BOB KONRAD ARTUR BODENSTEIN

FANTA

Lemonski

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Weitere Bücher von Bob Konrad und Artur Bodenstein im Arena Verlag:
Die Insel der Albträume und andere unbedingt geheim zu haltende Dinge

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Bob Konrad, am Faschingsdienstag 1968 in Heidelberg geboren, ist leidenschaftlicher Autor von Zombie- und Katastrophen-Hörspielen. Außerdem schreibt er katastrophal zombiehafte Fernsehserien. Er lebt und arbeitet in Berlin. Dort ist er jedoch nur selten anzutreffen, weil er sich die meiste Zeit des Jahres auf ausgedehnten Forschungsreisen in exotischen Ländern befindet – für die er jedoch selten das Haus verlässt.

Artur Bodenstein wurde an einem Freitag, den 13., im Jahr 1974 in Wien geboren, studierte dort an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt und lebt ebenda. Er hat schon so ziemlich alles gezeichnet, was kreucht, fleucht oder sich nicht bewegt – außer dem ostafrikanischen Nacktmull. Er illustriert deshalb so viel, weil er besonders unansehnlich schreibt. Seine krakelige Schrift sieht de facto aus wie Bilder; er wäre also besser im alten Ägypten zur Welt gekommen. Da es das nicht mehr gibt, malt er einstweilen weiter. Neuerdings auch Zombie-Ponys.

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1. Auflage 2016
© 2016 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Einband-, Innenillustrationen und Satz: Artur Bodenstein
ISBN 978-3-401-80561-0

www.arena-verlag.de

Für Zwetschke, Marille
und Dieter Lemonski
höchstselbst

 

 

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1. RUND ist ANDERS

Nein, bei mir lief es zuletzt nicht rund. Wenn ich ehrlich bin, lief es sogar ziemlich scheiße. Ja, ich weiß, dass man „scheiße“ nicht sagen soll, aber ich hab jetzt drei Tage lang überlegt und mir fiel einfach kein besseres Wort ein, um zu beschreiben, was mir passiert ist. Oder wie würdest du das bitte nennen, wenn man schuld daran ist, dass die Welt fast untergegangen wäre? Na ja. Eigentlich war ich ja gar nicht schuld an dem Schlamassel. Schuld war jemand anderes und am Ende war ICH es, die die Welt in letzter Sekunde gerettet hat. Aber wegen mir wäre Romeo fast zum Zombie geworden. Und das wäre sehr, sehr, sehr schade gewesen. Auf der Skala für saublöde Lebenslagen, auf der eins „fast noch Normalzustand“ bedeutet und zehn „absolut totale Mega-Panik-Situation“, war das auf jeden Fall eine Neun, vielleicht sogar eine Zehn, wahrscheinlich aber eher eine Elf. Jetzt kannst du dir also ungefähr vorstellen, wie scheiße das Ganze war. Und alles nur, weil Charly Fluch das Ohr abgefallen ist.

Das Elend fing damit an, dass wir zu Beginn des neuen Schuljahrs aufs Land gezogen sind. Weil es da so schön sei – meinte mein Vater Dieter. Dabei hat er so verlegen gelächelt, wie er es immer tut, wenn er lügt. Ich hätte misstrauisch werden müssen. Doch ich wurde es nicht.

Der Ort hier heißt Wiesenberg, was ja ganz nett klingt. Aber der Name ist totaler Quatsch. Das Dorf liegt gar nicht auf einem Berg, sondern in einem Loch und ist lediglich von Bergen umgeben. Der reinste Schwindel also, denn Wiesen gibt es hier auch keine. Solche Lügen scheinen in dieser Gegend aber ganz normal zu sein, denn der Nachbarort heißt Waldloch und liegt – Überraschung! – nicht in einem Loch, sondern auf einem Berg. Wald gibt es dort natürlich auch keinen. Der Besuch lohnt also nicht. Nur im Fall von Mückenloch, das wiederum hinter Waldloch liegt, hält der Name voll und ganz, was er verspricht. Ihr könnt euch also denken, wie es dort aussieht. Mücken und Sumpf – soweit das Auge reicht. Wobei das Auge dort nicht sehr weit reicht, weil es dort so viele Mücken gibt, dass die sogar die Sonne verdunkeln. Es hätte also eigentlich alles noch viel schlimmer kommen können. Obwohl, wer weiß, vielleicht wäre dann die blöde Sache mit Charly Fluch nicht passiert.

