Babendererde_Julischatten.jpg

Antje Babendererde

Julischatten

Arenaneu.tif

Die Autorin

Antje Babendererde,
geboren 1963, wuchs in Thüringen auf.
Nach einer Töpferlehre arbeitete sie als Arbeitstherapeutin
in der Kinderpsychiatrie. Seit 1996 ist sie freiberufliche Autorin
mit einem besonderen Interesse an der Kultur, Geschichte
und heutigen Situation der Indianer. Ihre einfühlsamen Romane
zu diesem Thema für Erwachsene wie für Jugendliche fußen auf
intensiven Recherchen und USA-Reisen und werden
von der Kritik hochgelobt.

Impressum


Aus folgenden Quellen wurde zitiert:

Medusa’s Child: Damnatio Memoriae, »Wounded Knee«, »Damnatio Memoria«,
T-Recs Music, 2010.

Annie Pazzogna: »Inipi – Das Lied der Erde«,
Arun-Verlag, Engerda, 1998.


Erste Veröffentlichung als E-Book 2012 2012
© 2012 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Frauke Schneider
Umschlagtypografie:
KCS GmbH · Verlagsservice & Medienproduktion, Stelle/Hamburg
ISBN 978-3-401-80129-2

www.arena-verlag.de
Mitreden unter forum.arena-verlag.de

Widmung

Für Ulli

Der Vergangenheit hinterherzujagen,
ist eine beschissene Art zu leben.

Ernest Hemingway



No way to run
Nowhere to hide
No ­chance for a fight

Aus dem Lied »Wounded Knee«
von Medusa’s Child

1. Kapitel

Verbannung. Anders konnte Sim das, was ihr bevorstand, nicht bezeichnen. Sie starrte aus dem kleinen Fenster auf die endlose weiße Wolkenlandschaft, die sich unter ihr erstreckte wie die Weiten der Arktis. Ihre Eltern schickten sie in die Verbannung. Die Erziehungsmaßnahmen waren gescheitert, ihre Geduld war am Ende, sie wussten nicht mehr weiter.

Du trinkst zu viel, Simona.

Sim presste ihre Stirn an die Plexiglasscheibe und schloss die Augen. Mit sechzehn bestand das Leben aus einer ganzen Reihe von Problemen und der Alkohol war nichts weiter als ein Mittel, sie für eine Weile verschwinden zu lassen. Simsalabim und weg.

Am liebsten mochte sie Tequila. Der mexikanische Agavenschnaps war zwar teuer (sie war auf Taschengeld angewiesen), aber das Trinkritual gefiel ihr: erst das Salz auf der Zunge, dann der Schnaps in der Kehle und zum Schluss der Biss in ein Stück Zitrone. Die Geschmacksnerven der Zunge meldeten: salzig und sauer. Den Alkohol registrierten sie gar nicht.

Tequila wird aus dem süßen Herz der blauen Agave gebrannt, das die mexikanischen Ureinwohner Das Haus des blauen Mondes nennen. Konnte etwas mit einem so schönen Namen verwerflich sein? Der Agavenschnaps half Sim, sich zu entspannen, er verbesserte ihre Laune, machte sie mutig. Er war ein guter Freund, verlässlicher als alle anderen, und ihn in ihrer Nähe zu wissen, war ein beruhigendes Gefühl. Aber sie konnte auch gut ohne ihn auskommen, obwohl ihre Eltern zuletzt vehement das Gegenteil behauptet hatten.

So ein Blödsinn. Sie wusste genau, wann sie aufhören musste – bis auf das eine Mal, in der Nacht vor ihrem sechzehnten Geburtstag. Das war ein Ausrutscher gewesen, so etwas konnte schließlich jedem passieren. Sogar Merle, Sims Superschwester, war mal sturzbetrunken von einer Party nach Hause gebracht worden. Sie hatte zwei Wochen Hausarrest bekommen und die Sache war vergessen.

