etwas, das keinen zweiten Blick wert war. Graue Maus, nannten sie mich – obwohl mein Kopf leuchtete wie eine Tomate.

Schon halb im Schlaf hörte ich ein Klopfen an meiner Tür und der Kopf meines Vaters erschien im Lichtspalt. »Bist du noch wach, Sofie?«

»Ja, was ist?«, fragte ich müde, aufgeschreckt aus einem Halbtraum, in dem Mama noch da war.

Papa kam herein, ohne das Licht anzumachen, und setzte sich zu mir aufs Bett. Ich spürte, wie die Matratze einsank. »Ich habe heute einen Anruf vom Cheflektor des VARGAS-Verlages bekommen«, sagte er. »Ich soll für einen Bildband Aufnahmen von der Olympic-Halbinsel im Bundesstaat Washington machen.«

Geografie war mein Lieblingsfach und in meinem Kopf tauchte eine imaginäre Landkarte auf. »Nordamerika?«, fragte ich und war plötzlich wieder hellwach. Ich setzte mich auf.

Papa nickte. »Ja«, sagte er. »Gletscherberge, Regenwald, Pazifikküste und Fischindianer.«

Das klang nach Abenteuer. »Wirst du den Auftrag annehmen?«

»Kommt darauf an«, sagte er leise und ich konnte seine Augen im Flurlicht glitzern sehen.

»Worauf?«, fragte ich. Mein Herz klopfte wild. Er hatte es schon eine ganze Weile gewusst und mir nichts davon gesagt.

»Ob du Lust hast, mich zu begleiten. Ich soll auch vom Stammesfest der Makah-Indianer in Neah Bay Aufnahmen machen. Mitte August haben sie dort ein Kanutreffen mit kanadischen Stämmen. Für die übrigen Fotos bräuchte ich mindestens drei Wochen. Wir müssten also in einer Woche los und du würdest Schule versäumen.« Er sah mich an, mit einem Blick, der seine Hilflosigkeit offenbarte. »Ich möchte dich nicht so lange allein lassen, Sofie.«

Papa sagte nicht: »Es wäre schön, wenn du mitkommen würdest, Sofie.« Ihn plagte bloß das schlechte Gewissen. Jetzt, wo er sein Versprechen endlich einlösen wollte, hatte es für mich keine Bedeutung mehr.

»Aber ich will doch zu Tante Elisabeth fahren«, erinnerte ich ihn. Falls er das wie so vieles andere auch vergessen haben sollte. »Ich habe mich schon so darauf gefreut.«

»Ich weiß«, sagte er. »Aber die kannst du doch auch in den Herbstferien besuchen. So eine Gelegenheit kommt nicht so schnell wieder. Bist du gar kein bisschen neugierig auf Amerika? Da wolltest du doch immer hin.« Er wirkte beinahe enttäuscht.

Ich hob die Schultern. »Ich denke darüber nach, okay?«, sagte ich lahm. Wie der Appetit war mir auch die Neugier abhanden gekommen, seit Mama nicht mehr da war. Meine Abenteuerlust und mein Wissensdurst waren in einem seltsamen Nebel aus Hoffnungslosigkeit verschwunden.

Papa strich mir zärtlich übers Haar. »Ja, denk drüber nach. Aber morgen muss ich dem Verlag Bescheid geben. Sie haben die Tickets für uns schon gebucht. Es ist ein interessanter Auftrag, Sofie, der gut bezahlt wird.«

»Hm«, brummte ich, ärgerlich darüber, dass er mich auf diese Weise unter Druck setzte. Seine Entscheidung war also schon gefallen.

»Schlaf gut«, sagte er, ging aber nicht.

»Was ist, Papa?«

»Vielleicht tut es uns gut, wenn wir mal eine Weile zusammen unterwegs sind. Meinst du nicht?«

»Ja«, sagte ich. »Das wäre bestimmt gut.«

Mein Vater würde diesen Auftrag annehmen, da machte ich mir nichts vor. Am Ende würde er auch ohne mich fliegen, wie er es all die Jahre getan hatte. Wenn ich ihn begleitete, brauchte er kein schlechtes Gewissen zu haben, dass er mich mal wieder allein zurückließ.Je mehr ich über sein Angebot nachdachte, umso mehr ärgerte ich mich darüber.

