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J. Meade Falkner

MOONFLEET

Roman

Aus dem Englischen übersetzt
von Michael Kleeberg

liebeskind

Die Originalausgabe erschien 1898 unter dem Titel
»Moonfleet« bei Edward Arnold Publishers Ltd. in London.

Alle Rechte an der Übertragung ins Deutsche bei
Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH &Co. KG, München 2016.

Covermotiv: akg-images
Covergestaltung: Sieveking, München

ISBN 978-3-95438-063-3

Allen Mohunes gewidmet
aus Fleet und Moonfleet
in agro dorcestrensi
tot oder lebendig

1. Im Dorf von Moonfleet

So schlummert der Stolz früherer Tage.
THOMAS MOORE

Das Dorf Moonfleet liegt eine halbe Meile von der See am rechten oder westlichen Ufer des Bächleins Fleet. Dieses Rinnsal fließt so schmal an den Häusern vorbei, dass ich von guten Weitspringern gehört habe, die es ohne die Hilfe eines Stabes überwunden haben, verbreitert sich unterhalb des Dorfes in die Salzmarschen hinein und verliert sich schließlich in einem Brackwasserteich. Der Teich ist zu nichts nütze außer für Meeresvögel, Reiher und Austern und hat eine Form, wie man sie in der Karibik als Lagune bezeichnet. Von der offenen See ist er durch einen riesigen, breiten Kieselstrand oder Damm getrennt, auf den ich später noch zurückkommen werde. Als ich noch ein Kind war, glaubte ich, dieser Ort werde Moonfleet genannt, weil in ruhigen Nächten, gleich ob im Sommer oder in der Winterkälte, der Mond so hell auf die Lagune schien. Später erfuhr ich dann, dass der Name nur eine Abkürzung für »Mohunefleet« war, von den Mohunes her, einer bedeutenden Familie, die früher einmal über die ganze Gegend herrschte.

Ich heiße John Trenchard, und ich war 15 Jahre alt, als diese Geschichte begann. Mein Vater und meine Mutter waren da schon seit Jahren tot, und ich lebte bei meiner Tante, Miss Arnold, die auf ihre Art gut zu mir war, jedoch zu streng und korrekt, als dass ich sie je hätte lieb haben können.

Zunächst will ich von einem Abend im Herbst des Jahres 1757 erzählen. Es muss spät im Oktober gewesen sein, obwohl ich das genaue Datum vergessen habe, und ich saß nach dem Tee in der kleinen vorderen Wohnstube und las. Meine Tante besaß wenige Bücher; eine Bibel, das Gebetbuch und einige Predigtbände sind alles, woran ich mich erinnere, aber Reverend Glennie, der uns Dorfkindern Unterricht gab, hatte mir ein Buch mit Erzählungen geborgt, voller spannender Abenteuer, das Tausendundeine Nacht hieß. Schließlich begann das Licht nachzulassen, und ich war überhaupt nicht unwillig, mit dem Lesen aufzuhören, und dies aus mehreren Gründen. Zuerst einmal war die Wohnstube ein kaltes Zimmer mit Sesseln und einem Sofa aus Rosshaar, in dessen Kamin lediglich ein farbiger Schirm aus Papier stand, denn meine Tante erlaubte kein Feuer vor dem 1. November. Zweitens herrschte im ganzen Haus ein ranziger Geruch nach geschmolzenem Unschlitt, denn meine Tante war in der hinteren Küche dabei, Winterkerzen zu ziehen. Und drittens war ich in Tausendundeiner Nacht an eine Stelle gekommen, bei der ich den Atem anhalten musste, und wollte daher gerne aufhören, um mir die Spannung zu bewahren. Es war genau der Punkt in der Geschichte von der »Wunderlampe«, an dem der falsche Onkel einen Felsen herabfallen lässt, der den Eingang zu der unterirdischen Kammer versperrt und den Jungen, Aladin, in der Dunkelheit gefangen hält, weil der die Lampe nicht aufgeben will, bis er sicher wieder an die Erdoberfläche gelangt. Diese Szene erinnerte mich an einen der fürchterlichen Albträume, in denen man träumt, man wäre in einer engen Kammer eingeschlossen, deren Wände auf einen zukommen, und beeindruckte mich derart, dass die Erinnerung daran mir in einem Abenteuer zur Warnung diente, in das ich späterhin geraten sollte.

Also hörte ich auf zu lesen und trat auf die Straße hinaus. Es war bestenfalls ein ärmliches Sträßchen, obwohl es gewiss früher einmal feiner gewesen war. Heute lebten keine zweihundert Seelen mehr in Moonfleet, aber dennoch zerstreuten sich die Häuser, in denen sie wohnten, trist über eine halbe Meile hin, in großen Abständen zu beiden Seiten der Straße. Nichts im Dorfe wurde jemals erneuert, benötigte eines der Häuser dringend Reparaturen, riss man es gleich ab, und so gab es entlang der Straße viele Zahnlücken und überwucherte Gärten mit verfallenen Mauern, und viele der Häuser, die noch standen, wirkten so, als würden sie nicht mehr allzu lange bestehen.

Die Sonne war untergegangen, ja es war bereits so düster, dass das untere Ende der Straße, das zum Meer hin, nicht mehr zu sehen war. Es hing ein wenig Nebel oder ein Rauchschleier in der Luft, dazu ein Geruch von kokelndem Unkraut und ein erster frostiger Herbsthauch, der einen an prasselnde Feuer und die Behaglichkeit der bevorstehenden langen Winterabende denken ließ. Alles war still, aber von der Straße weiter unten konnte ich Hammerschläge hören und ging ihnen entgegen, denn in Moonfleet gab es außer der Fischerei kein weiteres Gewerbe. Es war Ratsey, der Küster, der in einem Schuppen zugange war, der sich zur Straße hin öffnete. Er hämmerte mit dem Stichel einen Namen in einen Grabstein. Er war Maurer gewesen, bevor er Fischer wurde, und er verstand es, mit seinem Werkzeug umzugehen, also ging jeder, der auf dem Kirchhof einen Grabstein aufstellen wollte, zu Ratsey, damit die Sache erledigt wurde. Ich lehnte mich auf die Klöntür und sah ihm eine Minute zu, wie er mit dem Meißel im schlechten Licht einer Laterne den Stein bearbeitete. Schließlich blickte er auf, entdeckte mich und sagte:

»Hier, John, wenn du nichts zu schaffen hast, komm rein und halt mir die Laterne. Brauch’ nur eine halbe Stunde, um alles fertig zu kriegen.«

Ratsey war immer freundlich zu mir und hatte mir schon oft einen Beitel geborgt, um Schiffchen zu schnitzen, also trat ich ein und hielt die Laterne und sah zu, wie er mit dem Stichel Splitter des Portland-Steines wegschlug, und zwinkerte immer wieder, wenn sie zu dicht an meinen Augen vorbeiflogen. Die Inschrift war schon vollständig eingraviert, aber er legte noch letzte Hand an eine kleine Meeresszene, die oben in den Stein gehauen war und einen Schoner zeigte, der einen Kutter enterte. Damals fand ich das eine schöne Arbeit, seither weiß ich, dass sie recht grob ausgeführt war, im Übrigen kann man sie bis zum heutigen Tag auf dem Friedhof von Moonfleet betrachten und auch die Inschrift lesen, obwohl sie vor lauter Flechten ganz vergilbt ist und nicht mehr so klar und deutlich zu erkennen wie an jenem Abend. Sie lautet wie folgt:

ZUM HEILIGEN GEDENKEN AN DAVID BLOCK

15 Jahre alt, getötet von einem Schuss,
der vom Schoner Elector abgefeuert wurde
am 21. Juni 1757.

Des Lebens beraubt durch grausame Tat,
zurück zur Erde kehre ich.
Berufe mich auf Gottes Rat,
am Tag des Gerichts errette mich.

