image
Cover

Ulrich Holbein

Heilige Närrinnen

22+4 Lebensbilder

Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.
 
Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012
Lektorat: Dietmar Urmes, Bottrop
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH
Bildnachweis: Heilige Narren, Montage von Ulrich Holbein
eBook-Bearbeitung: Sina Ramezan Pour
Gesetzt in der Palatino Ind Uni – untersteht der GPL v2
 
ISBN: 978-3-8438-0265-9
 
www.marixverlag.de

Hundegattin, vernarrt in einen Quasimodo

Hipparchia von Maroneia – Kynikerin, Philosophin, Emanze (um 300 v.Chr.)

Sie stammte aus vornehmen Kreisen in Maroneia. Bald drängten allerlei Freier herbei, sogar recht ansehnliche und wohlhabende: Sie aber guckte gar nicht genauer hin und wies allesamt schroff ab. Sie hatte nämlich einzig nur Augen für den Lehrer ihres Bruders Metrokles, den optisch und finanziell vergleichsweise nicht sehr günstig herauskommenden, sprich: buckligen Kyniker Krates von Theben. An den dachte sie ständig nur, an seine weisen Lehren und seine absichtlich ärmliche Lebensweise, und drohte ihren Eltern mit Selbstentleibung, wenn sie den Krates nicht zum Mann bekäme. Ihre Eltern sahen ihr unsinniges Ansinnen nicht so gern und forderten Krates auf, ihr den Unsinn auszureden. Krates gab sich erdenklichste Mühe; sie aber wurde nicht wankend und wollte nur ihn, ließ sich auch dadurch nicht abschrecken, daß er sein Gewand abwarf und seine entblößten leiblichen Mängel abschreckend deutlich hervorspringen ließ. Hipparchia meinte, sie könne keinen schöneren und reicheren Mann finden als ihn, legte sofort die gleiche ärmliche Kleidung an wie er und gab sich ihm am hellichten Tag und unter freiem Himmel hin, ohne Rücksicht auf zufällig herumstehende Leute. Krates’ Schüler Zenon warf wenigstens einen Mantel über die Kopulierenden. Dieses Ehepaar führte nun eine Hundeehe – ein Sonderfall; denn viele Kyniker lehnten Ehe heftig ab. Mangels festem Wohnsitz zogen sie ab sofort unzertrennlich herum und verbrachten ihre Tage und Nächte meist in den öffentlichen Säulenhallen von Athen. Auf einem Gastmahl beim Lysimachos lüpfte der Gottesleugner Theodoros den Umhang der Hipparchia; sie aber kreischte gar nicht nach Weiberart hysterisch auf. Und als Theodoros fragte: »Aha, das also ist sie, die vom Weberschiffchen sich entfernt hat?«, parierte sie: »Ich bin’s, Theodoros, meinst du wirklich, ich hätte was falsch gemacht, als ich die Zeit, die ich am Webstuhl gesessen hätte, für Geistesbildung verwendet hab?« Also ein frühes Hippiemädchen, unbekümmert nach der Maxime handelnd: »Why don’t we do it in the road?« Unbekümmerter Pleinair-Beischlaf wurde von Sextus Empiricus verteidigt, mit Hinweis auf einige Völker Hindustans, wo dergleichen nicht als unanständig gelte. Der freien Verbindung entsprang ein Sohn namens Pasikles.

Hipparchia wurde als »ein zweiter Krates« gerühmt. Diogenes Laertius berichtete fünfhundert Jahre später, es gäbe noch viele Aussprüche dieser Philosophin, nannte aber keine weiteren Beispiele. Diesen Übelstand versuchte Christoph Martin Wieland 1804 auszugleichen in seinem Briefroman »Krates und Hipparchia«, wo sie genauer zu Wort kam.

Worte von Hipparchia: Was Theodoros tut, ohne dafür eines Unrechts geziehen zu werden, das kann auch Hipparchia tun, ohne eines Unrechts geziehen zu werden. Wenn Theodoros kein Unrecht tut, sich selbst zu schlagen, dann tut auch Hipparchia nicht Unrecht, wenn sie den Theodoros schlägt.