So lief das bei Familie Klinger: Für Merle (die Perle) zwei Wochen Stubenarrest und für Sim sechs Wochen Verbannung. Ihre Eltern und Merle, das passte in einen Rahmen – nur Sim hatte immer das Gefühl herauszufallen. Das fing beim Aussehen an und endete bei ihrer umfassenden Talentlosigkeit. Als ob sie und Merle nicht aus demselben Genpool stammten.

Irgendwann hatte Sim ihre Eltern gefragt, ob sie adoptiert worden war und sie vielleicht den Zeitpunkt verpasst hatten, ihr das zu sagen – aber sie hatten nur gelacht.

Sim wohnte mit ihren Eltern auf dem Land, in Weisburg, einem kleinen Dorf in Thüringen mit dreihundert Seelen. Ihr Vater war Internist und arbeitete im nahe gelegenen Provinzkrankenhaus.

Als sie noch kleiner war, hatte Sim das Landleben gemocht. Das Wiehern der Pferde auf der Weide des Nachbarn, das kleine Schwimmbad am Rande des Dorfes, die Obstwiese, die zum Grundstück gehörte, der nahe Wald. Dass ihre Mutter Lehrerin war und sie im Auto zur Schule mitnehmen konnte, ersparte ihr und Merle die Fahrt mit dem Schulbus, führte allerdings auch dazu, dass sie die Verabredungen der anderen Kinder aus Weisburg oft nicht mitbekamen, die auf der Heimfahrt im Bus ausgemacht wurden. Für einen Großteil der Dorfbewohner waren sie nach all den Jahren immer noch die Zugezogenen, auch wenn ihre Eltern sich einbildeten, inzwischen dazuzugehören, bloß weil ihr Vater brav zu den Gemeindeversammlungen ging und ihre Mutter jedes Jahr einen Kuchen für das Dorffest backte.

Die Tatsache, dass in diesem Nest nichts, aber auch gar nichts los war, was einen Teenager dazu animieren könnte, keinen Blödsinn zu machen, kam Sims viel beschäftigten Eltern überhaupt nicht in den Sinn. Ihr Maßstab war Merle-Perle, die personifizierte Tüchtigkeit. Sie sang im Schulchor, besuchte die Aristoteles-AG (ein Verein jugendlicher Hobbyphilosophen) und nahm Violinstunden an der Musikschule. Doch das war noch nicht genug. In ihrer verbliebenen Freizeit machte Sims Schwester sich im Tierheim nützlich und gab dem Jungen des Nachbarn (einer kleinen Dumpfbacke) Nachhilfe in Mathe.

Es war aussichtslos, da noch mithalten zu wollen. Sim blieb nichts, womit sie die Anerkennung ihrer Eltern erringen konnte, denn in allem, was sie anfing, war Merle um Längen besser. Sim zog in ihrer Freizeit mit Nadja und ein paar anderen ums Dorf und trank, was gerade da war.

Als eines Sonntagmorgens die Polizei vor der Tür stand, wurden Herr und Frau Klinger unsanft aus ihren Träumen gerissen. Jemand war ins dorfeigene Freibad eingebrochen und hatte Geld aus der Kasse mitgehen lassen. Hinweise von Leuten, deren Grundstück ans Freibad grenzte, deuteten darauf hin, dass ihre Tochter Simona an diesem Einbruch beteiligt war.

Einbruch. Das klang nach Verbrechen. Dabei hatte der Abend ganz harmlos angefangen. Es war eine warme Sommernacht gewesen und sie hatten zusammen im Bushäuschen gesessen und Bier getrunken. Am Ende waren nur noch sie und Cook (der eigentlich Alexander Koch hieß), ihre beste Freundin Nadja und Kull, der Sohn des Bürgermeisters, übrig gewesen.