Da geht es, Grausamer, auch um dein Heil.
Drum tue Buße vor deinem Tod,
sonst fürchte ein schreckliches Urteil.
Denn gewiss mein Schicksal rächen wird Gott.

Reverend Glennie hatte diese Verse geschrieben, und ich kannte sie auswendig, denn er hatte mir eine Abschrift gegeben. Tatsächlich hatte die Geschichte von Davids Tod im ganzen Dorf die Runde gemacht, und noch immer war sie in aller Munde. Er war das einzige Kind von Elzevir Block gewesen, dem das Gasthaus Why Not? unten im Dorf gehörte, und hatte sich unter den Schmugglern befunden, als ihre Ketsch in jener Juninacht vom Schoner der Regierung aufgebracht wurde. Die Leute sagten, es sei Friedensrichter Maskew aus Moonfleet Manor gewesen, der die Zöllner auf die Spur gebracht habe; jedenfalls befand er sich an Bord der Elector, als sie längsseits der Ketsch ging. Es gab eine bewaffnete Auseinandersetzung, als die Boote einander gegenüberlagen, und da zog Maskew eine Pistole und feuerte – nur die beiden Schandeckel trennten sie voneinander – dem jungen David mitten ins Gesicht. Am Nachmittag des Mittsommertags zog die Elector die Ketsch in den Hafen von Moonfleet, wo ein ganzer Trupp von Konstablern die Schmuggler in Empfang nahm und zum Zuchthaus von Dorchester eskortierte. Die Gefangenen stapften, jeweils paarweise in Eisen gelegt, die Dorfstraße hinauf, und die Leute standen vor ihren Türen oder folgten ihnen, und die Männer warfen ihnen tröstliche Worte zu, da wir die meisten von ihnen aus Ringstave und Monkbury kannten, während die Frauen das Schicksal ihrer Ehefrauen betrauerten. Aber Davids Leichnam ließen sie in der Ketsch, der Junge hatte teuer bezahlt für seine nächtlichen Eskapaden.

»Ach, das war eine grausame, grausame Sache, auf einen so jungen Burschen zu schießen«, sagte Ratsey und trat einen Schritt zurück, um den Effekt einer Flagge in Augenschein zu nehmen, die er auf den Schoner des Zolls gemeißelt hatte, »und auch den anderen armen Teufeln, die sie geschnappt haben, wird es übel ergehen, sagt Advokat Empson doch, dass drei von ihnen zum nächsten Gerichtstag gewiss hängen werden. Ich erinnere mich noch«, fuhr er fort, »vor dreißig Jahren, als es zu einem Scharmützel zwischen der Royal Sophy und der Marnhull gekommen war, da hängten sie vier der Schmuggler, und mein alter Vater holte sich dabei den Tod durch eine Erkältung, weil er mit dabei sein wollte, wie die armen Kerle in Dorchester abgeliefert wurden, und dabei knietief im River Frome stand, um sie sehen zu können, denn die ganze Gegend war dort, und es herrschte ein solches Gedränge, dass es an Land keinen Platz gab. So, das reicht jetzt«, sagte er und wandte sich wieder dem Grabstein zu. »Am Montag male ich die Backbordseiten schwarz und setze einen Tupfer Rot, um die Flagge herauszuheben, aber jetzt, mein Sohn, da du mir mit der Laterne geholfen hast, kommst du mit mir runter ins Why Not?. Ich muss ein paar Worte mit Elzevir reden, dem es bitter nottut, mit guten Freunden zu plaudern, um ihn etwas aufzuheitern, und da werden wir dann auch ein Glas Genever für dich auftreiben, damit die Herbstkälte dir nicht in die Knochen kriecht.«

Ich war nur ein Knabe und empfand es als große Ehre, ins Why Not? gebeten zu werden, denn hob mich eine solche Einladung nicht auf einen Schlag in die Würde des Mannesalters? Ach, traute Knabenzeit, wie begierig sind wir als Jungen darauf, dich hinter uns zu lassen, und mit wie viel Bedauern blicken wir dann auf dich zurück, bevor der Wettlauf unseres Lebens auch nur halb vorüber ist! Dennoch war meine Freude nicht ganz ungetrübt, denn allein der Gedanke, was Tante Jane sagen würde, wenn sie erfuhr, dass ich im Why Not? gewesen war, jagte mir Angst ein. Davon abgesehen fürchtete ich mich vor dem grimmigen alten Elzevir Block, der seit Davids Tod noch tausend Mal grimmiger und trauriger geworden war.

Why Not? war nicht der wirkliche Name des Gasthauses, eigentlich hieß es Mohune Arms. Den Mohunes hatte früher einmal, ich erwähnte es bereits, das ganze Dorf gehört, aber irgendwann ging ihr Vermögen verloren, und damit war der Niedergang von Moonfleet besiegelt. Die Ruinen ihres Herrenhauses schimmerten grau am Hang über dem Dorf, ihre Armenhäuser standen auf halbem Weg die Straße herunter, um einen verlassenen und überwucherten Innenhof herum. Das Wappen und die Inschrift der Mohunes prangten auf jedem Gebäude, von der Kirche bis zum Gasthaus, und alles, was dieses Zeichen trug, trug mit ihm auch das Siegel des Verfalls. An dieser Stelle muss ich etwas über dieses Familienwappen sagen, denn wie ihr noch sehen werdet, sollte ich es mein ganzes Leben lang tragen und werde seinen Abdruck auch mit ins Grab nehmen. Das Wappen der Mohunes war ganz in Weiß oder Silber gehalten und enthielt nichts außer einem großen schwarzen »Y«. Ich nenne es ein »Y«, obwohl Reverend Glennie mir einmal erklärt hat, dass es sich dabei gar nicht um ein Ypsilon handelt, sondern um das, was die Heraldik eine »Deichsel« nennt. Deichsel oder keine Deichsel, für jeden normalen Menschen sah es aus wie ein schwarzes Ypsilon, jeweils ein kräftiger Arm endete in den oberen Ecken des Wappens, und der Fuß unten in der Mitte. Man konnte das Zeichen auf den Mauern von Moonfleet Manor eingraviert sehen, auf den Stein- und Holzfriesen der Kirche sowie auf einer ganzen Reihe von Häusern im Dorf, und dann war es auch auf dem Schild abgebildet, das über der Tür des Gasthauses hing. Jedermann im Umkreis von Meilen kannte das »Y« der Mohunes, und seit ein früherer Pächter das Gasthaus im Scherz Why Not? getauft hatte, hing ihm dieser Name unveränderlich an.