Andere über Hipparchia: Wenigstens ist die einzige Verbindung, von der wir in diesem Kreise genauere Kenntnis haben, jene zwischen Krates und der selbst das Kynikerkleid und die Kynikersitte nicht verschmähenden Hipparchia, offenbar ein echter und ein mehr als flüchtiger Liebesbund gewesen. (Theodor Gomperz, 1893/1922) – Der Christ Theodoret stellt es so dar, als habe Krates, von Leidenschaft überwältigt, gegen seine eigenen »großartigen Prinzipien« gehandelt; aber eigentlich wollte er Hipparchia von ihrer Leidenschaft heilen, indem er ihr seinen Buckel zeigte. (Georg Luck, 1997)

Heiliger als heiliggesprochene Heilige

Hildegard von Bingen, die Prophetissa teutonica – Benediktiner-Nonne, Äbtissin, Visionärin, Musikerin, Heilkundlerin, Naturforscherin (1098–1179)

Schon mit fünf sagte das zehnte Kind adliger Eltern hellseherisch die Fleckenzeichnung ungeborener Kälber voraus. Von der Inklusin Jutta von Spornheim ward sie lateinisch erzogen auf dem Disibodenberg.

Die rheinische Nonne fühlte sich oder wurde von Gott beauftragt mit mystischer Gottesschau – ihre Begründung: Männer seien zur Beobachtung der Gerechtigkeit zu lau und zu schlaff, um ihre Schaugeschehnisse (Visionen) aufzuschreiben, was sie von allein wohl nicht unbedingt gemacht hätte. Ihr Organisationstalent stand ihrer Kontemplation nie im Weg. Sie beschrieb präzise die Antlitze, Flügel und Leuchtstufen aller Engelschöre. Überirdische Lichtfülle blendete und schmerzte sie nicht, sondern wärmte sie. Ihrem Gott war Konkurrenzausschaltung sehr wichtig, und drohte also ihr, daß, wenn sie – statt Ihn – Sterne, Feuer, Vögel und andere Geschöpfe nach der Zukunft befrage, Er sie hinwegfegen würde wie den gefallenen Engel. Er wandte sich direkt an sie (wie Allah an Mohammed) und machte Vorwürfe: »Weshalb schiebst du Mich beiseite? Du Törin! Überlege, wer Ich bin! Ich bin Gott über alles und in allem. Aber du willst, daß ich deinen Willen tu, während du Meine Gebote verachtest! Ein solcher Gott wäre kein Gott. Gott braucht nicht Ratschläge am Anfang noch Furcht am Ende.« Gott übergoß sie auch mit archaischen, bei Hiob angelesenen Protzereien: »O Mensch, wo warst du, als die Sterne und übrigen Geschöpfe gemacht wurden?« Gott hielt also Sterne für Geschöpfe, unterlag also selber eigentlich monotheistisch verpöntem Animismus!? Ihr Gott warnte sie auch vor dem Teufel, glaubte also an ihn. In einem Brief an Papst Anastasius IV. sagt Hildegard von Gott, daß dieser nicht aus dem Weg geräumt werden könne. Selbst König Konrad III. wagte sie brieflich zu mahnen: »Höre: In gewisser Weise wendest du dich ab von Gott. Die Zeiten, in denen du lebst, sind leichtfertig wie ein Weib.« (Frauenverachtung?) Kaiser Friedrich Barbarossa erinnerte sie brieflich daran, daß er nur ein Diener Gottes sei. Eine himmlische Stimme redete sie also an: »Gebrechlicher Mensch, Asche von Asche, Moder von Moder!« und befahl ihr, ihre Schauungen niederzuschreiben. Pausenlos sprach sie von ihrem Sohn, hatte aber als Nonne gar keinen, sondern Gott sprach durch sie hindurch, die sich deshalb auch »Posaune Gottes« nannte, von seinem Sohn Jesus. Bernhard von Clairvaux half, ihre Visionen von der Kirche als gültig anerkennen zu lassen. Sie schuf das erste liturgische Mysterienspiel, »Ordo virtutum«, und achtzig geistliche Lobgesänge (Sequenzen, Hymnen) und Wechselgesänge (Antiphone, Responsorien). Bischöfe nannte sie »pigmentarii« (Salbenmischer). Als Heilkundige heilte sie oft einfach nur mit geweihtem Wasser. Trotz Schwächlichkeit fuhr sie oft auf Predigtreisen. Ohne eiserne Lady zu sein, sondern ganz weich, kränkelnd und fragil, blieb sie agil und geistlich fruchtbar bis ins höchste Alter. Sie sah fünf Kaiser und siebzehn Päpste und Gegenpäpste kommen und gehn.