Im Nachhinein konnte Sim nicht einmal mehr sagen, wer eigentlich die idiotische Idee gehabt hatte. Mit einer Flasche Whisky waren sie zum Freibad gezogen und durch ein Loch im Maschenzaun gekrochen. Im Mondlicht hatten sie zusammen die Flasche geleert und waren im Becken geschwommen (nackt). Es war romantisch gewesen. Sim hatte sich frei und erwachsen gefühlt. Und schön. Bereit für alles, was kommen mochte und was sie seit Wochen in ihren Tagträumen herbeisehnte: dass aus Cook und ihr ein Paar wurde.

Immer, wenn sie an diese Nacht zurückdachte, ging ihr eine Liedzeile der alten DDR-Rockband Lift im Kopf herum, deren Musik ihre Mutter so oft hörte: Fällt der Mond in ihren Teich, wird in ihrem Schattenreich jede Frau katzengrau. Königin bis in den Tau.

Der Mond fiel nicht in den Teich, sondern ins Schwimmbecken. Diese Nacht würde Sim nicht vergessen. Niemals. Nicht nur wegen des Mondes und des blödsinnigen Einbruchs. In dieser Nacht war ihre Welt in Scherben gefallen.

Einen Versuch, den Einbruch abzustreiten, machte Sim erst gar nicht. Dazu fehlte ihr an diesem schrecklichen Morgen einfach die Kraft. Vor Enttäuschung und Scham war sie wie gelähmt und leugnen wäre ohnehin sinnlos gewesen. Sie sah völlig verheult aus und abgesehen davon hatte besagter Nachbar sie dabei beobachtet, wie sie durch den Zaun gestiegen waren.

Sim und Nadja waren fünfzehn, Cook und Kull gerade noch siebzehn. Alle vier wurden sie vom Jugendrichter zu je zwanzig Arbeitsstunden verdonnert: das Becken im Freibad reinigen (eine ziemlich schmierige Angelegenheit), Büsche und Blumen pflanzen, Papierkörbe leeren. Außerdem mussten sie für die kaputte Tür aufkommen und das gestohlene Geld ersetzen.

Sie waren das Topthema im Dorf. Cook würdigte sie keines Blickes mehr und sein Freund Kull verbreitete überall, dass das Ganze Sims Idee gewesen war und sie Cook dazu angestiftet hatte, die Tür zum Badhäuschen aufzubrechen. Sim rechtfertigte sich nicht, es wäre ohnehin zwecklos gewesen. Sie ließ die Leute denken, was sie wollten. Kull war der Sohn des Bürgermeisters und Cook sein bester Freund. Es war von vornherein klar, wem sie mehr glauben würden.

Das lag jetzt ein Jahr zurück. Damals hatte Sim versucht, die Sache mit Cook zu vergessen. Über das, was in jener Nacht passiert war, redete sie mit niemandem. Was wirklich wehtut, behält man lieber für sich.

Wem hätte sie auch davon erzählen sollen? Ihrer Mutter etwa? Oder ihrem Vater? Undenkbar. Merle schied auch aus – sie war nach dem Abi für ein freiwilliges soziales Jahr nach England gegangen. Und was Nadja, ihre (ehemals) beste Freundin anging: Nadja konnte Sim nicht verzeihen, in was für einen Schlamassel sie sie geritten hatte, und war seit jener Nacht unversöhnlich. Nicht mal in der Schule wechselten sie noch ein Wort miteinander. Nadja erzählte allen, Sim sei völlig durchgeknallt, und scheinbar fiel es den meisten nicht schwer, ihr zu glauben.

Manche Menschen wurden mit einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein geboren, doch Sim gehörte nicht dazu. Sie wollte und konnte mit niemandem über diese Nacht reden, über den Film, der in Endlosschleife in ihrem Kopf ablief. Aber ganz alleine schaffte sie es dann doch nicht, damit klarzukommen. Und weil sie nicht noch einmal so gedemütigt und verletzt werden wollte, machte sie dicht.

In dieser Zeit wurde sie zur störrischen Einzelgängerin und der Tequila ihr treuer Gefährte.