Natürlich hatte er Recht. Meine Cousins Fabian und Sven konnte ich wirklich in den Herbstferien besuchen, aber darum ging es auch gar nicht. Es ging um Papa und mich. Wie es in Zukunft mit uns beiden weitergehen würde. Vielleicht war diese Reise tatsächlich eine Chance für uns und wir konnten einander wieder näher kommen. Vielleicht. Wenn ich ablehnte, würde ich es jedenfalls nie herausfinden.

image 2. Kapitel

Es war Ende Juli, als der Flieger auf dem Sea-Tac-Flughafen von Seattle landete. Unter uns eine dichte Schicht grauer Wolken, aus der nur der Mount Rainier ragte, ein schneebedeckter Vulkankegel südöstlich der Stadt. Dann war auf einmal alles grau. Mein Magen zitterte und hopste, und ehe ich mich versah, setzte der Flieger auf der Landebahn auf und die Passagiere klatschten. Ich war schon mal geflogen, aber das war lange her. Nach den vielen Stunden in den engen Sitzen war die Landung eine Erleichterung für mich. Ich wollte nur noch raus aus der Blechkiste.

Dicke Tropfen klatschten gegen die kleinen Scheiben des Flugzeugs. »Regenwetter«, sagte mein Vater. »Wie kann es anders sein. In dieser Ecke Amerikas gibt es nur wenige Tage im Jahr, an denen der Himmel wolkenlos ist und die Sonne scheint.«

Na prima, dachte ich. »Warum sagst du mir das eigentlich erst jetzt?« Ich machte ein mürrisches Gesicht.

Papa lächelte müde. »Weil du sonst nicht mitgekommen wärst.«

Tatsächlich hatte ich nichts gegen Regen und die grauen Wolken passten zu meiner Stimmung. Für mich hatte die Farbe Grau den gleichen Wert wie alle anderen Farben. Es gab ein schwarz glänzendes Grau, ein milchiges, Schiefergrau und Muschelgrau. Und das war noch längst nicht alles. Wenn ich hinaussah in den Himmel, wurde mir klar, dass zur Palette meiner Grautöne hier noch einige Nuancen hinzukommen würden.

Endlich konnten wir die Sitzgurte lösen und langsam leerte sich das Flugzeug. Mein Vater holte seine Kameratasche aus dem Gepäckfach und wir bewegten uns in einer ungeduldigen Menschenschlange nach draußen. Da wir in Cincinnati zwischengelandet waren und dort auch schon die Einreiseformalitäten erledigt hatten, ging für uns jetzt alles ziemlich schnell. Wir holten unser Gepäck vom Laufband und mein Vater mietete einen Leihwagen.

Es war ein Chevrolet, sehr rot und sehr neu, aber Papa versicherte mir, dass wir uns schnell daran gewöhnen würden. Nachdem wir unser Gepäck in den Kofferraum verladen hatten, verließen wir das Flughafengelände und befanden uns wenig später auf der großen Hauptstraße, die direkt nach Seattle führte.

Ich hatte nicht viel übrig für große Städte, weil ich auf einem kleinen Dorf aufgewachsen war, in dem nur knapp vierhundert Menschen lebten. Berlin war nie mein Zuhause geworden. Draußen in der Natur fühlte ich mich am wohlsten und am sichersten. Doch trotz der Wolkenkratzer im Zentrum entpuppte sich Seattle als gemütliche Stadt mit viel Grün und bunten, freundlichen Menschen. Das Regenwetter schien ihnen überhaupt nichts auszumachen.

Auf der Suche nach etwas zu essen landeten wir schließlich in einem Schnellimbiss. Danach mieteten wir uns in ein billiges Motel ein und fielen todmüde in unsere Betten.

Am nächsten Morgen regnete es nicht mehr, aber der Himmel war immer noch grau. Betongrau. Die Wolken hingen tief, es schien, als würden sie wie eine Decke über der Stadt liegen.