Im Placebo- und Contergan-Zeitalter erlebte ihre Kräuterheilkunst eine enorme Renaissance. Ihre Musik klang in Disco- und Metallica-Zeiten so still und schön, als wär das finstere Mittelalter nicht bloß halb so schlimm, sondern doppelt so schön und still gewesen. Wo einst ihr Kloster stand, donnerten alsbald Schnellzüge. Auf einmal schienen Hildegardpassagen auf sauren Regen, Schadstoffbelastung und Umweltkatastrophen zuzutreffen: »Und ich sah, daß das obere Feuer des Firmamentes ganze Regenschauer voll Schmutz und Unrat auf die Erde schüttete.« Die Elemente schrien auf gegen den Menschen. Man verehrte sie wie eine Heilige, dergestalt, daß alsbald alle sie für heilig hielten und sich wunderten, daß sie strenggenommen nie offiziell heiliggesprochen wurde, trotz vieler Bemühungen (vielleicht wegen einiger freimütiger, also anstößiger Passagen); eine ungekrönte Königin, einstimmig die größte sichtbar gewordene Frau des 12. Jahrhunderts, die Dutzende bis Hunderte Heilige überragte, wie Franz Kafka, James Joyce, Marcel Proust, Arno Schmidt selbviert 55 bis 77 Nobelpreisträger in die Pfanne hauen. In Frauenlexika landete Hildegard von Bingen zwischen Patricia Highsmith und Etty Hillesum.

Worte der Hildegard: Der Weinberg des Herrn raucht von Leid. – Das eine davon ist wie ein feuriger, aber nicht brennender Hund, weil dieser Zeitabschnitt bissige Menschen in die Welt setzen wird. – In den Bäumen erkennt der Mensch, daß er körperlich ist. – Wenn fruchtbare Männer sich der Frauen enthalten, werden sie leicht krank. – Da entbrennt der Mann in einem so starken Lustgefühl, daß er in der Hitze dieser Leidenschaft seiner vergißt und den Erguß seines schaumigen Samens nicht mehr zurückhalten kann.

Hildegard über sich selbst: Es geschah im Jahre 1141 nach der Menschwerdung des Gottessohnes Jesus Christus, als ich 42 Jahre und 7 Monate alt war. Aus dem offenen Himmel fuhr blitzend ein feuriges Licht hernieder. Es durchdrang mein Gehirn und setzte mein Herz und die ganze Brust wie eine Flamme in Brand. – Ich, erbärmlich und mehr als erbärmlich in meinem Sein als Frau, schaute schon von meiner Kindheit an große Wunderdinge, die meine Zunge nicht aussprechen könnte, wenn nicht Gottes Geist mich lehrte zu glauben. – Ich bin ja ein Mensch, der durch keinerlei Schulweisheit über äußere Dinge unterwiesen wurde. Nur innen in meiner Seele bin ich unterwiesen.

Andere über Hildegard: Ihr Leben gleicht dem Bild eines kostbaren Sterbens. (Mönch Gottfried, einer ihrer vielen Sekretäre) – Wer hat je Ähnliches von einer Frau gehört? (Wibert von Gembloux, Hildegards letzter Sekretär) – Hildegards gesamtes Lebenswerk ist eine riesige Volkspredigt, der Versuch, das Gemälde der Geistesgeschichte aufzurollen. (Friedrich Heer, 1916–1983) – Sie vermochte tatsächlich Weltgeschichte zu bewegen, ohne der Manie einer monastischen Emanze zu verfallen. (Alfred Läpple, 1988) – So gehören zu der grandiosen Zusammenschau Hildegards auch scheinbar belanglose Nebensächlichkeiten, ermüdende Wiederholungen und minutiöse Beschreibungen des Geschauten. (Walpurga Storch, 1990)

Versuche, aus dem Schatten herauszutreten

Camille Claudel – Bildhauerin, Rodinschülerin, Zwangsinternierte (1864–1943)