Sim war auf der Suche nach Anerkennung, Freundschaft, Liebe. Aber gleichzeitig hatte sie Angst davor, sich zu verlieben und die Tür zu ihrem Herzen noch einmal so weit zu öffnen. Die Mauern, die sie um sich baute, waren dick und hoch. Sie ließen niemanden rein und sie selbst nicht mehr raus. Ihr Leben rutschte immer mehr aus den Fugen, bis zwei Jungen aus dem Dorf sie in einer Nacht vor fünf Wochen halb ertrunken aus dem Dorfteich fischten. Sim hatte 2,1 Promille im Blut, ihr Kopf war schwer wie Zement und sie konnte sich an nichts mehr erinnern, als sie im Krankenhaus zu sich kam – mit einer Nadel im Arm, die durch einen Schlauch mit einem Beutel Kochsalzlösung verbunden war.

Es war ihr sechzehnter Geburtstag.

Ihre Eltern gerieten in helle Panik und kannten kein Pardon: Eine stationäre Entgiftung oder während der Sommerferien sechs Wochen zu Tante Johanna in die USA, das waren Sims Optionen.

Die Wahl fiel ihr nicht schwer, auch wenn die Reise nicht das war, wonach es sich im ersten Moment anhörte. Die Schwester ihres Vaters wohnte nämlich nicht in New York oder San Francisco und auch an keinem coolen Ort in der Wildnis, wo nachts die Wölfe im Wald heulten.

Nein, Sim saß in einer winzigen Propellermaschine mit siebenunddreißig Sitzen und war auf dem Weg nach Rapid City, South Dakota, irgend so ein Nest im Wilden Westen, das unter der weißen Wolkendecke lag. Tante Jo würde sie abholen und mit ihr nach Pine Ridge fahren, das Indianerreservat, in dem ihre Tante seit neun Jahren lebte, mitten im Nirgendwo.

Johanna – Jo – war das schwarze Schaf der Familie, bevor Sim ihr diesen Rang abgelaufen hatte. Auf Wunsch ihrer Eltern sollte Jo Violinistin werden (laut Opa Werner hatte sie das Zeug dazu), hatte sich jedoch auf einer ihrer Reisen quer durch die USA in einen Lakota-Indianer namens James Kills A Hundred verliebt und beschlossen, ihn zu heiraten. Sims Großeltern waren verzweifelt. Ihr Vater versuchte, seine Schwester dazu zu bewegen, sich das mit dem Heiraten noch einmal zu überlegen. Aber Tante Johanna packte ihre Siebensachen und verschwand für immer zu ihrem Liebsten nach Pine Ridge, South Dakota.

Sim hatte ihre Tante damals glühend dafür bewundert. Sie war acht Jahre alt und ihre Fantasie lief auf Hochtouren. Tante Johanna, die im Tipi hauste, am offenen Feuer kochte, wilde Pferde ritt, einen Typen mit Zöpfen zum Mann hatte und jetzt Jo Kills A Hundred hieß. Toll. Sie war schon immer Sims Lieblingstante gewesen, aber nun wurde sie ihr großes Vorbild. Wenn es sich schon nicht vermeiden ließ, erwachsen zu werden, dann wollte sie wenigstens so sein wie ihre abenteuerlustige Tante.

Damals fing Sim an, englische Wörter zu lernen, damit sie gewappnet war, in die Fußstapfen ihrer Tante zu treten. Als Zwölfjährige besaß sie einen reichhaltigen englischen Wortschatz, dessen Existenz sie jedoch gut zu verbergen wusste. Schließlich sollte niemand aus ihrer Familie etwas von ihren Auswanderplänen wissen.

Ein paar Jahre später hörte Sim ihre Eltern munkeln, dass Onkel James trank und Tante Johanna geschlagen hätte. Ihr Vater flog nach South Dakota, um seine Schwester in den sicheren Schoß der Familie zurückzuholen. Aber davon wollte Jo nichts wissen. Das ist mein Leben, hatte sie zu ihm gesagt, und mir gefällt es.