Papa hatte noch ein paar Einkäufe zu erledigen, deshalb fuhren wir ins Zentrum am Pioneer Place. Vor allem mussten wir uns Regenkleidung besorgen. Dazu waren wir in Deutschland bei unserer hektischen Abreise nicht mehr gekommen.

Als wir alles Wichtige gekauft hatten, unter anderem auch zwei knallrote Regenjacken – viel zu rot für meinen Geschmack! –, entschieden wir die Stadt zu verlassen und uns auf den Weg an die Pazifikküste zu machen. Vielleicht zeigte sich die Metropole ja auf der Rückfahrt von einer sonnigeren Seite.

Die Autobahn führte uns durch Städte wie Tacoma und Olympia, Centralia und Cehalis, die zwar wunderschöne, viel versprechende Namen hatten, sich in ihrem einfallslosen Aussehen aber kaum voneinander unterschieden. Tankstellen von Shell und Texaco, verschiedene Fastfoodketten und riesige Supermärkte säumten das Asphaltband der Straße. Monströse Einkaufszentren mit betonierten Parkplätzen – so groß wie Fußballfelder – wechselten einander ab. Amerika eben. Ich hatte mir Vorstellungen gemacht und fand sie noch übertroffen. Was ich sah, erstaunte mich zwar, aber es gefiel mir nicht besonders. Ich sehnte mich nach den endlosen Wäldern und dem Ozean, mit dessen Schilderung mein Vater mich schließlich hierher gelockt hatte.

Im Pazifischen Ozean gab es Wale. Eine Zeit lang war ich ganz vernarrt gewesen in Wale. Die Wände meines Kinderzimmers hatte ich mit selbst gemalten Walbildern tapeziert und zu meinem ersten Schulfasching war ich als Orca verkleidet gegangen. Das Kostüm aus einem Drahtgestell, bespannt mit schwarzweißem Stoff, hatte meine Mutter selbst genäht.

Als wir nach Berlin zogen, waren meine Walbilder in einer Mappe verschwunden. Stattdessen hatte ich nun Bäume gemalt. Von meiner Leidenschaft für die großen Meeressäuger war nur ein Bildband übrig geblieben, den Tante Elisabeth mir zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt hatte.

Am frühen Abend erreichten wir den kleinen Ort Raymond, wo wir uns ein Motelzimmer nahmen. Hinter den Häusern am Rande der Straße erstreckten sich riesige dunkelgrüne Wälder und hier war der Ozean nicht mehr weit. Die Luft roch salzig, nach Tang und nach Fisch. In dem kleinen Restaurant, das wir aufsuchten, nachdem wir unser Zimmer bezogen hatten, standen Meeresfrüchte aller Art auf der Speisekarte. Mein Vater mochte Muscheln, Krabben und Langusten. Er war auf seinen vielen Reisen zum Feinschmecker geworden und nach den ewigen Pizzamahlzeiten der letzten Wochen hatte er offensichtlich Nachholbedarf.

Er bestellte sich Muscheln mit Knoblauchsoße und ich hatte mir gegrillten Lachs und Folienkartoffeln ausgesucht. Ich verspürte zwar Hunger, hatte aber keinen Appetit und aß nur aus Vernunftgründen. In den letzten Wochen war ich furchtbar mager geworden, was mir sehr zu schaffen machte. Ich wünschte, meine Brüste würden ein bisschen wachsen, aber dafür musste ich natürlich auch was tun. Genug Essen eben, selbst wenn es keine Freude machte.

Während der Fahrt hatten Papa und ich nicht viel gesprochen. Ab und zu ein paar organisatorische Dinge und hin und wieder hatten wir uns über die Eigenheiten des Landes ausgetauscht. Die meiste Zeit herrschte jedoch Schweigen. Ich hatte das Reden irgendwie verlernt, und dass mein Vater so wenig sprach, lag ja vielleicht auch daran, dass er es überhaupt nicht gewohnt war, auf seinen Reisen von jemandem begleitet zu werden.