Ihr Kindheitsparadies hieß Villeneuve-sur-Fère. Bereits mit zwölf wollte die Finanzbeamtentochter Bildhauerin werden. 1888 schuf sie in Auguste Rodins Stil eine Rodinbüste, also praktisch ein delegiertes Selbstporträt Rodins. Als ihre lieblose Mutter nach sieben Jahren herausbekam, daß sie eine Liebschaft mit dem verheirateten Rodin hatte, sah sie sie nur noch als Schandfleck. Das feinmotorische Ensemble ihrer Gebilde namens Fortuna, Aurora, Klotho, Flötenspielerin entschwebte beseelt flehend – und hochdiffizil – um nichts materieverhafteter und unbegabter ihrer tellurischen Materia als die tonnenschweren Gebilde ihres Meisters. Als Rodins Muse sich nach dreizehn Lehrjahren und Teamwork von ihrem Meister abseilte, um nicht ständig nur als Ateliersgehilfin und Adeptin ausgenutzt und wahrgenommen zu werden, half das wenig. Kritiker nannten sie weiterhin Rodinschülerin und lobten höchstenfalls, daß sie die Ideen des Maestros mit Grazie, tiefer Poesie und viel Sinn für das Dekorative ergänze. Obwohl sie schon als Jugendliche verblüffend eigenständig modellierte, lehnte sie eine Ausstellungsbeteiligung in Prag ab, um nicht aufs neue als rodinabhängig begutachtet zu werden. Neben Rodins Höllentor und Monumentalzyklen verzwergten ihre zunehmend bekleideten und sich verkleinernden Figuren zu Quisquilien.

Für gleiche Arbeit bekam sie als freie Bildhauerin zehnmal weniger Honorar als ihr Lehrer und muß es noch vier Jahre lang anmahnen und einfordern. Je weiter sie aus dem Schatten Rodins heraustrat, desto gewaltiger überblendete sein wachsender Weltruhm sie. Inspektoren monierten bei ihr »die absolute Nacktheit der menschlichen Details«, die man aber bei Rodin rückhaltlos bewunderte. Ergangene Aufträge wurden zurückgezogen. Um überhaupt etwas zu verdienen, ließ sie sich auf Konzessionen, auf unguten Publikumsgeschmack ein. Um mehr von Rodin abzuweichen, griff sie auf vorimpressionistische Gestik und Darstellung zurück. Sie bildete den umgebenden Raum mit ab, worin Schwätzerinnen lebendig und witzig die Köpfe zusammensteckten. Die einzige Einzelausstellung erhielt zwar begeisterte Kritiken, aber Kunden bestellten nichts. Wer sie voll Mitleid als notleidende und verkannte Künstlerin darstellte, veranlaßte keinen, aus Mitleid eine Skulptur bei ihr kaufen. Wer sie nicht »große Künstlerin« titulierte, nannte sie wenigstens »Künstlerin«. Wer ihr Genie absprach, rühmte ihr Talent. Sie überwarf sich mit Kunden, schrieb unflätige Briefe an Kulturbehörden. Daß es bei ihr im Atelier ziemlich chaotisch aussah, nahm man als Indiz, daß mit ihr was nicht stimmte. Man drehte ihr sogar einen Strick draus, daß sie ihr Leben mit Katzen zubrachte, daß sie den kollektiven Waschzwang nicht in erwünschtem Maß mitmachte, Kleidung vernachlässigte, schon als Kind einen zu starken Eigenwillen besessen und schlimmerweise »aufbrausend« gewesen wäre – wer war das je nicht? Selbst ihr Vater bezeichnete sie als »wütende Verrückte«. Werke von ihr, bei Rodin abgestellt, verschwanden mysteriös. In zwei Italienern, die in ihre verbarrikadierte Wohnung einzubrechen versuchten, erkannte sie Aktmodelle Rodins wieder. Rodin wurde in ihren Augen zum Monster und Schuft.