Ihr Vater kehrte todunglücklich ohne seine Schwester nach Hause zurück. Und Sim bewunderte Tante Jo nur noch mehr.

Inzwischen war Jo geschieden und hieß wieder Klinger. Sie unterhielt einen kleinen Laden, der sich »Horse Hill Arts & Crafts Shop« nannte. Darin verkaufte sie Kunstgewerbliches von Leuten aus dem Reservat an Touristen und Rohmaterial wie Perlen, Leder, Schnüre an die Indianer. Das Geschäft lief einigermaßen, zumindest konnte sie inzwischen davon existieren. Das war auch schon alles, was Sim über das Leben ihrer Tante wusste.

Als Kind hatte Sim sämtliche Indianerbücher gelesen, die sie in die Finger bekam, und hatte jeden Indianerfilm gesehen. Sie war ein Wildfang. Sogar in der Schule trug sie Stirnbänder und selbst genähte Hemden mit indianischen Mustern. Sie baute Buden im Wald, kletterte auf Bäume und alles, was die anderen Mädchen in ihrem Alter interessierte (Vampire, Prinzessinnen, Nagellack und BHs), fand sie langweilig. Stattdessen nähte sie einen kleinen Lederbeutel mit Fransen, packte besondere Steine, Mäuseknöchlein und ihre Milchzähne (und die der Katze) hinein und trug den Medizinbeutel verborgen unter ihren Kleidern auf der Brust. In ihren Träumen streifte sie durch die Prärie und der Held auf dem rabenschwarzen Pferd (natürlich ohne Sattel) wartete ungeduldig hinter dem nächsten Busch auf sie, um sie in sein Tipi zu entführen.

Damit war es schlagartig aus, als nach ihrem zwölften Geburtstag etwas über sie hereinbrach, das sich Pubertät nannte und jegliche Kommunikation mit Erwachsenen unmöglich machte. Sim fand, dass ein einziges Wort mit acht Buchstaben nicht umfassen konnte, was mit ihr passierte. Das Chaos von tausend Fragen in ihrem Kopf, die nach einer Antwort suchten. Das Auf und Ab ihrer Gefühle, das einer Achterbahnfahrt glich. Die Selbstzweifel vor dem Spiegel. Das plötzliche Klar-Sehen. Der Wunsch, unsichtbar zu sein, und gleichzeitig die große Hoffnung, von den Jungen beachtet zu werden und für einen von ihnen etwas Besonderes zu sein. Doch keiner machte sich bei Sim die Mühe, zweimal hinzusehen.

Neben ihrer hübschen Schwester fühlte sie sich wie eine graue Maus. Sim war mittelgroß und die Farbe ihrer störrischen Haare lag irgendwo zwischen Braun und Blond. Sie war weder dick noch dünn (abgesehen von ihren Beinen, die definitiv zu dünn waren), weder geistreich noch begabt, weder witzig noch musikalisch. Das einzig Auffällige an ihr war dieser kleine Makel, der ihr seit ihrer Geburt anhaftete: Sim war mit einer Lippenspalte geboren, landläufig Hasenscharte genannt. Jedes fünfhundertste Kind kam mit solch einer Fehlbildung auf die Welt. Genau genommen war also nicht mal das etwas Besonderes.

Ihre Mutter behauptete, sie hätte großes Glück gehabt, weil bei ihr nicht der Gaumen, sondern nur die Lippe von der Fehlbildung betroffen war, was mit einer einzigen Operation behoben werden konnte, als Sim ein paar Monate alt gewesen war.

Glück nannte ihre Mutter das: mit einer fetten Narbe in der Oberlippe herumzulaufen, während sich um einen herum alles um Schönheit und Perfektion drehte. Sie hatte diese Narbe schließlich mitten im Gesicht, dort, wo alle zuerst hinschauten. Ohne Narbe hätte sie wenigstens ein hübsches Lächeln gehabt, aber so geriet es immer ein bisschen schief. Deshalb lächelte Sim selten. Sie fand, es passte einfach nicht zu ihr.