Nun saßen wir uns am Tisch gegenüber, und wenn er meine Mutter gewesen wäre, hätten wir endlos zu erzählen gehabt. Aber er war mein Vater und es fiel mir schwer, ein Gespräch mit ihm anzufangen. In diesem Augenblick war er wie ein Fremder für mich. Keine Ahnung, wie ich die kommenden vier Wochen mit ihm aushalten sollte.

»Bist du müde?«, fragte er mich schließlich.

»Ja, ein bisschen.So lange im Auto zu sitzen strengt an.«

»Das längste Stück haben wir geschafft«, tröstete er mich. »Wenn wir in Neah Bay sind, bekommst du ein eigenes Zimmer. Aber für die zwei oder drei Male, die wir unterwegs übernachten müssen, werden wir schon miteinander auskommen, oder?«

»Klar«, sagte ich achselzuckend. »Kein Problem.«

Unser Essen wurde gebracht und ich sah gleich, dass es lecker sein würde. Der Lachs sah frisch aus und das zartrosa Fleisch duftete gut.

»Lass es dir schmecken!«, sagte mein Vater.

»Ja, du auch.«

Während wir aßen, erzählte Papa, dass er sich in seiner Kindheit sehr für die Indianer der Nordwestküste interessiert hatte und deshalb neugierig darauf war, was ihn im Reservat der Makah erwartete. »Meine Freunde bauten damals Tipis aus Wäschestangen und Bettlaken und jagten die Kühe auf der Wiese herum, als wären sie wilde Büffel. Und ich habe versucht ein Kanu zu bauen. Richtig besessen war ich davon und kriegte es sogar hin.« Er lächelte kopfschüttelnd in der Erinnerung. »Aber als ich es ausprobieren wollte, kippte es jedes Mal um und füllte sich mit Wasser. Irgendetwas hatte ich falsch gemacht. Ich war eben doch kein richtiger Indianer.«

Ich musste lächeln und erinnerte mich an das vermoderte alte Holzstück am See hinter dem Haus meiner Großmutter. Was übrig geblieben war, hatte tatsächlich die Form eines Kanus. Oft hatte ich dort gesessen und gemalt. Ich hatte geträumt, ohne etwas von den Träumen meines Vaters gewusst zu haben.

»Ich weiß nicht viel über Indianer«, sagte ich. »Nur das, was wir im Englischunterricht besprochen haben.«

»Vielleicht ist das gar kein Nachteil«, meinte er. »Dann bist du unvoreingenommen.« Er schwang die Gabel. »An diesen Indianervölkern ist so vieles faszinierend: ihre Kanus, mit denen sie auf Walfang gingen, ihre riesigen Totempfähle, die sie aus einem einzigen, uralten Zedernstamm herstellen konnten … und die Tatsache, dass sie Sklaven hatten.«

»Sklaven?« Ich runzelte die Stirn und schluckte einen Bissen Lachs hinunter.

»Ja, sie erbeuteten sie auf ihren Kriegszügen und ließen sie die schweren Arbeiten machen. Gerade die Makah waren ein sehr kriegerisches Volk.«

»Jetzt bin ich nicht mehr unvoreingenommen«, sagte ich trocken.

Mein Vater lachte über mein brüskiertes Gesicht. »Natürlich gibt es heute keine Sklaven mehr«, sagte er. »Jedenfalls nehme ich das mal an. Dafür haben die Makah vor drei Jahren wieder angefangen Grauwale zu jagen.«

»Stehen die nicht auf der Liste der bedrohten Tierarten?«, fragte ich.

»Seit 1996 nicht mehr. Es gibt wieder mehr als 20 000 Grauwale im Pazifik und damit hat sich die Population erholt. Sie sind von der Liste gestrichen worden.«

Ich schüttelte mit verständnisloser Miene den Kopf. »Wozu müssen sie heute wieder Wale jagen? Gibt es in Neah Bay keinen Supermarkt?«

»Ich hoffe, dass es einen gibt. Sonst müssen wir beide vielleicht auch auf die Jagd gehen.«

Zum Glück hatte es aufgehört, zu regnen. Wir frühstückten in einem Schnellimbiss und fuhren an der Willapa Bay entlang, bis wir den Ozean erreichten.