Ab 1904 zerstörte sie ihre Entwürfe und Produkte mit Hammerschlägen und ließ Trümmerschrott von Fuhrknechten vergraben. Seinen Tod verheimlichte man ihr, um sie bei der Beisetzung nicht dabeizuhaben. Zeitungskampagnen protestierten so beredt wie erfolglos gegen ihre absolut unfreiwillige, gewaltsame, völlig unnötige, ohne untersuchungsrichterliche Vollmacht, aber angeblich juristisch legale Einweisung und Zwangsverwahrung. Ihre Mutter setzte, um die brieflichen Hilferufe ihrer Tochter uneffektiv bleiben zu lassen, absolute Kontaktsperre durch. Ihr ständiges »Holt mich hier raus!« verklang ungehört. Die Ärzte behielten sie schulterzuckend im Bau, ausgelegt für sechshundert und vollgestopft mit zweitausend Leidenden. Sie wurde nicht beschäftigt und behandelt, nur verwahrt. Gedunsen welkte, krebste und litt sie vor sich hin. Im einzig geheizten Saal, wo sie hätte Klagebriefe schreiben können, wars zu laut, um Briefe zu schreiben. Um zwischen wortkargen Aufsichtsschwestern und tobenden Mitpatienten ein wenig humane Gesellschaft zu haben, flehte sie ihren Bruder Paul um ein Foto ihrer geliebten, toten Tante an. Ihr Bruder stellte ihre Werke kunstkritisch zwar höher als Rodins Werke, unternahm aber nichts, sie der Schmach zu entreißen. Ihre mäßigen Verfolgungsphantasien klangen ab, aber die betagte Mutter, aus Panik, sich neuen Streits und Problemen auszusetzen, behauptete, ihre Ideen seien noch genauso gefährlich. Trotz Überbelegung und schwacher Symptomatik ließ man sie nicht raus, nicht mal probeweise. Man brachte Ungereimtheiten vor, um ihre Einkerkerung zu verlängern. Daß Figuren von ihr auf einer Lokalmatadorinnen-Exhibition zwischen hausfraulichen Dilettantenramsch gestellt wurden, bekam hoffentlich keiner mit. Rehabilitierung oder Comeback kam nicht in Sicht. Immer seltener behauptete einer, es wär falsch zu behaupten, sie wär unbekannt geblieben, im Gegenteil. Sie sehnte sich nach einem zurückgezogenen kunstlosen Leben in Villeneuve. Tonerde, die man ihr hinlegte, ließ sie unberührt. Statt an ihr Œuvre anzuknüpfen, wurde ihr Rodins angebliche Böswilligkeit zur Obsession. Ihre Erinnerungsfälschungen bewegten sich in normalen Bahnen, wie es auch für gesund und frei Herumlaufende unvermeidbar bleibt, die viel fixeren Ideen frönten als die elend Internierte. Schier zeigte sie zu wenig wirklich pathologische Deformation, um als heilige Närrin überhaupt paradigmatisch in Frage zu kommen. In den Akten installierte sich halt »paranoider Verfolgungswahn«. Selbst die wenigen, die noch an sie dachten, munkelten unkundig von Umnachtung. Wer in Paris drauf zurückkam, sprach vom Glanz und Elend eines Schicksals. Wer wohlmeinend hoch griff, verglich ihre Fluchbeladenheit mit der von Vincent van Gogh oder Arthur Rimbaud. Man spekulierte über Zusammenhänge zwischen Genie und Wahnsinn, als hätte beides in unabgeschwächter, höchstmöglicher Gestalt unbremsbar vorgelegen.

Sie fror sieben Monate im Jahr, schlotterte im Eisenbett, schlürfte widerliche Fleischpampe, Kaffee aus Kichererbsenabsud und beteuerte ihrer harten Mutter, schon viel zu kaputt zu sein, um bei Freilassung keine Probleme zu machen. Selbst drei Jahre Zwangshaft, statt dreißig, wären zuviel gewesen.

Aber ohne ihre Tragik und Wegsperrung wäre das Leben der Jahrgangsgenossin Rasputins 1988 nicht verfilmt worden. Selbst Rodins Leben wurde nicht verfilmt; was hätte man schon zeigen können außer Aktmodelle und jahrzehntelanges undramatisches Schuften im Atelier!? Klappentexte und Frauenbewegung stürzten sich auf Camille Claudels beindruckende Persönlichkeit und ihr erschütterndes Schicksal. Entgegen den vielen Thesen, daß sie nicht wahnsinnig gewesen sei, bewiesen ein Professor für Neuropsychologie und ein Arzt anhand der Krankenakte, daß die Patientin die klassischen Wahndefinitionen der Richtmaß-Autorität Kraeplin exemplarisch erfülle, also an mentalen Störungen gelitten habe, Fabulationstätigkeit, Deutungswahn, psychopathischen Zuständen, »Ausgeburten einer krankhaften Phantasie«, also zu Recht interniert gewesen sei. Die Zunft, die eine leichte Abweichung als schwere Paranoia behandelt hatte, wurde postum vollauf gerechtfertigt, kraft Lehrbuchjargon.

Camille Claudel über sich selbst: Ich bin wie ein Kohlkopf, von Raupen zerfressen, sobald ich ein Blatt austreibe, fressen sie es auf. – Aber ich bin nicht geneigt, mich von diesem durchtriebenen und verschlagenen Individuum (unser aller Meister, wie er betont) noch länger zum Narren halten zu lassen, macht es ihm doch ein diebisches Vergnügen, alle Welt an der Nase herumzuführen. – Ich mußte so hastig wie möglich beiseite geschafft werden, und obgleich ich mich völlig im Hintergrund halte, in meinem Schlupfwinkel, bin ich immer noch zu lästig. – Die Ovationen für diesen berühmten Mann haben mich Unsummen gekostet, und für mich nichts, rein gar nichts. – Ich hätte besser daran getan, mir schöne Kleider und schöne Hüte zu kaufen, die meine natürlichen Vorzüge zur Geltung bringen, als mich meiner Leidenschaft für zweifelhafte Kunstwerke und mehr oder minder abstoßende Gruppen hinzugeben. Diese unselige Kunst ist eher für die großen Bärte und gräßlichen Dummköpfe gemacht als für eine Frau, die von der Natur relativ gut ausgestattet wurde.