An manchem Winterabend, wenn die Männer im Why Not? tranken, hatte ich draußen vor der Tür gestanden und zugehört, wie sie Ducky-stones sangen oder Kegs bobbing one, two, three oder eines der anderen Lieder, die Seeleute hier in der Gegend zum Besten geben. Diese Lieder hatten weder einen richtigen Anfang noch ein Ende, und auch alles, was dazwischen war, machte nur wenig Sinn. Einer der Männer grölte die Strophe, dann fielen die anderen ein und grölten feierlich den Refrain, aber kaum einmal wurde ausgiebig gezecht dabei, denn Elzevir Block betrank sich niemals und mochte auch nicht, dass seine Gäste sich betranken. An solchen Sangesabenden erhitzte sich der Schankraum, und die Fenster beschlugen von innen so heftig, dass man nicht mehr hineinblicken konnte, aber es gab auch andere Abende, wenn niemand zugegen war, und da habe ich zwischen den roten Vorhängen hindurchgespäht und zugesehen, wie Elzevir Block und Ratsey an dem aufgebockten Tisch vor dem Kamin saßen und Backgammon spielten. Genau auf diesem aufgebockten Tisch sollte Block später den Leichnam seines Sohn aufbahren, und es gab Leute, die sagten, sie hätten abends durchs Fenster geblickt und gesehen, wie der Vater versuchte, das klebrige Blut aus dem blonden Haar seines Sohnes zu waschen, und gehört, wie er stöhnte und auf den leblosen Körper einredete, als könne der verstehen, was er sagte. Wie auch immer, seit jenem Tag war wenig getrunken worden im Gasthaus, denn Block wurde immer schweigsamer und mürrischer. Er war nie jemand gewesen, der seine Kunden umgarnt, jetzt aber warf er jedem, der eintrat, finstere Blicke zu, sodass die Männer das Gefühl bekamen, das Why Not? sei ein verfluchter Ort, und lieber nach Ringstave ins Three Choughs gingen, um zu trinken.

Mir rutschte das Herz in die Hose, als Ratsey den Riegel anhob und mich in den Schankraum führte. Es war ein niedriger Raum mit abgezogenen Dielen, und das einzige Licht kam von einem Feuer aus Treibholz im Kamin, das hell züngelnd loderte und blaue Salzflämmchen spie. An beiden Enden des Raums standen Tische, und Holzstühle reihten sich vor den Wänden auf, und an dem aufgebockten Tisch vor dem Kamin saß Elzevir Block, schmauchte eine langstielige Pfeife und starrte ins Feuer. Er war ein Mann von fünfzig Jahren, mit dickem grauem Haar, einem breiten, aber nicht unfreundlichen Gesicht von ebenmäßigen Zügen, buschigen Brauen und der vornehmsten Stirn, die ich je gesehen habe. Seine Statur war untersetzt, strahlte aber immer noch ungeheure Kraft aus, und wirklich gingen in der ganzen Gegend Legenden über seine kaum glaublichen Kräfte und sein Durchhaltevermögen um. Die Blocks waren seit Jahren, vom Vater zum Sohn, Pächter des Why Not? gewesen, aber Elzevirs Mutter stammte aus den Niederlanden, daher hatte er seinen fremdartigen Namen und konnte Holländisch sprechen. Kaum jemand wusste etwas über ihn, und die Leute fragten sich häufig, wie er das Why Not? mit so wenig Kunden, wie zu ihm kamen, halten konnte. Aber irgendwie schien es ihm nie an Geld zu fehlen, und wenn die Menschen gerne Geschichten über seine Kraft erzählten, so redeten sie doch ebenso über Witwen, denen geholfen wurde, und Kranke, die mit Geschenken bedacht wurden, und ließen durchblicken, dass einiges davon von Elzevir Block stammte, mochte er auch noch so grimmig und schweigsam sein.

Er wandte sich um und stand auf, als wir eintraten, und vor lauter Angst hatte ich den Eindruck, dass sich sein Gesicht verdüsterte, als er mich erblickte.

»Was will der Junge hier?«, fragte er Ratsey scharf.

»Er will genau das Gleiche wie ich, und zwar ein Glas Ararat-Milch, damit ihm die Herbstkälte nicht in die Glieder kriecht«, antwortete der Küster und zog einen zweiten Stuhl an den aufgebockten Tisch.

»Kuhmilch tut Kindern wie ihm besser«, war Elzevirs Antwort, und er nahm zwei schimmernde Kerzenleuchter aus Messing vom Kaminsims, stellte sie auf den Tisch und entzündete die Kerzen mit einem brennenden Scheit aus dem Kamin.

»John ist kein Kind mehr, er ist im selben Alter wie David, und gerade hat er mitgeholfen, Davids Grabstein zu vollenden. Der ist jetzt bis auf die Farbe auf den Schiffen fertig, und mit Gottes Hilfe werden wir ihn Montagabend auf dem Friedhof aufgestellt haben, wie es sich gehört, und dann kann der arme Junge in Frieden ruhen, weil er wissen wird, dass er Master Ratseys beste Handarbeit über sich stehen hat und die Verse des Reverends, die bezeugen, wie schmählich er zu Tode gekommen ist.«

Ich hatte den Eindruck, dass Elzevir ein wenig milder wurde, als Ratsey von seinem Sohn sprach, und er sagte:

»Ja, David ruht in Frieden. Aber die, die ihn zu Tode gebracht haben, die werden nicht in Frieden ruhen, wenn ihre Zeit gekommen ist. Und die mag schneller kommen, als sie glauben«, fügte er hinzu, mehr zu sich selbst redend als zu uns. Ich wusste, dass er von Mr. Maskew redete, und erinnerte mich, dass der eine oder andere den Friedensrichter davor gewarnt hatte, in Elzevirs Nähe zu kommen, denn man könne nie wissen, wozu ein verzweifelter Mensch fähig sei. Und dennoch waren die beiden sich seither im Dorf über den Weg gelaufen, und dabei war nichts Schlimmeres passiert, als dass Block ihm finstere Blicke zugeworfen hatte.

»Pah!«, unterbrach ihn der Küster, »es war die niederträchtigste Tat, die je begangen worden ist, aber nimm dich zusammen und brüte nicht darüber und denk auch nicht darüber nach, wie du dich rächen könntest. Überlass dies der Vorsehung, denn er, dessen Weisheit solche Dinge geschehen lässt, wird gewiss auch darauf sehen, dass sie ihren rechten Lohn erhalten. Die Rache ist mein, spricht der Herr, ich will vergelten.« Und damit nahm er seinen Hut ab und hängte ihn an einen Haken.