Ich war nicht zum ersten Mal am Meer. Aber als ich an der Shoalwater Bay den Pazifik sah, wusste ich, dass hier alles anders sein würde als in meinen Vorstellungen. Es war wie eine unerwartete Verheißung, ein Versprechen, das mein Herz schneller schlagen ließ.Da war es plötzlich wieder, dieses unbändige Gefühl von Neugier und Erwartung, das mich vor Monaten verlassen hatte.

Es herrschte Ebbe und der Sandstreifen am Ufer war breit und glatt wie grauer Samt. In der Ferne schimmerte quecksilbern der Ozean. Meterdicke Stämme mit riesigen Wurzeln säumten den Strand, ausgeblichen wie alte, sauber abgenagte Knochen. Einzelne Nadelbäume aus dem angrenzenden Wald neigten sich tief dem Meer zu, als würden sie von einer unsichtbaren Hand herabgezogen. Einige Häuser, die man offensichtlich zu nah am Strand gebaut hatte, waren von ihren Bewohnern bereits verlassen worden.

»Das ist unglaublich.« Papa war ganz hingerissen. Schon hatte er die Kameratasche und sein Stativ in der Hand. Ich hatte nichts dagegen, dass er hier fotografieren wollte. Das war ein verrückter Ort und ich spürte große Lust, länger zu bleiben und ihn zu erkunden.

Wir verbrachten mehrere Stunden an der Shoalwater Bay. Mein Vater fotografierte und ich versuchte mit dieser magischen Welt des Meeres und den abgestorbenen Baumriesen Bekanntschaft zu schließen. Das war ein guter Platz, um zu vergessen.

Noch einmal übernachteten wir in einem Motel an der Straße, diesmal am Rand des Regenwaldes, der am Fuße der Rocky Mountains wuchs. In unserem Reiseführer las ich, wie er entstanden war: durch den warmen pazifischen Strom, der Nässe vom Meer heranbrachte. Sie stieg auf und regnete vor den Rocky Mountains ab. Dieser Steigungsregen, von Winden landeinwärts getrieben, ließ riesige Rotzedern, Sitkafichten und Douglasien wachsen. Meterdicke Stämme, die hunderte von Jahren alt waren. Ihre Äste und Zweige waren flaschengrün gefärbt von Farnen, Moosen und Flechten. Sogar Algen wuchsen in diesem Regenwald.

Abends lag ich auf meinem Bett und studierte die Karte. Ein Stück weiter östlich, wo die Finsternis des Regenwaldes endete, erhoben sich die Olympic Mountains mit ihren schneebedeckten Gipfeln.

»Die Berge sind ganz nah«, sagte ich und blickte zu meinem Vater auf. »Aber wir haben sie noch kein einziges Mal gesehen.«

»Das Wetter ist schuld. Wenn die Sonne scheint, kann man sie sehen.«

»Aber sie scheint nicht«, stellte ich trocken fest.

»Es kann ja nicht vier Wochen lang ununterbrochen regnen«, versuchte mein Vater mich aufzumuntern. »Aber in den nächsten Tagen soll das Wetter so bleiben. Ich schlage vor, wir fahren erst einmal nach Neah Bay und quartieren uns dort ein. Wenn die Sonne scheint, können wir immer noch in den Regenwald fahren.«

Schon wieder Versprechungen, dachte ich traurig, ließ es aber dabei bewenden.