Andere über Camille Claudel: Wir befinden uns hier im Angesicht von etwas Einmaligem, einer Revolte der Natur, einer genialen Frau. (Octave Mirbeau, 1895) – In ihrer Wohnung hat sie gehaust wie eine Elendskreatur, seit 10 Jahren keine Menschenseele mehr sehen wollen und sich von jedem, der ihr was zu essen verkaufte, ausnehmen lassen. Türen und Fenster waren mit Ketten und Vorhängeschlössern verrammelt, und das Essen stellte man ihr in einer Kiste auf die Fensterbank. Sie selbst und ihre Wohnung waren in grauenerregendem Zustand. Sie tat überhaupt nichts anderes mehr, als Briefe an Taugenichtse und Denunziationen zu schreiben. (Claudels Mutter Louise Claudel 1915 an den Direktor der Anstalt Montdevergues) – Sie besaß nur wenige Freunde, und nur selten offenbarte sie sich ihnen, was schon als Symptom gewertet werden kann für ihre Abkapselung, die in Menschenscheu, ja in Verwilderung ausartete und in völliger Erschöpfung endete. (Reine-Marie Paris, 1984) – Auch mit dieser Erfahrung, als Frau in ihrem Beruf nicht wirklich ernstgenommen zu werden, muß sich Claudel sehr allein gefühlt haben. (Andrea Schweers, 1992)

Zwischen Ophelia und Summer of Love

Lotte Hattemer – Aussteigerin, Schwärmerin, Blumenmädchen (1876–1906)