Block antwortete nicht, stellte aber drei Gläser auf den Tisch und holte dann eine kleine runde, langhalsige Flasche aus einem Schrank, aus der er sich und Ratsey ein Glas voll eingoss. Danach füllte er das dritte zur Hälfte und schob es mir über den Tisch zu, wobei er sagte: »Hier, für dich, Bursche, wenn du denn möchtest. Wird dir nicht guttun, aber vielleicht tut’s dir auch nicht schlecht.«

Ratsey erhob sein Glas, kaum dass es voll war. Er schnüffelte an dem Schnaps und schmatzte. »O kostbare Milch von Ararat!«, sagte er. »So süß und so stark wie der Alkohol, dem Noah seine Schande verdankte. Und jetzt hol das Backgammon-Brett, John, und stell es für uns auf den Tisch.« Und als sie mit ihrem Spiel begannen, nahm ich einen heimlichen Schluck von dem Schnaps, aber da ich an starken Alkohol nicht gewohnt war, verschluckte ich mich, und er stieg mir sofort zu Kopf und brannte mir in der Kehle. Keiner der Männer sagte etwas, und abgesehen vom ständigen Geklacker der Würfel und dem Schaben, mit dem die Steine über das Brett wanderten, war es vollkommen still. Ab und zu hielt einer der beiden Spieler inne, um sich die Pfeife anzuzünden, und am Ende jedes Spiels vermerkten sie das Ergebnis mit einem Stück Kreide auf dem Tisch. So sah ich ihnen denn eine Stunde lang zu, ich beherrschte das Spiel ja auch, und außerdem interessierte ich mich für Elzevirs Backgammon-Brett, über das ich schon einiges gehört hatte.

Es gehörte seit Generationen von Pächtern zum Inventar des Why Not?, womöglich hatte es schon während des Bürgerkriegs den Soldaten die Zeit vertrieben. Es war ganz aus Eichenholz, schwarz und poliert, das Brett, der Würfelbecher, die Steine, aber rund um den Brettrand verlief eine lateinische Inschrift auf hellerem Holz, die ich an jenem ersten Abend las, aber nicht verstand, bis Mr. Glennie sie für mich übersetzte. Ich sollte später noch guten Grund haben, mich an sie zu erinnern, also schreibe ich sie hier auf Lateinisch für all diejenigen nieder, die diese Sprache beherrschen. Ita in vita ut in lusu alea pessima iactura arte corrigenda est. Übersetzt heißt das, wie Mr. Glennie erzählte: Wie im Leben so auch im Glücksspiel, kann man mit Geschick auch aus dem schlechtesten Wurf noch etwas machen.

Schließlich blickte Elzevir auf und sprach mich an, gar nicht unfreundlich: »Junge, es ist Zeit für dich, nach Hause zu gehen; es heißt, in den ersten Winternächten geht Schwarzbart um, und es gibt Leute, die ihm von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden sind zwischen diesem Haus hier und deinem.« Ich verstand, dass er mich los sein wollte, und wünschte daher beiden eine gute Nacht. Dann machte ich mich auf den Heimweg und rannte den ganzen Weg nach Hause, aber nicht etwa aus Furcht vor Schwarzbart, hatte Ratsey mir doch oft genug erzählt, dass keine Gefahr bestand, ihm über den Weg zu laufen, es sei denn, man überquerte nachts den Kirchhof.

Schwarzbart war ein Mohune gewesen und im letzten Jahrhundert gestorben. Er lag in der Gruft unter der Kirche begraben, zusammen mit anderen aus seiner Familie, aber er konnte dort keine Ruhe finden, sei es, wie einige meinten, weil er beständig nach einem verlorenen Schatz suchte, oder, wie andere sagten, aufgrund seiner grenzenlosen Verworfenheit zu Lebzeiten. Falls Letzteres der wahre Grund war, so musste er wirklich böse gewesen sein, denn vor ihm wie nach ihm hat es Mohunes gegeben, die verworfen genug waren, um wem auch immer Gesellschaft zu leisten, sei es in ihrer Gruft oder anderswo. Die Leute behaupteten, dass man Schwarzbart in dunklen Winternächten sehen könne, mit einer altmodischen Laterne, wie er auf dem Friedhof nach Schätzen grub, und diejenigen, die schworen, davon Kenntnis zu haben, sagten, er sei ein Mann von übermenschlicher Größe, mit einem schwarzen Vollbart, kupferfarbenem Gesicht und Augen von solcher Boshaftigkeit, dass ein jeder, der auch nur einmal ihrem Blick begegnete, noch im selben Jahr sterben musste. Es sei, wie es sei, jedenfalls gab es nur wenige Leute in Moonfleet, die nicht lieber einen Umweg von zehn Meilen gingen, als sich nach Einbruch der Dunkelheit in die Nähe des Kirchhofs zu wagen, und einmal, als man eines Sommermorgens dort Cracky Jones fand, ein altersschwaches Klappergestell, wie er tot im Gras lag, war die allgemeine Überzeugung jene, er sei des Nachts Schwarzbart über den Weg gelaufen.

Mr. Glennie, der über diese Dinge besser Bescheid wusste als jeder andere, meinte, Schwarzbart sei niemand anderes gewesen als ein gewisser Colonel John Mohune, der vor etwa hundert Jahren verstorben war. Er behauptete, dass Colonel Mohune in den schrecklichen Kriegen gegen König Karl I. der Gefolgschaftspflicht seines Hauses untreu geworden war und sich auf die Seite der Rebellen geschlagen hatte. Als er dann durch einen Beschluss des Parlaments zum Direktor von Carisbrooke Castle ernannt wurde, wurde er zum Kerkermeister des Königs, hinterging aber dessen Vertrauen. Denn der König trug immerzu einen großen Diamanten versteckt bei sich, den er einst von seinem Bruder, dem König von Frankreich, erhalten hatte, und Mohune bekam Wind von diesem Juwel und versprach Seiner Majestät, sofern er es ihm überließe, beim Ausbruch behilflich zu sein. Nachdem der niederträchtige Mensch jedoch sein Pfand erhalten hatte, wurde er erneut zum Verräter, und zu der Stunde, die für die Flucht des Königs festgesetzt wurde, tauchte er mit einem Trupp Soldaten auf, ertappte Seine Majestät dabei, wie sie durch ein Fenster ausstieg, führte sie in ein noch tieferes Verlies hinab und meldete dem Parlament, die Flucht des Königs sei ausschließlich durch die Wachsamkeit des Colonel Mohune vereitelt worden. Aber wie wahr sprach doch Mr. Glennie: Wir sollen die Gottlosen nicht beneiden noch den Mann, der wandelt auf dem Weg der Sünde. Der Schatten eines Verdachts fiel auf Colonel Mohune, er wurde seines Postens enthoben und kehrte in seine Heimat nach Moonfleet zurück. Dort lebte er völlig zurückgezogen, von beiden Parteien im Staate verachtet, bis zu seinem Tode, ungefähr zur Zeit der glücklichen Wiedereinsetzung König Karls II. Doch auch nach seinem Tode fand er keine Ruhe, denn die Leute behaupteten, er habe den Schatz, den er bekommen hatte, um die Flucht des Königs zu ermöglichen, irgendwo versteckt und nie gewagt, ihn wieder an sich zu nehmen. So hatte er das Geheimnis mit ins Grab genommen, das er nun gezwungen war zu verlassen, um den Schatz zu bergen. Mr. Glennie verriet nie, ob er an diese Sage glaubte oder nicht, er wies lediglich darauf hin, dass die Heilige Schrift die Erscheinung guter wie böser Geister erwähnt, dass der Kirchhof allerdings kaum der rechte Ort für Colonel Mohune sei, um nach seinem Schatz zu suchen, denn wäre er dort vergraben, so hätte er schon zu Lebzeiten hundert Gelegenheiten gehabt, ihn zu holen. Wie auch immer, ich war zwar bei Tageslicht tapfer wie ein Löwe und besuchte den Kirchhof auch häufig, denn von dort aus hatte man die beste Aussicht aufs Meer, aber um nichts in der Welt hätte ich mich nachts dorthin gewagt. Im Übrigen konnte ich die Schauergeschichte gewissermaßen selbst bezeugen, denn als ich an dem Abend, an dem meine Tante sich das Bein brach, nach Ringstave gehen musste, um Dr. Hawkins zu holen, nahm ich den Saumpfad, der den Kirchhof aus einer Meile Entfernung überblickt, und sah dort, so wahr ich hier stehe, ein Licht, das sich vor der Kirche hin und her bewegte, wo um zwei Uhr nachts kein anständiger Mensch den Fuß hinsetzt.