Ihre schräge Kleidung aber war etwas, das ihr ganz allein gehörte, etwas, womit sie die Leute in ihrer Umgebung schockieren und von der Narbe ablenken konnte.

Zuerst kam die Grufti-Ära. Sie färbte ihre Haare schwarz, schminkte sich mit viel Schwarz und trug ausschließlich schwarze Klamotten. Unter dem dicken schwarzen Lippenstift war ihre Narbe kaum noch zu erkennen. Sim sah aus wie ein unglücklicher Rabe. Merle amüsierte sich über ihre Verwandlung. Ihre Eltern hielten es für eine pubertäre Phase und hofften, dass es vorübergehen würde, genauso wie ihre Indianermacke.

Ging es auch.

Sim verwandelte sich in eine Punkerin: kahler Schädel mit einem roten Iro (für den sie jeden Morgen eine Stunde brauchte, damit er stand wie ein Brett), zerrissene Klamotten, jede Menge Ketten und Piercings, Stachelhalsband und sogar einen Stecker in der Zunge, den zu stechen verflucht wehgetan hatte. Aus welcher Mülltonne sie denn gekrochen sei, hatte ihr Lehrer sie eines Tages entgeistert gefragt.

Sogar Merle war schockiert, zumindest das hatte Sim mit ihrem Outfit erreicht. Ihre Eltern verhielten sich immer noch tapfer, ließen sie jedoch wissen, dass sie sich lächerlich machte. Davon abhalten konnten sie Sim nicht. Insgeheim hofften sie, dass ihre Tochter zu Verstand kommen würde, ehe sie sich vollkommen entstellt hatte.

Damals kam Sim sich vor wie in einem tiefen Schlammloch. Sie ruderte mit Händen und Füßen, um nicht im zähen Schlick zu versinken, der ihr Leben war. Am Ufer standen ihre Eltern, die Großeltern, ihre Lehrer, sogar Merle, ihre ach so perfekte Schwester. Sie riefen und streckten hilfreich die Arme nach ihr aus, wollten ihr heraushelfen auf festen Boden, hinein in die Welt der Erwachsenen.

Aber dort wollte Sim gar nicht hin. Sie war noch nicht bereit, in die Haut eines Erwachsenen zu schlüpfen. Also trat und strampelte sie verzweifelt weiter. Bis sie Cook entdeckte, sich verliebte und hoffte, er würde derjenige sein, der ihr zurück an Land half. Doch ausgerechnet Cook war es, der sie in ihr Schlammloch zurückstieß.

War die große Liebe Schicksal oder eine rein chemische Angelegenheit – das hatte sie sich seither immer wieder gefragt. Wurden wir zu Opfern von Hormonen und biochemischen Vorgängen, die wir nicht im Griff hatten, wenn wir uns verliebten? Wissenschaftler hatten Parallelen zwischen den chemischen Vorgängen im Gehirn von Verliebten und denen von zwangsneurotischen Patienten entdeckt. Liebe war also so etwas wie eine Krankheit, eine Krankheit, gegen die man sich nicht impfen lassen konnte. Dieser Gedanke half Sim.

Auf dem Flughafen in Denver, wo Sim zwischengelandet und nach der Einreiseprozedur in diese kleine Propellermaschine umgestiegen war, hatte man sie angestarrt, als käme sie aus einer Freakshow. Es war wie in Weisburg: Die Leute sahen nur die schrägen Klamotten, nicht sie. Aber Denver war nicht die thüringische Provinz, sondern eine amerikanische Hauptstadt, da sollten die Menschen an auffälliges Styling gewöhnt sein – oder etwa nicht?