Am späten Nachmittag des nächsten Tages erreichten wir Neah Bay, die Heimat der Makah-Indianer am nördlichen Ende der Olympic-Halbinsel. Am Ortseingang passierten wir zunächst die Station der US-Küstenwache, einen Komplex aus gelben Backsteingebäuden, und gleich darauf sahen wir auf der linken Seite das Museum mit einem Kulturzentrum. Auf der schnurgeraden Hauptstraße fuhren wir vorbei an Wohnhäusern und Trailern, Lagerhallen und einem großen Supermarkt. Rechts in der Bucht lag der geschützte Hafen mit seinen vielen kleinen Booten. Es gab Bootsrampen, eine Tankstelle und zwei Restaurants. Auf der Suche nach einer Unterkunft drehten wir eine Ehrenrunde durch den Ort, bis wir gefunden hatten, wonach wir suchten.

image 3. Kapitel

In Neah Bay gab es nur zwei Motels und wir entschieden uns für das kleinere mit einem bunten Totempfahl davor. Seine einst kräftigen Farben waren verblichen, trotzdem machte er Eindruck auf mich. Die riesigen schwarzen Augen und vor allem das breite Maul des seltsamen Wesens, das er darstellen sollte, sahen Furcht erregend aus. Große weiße Zähne, wie die Tasten eines Klaviers. Eine lang heraushängende rote Zunge. Ein Wolf vielleicht, dachte ich, oder ein Bär.

Das Motel stand direkt an der Hauptstraße, aber die Zimmer gingen nach hinten auf eine umzäunte Wiese hinaus. Ein paar Nadelbäume standen dort und eine überdimensionale schwarze Satellitenschüssel. Das einstöckige, mit wetterverblichenen Holzschindeln verkleidete Gebäude hatte die Form eines Winkels und sah einladend aus, was man von vielen anderen Gebäuden in Neah Bay nicht behaupten konnte. Den meisten Häusern hätten ein bisschen frische Farbe und ein paar Reparaturen gut getan. Vielleicht gab es hier niemanden, der handwerklich geschickt war, dachte ich. Aber die Trostlosigkeit des Ortes störte mich kaum. Im Gegenteil, genauso wie das Wetter passte dieses graue Indianerdorf zu meinen Gefühlen. Schon hatte ich Sorge, dass mir in den nächsten Tagen die dunklen Farben in meinem Farbkasten ausgehen könnten.

Die Motelbesitzerin hieß Freda Ahdunko. Ich schätzte sie auf Mitte dreißig und fand sie ausgesprochen hübsch. Dunkle Haut, schwarz glänzende lange Haare, schräge dunkle Augen. Als wir nach den Zimmerpreisen fragten,machte sie uns ein Angebot: Wir konnten zwei frisch renovierte Zimmer im Erdgeschoss haben, mit holzverkleideten hellen Wänden, bedruckten Vorhängen, einem Fernseher und neuem Mobiliar. Diese Zimmer waren allerdings erheblich teurer als die anderen im ersten Stock, die sie uns danach zeigte: Sie waren abgewohnt, das Holz an den Wänden war stark gedunkelt und es roch nach abgestandener Luft. Dafür waren sie bezahlbar und der Ausblick war besser. Vom breiten Treppenaufgang aus, der sich wie eine Veranda um die obere Etage zog, hatte man einen Blick auf die Wälder hinter dem Ort und konnte gleichzeitig den Hafen sehen.

Die Indianerin erklärte uns, dass sie das Motel erst vor anderthalb Jahren gekauft hatte und es nun nach und nach renovieren ließ. »In Ordnung sind die oberen Zimmer trotzdem«, sagte sie ein wenig brüskiert, als sie Papas Zögern bemerkte.

Mein Vater nickte. »Wir nehmen diese beiden«, sagte er. »Für drei Wochen.«

Freda Ahdunko riss überrascht die schwarzen Augen auf. »Das ist ziemlich lange für einen Ort wie Neah Bay!«, sagte sie. Ich merkte, dass sie gerne gewusst hätte, was wir vorhatten, aber sie hütete sich davor, neugierige Fragen zu stellen.

Mein Vater war guter Laune und beantwortete ihr die unausgesprochene Frage. »Ich bin Fotograf und soll für einen Bildband Aufnahmen vom Makah-Stammesfest machen.«

»So, so.« Ein kurzes Zögern. »Und da kommen Sie schon jetzt?«

»Warum nicht?« Papa schien dieses Gespräch irgendwie zu amüsieren. »Es wird in diesem Buch auch Bilder vom Regenwald und von der Küste geben. Meine Tochter und ich werden unsere Ausflüge eben von hier aus machen. Ich wollte nur sichergehen, dass wir auch eine ordentliche Unterkunft finden. Zu den Festtagen soll hier ja alles ausgebucht sein.« Er schmunzelte in sich hinein.