2. Hochwasser

Dann versanken die Ufer in grausigem Brausen,
dann flog die Gischt in wildem Sausen,
dann stieg die mächtige Flut – ein Grausen,
und die ganze Welt verschwand im Meer.

JEAN INGELOW

Am 3. November, einige Tage nach dem Besuch im Why Not?, begann der Wind, der schon seit Tagen aus Südwesten blies, sich gegen vier Uhr nachmittags in plötzlichen, heftigen Böen zu erheben. Den ganzen Morgen über waren die Krähen wild von den Dächern heruntergeflattert, daher war uns klar, dass schlechtes Wetter ins Haus stand. Als wir dann aus der Schulstunde kamen, die Mr. Glennie uns im Saal des alten Armenhauses gab, flogen Strohbündel und sogar der eine oder andere Ziegel von den Dächern, und die Kinder begannen zu singen:

Blase Wind, Stürme schlagt,

Schiff auf Grund, bevor’s noch tagt.

Es ist ein heidnischer Vers, der aus anderen, schlechteren Zeiten bis zu uns gedrungen ist, obwohl ich nicht leugnen will, dass ein Wrack am Strand von Moonfleet manchmal fast wie ein Gottesgeschenk angesehen wurde. Allerdings hoffe ich doch, dass niemand von uns so niederträchtig war, geradezu auf einen Schiffbruch zu hoffen, damit wir uns das erplünderte Strandgut teilen konnten. Im Gegenteil, ich habe die Männer von Moonfleet gesehen, wie sie hundert Mal ihr eigenes Leben riskierten, um das von schiffbrüchigen Seeleuten zu retten, so als die Darius, ein Ostindienfahrer, an Land getrieben wurde. Nein, nein, sogar arme namenlose Leichen, die an den Strand gespült wurden, konnten eines christlichen Begräbnisses sicher sein, manchmal sogar eines von Master Ratseys Grabsteinen, auf dem das Geschlecht und das Todesdatum eingraviert war, wie man bis zum heutigen Tag auf dem Friedhof sehen kann.

Unser Dorf liegt fast in der Mitte der Bai von Moonfleet, einer weiten, fast zwanzig Meilen breiten Bucht, die bei Orkanen aus Südwesten einer Todesfalle für Segler gleichkam, die den Kanal herauffuhren. Denn wenn der Wind kräftig von Süden bläst und es einem nicht gelingt, am Snout vorüberzunavigieren, dann treibt man zwangsläufig auf die Küste zu. Und viele gute Schiffe, denen es nicht gelang, um diese Landzunge herumzukommen, sind dann den ganzen Tag lang in der Bucht umhergetrieben, nur um am Abend unweigerlich zu stranden. Und ist ein Schiff einmal auf Grund gelaufen, dann kennt die See kein Erbarmen, denn der Grund fällt steil ab und die Wellen brechen sich auf den Kieseln mit einem Gewicht, dem kein Balken standhält. Versuchen die armen Teufel aber, sich zu retten, dann geraten sie in eine tödliche Unterströmung des Wassers, ein Zurückfluten der Wellen, das sie von den Beinen holt und wieder unter die donnernden Brecher zieht. Es ist dieses Schlürfen der Kiesel in der Rückströmung, das man noch meilenweit im Hinterland hören kann, bis Dorchester, in stillen Nächten und lange nachdem die Winde, die es hervorriefen, sich gelegt haben, und dann drehen sich die Leute in ihren Betten auf die andere Seite und danken dem lieben Gott, dass sie nicht am Strande von Moonfleet gegen die Wellen ankämpfen müssen.

Doch an diesem 3. November gab es kein Wrack, nur einen solchen Wind, wie ich nie zuvor einen erlebt hatte und auch seither nur einmal. Die ganze Nacht über wurde der Sturm immer wilder, und ich glaube, in ganz Moonfleet legte sich niemand zu Bett. Es war ein derartiges Krachen von zerberstenden Ziegeln und Fensterscheiben, ein derartiges Schlagen von Türen und Fensterläden, dass an Schlaf nicht zu denken war, und außerdem hatten wir alle Angst, die Schornsteine könnten einstürzen und uns erschlagen. Gegen fünf Uhr morgens blies der Wind am stärksten, und dann kamen ein paar Leute die Straße hochgelaufen und vermeldeten neues Unheil – das Meer stieg übers Ufer, und die ganze Ortschaft war in Gefahr, überflutet zu werden. Ein paar der Frauen waren dafür, unverzüglich zu flüchten und die Anhöhe zu erklimmen, aber Master Ratsey, der mit ein paar anderen Männern herumging, um die Leute zu beruhigen, machte uns rasch klar, dass der obere Teil des Dorfes so hoch lag, dass, wenn das Wasser bis dorthin reichte, es nicht unmöglich wäre, es stiege auch bis ganz nach oben. Aber da es sich um eine Springflut handelte und das Meer den ganzen äußeren Kiesstrand bedeckte – etwas, was es in fünfzig Jahren nicht gegeben hatte –, befand sich so viel Wasser in der Lagune, dass es über ihre Ufer stieg und die gesamten Salzwiesen überflutete und auch noch das untere Ende der Straße. Bei Tagesanbruch also war der gesamte Kirchhof überflutet, obwohl er an der Steigung lag, und die Kirche selbst ragte wie eine kleine, steile Insel aus dem Wasser, das bis über die Türschwelle des Why Not? reichte. Aber Elzevir Block rührte sich nicht vom Fleck und sagte, es sei ihm gleich, ob die See ihn fortspüle. Das ganze Wunder dauerte gerade neun Stunden, denn ganz plötzlich gab der Wind nach, das Wasser lief ab, die Sonne strahlte am Himmel, und noch vor Mittag standen die Leute vor ihrer Türschwelle, betrachteten die Flutlinie und redeten über den Sturm. Die meisten waren der Ansicht, einen solchen Orkan habe es noch nie gegeben, aber ein paar der Ältesten erwähnten einen im zweiten Jahr der Regentschaft von Königin Anne und behaupteten, der sei ebenso schlimm oder noch schlimmer gewesen. Aber ganz gleich ob schlimmer oder nicht, dieser Sturm war eine gewichtige Erfahrung für mich und sollte mein Leben auf andere Bahnen lenken, wie ihr gleich noch hören werdet.