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Hier in Wiesenberg wohnen wir in einem kleinen, knuddeligen Häuschen mit der Adresse „In der Landschaft 99“. Weil man aber vergessen hat, die Häuser 1 bis 98 zu bauen, ist es ein wenig einsam hier. Und obwohl es bei uns eigentlich recht gemütlich ist und an der Tür ein Schild mit der Aufschrift „Herzlich willkommen“ hängt, kriegen wir nur sehr selten Besuch. Ich denke, das liegt an uns. Ich will ehrlich sein. Meine Familie ist nett, aber halt auch ein bisschen komisch. Mein Vater ist Kryptozoologe – so nennt man Leute, die unbekannte Tiere und Wesen erforschen. Er arbeitet als Monsterjäger und ist ziemlich gut darin. Dieter hat zum Beispiel im absolut undurchdringlichen Dschungel Afrikas das schreckliche Monster Mokele-Mbeme aufgespürt und damit das größte Rätsel der Menschheit gelöst. Nebenbei hat er auf dieser Mission auch meinen Vornamen entdeckt. Es ist nämlich so: Fanta ist in Afrika ein ganz normaler Name und eine Frau mit dem Namen Fanta hat meinem Vater damals im absolut undurchdringlichen Dschungel das Leben gerettet. Daran soll ich ihn erinnern. Diese Geschichte macht meinen Namen aber leider um keinen Deut besser. Ich meine, wer heißt denn schon wie ein Erfrischungsgetränk?

Außer mir und Dieter gehört zu unserer Familie noch meine kleine Schwester Ninja. Sie heißt eigentlich Silke, will aber Ninja genannt werden – komisch, ich weiß. Sie kann Karate oder glaubt, Karate zu können. Ihre Zeit verbringt sie damit, mir dort aufzulauern, wo ich sie am wenigsten erwarte. Wenn ich nichts ahnend vorbeikomme, springt sie mit ihrem Kampfschrei „Banzaiiiiiiii!“ aus dem Versteck und streckt mich mit einem gezielten Fußtritt nieder. Aber Ninja hat auch ihre guten Seiten –, wie ihr noch sehen werdet.

Dann ist da noch Volcan. Und der ist wirklich ein wenig seltsam – allerdings nur, wenn man ihn nicht kennt. Das fängt schon damit an, dass Volcan sein Zimmer im Keller hat. Weil es da so schön modrig ist –, sagt er. Mein Vater hat ihn auf dem Sultan-Eyüp-Friedhof in Istanbul kennengelernt. Und obwohl er ein Ghul ist, also selbst eine Art Monster, hilft er Dieter bei der Monsterjagd. Und bei seinem Buch. Volcan und Dieter schreiben an einem dicken Lexikon, in dem sie alle bekannten und unbekannten Monsterwesen beschreiben wollen. Die beiden arbeiten sehr genau, sehr gewissenhaft und deshalb auch sehr langsam. Sie haben zwar schon jede Menge Material gesammelt und besitzen mittlerweile einen dicken Ordner mit Notizen, aber nach drei Jahren sitzen sie immer noch am allerersten Eintrag, dem über den „Akkorokamui“ – ein japanisches Monster. Leider ist man sich in Japan nicht sicher, ob es das Ding überhaupt gibt. Deshalb dauert es so lange, diesen Eintrag zu schreiben.

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Auch Bronko und Golzo leben bei uns. Das sind unsere Haustiere: zwei unfassbar liebe Kugelmonster. Die hat mein Papa von einer Forschungsreise in die Mongolei mitgebracht. Leider sind sie sehr, sehr stachelig und man kann deshalb nicht besonders gut mit ihnen spielen. Die Verletzungsgefahr ist einfach zu groß. Tja. Und dann gibt es da noch meine Mutter Emilie. Und die ist seit diesem blöden Vorkommnis in Ekibastus, Kasachstan, leider ein Geist. Aber das ist eine andere Geschichte, die ich euch vielleicht später erzähle.