Freda sah ihn schräg von der Seite an, und als sie merkte, dass er scherzte, sagte sie: »Na, die ordentliche Unterkunft ist Ihnen auf jeden Fall sicher.« Sie lächelte versöhnlich und ich sah, dass sie nicht nur hübsch, sondern schön war. Das warme Leuchten in ihren dunklen Augen erinnerte mich an meine Mutter.

»Aber Sonnenschein kann ich nicht garantieren«, meinte sie spöttisch. »Ich hoffe, Sie wissen, worauf Sie sich da eingelassen haben.Man nennt diesen Landstrich auch >die Regenküste<.«

»Hab schon davon gehört«, sagte mein Vater. »Wir werden versuchen damit zurechtzukommen.«

Papa und Freda gingen in das kleine Büro des Motels zurück, um die Formalitäten zu erledigen, und ich bezog mein Zimmer. Es war klein und die Holzvertäfelung war so dunkel, dass ich auch am Tag Licht anmachen musste, um etwas zu sehen. Das waren keine guten Voraussetzungen zum Malen, aber ich musste damit zufrieden sein. Wenn es nicht regnete, konnte ich mich auch unten auf die Wiese oder vor mein Zimmer setzen. Der Aufgang aus Zedernplanken war breit genug und es sah so aus, als ob im Augenblick außer uns niemand weiter im Motel wohnte.

Ich packte meine Sachen in den Kleiderschrank, dessen Türen beim Öffnen unangenehm quietschten. Im Inneren des Schrankes roch es überraschend gut und ich entdeckte, dass ein kleines Stoffbeutelchen darin lag. Ich nahm es in die Hand, fühlte und roch daran. Was ich ertastete, waren aromatische Holzspäne – ausgelegt wie ein kleiner Willkommensgruß!

Die übrige Einrichtung des Zimmers war einfach, aber gemütlich. An der einen Wand stand ein kleiner Schreibtisch, davor ein gepolsterter Stuhl, dessen Stoffbezug fadenscheinig und an einigen Stellen geflickt war. Aber die Matratze des breiten Bettes war in Ordnung und die Bettwäsche roch frisch nach Waschpulver.

Das kleine Bad mit Waschbecken, Toilette und Duschkabine hätte dringend neue Fliesen gebraucht und einen Spiegel, in dem man sich auch sehen konnte, aber es war sauber und frische Handtücher lagen auch bereit. Ich war nicht verwöhnt und hatte keine Schwierigkeiten, mich anderen Gegebenheiten anzupassen, wenn ich irgendwo Gast war. Hauptsache, ich hatte meine Ruhe.

Mit einigem Kraftaufwand öffnete ich das große Fenster, das mit einem Fliegengitter gesichert war. Die Tür stand noch offen und gleich durchzog warmfeuchte Luft mein Zimmer. Ich ging nach draußen und betrachtete die Umgebung des Motels. Auf dem angrenzenden Grundstück hinter der Wiese türmten sich ausrangierte Boote übereinander. Es war ein rostiger bunter Blechhaufen und ich dachte daran, ihn irgendwann zu malen.

Ganz in Gedanken versunken, hörte ich plötzlich eine Tür zuschlagen und zuckte erschrocken zusammen. Ein Junge mit einem langen, geflochtenen Zopf war aus dem Haus gekommen und leerte seinen überquellenden Abfalleimer in eine der Mülltonnen. Er trug Jeans und ein dunkelrotes T-Shirt mit einem Aufdruck, den ich nicht erkennen konnte. Ich schätzte, dass er ein oder zwei Jahre älter war als ich. Und obwohl ich mich nicht rührte, bemerkte er mich sofort und sah zu mir hoch. Er musterte mich kurz, mit einem seltsamen, intensiven Ausdruck in den Augen. Dann grüßte er mich mit einem leichten Kopfnicken.