Die flachsblonde Pauline Charlotte Babette fühlte sich im Status der höheren Tochter des katholischen Telegrapheninspektors, Eisenbahndirektors und preußischen Rats Hermann Hattemer sehr bald überhaupt nicht mehr wohl, weder in Berlin noch ab 1895 in Stettin. In die studentische Kundgebung, wohin sie ihr beleibter Vater einmal mitnahm, rief sie in die hochtönende Rede eines Studenten exaltiert hinein: »Alles, was ihr sprecht, ist ja Unsinn!« Vater und Tochter verfielen heftig in Streit. Jeder Lebensänderung atmete Lotte entgegen, als wenn’s Erlösung wäre. Bald floh sie, genau wie ihre ganz andersgeartete Zeitgenossin Franziska zu Reventlow, ihr Elternhaus, und zwar ohne Geld. Schwärmerisch diskutierte sie des Nachts mit geflohenen russischen Nihilisten, arbeitete in einer Berliner Gebetheilanstalt, in einer Hamburger Matrosenkneipe als Kellnerin, traf dort eine junge Aussteigergruppe: den Industriellensohn Henri Oedenkoven, die Ex-Gouvernante und Wagnerianerin Ida Hofmann, die Gebrüder Karl und Gustav Gräser, und durfte mit ihnen auswandern, zu Fuß über die Alpen, um im wärmeren Süden einen geeigneten Siedlungsort zu suchen. Sie brachte noch einen Freund in die Gruppe ein, den Gutsbesitzer Ferdinand Brune, der theosophischen Dogmen engherzig frönte und den die Gruppe naserümpfend begutachtete und ausschied. Zeitweise verlief die Landsuche in Zweiergrüppchen: Ida und Lotte wanderten ausschauhaltend am Luganer See, kehrten in Madonna del Piano ein, einem Dörfchen bei Porlezza. Nach Rotwein-, Polenta- und Minestragenuß fiel Lotte durch gymnastische Übungen und hüllenlose Luftbäder auf, im Gegensatz zur vergleichsweise nüchtern-praktischen Ida, von der aus gesehen Lotte stets in höheren Sphären schwebte. Auch bei Regen wanderten sie weiter, durch Ponte Tresa und Agno. In Punto Cerisio entgingen sie nur knapp ihrer Verhaftung, wegen suspekter Bloßfüßig- und Barhäuptigkeit. Lotte gehörte zu den ersten sieben Ascona-Pionieren und Monte-Verità-Bewohnern, übernahm – leicht beeinflußbar – abwechselnd Oedenkovens gemäßigteren Theoreme und die extremeren Armutsideale der Gebrüder Gräser. Als rundum beliebte, üppig gesunde Mitarbeiterin teilte sie im Sanatorium Essensrationen für Mitglieder und Gäste aus, die sie ironisch »Portiönchen« nannte – ein Indizium für ihr Pyknikertum? –, und zog schon bald separat vom alsbaldigen Haupthaus in einen Stall zurück, schief, tür- und fensterlos, baufällig, nicht ganz rattenfrei, gelegen irgendwo am 5 km langen Höhenweg zwischen Monte Verità und Ronco. Dort zog sie kunstgerecht Gemüse auf angrenzendem Weinberg, ernährte sich hauptsächlich von Maroni, Feigen, Mais und Wein. Ihr Nachtlager bestand bloß aus Decke und Reisigbündel. Bei aller betonten Ärmlichkeit summierte sich ein häusliches Durcheinander aus Koffern, Utensilien, Eßbarkeiten, Büchern, Briefen, Bindfäden, Lederriemen, Matratzen, Holzklötzen, Sandalen, Hüten, Glasscherben. Auffallend durch Gutmütigkeit, freies Benehmen, sehr lebhaft, bis hin zum »Teufel im Leib«, lebte sie vorbildlich urkommunistisch, teilte alles, schwärmte für Idealismus, las mit Inbrunst Nietzsche und Goethe vor. Gastfreundlich zu Durchreisenden und wandernden Künstlern, stürmisch bewegt von Freundschaftsgefühlen, ging sie jedoch auf genauere Avancen nicht ein; kühne Anträge wies sie zurück. Der seltsamen Jungfrau, ärmlich gekleidet, die Haare offen und wirr, sah keiner mehr die eigentlich gutsituierte Beamtentochter an. Launenhaft schwankte sie zwischen zunehmend mystischer Gotteskindschaft, ekstatischen Naturseligkeiten, Ichversunkenheiten und gewissen Ratio-Rudimenten. Die »wilde Lotte«, auch »Sonnenlotte« genannt, verband sich so fest mit Mutter Natur, daß sie sich mit Erde wusch, um den Erdmagnetismus recht auf sich wirken zu lassen, und dachte viel über das Leben nach dem Tode nach. Je nach Betrachterstandpunkt fand man sie entweder originell und sympathisch oder – überspannt, kompliziert, abenteuerlich, so oder so: stets mit Blumen im Haar, mit »botanischem Aufputz« – so ironisierte dies der materialistische Dichter, Anarchist, Asconasympathisant und spätere Asconaskeptiker Erich Mühsam. Die Sonnenlotte bewegte sich zeitlich also zwischen präraffaelitischem Antiquarium einer eher rotbäckig getönten Ophelia und einem vorauseilenden, um sechzig Jahre verfrühten Hippiemädchen, das allmählich immer weiter ausflippte. Jeder Stimmung gab sie im Moment nach (spätere Zeiten nannten so was »spontane Impulse« oder auch »be now here«). So festigte sich ihre Fama als Kreuzung aus Chaotin und Sonderlingin, was sich durchaus unter »Santa Lotta di Ascona« subsumieren ließ. Doch die Ex-Wandergefährtin und Organisatorin Ida glossierte Lottes extreme Entwicklung zunehmend skeptisch: Lotte sei nur dann bedürfnislos, wenn Geldmangel sie dazu zwinge, und sie gäbe gern, habe aber nichts zu geben. Ein Besucher aus Norddeutschland, eher um ihre Moral besorgt als um ihre psychische Gefährdung, berichtete, Lotte verkaufe ihren Überschuß an Weintrauben nicht, sondern bewirte damit Kinder in ihrem Haus, und verwende die väterlichen Geldüberweisungen nicht für sich, sondern tue damit Gutes. Sie finanzierte einer alten Frau ein neues Gebiß.