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2. Die Schmidt-Katzenbeisser, die GEMÜSEGRUPPE & ROMEO AUS der KLASSE über UNS

Es ist ja immer schwer, irgendwo neu hinzuziehen. Aber ich hätte mir niemals träumen lassen, wie schwer es hier in Wiesenberg werden würde. Eigentlich hatte ich mich auf meine neue Schule gefreut. Denn ich mag es, neue Leute kennenzulernen. In meiner alten Klasse waren wir alle irgendwie Freunde. Die kannten mich halt schon lange und da hat auch keiner blöd wegen meiner Familie oder Mama nachgefragt. Wir waren uns einig, dass die Dinge sind, wie sie sind, und der andere ist, wie er eben ist. Man kann da ja eh nichts machen. Aber hier liefen die Dinge anders. Das habe ich schnell gemerkt.

Das „Ruprecht-der-Tugendhafte-Gymnasium Wiesenberg“ (kurz RdT6W) liegt etwas außerhalb auf einem Hügel. Leider ist der ziemlich hoch und die Straße rauf ziemlich steil. Und das ist insgesamt ziemlich blöd. Denn ich komme mit dem Fahrrad da einfach nicht hoch, muss immer absteigen und das letzte Stück schieben. Das nervt total und kostet viel Zeit, deshalb komme ich auch immer zu spät. Am ersten Tag hat mich glücklicherweise mein Vater mit dem Auto gefahren. Wir hatten einen Brief der Schule dabei. In dem stand, dass wir uns im Sekretariat melden sollten, wo man uns „weiterhelfen“ würde. Aber als wir das Sekretariat nach langem Suchen endlich gefunden hatten, mussten wir feststellen, dass an der Tür eine Ampel angebracht war. Du weißt schon, so ein Ding, wie man es von Fußgängerüberwegen oder Kreuzungen kennt, nur eben kleiner. Die hat rot geleuchtet und Papa und ich waren uns nicht sicher, was wir tun sollten. Eine Ampel an einer Tür hatten wir beide noch nie gesehen. Und dabei hat Papa echt schon viel gesehen.

„Warten wir lieber mal. Wir wollen ja nicht unhöflich sein“, hat mein Vater vorgeschlagen und wir haben gewartet. Eine halbe Ewigkeit standen wir da, ohne dass etwas passiert wäre. Irgendwann hat es dann zum Unterricht geklingelt und alle Schüler sind schnell in ihre Klassen gerannt.

„Und jetzt?“, hat mich mein Vater gefragt. Ich habe mit den Achseln gezuckt und Papa hat allen Mut zusammengenommen und an die Tür geklopft, trotz der roten Ampel. Drinnen saß eine Sekretärin mit einer Brille, Frau Messbecher. Sie hat missmutig von ihrem Computer aufgeschaut und uns mit ihren kleinen Äuglein so böse angefunkelt, als hätten wir gerade in den Topf ihrer Büropflanze gepinkelt. „Wer sind Sie, wenn man fragen darf?“

„Dieter und Fanta Lemonski“, hat Papa freundlich geantwortet. „Wir sind gekommen, um Fanta in dieser Schule anzumelden. Wir sind neu in der Stadt.“

„Und was lernt man in der Schule über rote Ampeln?“, hat Frau Messbecher gefragt.

„Dass man wartet. Tut mir leid“, hat Papa sich entschuldigt und wir sind wieder vor die Tür gegangen. Aber nur Sekunden später sprang die Ampel endlich von Rot auf Grün und wir sind wieder in den Raum zurückgekehrt. Jetzt stand die Sekretärin von ihrem Schreibtisch auf und kam nach vorne zum Tresen.