Reflexartig trat ich vom Geländer zurück, weil ich nicht erwartet hatte, dass es jemanden wie ihn in diesem Motel gab. Der schwarze Blick des fremden Jungen hatte mich getroffen wie ein Blitz – ich wusste selbst nicht, warum ich darüber so erschrocken war.

Verwirrt ging ich ins Zimmer zurück und setzte mich auf mein Bett, wo mich kurze Zeit später mein Vater fand.

»Was ist denn los?«, fragte er. »Geht es dir nicht gut?«

»Doch«, log ich. »Alles okay, ich habe nur gerade das Bett getestet.«

Mein Vater nickte. »Die Zimmer sind ganz in Ordnung und Freda ist nett.«

»Ja, sehr nett«, bemerkte ich. »Und sie ist schön.«

»Stimmt«, sagte Papa, als würde ihm das jetzt erst bewusst werden. »Vielleicht frage ich sie irgendwann, ob ich sie fotografieren darf.« Er nahm sein Gepäck auf, das noch in meinem Zimmer stand. »Ich packe jetzt auch aus und ziehe mich um. Dann sehen wir mal, ob wir irgendwo etwas zum Abendbrot bekommen. Freda hat mir einen Tipp gegeben. In einem der beiden Restaurants im Ort soll das Essen sehr gut schmecken.«

Gerade wollten wir losgehen, da fing es wieder an zu regnen. Deshalb stiegen wir in unseren roten Chevy und fuhren das kleine Stück bis zum »The Cedars« mit dem Auto. Besonders gemütlich war das kleine Restaurant nicht. Mit Kunstleder bezogene Polsterbänke und Resopaltische in abgegrenzten Nischen – wie in einem Zugabteil. Es gab keine Tischdecken, dafür aber indianische Kunst an den Wänden: bunte Bilder und Schnitzereien. Außer einem indianischen Paar und zwei weißen Männern mit Baseballkappen auf den Köpfen waren wir die einzigen Gäste.

Obwohl mein Magen knurrte – wir hatten mal wieder auf das Mittagessen verzichtet – hatte ich keinen Appetit. Dieser Junge ging mir nicht aus dem Kopf. Der Gedanke, dass ich ihm irgendwann gegenüberstehen würde, schnürte mir die Kehle zu. Ich glaubte nicht an Liebe auf den ersten Blick und doch flatterte es merkwürdig in meinem Magen, wenn ich an seinen Blick dachte.

»Neah Bay ist ein seltsamer Ort, um seinen Urlaub zu verbringen, nicht wahr?«, fragte mein Vater.

Ich zuckte die Achseln. Mit meinen Gedanken war ich ganz woanders.

Als wir später zum Motel zurückkamen, brannte Licht in Fredas kleinem Büro und wir gingen hinein, um ihr eine gute Nacht zu wünschen. Sie trug eine goldene, runde Brille auf der Nase, die ihrem hübschen Gesicht einen schönen Rahmen verlieh. Freda schrieb etwas in ein großes Buch, und als sie über den Rand ihrer Brille zu uns aufsah, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.

»Gut, dass Sie noch einmal hereinschauen«, sagte sie mit ihrer herzlichen, warmen Stimme. »Vorhin hat sich ein älteres Ehepaar aus Arizona bei mir eingemietet, das morgen gerne eine Walbeobachtungstour machen würde. Zurzeit hält sich eine kleine Gruppe Orcas draußen vor unserer Küste auf. Mein Bruder Henry fährt solche Touren, aber nur wenn mindestens vier Leute mitkommen. Hätten Sie vielleicht Lust?«

Hatte sie eben Orcas gesagt? Mein Herz klopfte auf einmal bis zum Hals.

Papa dagegen runzelte die Stirn. »Bei dem Wetter?« Er zeigte vorwurfsvoll nach draußen, wo es immer noch schwarze Bindfäden regnete.

Freda zuckte die Achseln. »Den Walen ist das Wetter egal, sie sind sowieso immer nass.«