Ich sagte bereits, das Wasser kam so hoch, dass die Kirche wie eine kleine Insel aus ihm herausragte, aber rasch lief es auch wieder ab, und am kommenden Sonntagmorgen konnte Mr. Glennie Gottesdienst halten. Es kamen schon so wenig genug Menschen in die Kirche von Moonfleet, aber an diesem Morgen waren es noch einmal weniger, denn die Wiesen zwischen Dorf und Kirchhof waren noch immer nass und sumpfig. Seegras war um die Grabsteine geschlungen, und gegen die Außenmauer des Kirchhofs hatte sich ein ganzer Berg davon aufgehäuft, aus dem ein salzig-ranziger Geruch stieg wie nach Lummeneiern, und der immer in der Luft hängt, nachdem ein Südweststurm die Küste mit Tang zugedeckt hat.

Diese Kirche ist so groß, wie ich nur irgendeine gesehen habe, und in zwei Hälften unterteilt, die eine Steinmauer in der Mitte voneinander trennt. Vielleicht war Moonfleet früher einmal eine große Ortschaft, und dann gab es wahrscheinlich auch genügend Menschen, eine solche Kirche zu füllen, aber seitdem ich sie kenne, hat niemals jemand in dem Teil gebetet, den man das »Langschiff« nannte. Dieser westliche Teil war auch bis auf einige alte Grabsteine und das königliche Wappen von Königin Anne völlig leer. Selbst der Fußboden war feucht und moosbewachsen, grüne Flecken bedeckten die Wände, dort wo der Regen eingedrungen war. Die paar Leute, die zum Gottesdienst kamen, waren also heilfroh, auf der anderen Seite der Mauer im Chor zu sein, wo der Boden unter den Bänken wenigstens mit Brettern ausgelegt war und die eichene Wandverkleidung die Zugluft abhielt.

An diesem Sonntagmorgen waren, glaube ich, außer Mr. Glennie und Ratsey und dem vielleicht halben Dutzend von uns Jungs, nur drei oder vier gekommen, die die sumpfigen Wiesen voller ertrunkener Spitzmäuse und Maulwürfe überquert hatten. Sogar meine Tante war nicht in der Kirche, eine Migräne hielt sie davon ab, aber diejenigen, die erschienen waren, erwartete eine Überraschung, denn in einer der Bänke saß einsam Elzevir Block. Die Leute starrten ihn beim Eintreten an, denn niemand hatte ihn je zuvor in der Kirche gesehen. Einige behaupteten, er sei Katholik, andere, er sei ein Ungläubiger. Wie auch immer, an diesem Tag war er jedenfalls da, vielleicht um dem Küster Respekt zu erweisen, der die Verse für Davids Grabstein eingraviert hatte. Er nahm von niemandem Notiz, tauschte auch keine Grüße mit den Eintretenden, wie das in der Kirche von Moonfleet Sitte war, sondern starrte in das Gebetbuch, das er in der Hand hielt, obgleich er dem Reverend nicht folgte, denn er blätterte nicht eine Seite um.

Die Kirche war so feucht von der Flut, dass Master Ratsey ein Feuer in der Kohlenschale entzündet hatte, die hinten stand, aber normalerweise nicht benutzt wurde, bevor der Winter richtig begonnen hatte. Wir Jungs saßen so dicht wir konnten daneben, denn eine feuchte Kälte stieg aus den Platten, und außerdem waren wir so weit von dem Geistlichen entfernt und auch von den Eichenlehnen so gut geschützt, dass wir einen Apfel hätten braten oder Kastanien hätten rösten können, ohne befürchten zu müssen, dass er uns dabei erwischte. Aber an diesem Morgen geschah noch etwas anderes, das unsere Gedanken ablenkte, denn der Gottesdienst hatte noch kaum begonnen, da fiel uns ein seltsames Geräusch auf, das von unter der Kirche her kam. Zum ersten Mal war es in dem Moment zu hören, als Mr. Glennie gerade sein »Liebe Brüder und Schwestern« beendet hatte, und dann hörten wir es noch einmal vor der zweiten Lesung. Es war kein lautes Geräusch, es erinnerte eher an das Knirschen, mit dem ein Boot auf See gegen ein anderes stößt, bloß klang es tiefer und hohler. Wir Jungs blickten einander an, denn wir wussten, was unterhalb der Kirche lag, und dass dieses Geräusch nur aus der Gruft der Mohunes kommen konnte. Kein Mensch in Moonfleet hatte je das Innere dieser Gruft erblickt, aber Ratsey hatte von seinem Vater, der vor ihm Küster gewesen war, erzählt bekommen, dass sie sich über die Hälfte des Chores erstreckte und dass dort mehr als zwei Dutzend Mohunes lagen. Sie war seit mehr als vierzig Jahren nicht mehr geöffnet worden, seit Gerald Mohune, dem eine Ader im Kopf geplatzt war, während er sich beim Pferderennen in Weymouth betrank, dort beigesetzt worden war. Aber man erzählte sich, dass eines Sonntagnachmittags vor vielen, vielen Jahren ein so schauerlicher und unirdischer Schrei ertönt sei, dass Küster und Gemeinde aufsprangen und aus der Kirche flüchteten und sich die nächsten drei Wochen weigerten, dort Gottesdienst abzuhalten.

An diese Geschichten mussten wir denken und drängten uns dichter an die Feuerschale, verängstigt von dem Geräusch und unsicher, ob wir nicht lieber die Beine in die Hand nehmen und aus der Kirche fliehen sollten. Denn so viel war gewiss: Irgendetwas bewegte sich dort in der Gruft der Mohunes, zu der es keinen Zugang gab außer einer Steinplatte mit einem Eisenring, die in den Fußboden eingelassen war und die seit vierzig Jahren niemand mehr hochgehoben hatte.