„Sie wünschen?“

„Na ja, wie ich bereits sagte: Wir haben einen Termin zur Anmeldung meiner Tochter“, wiederholte mein Vater. „Wir sind diesbezüglich mit dem Herrn Direktor verabredet.“ Frau Messbecher schaute verächtlich. „Mein lieber Herr Lemonski, unser verehrter Herr Direktor ist nicht zu sprechen. Der Herr Direktor ist beschäftigt.“ Sie reichte uns einige Formulare herüber.

„Füllen Sie diese bitte wahrheitsgemäß aus, ich verständige die zuständige Klassenlehrerin.“

Die besagte Dame hieß Frau Schmidt-Katzenbeisser und unterrichtete Biologie. Sie hatte lockiges Haar und trug einen hautengen Rollkragenpullover, der sie sehr streng aussehen ließ. Von ihrem gigantisch großen Busen baumelte eine Kette herab, wie ein Gebirgsbach, der sich über einen Felsvorsprung in die Tiefe stürzt. Tick-tick-tick – machte die Uhr an der Wand, während wir uns von der am Busen baumelnden Plastikkette hypnotisieren ließen. Frau Schmidt-Katzenbeisser sagte erst mal lange nichts und schaute mich nur mit hochgezogenen Augenbrauen an.

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„Aha“, durchbrach sie schließlich die qualvolle Stille. „Du bist also die Neue.“ Ich nickte.

„26 ungebildete, dumme Kinder. Wie soll man da bitte Unterricht machen?“ Sie blickte meinen Vater scharf an.

„Sie sind spät.“

„Ja, die Ampel, sie war rot“, entschuldigte sich Papa. Die Schmidt-Katzenbeisser tat, als hätte sie ihn gar nicht gehört. „Diese Schule wird durch drei Werte geprägt: Tugendhaftigkeit, Gehorsam und natürlich Leistung! Wie kommen Sie auf die absurde Idee, dass Ihr ‚Kind‘ für diese Schule geeignet ist?“ Das Wort „Kind“ sagte sie mit einem Anführungszeichen in der Stimme, so als würde sie infrage stellen, dass ich überhaupt ein Kind war.

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Mein Vater fühlte sich von dieser Frage sichtlich überrollt, jedenfalls brauchte er eine Weile, bis er antwortete. „Nun ja, Fanta ist ein aufgewecktes Mädchen und ziemlich intelligent. In ihrer letzten Schule gab es nur Lob. Und außerdem …“, mein Vater nahm mich in den Arm, „ist sie eine überaus liebenswerte Person. Das werden Sie sicher bald feststellen.“ Er lächelte. Frau Schmidt-Katzenbeisser nicht.

„Ich bin skeptisch. Das sage ich ganz offen. Aber man hat ja auch schon Pferde kotzen sehen, und das vor der Apotheke.“ Sie lachte kurz und schrill, als hätte sie einen wahnsinnig gelungenen Witz gemacht. „Dann komm mal mit!“

Die 7b war auf den ersten Blick eine ganz normale Klasse. 13 Jungs, 12 Mädchen. Ich war also das 13. Mädchen. Auf den ersten Blick sahen meine neuen Mitschüler ziemlich nett aus. Frau Schmidt-Katzenbeisser schob mich nach vorne zum Pult. „Kinder! Wir haben eine neue Schülerin. Das ist Fanta, Fanta – wie noch mal?“

„Lemonski“, ergänzte ich. Die Klasse lachte verächtlich.

Ein erster Dämpfer. Frau Schmidt-Katzenbeisser ignorierte das Gelächter und rief: „Klasse! Sagt Hallo zu Fanta Lemonski!“

„Hallo Fanta Lemonski!“, dröhnte es aus 25 Kehlen.

„Fanta!“, wandte sich Frau Schmidt-Katzenbeisser dann an mich. „Sag Hallo zu deiner neuen Klasse!“

„Äh … Hallo neue Klasse?“, stotterte ich etwas unsicher.

„Willst du der Klasse nicht etwas über dich erzählen?“

Ich schaute sie flehend an. „Muss ich wirklich?“ Die Schmidt-Katzenbeisser nickte kühl. Ich holte tief Luft.