Das, was Sim inzwischen trug, ließ sich in keine Schublade mehr stecken. Sieben Löcher mit Silberringen im rechten Ohr und drei im linken Ohr. Ihre Klamotten: schwarze Lederstiefel mit weißen Punkten, kunstvoll zerrissene Nylons, bunte Oberteile, Kleider und kurze Röcke aus Stoffen, die sie selber zuschnitt, bleichte, batikte, färbte und neu zusammennähte – mit Knöpfen, Pailletten und Spitze besetzte. Sie nannte es die Sim-Phase. Es war eine Mischung aus allem, was es so gab, Hauptsache, nichts passte zusammen. Hauptsache, es lenkte von dem ab, was darunter war.

Meistens funktionierte das auch.

»Unsere Tochter sieht aus wie ein Paradiesvogel«, hatte ihr Vater mit einem tapferen Lächeln behauptet. »Nein, wie eine Vogelscheuche«, hatte ihre Mutter widersprochen.

Sim wünschte, sie wäre adoptiert. Dann hätte sie wenigstens ein Ziel gehabt. Sie hätte sich auf die Suche nach ihren richtigen Eltern machen können. Aber das mit dem Wünschen war so eine Sache – meistens funktionierte es nicht. Deshalb saß sie jetzt neben diesem Cowboy im karierten Hemd und war unterwegs ins Nirgendwo.

Kurz vor dem Landeanflug auf Rapid City riss die Wolkendecke auf und Sim sah endloses weites Grasland unter sich. Kaum mal ein Baum, geschweige denn Häuser. Ein großes gelbgrünes Nichts, das in der Ferne in eine bizarre Kraterlandschaft überging.

Von ihrem Vater wusste sie, dass Tante Jo einsam wohnte, ungefähr sechs Meilen vom nächsten Ort entfernt, der Manderson hieß. Ihre Google-Earth-Recherche vor ihrer Abreise war ernüchternd gewesen und hatte den Gedanken an das Wort Verbannung heraufbeschworen.

Sim hatte ihre Tante Jo ewig nicht mehr gesehen und fragte sich, ob sie wohl miteinander klarkommen würden. Die Schwester ihres Vaters war immer eine lustige Tante gewesen, sie hatte die Dinge stets leicht genommen – im Gegensatz zu ihrem Bruder. Hoffentlich hatte sich Tante Jo nicht verändert und war inzwischen genauso drauf wie ihre Eltern. Sim hatte keine Lust, sich jeden Tag irgendwelche Moralpredigten oder Vorträge über das wahre Leben anhören. Obwohl das am Ende immer noch besser war als die Entzugsklinik, in die ihre Eltern sie einsperren wollten. Davor hatte sie ziemlichen Schiss gehabt und war auch jetzt noch froh, dass es eine Alternative gegeben hatte.

Im Pine-Ridge-Indianerreservat waren der Besitz und das Trinken von Alkohol unter Strafe verboten. Wer von der Polizei erwischt wurde, musste Strafe zahlen und für acht Stunden hinter Gitter. Diese Tatsache hatte ihren Vater auf die Idee gebracht, sie zu Tante Jo zu schicken.

Was sie in Pine Ridge erwartete, war Sim immer noch nicht klar. Sie wusste nur, dass sie ihrer Tante im Laden und bei den Pferden helfen sollte. Pferde hätten therapeutische Wirkung, hatte Jo ihren Eltern am Telefon versichert. Sim hatte nichts gegen Pferde, solange sie sich auf der anderen Seite des Zaunes befanden, aber das interessierte offensichtlich niemanden. Sie traute keinem Tier, das größer war als sie selbst. Abgesehen davon: Ihr ganzes Leben war ein Fiasko und sie machte sich wenige Hoffnungen, dass sechs Wochen umgeben von Armut plus ein bisschen Pferdetherapie daran etwas ändern würden.

Der Cowboy neben ihr schlug seine Zeitschrift zu und Sim blickte hoch. Über den Sitzen leuchtete das Anschnallzeichen auf. In zehn Minuten würden sie landen.