Aber dann überlegten wir es uns doch anders und rührten uns nicht von der Stelle, obwohl ich beim Aufstehen, als ich einen Blick über die Bänke hinweg werfen konnte, sah, dass auch anderen unwohl war. So zuckte Granny Tucker jedes Mal, wenn sie die Geräusche hörte, derart zusammen, dass ihr zwei Mal die Brille von der Nase in den Schoß fiel, und Master Ratsey versuchte, das Geräusch zu übertönen, indem er selbst welche von sich gab. Einmal scharrte er mit den Füßen, dann ließ er sein Gebetbuch zu Boden fallen. Aber am meisten überraschte mich, dass selbst Elzevir Block, der, so sagte man, weder Tod noch Teufel fürchtete, unruhig wirkte und jedes Mal, wenn das Geräusch ertönte, Ratsey einen raschen Blick zuwarf. So saßen wir da, bis Mr. Glennie schon mitten in der Predigt war. Seine Rede interessierte mich, wenn ich auch nur ein Knabe war, denn er verglich das Leben mit dem Buchstaben »Y«. Er sagte: »Im Leben jedes Menschen kommt der Moment, wo vor ihm zwei Wege abzweigen wie die Arme eines Ypsilons, und dann muss jeder für sich selbst wählen, ob er den breiten Pfad zur rechten Hand nimmt, der bergab führt, oder den schmalen, steil bergauf führenden zur linken Hand. Denn«, so fuhr er fort, »wenn ihr in eurem Gebetbuch nachseht, werdet ihr feststellen, dass der Buchstabe ›Y‹ nicht so aussieht wie jener der Mohunes und zwei gleiche Arme hat, sondern dass der rechte Arm breiter ist und stärker abfällt als der linke. So sagen auch die Philosophen früherer Zeiten, dass dieser rechte Arm den leichten, abschüssigen Pfad ins Verderben darstellt und der linke den engen, aufwärtsstrebenden zum Leben.« Als wir das vernahmen, fingen wir alle an, unsere Gebetbücher nach einem großen Ypsilon zu durchsuchen, und Granny Tucker, die kein A von einem B unterscheiden konnte, machte eine Menge Aufhebens mit ihrem Buch, denn sie wollte die Leute glauben machen, sie könne tatsächlich lesen. Und genau in diesem Moment kam von unten wieder ein Geräusch, lauter als die zuvor, hohl und krächzend wie der schmerzhafte Schrei eines alten Mannes. Und Granny Tucker springt auf und ruft mit lauter Stimme zu Mr. Glennie: »O Hochwürden, wie können Sie da nur weiterpredigen, wenn die Moons aus ihren Gräbern steigen?«, und stürzt aus der Kirche hinaus.

Das war auch für die anderen zu viel, und alle ergriffen die Flucht. Mrs. Vining schrie: »Herr im Himmel, wir werden alle erwürgt werden wie Cracky Jones!«

Binnen einer Minute war kein Mensch mehr in der Kirche, ausgenommen Mr. Glennie, ich selbst, Ratsey und Elzevir Block. Ich war nicht losgerannt. Zunächst, weil ich mich vor den Männern nicht als Feigling offenbaren wollte, dann, weil ich dachte: Würde Schwarzbart auftauchen, so nähme er sich eher einen der Männer vor als einen Jungen, und drittens, weil, käme es zu einer Schlägerei, Block stark genug war, selbst gegen einen Mohune seinen Mann zu stehen. Mr. Glennie fuhr in seiner Predigt fort und tat so, als habe er weder ein Geräusch gehört noch bemerkt, dass die Leute aus der Kirche geflohen waren. Als er dann geendet hatte, trat Elzevir nach draußen, aber ich blieb zurück, um zu erfahren, was der Reverend zu Ratsey über die Geräusche aus der Gruft sagen würde. Der Küster half Mr. Glennie aus seinem Gewand, und als er dann sah, dass ich dastand und lauschte, meinte er:

»Der Herr hat böse Geister unter uns geschickt. Es ist eine schreckliche Sache, Master Glennie, die Toten unter den eignen Füßen hören zu müssen.«

»Aber, aber«, erwiderte der Reverend. »Es sind nur die eigenen Ängste, die solch Geräusche dem Pöbel schrecklich erscheinen lassen. Und was Schwarzbart betrifft, so will ich nicht darüber entscheiden, ob es schuldbehaftete Seelen gibt, die keine Ruhe finden und von den Menschen gesehen werden, wie sie umhergeistern, aber was diese Geräusche hier betrifft, sind sie so sicher ein Werk der Natur wie die Wellen, die auf den Strand schlagen. Die Flut ist in die Gruft eingedrungen, also haben sich die Särge vom Boden gelöst und treiben aufgrund irgendwelcher Strömungen auf eine Art und Weise herum, von der wir nichts wissen, und stoßen dabei gegeneinander. Und weil sie hohl sind, geben sie dabei jene Geräusche von sich, die ihr hören könnt. Da habt ihr sie, eure bösen Geister. Schon richtig, dass sich die Toten unter unseren Füßen bewegen, aber nur weil sie nicht anders können und das Wasser sie hierhin und dorthin trägt. Pfui, Ratsey, du solltest es besser wissen, als einem Knaben mit dummem Geschwätz über Geister Angst zu machen, wenn die Wahrheit schon schlimm genug ist.«

Für mich klangen die Worte des Reverends wahr, und ich zweifelte nicht daran, dass er recht hatte. Dieses Rätsel war also gelöst, aber dennoch war es schrecklich und der Gedanke ließ mich erzittern, dass die Mohunes dort unten in ihren Särgen umhertrieben und in der Dunkelheit gegeneinanderstießen. Ich versuchte, sie mir vorzustellen, alle Generationen, Greise und Kinder, Männer und junge Mädchen, nur noch Knochen, ein jeder von ihnen in seiner kleinen morschen Holzkiste schwimmend; und Schwarzbart selbst, in einem prächtigen Sarg, der größer war als alle anderen, wie er gegen die übrigen, schwächeren krachte, so wie ein großes Schiff, das in schwerer See in ein Wellental fällt und ein kleines Boot rammt, das versucht hat, längsseits zu gehen. Aber man musste auch an die vollkommene Dunkelheit außerhalb, in der Gruft selbst denken, an die gestockte Luft und das schwarze, faulige Wasser, das fast bis zur Decke reichte und auf dem diese tristen Boote umhertrieben.

Ratsey sah ein wenig geknickt aus aufgrund der Worte von Master Glennie. Dann jedoch machte er gute Miene zum bösen Spiel und antwortete:

»Nun ja, Hochwürden, ich bin nur ein einfacher Mann und weiß nichts von Fluten und diesen Strömungen und vom verborgenen Wirken der Natur, von dem Sie da reden, aber bei allem Respekt, es liegt mir doch am Herzen, den Warnungen Gehör zu schenken, die uns erreichen. Heißt es nicht: ›Wenn die Mohunes sich rühren, muss Moonfleet trauern?‹, und ich habe es noch von meinem Vater gehört, dass sie sich das letzte Mal im zweiten Jahr von Königin Annes Regentschaft gerührt haben, als der große Sturm den Leuten die Dächer über den Köpfen wegblies. Was nun das Bangemachen von Kindern angeht, so ist es nur recht und billig, dass naseweise Jungs Respekt lernen und nicht in Dingen herumschnüffeln, die sie nichts angehen, denn andernfalls könnte es ihnen schlecht ergehen.«Diese letzten Worte enthielten, das spürte ich sicher, eine Warnung an mich, obwohl mir damals nicht klar war, was er damit meinte. Und damit verließ er schnaubend die Kirche und ging mit Elzevir davon, der draußen auf ihn gewartet hatte. Ich ging mit Mr. Glennie und trug ihm sein Gewand bis zu seiner Unterkunft im Dorf.