„Ich bin die Fanta, elf Jahre, und ich mag Pferde. Hab aber keines, weil die zu teuer sind und viel Platz brauchen. Mein Vater heißt Dieter Lemonski und arbeitet als Monsterjäger. Meine Mutter Emilie ist in Ekibastus vom Blitz getroffen worden und seitdem leider ein Geist.“ Ich blickte in 25 offene Münder.

„Boah, Alter! Wer hat sich denn die ausgedacht?“, platzte ein Junge in der dritten Reihe heraus und brach dann in schallendes Gelächter aus. Der Rest der Klasse stimmte mit ein. Und ich stand wie ein Volltrottel da.

„Ruhe!“, schrie die Schmidt-Katzenbeisser und sagte dann zu mir: „Sehr lustig. Fanta, du hast wohl einen Clown gefrühstückt. Setz dich zu Krise Tschinkula, dort störst du am wenigsten!“ Sie schickte mich in die letzte Reihe, von wo mich besagte Krise bereits mit großen Augen beobachtete. Ich lächelte. Krise starrte mich skeptisch an.

„Ist was?“, fragte ich schließlich.

„Kannst du singen?“, fragte sie neugierig zurück und ich schüttelte den Kopf.

„Aber angenommen du könntest singen, würdest du dann im Fernsehen auftreten?“, hakte Krise nach.

„Nein, ich glaube nicht, dass ich das tun würde“, antwortete ich verwirrt.

„Gut, dann können wir Freunde sein!“, freute sich meine neue Sitznachbarin.

„Willste mal abbeißen?“ Sie bot mir ihr Leberwurstbrot an, das dick mit sauren Gurken belegt war. Offensichtlich kümmerte sie meine Familiengeschichte nicht weiter, was ich dankbar zur Kenntnis nahm. Ich lehnte ihr Angebot trotzdem ab, mir war der Appetit vergangen und außerdem mochte ich keine Leberwurst. „Hab selber was dabei. Danke.“ Wenigstens ein Mädchen war halbwegs nett. „Aber sag mal, was hat das Fernsehen damit zu tun, ob wir Freunde sein können?“, fragte ich vorsichtig.

„Mir wäre das wahnsinnig peinlich, wenn meine Freundin im Fernsehen singen würde. Ich bin Krise. Und der Volltrottel dort am Fenster“, sie blickte zu einem Jungen hinüber, der gerade mit einem Schraubenzieher ein Loch in seinen Tisch bohrte, „ist Senfi, mein Zwillingsbruder.“

„Ich hab keinen Bruder, aber eine Schwester. Die heißt Nin…“, entgegnete ich, dann aber kam ein Stück Kreide aus Richtung der Tafel angeflogen und traf mich am Kopf. Die ganze Klasse lachte.

„Ruhe auf den billigen Plätzen!“, giftete Frau Schmidt-Katzenbeisser. Dann huschte ein warmes Lächeln über ihr Gesicht und sie richtete sich mit freundlichem Flötenton an drei Mädchen in der erste Reihe: „Aber nun bitte ich die Gemüsegruppe nach vorn. Aphrodita wird uns die Erfolge des letzten Jahres präsentieren.“ Die Gemüsegruppe, das waren Aphrodita H., unverkennbar die Chefin der Truppe, Jeannette Tütü-Laroche, ein in Rosa gekleideter Albtraum, und Almut-Clementine, die genauso aussah, wie man sich eine Almut-Clementine vorstellt. Alle drei waren grell geschminkt, ihre Haare hatten sie lockig geföhnt und die Kleidung perfekt aufeinander abgestimmt. Diese Mädchen waren mir auf den ersten Blick unsympathisch. Aber was sie zu sagen hatten, fand ich dann doch überaus spannend. Die Gemüsegruppe war eine Arbeitsgemeinschaft, die es sich zum Ziel gemacht hatte, seltene und vom Vergessen bedrohte Gemüsesorten zu züchten und vor dem Aussterben zu bewahren. Im letzten Jahr hatten die drei Mädchen im schuleigenen Gewächshaus erfolgreich die Kartoffel „Blauer Schwede“ und die Erdbeersorte „Schwarzer König Albert“ angebaut und geerntet. Die Marmelade aus den Erdbeeren, mehrere Erdbeerkuchen und der Kartoffelsalat hatten sich erfolgreich auf dem Schulfest verkauft und der Klassenkasse immerhin 75 Euro und 78 Cent eingebracht. Von diesem Geld sollte dieses Jahr neues Saatgut erworben werden. „Wenn ihr Lust auf Gartenarbeit habt und euch ein wenig für die Zucht seltener Gemüse- und Obstsorten interessiert“, gab Aphrodita H. am Ende ihres kleinen Vortrags bekannt, „seid ihr natürlich herzlich eingeladen, bei uns mitzumachen.“ Sie strahlte über das ganze Gesicht und sah dabei ein bisschen aus wie diese Leute aus der Zahnpastawerbung.

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„Wir können jede helfende Hand gebrauchen“, erklärte Jeannette.

„Wir freuen uns auf euch“, fügte Almut-Clementine noch hinzu. Und alle drei riefen: „Kommt in die Gemüsegruppe!“

Die Klasse und ich applaudierten lautstark. Nur Krise und ihr Zwillingsbruder Senfi enthielten sich mit grimmigem Blick. Mir war das egal, ich war restlos begeistert und fest entschlossen, sofort in die Gemüsegruppe einzutreten. Ich wollte alles geben im Kampf für seltenes Gemüse und Obst! Diesen Eifer für längst Vergessenes und Unentdecktes hatte ich wohl von meinem Vater geerbt. Den Rest des Biologieunterrichts dachte ich nur darüber nach, welches Gemüse man wohl als Erstes vor dem Untergang bewahren könnte. Vielleicht würden wir ja sogar eine bislang unbekannte Obstsorte entdecken? Kaum hatte die Pause begonnen, stürmte ich nach vorn zu Aphrodita H., die bereits von zahlreichen Schülern umringt wurde.

„Ich bin dabei!“, verkündete ich voller Tatendrang. Doch die drei Gemüsemädels schauten mich nur überrascht an.

„Was willst du, Zwerg?“, fragte Aphrodita H. schnippisch.

Nicht sehr nett. Okay, ich bin ein bisschen klein. Also kleiner als herkömmliche Menschen. Aber deshalb muss man mich trotzdem nicht Zwerg nennen. Aber vielleicht hatte ich mich ja verhört. Oder Aphrodita H. hatte es gar nicht böse gemeint. Konnte ja sein. Also tat ich, als wäre nichts gewesen. „Ich will bei euch mitmachen. Es lebe die Gemüsegruppe!“ Die drei Mädels schauten sich angeekelt an. „Weißt du, was?“ Aphrodita H. hob die Hand und hielt mir diese direkt vor die Nase. „Rede mit der Hand, mein Gesicht hört dir nämlich nicht zu.“ Die drei Mädchen kicherten.

„Aber ihr habt doch gesagt, dass ALLE mitmachen können.“

Aphrodita H. beugte sich zu mir herunter. „Ja, alle. Alle außer dir.“

„Warum ich nicht?“

„Ganz einfach. Weil du anders bist.“ Die drei rauschten davon.

Ich war von dieser Absage ziemlich geplättet und das hielt eine Weile an. Tatsächlich brauchte ich bis zur Hofpause, bis ich langsam begriff, wie böse, hinterhältig und gemein das Ganze war. Fassungslos beobachtete ich Aphrodita H., Jeannette Tütü-Laroche und Almut-Clementine, die wie aufgeplusterte Hühner über den Schulhof stolzierten und die ehrfürchtigen Blicke der anderen genossen.

„Mach dir nichts draus“, sagte Krise und setzte sich zu mir auf die Stufen vor dem Schulgebäude. „Das ist nichts Persönliches. Die sind zu jedem so.“

Ob ich das glauben konnte? Das eben hatte sich ziemlich persönlich angefühlt.