Mr. Glennie war immer sehr freundlich zu mir und nahm mich ernst und sprach mit mir, als wäre ich seinesgleichen. Ich glaube, das lag daran, dass es in der Gegend niemanden gab, der es an Wissen mit ihm aufnehmen konnte, und so redete er dann vielleicht lieber mit einem unwissenden Knaben als mit einem unwissenden Mann. Nachdem wir das Drehkreuz des Kirchhofs passiert hatten und die sumpfigen Wiesen überquerten, fragte ich ihn erneut, was er von Schwarzbart und seinem verlorenen Schatz wisse.

»Mein Sohn«, antwortete er, »das Einzige, was ich habe erfahren können, ist, dass dieser Colonel Mohune, den man unsinnigerweise Schwarzbart nennt, der Erste gewesen ist, der mit seinen Exzessen das Familienvermögen durchgebracht hat, ja, der sogar die Armenhäuser hat verfallen lassen und die Hilfsbedürftigen abwies. Wenn die Berichte über ihn keine Lügen sind, was schwer zu glauben wäre, dann war er ein schlechter Mensch, an dessen Händen, abgesehen von zahllosen niederen Verbrechen, das Blut eines treuen Dieners klebte, den er um die Ecke brachte, weil irgendein Zufall den Mann ein schuldbeladenes Geheimnis seines Herrn hatte erlauschen lassen. Als es dann mit seinem Leben zu Ende ging und er voller Schuldgefühle war und Gewissensbisse hatte, wie das jedem bösen Sünder zum Schluss geschieht, schickte er nach Rektor Kinderley in Dorchester, um ihm zu beichten, obgleich er ein Protestant war, und wollte Wiedergutmachung leisten, indem er den Schatz, den er von König Karl auf so unrechtmäßige Weise erworben hatte (und der alles war, was er noch zu vererben hatte), zur Reparatur und Instandsetzung der Armenhäuser hinterließ. Er machte diesbezüglich ein Testament, das ich selbst gesehen habe, beschrieb den Schatz aber nicht weiter als nur von einem Diamanten zu reden und nannte auch das Versteck nicht. Zweifellos hatte er vor, ihn an sich zu nehmen, zu verkaufen und den Erlös danach für den guten Zweck zu verwenden, aber bevor er das noch tun konnte, kam plötzlich der Tod und zog ihn zur Rechenschaft. Deshalb sagen die Leute, er könne nicht in seinem Grab ruhen, da ihm selbst die späte Sühne misslungen sei, und werde so lange nicht ruhen, bis der Schatz gefunden und für die Armen verwendet worden ist.«

Ich dachte lange über das nach, was Mr. Glennie erzählt hatte, und begann mich schließlich zu fragen, wo Schwarzbart seinen Diamanten wohl versteckt haben konnte und ob nicht vielleicht ich ihn eines Tages finden und so zu einem reichen Mann werden würde. Wenn ich unterdessen genauer über die Geräusche nachdachte, die wir in der Kirche gehört hatten und an Reverend Glennies Erklärungen über ihren Ursprung, wurde ich immer ratloser. Denn wie ich schon sagte, hatte dieses Geräusch einen tiefen und hohl widerhallenden Klang gehabt, und wie hätte der von morschen Särgen herrühren sollen? Mehr als einmal hatte ich Ratsey beim Ausheben von Gräbern zugesehen und dabei mitbekommen, wie er Stücke von alten Särgen ausgrub, bei denen manchmal ein fleckiges Namensschild zeigte, dass sie so lange noch nicht unter der Erde waren, und dennoch war das Holz völlig verrottet und mürbe. Selbst wenn man einmal davon ausgehen wollte, dass in die Erde vergrabene Särge schneller verrotteten, so hatte Master Ratsey mich doch einmal, als er den Deckel von der backsteingemauerten Gruft des alten Guy schob, um seine Witwe neben ihn zu betten, einen Blick hineinwerfen lassen, und ich sah, dass der Sarg des alten Guy auch völlig verzogen und voller Risse war und wirkte, als könne ein einziger Spatenhieb ihn in tausend Stücke spalten. Und da sollten die Särge der Mohunes, die seit Generationen hier bestattet lagen und verrottet sein mussten wie Zunder, mit Paukenschlägen gegeneinanderstoßen, als wären sie immer noch wie neu und versiegelt? Und dennoch mussten Mr. Glennies Ausführungen der Wahrheit entsprechen, denn wenn nicht die Särge diese Geräusche von sich gaben, was dann?

Am Tag nachdem wir die Geräusche in der Kirche gehört hatten, einem Montag, rannte ich, sobald der vormittägliche Schulunterricht zu Ende war, die Straße hinunter und über die Wiesen bis zum Kirchhof. Ich hatte vor, draußen an den Mauern zu horchen, ob die Mohunes sich noch immer bewegten. Ich sage »draußen an den Mauern«, denn mir war klar, dass Ratsey mir nicht den Schlüssel borgen würde, um hineinzugelangen, nach all dem, was er mir über Jungs gesagt hatte, die ihre Nase in Dinge stecken, die sie nichts angehen. Im Übrigen glaube ich, dass ich selbst mit dem Schlüssel nicht sonderlich erpicht darauf gewesen wäre, mich allein dort hineinzuwagen.

Als ich, reichlich außer Atem, vor der Kirche ankam, begann ich zunächst auf der Seite zu horchen, die zum Dorf hingeht, also der Nordseite. Ich hielt mein Ohr gegen das Mauerwerk und legte mich dann sogar auf den Boden, obgleich das Gras hoch und nass war, um jedes Geräusch, das etwa von da unten heraufstieg, mitzubekommen. Aber ich hörte nichts und kam zu dem Schluss, dass die Mohunes sich offenbar wieder beruhigt hatten. Dennoch nahm ich mir vor, es auch auf der Südseite zu versuchen, der zum Meer hin gelegenen, denn vielleicht waren deren Gnaden ja hinüber auf diese Seite getrieben und stießen dort aneinander. Also umrundete ich das Gebäude und war froh, aus dem kalten Schatten hinaus auf die sonnige Seite zu kommen. Dort aber erwartete mich eine Überraschung, denn als ich um einen dicken Strebepfeiler herumging, der die Mauer abstützt, wen erblickte ich da? Zwei Männer, und zwar niemand anderen als Ratsey und Elzevir Block. Ich erschien völlig unerwartet für die beiden, und, was soll ich sagen, Master Ratsey lag dort genauso auf dem Boden wie ich und hielt sein Ohr gegen die Mauer, während Elzevir mit dem Rücken an den Pfeiler gelehnt dasaß, ein Fernglas in der Hand, rauchte und hinaus aufs Meer blickte.