„Du kannst ja bei uns mitmachen.“ Ehe ich nachfragen konnte, berichtete Krise stolz, dass sie auch eine Biologie-Arbeitsgemeinschaft gegründet hatte. Die AG Silberfischchen. Ich war mir nicht sicher, ob ich alles richtig verstanden hatte. „Silberfischchen? Die Krabbelviecher von unterm Waschbecken?“ Ich kannte die Tierchen. In unserer alten Wohnung lebten sie im Badezimmer. Papa meinte immer, man müsse dort wohl besser sauber machen.

„Genau die!“, bestätigte Krise.

„Da hast du dir ein tolles Thema ausgesucht“, lobte ich vorsichtig. Krise schüttelte den Kopf, kam ganz nah zu mir und raunte geheimnisvoll: „Ich habe mir das Thema nicht ausgesucht. Es hat mich ausgesucht.“ Ich machte große Augen. Krise nickte bedeutungsvoll. „Neulich saß ich nämlich auf dem Klo“, fuhr sie fort, „und rate mal, wer da zu mir kam und sich neben mich gesetzt hat.“

„Dein Bruder?“

„Nein, Heiko.“

„Wer?“

„Na, Heiko, das Silberfischchen!“

Jetzt kam Senfi zu uns rübergerannt. Seine Wangen waren ganz rot – so wie früher bei Ninja an Weihnachten. „Passt mal auf, was gleich passiert!“, verkündete er aufgeregt und lenkte unsere Blicke in Richtung Gemüsegruppe. Aphrodita H. griff gerade zu ihrer Trinkflasche und nahm einen großen Schluck. Doch plötzlich stutzte sie, setzte ab und spuckte einen Schwall blauer Flüssigkeit aus. Ein spitzer Schrei entfuhr ihr und sie blickte entsetzt auf. Ihr ganzer Mund und die Zunge waren kobaltblau. Jeannette und Almut-Clementine schlugen erschrocken die Hände vor ihren Gesichtern zusammen. „Um Gottes willen, Aphrodita!“, riefen sie entsetzt. „Wie siehst du denn aus?!?“

„Tinte“, flüsterte Senfi. „Zehn Patronen hab ich reingekippt.“ Ich schaute ihn erschrocken an, er grinste breit.

„Sag mal, waren das meine Patronen?“, fragte Krise. „Ich habe die nämlich schon gesucht!“ Senfi zuckte unschuldig mit den Achseln.

„Das kannst du doch nicht machen!“, sagte ich zu Senfi. „Die arme Aphrodita.“

„Hast du jetzt etwa Mitleid? Die hat doch noch viel Schlimmeres verdient“, entgegnete Senfi und schlenderte zufrieden davon, während Aphrodita H. unter großem Wehklagen und Getöse auf dem Schulhof zusammenbrach. Sofort bildete sich um sie herum eine Traube Neugieriger, in deren Gesichtern eine Mischung aus Entsetzen und Schadenfreude zu erkennen war. Aus dem Schulgebäude eilte ein älterer Schüler herbei, der eine oder zwei Klassen über uns sein musste. Vermutlich hatte er Aphroditas Rufe gehört und war gekommen, um zu helfen. Er war groß und hatte langes dunkles und wildes Haar, das er mit einem Stirnband bändigte. Er war ganz in Weiß gekleidet, trug eine kurze Hose und einen Pullover mit blauen Streifen an den Armen und er sah unverschämt locker aus. Er kniete sich neben Aphrodita H. nieder.

„Romeo!“, sagte sie.

„Aphrodita!“, entgegnete der Junge. „Komm, ich bring dich ins Sekretariat.“ Er half ihr auf und nahm sie auf seine starken Arme. Aphrodita H. legte ihren Kopf an seine Schulter und Romeo trug sie ins Schulgebäude. Ich schaute den beiden fassungslos hinterher. „Wow, der ist aber stark.“

„Der?“ Krise schaute mich fast verächtlich an. „Das ist Romeo Sommerville aus der Achten. Ein aufgeblasener Heiopei, spielt Tennis und will unbedingt Kreisschulmeister werden. Als ob er sich dafür was kaufen könnte.“

„Aha“, sagte ich noch und schaute versonnen auf die Tür, durch die Romeo gerade verschwunden war. So übel kam er mir gar nicht vor. Im Gegenteil.

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3. CHARLY FLUCH