Lottes Vater, tief unglücklich über ihre Entwicklung, reiste ihr nach, um sie zurückzuholen oder positiv zu beeinflussen. Als sie den beleibten Mann den Berg hinaufkeuchen sah, floh sie vor ihm in eine Höhle über den dortigen Wasserfällen; er fand sie und nötigte sie in die wohlwollende Umgebung eines norddeutschen Sanatoriums, wo man sie aufpäppelte, bis sie aufs neue entwischen konnte. Als einzige unter den ersten Ansiedlern wandte sie sich, vorbelastet durch Ferdinand Brune, dem theatralischen Prediger und äußerst gottgesandten, sich in transzendentalen Phrasen ergehenden, theosophischen Sektengründer Josua Klein zu – und also von den erdnahen Gräserbrüdern ab – und pilgerte nach Locarno, um den Lehren der Theosophen Alfred Pioda und Franz Hartmann zu lauschen. Sich mit der heiligen Katharina befassend, aß sie selber nur noch Obst, steigerte sich in Verzückungszustände pathologisch hinein – Emil Ludwig deutete das eher positiv: sie würde immer durchsichtiger und glücklicher. Auf einer Reise in den Süden arbeitete sie als Aufwärterin in Rapallo, dann als Haushälterin bei einer höheren exotischen Persönlichkeit in Florenz, wo sie sich zu stabilisieren schien.

Doch im Herbst 1905, zurück auf dem Monte Verità, irrte Lotte tagelang mit Selbstmordabsichten umher, nach anderer Quelle: versuchte sie durch Verhungern ihrem Leben ein Ende zu setzen und mußte dann doch in eine Idiotenanstalt gegeben werden. Nachdem sich ihr Zustand gebessert hatte, gab man ihrem sehnsüchtigen Wunsch nach und ließ sie wieder nach Ascona gehen. Sie suchte dort alle Stätten auf, die ihr lieb und vertraut waren, wie zum Lebwohlsagen. Die Puppenmacherin Käthe Kruse, mit ihren zwei Kindern, besuchte Lotte, sehr mit ihr sympathisierend, versuchte sich ansatzweise als Seelenretterin, überredete sie zu einem nochmaligen dreitägigen Treffen mit ihrem Vater in Domodossola, versah sie mit einer Fahrkarte dorthin. Dortige Gespräche und Geschehnisse blieben unbekannt.

Erich Mühsam und der Theologiestudent Johannes Nohl, einkommenslose, vagabundierende Literaten, auch Kokain- und Saccharinschmuggler, mit utopischen Gründungsplänen, für die sie Finanzierung suchten, kreisten in Ascona aufdringlich um Lotte und die gleichfalls recht seltsame Elly Lenz. Dr. Otto Groß, Privatdozent für Psychopathologie, der seiner Frau mit Analysierungsdrang übel zusetzte, drang vermutlich ebenso penetrant auf Lotte ein; sie, hin- und hergerissen zwischen den Männerstimmen, wurde in immer heterogenere Wechselbäder getaucht. Heftiglich wehrte sie sich gehen Nohl und Groß, die eine Dementia präcox an ihr diagnostizieren zu müssen glaubten und sie hartnäckig zu einer Therapie überreden und von ihrem Jungfräulichkeitskomplex befreien wollten. Ihren Widerstand bauten sie schlecht freudianisch in ihr männliches System ein. Lotte Hattemer starb durch Gifteinwirkung.

Lottes losgelöstes Haar, das in dichten straffen Strähnen ihr Gesicht fast bis zur Nase zu verhüllen pflegt, gab ihr allerdings ein etwas ungewöhnliches Aussehen. – Ich habe viele Male beobachtet, wie sie aus einem Kreise gemütlich beieinander sitzender Menschen plötzlich ostentativ verschwand, um nach einer Viertelstunde mit Blumen behangen ostentativ wiederzukommen. – Ihre Bedürfnislosigkeit ist ja wie geschildert sehr groß, allein oft nimmt sie sich auch völlig harmlos, wie Herr N. N. erzählte, dies und jenes aus seinem Haushalt z.B. Decken, Bücher usw. mit, bis das Vermißte oben bei ihr gefunden wird, falls sie es nicht selbst vorher schon wiedergebracht hat. (…) Sie besitzt in ihrer Ruine eine Art Schlafzimmer, durch das der Wind von allen Seiten und durch alle Fugen weht. Unten in der zur Wohnung dienenden Ruine ist ein Raum, der Küche und Wohnzimmer zu gleicher Zeit ist, wenn man es wagen darf, ihm diesen Ehrentitel zu geben. Hier ist Lottes selbstaufgebauter Herd, eine alte Kiste als Vorratsraum usw. Von der verräucherten Decke hängt ein selbstgeflochtenes Körbchen herab mit einem Blechbehälter, der zum Öllämpchen hergerichtet ist, in der Ecke des Raumes liegt ein Haufen grauen Sandes, auf dem Lotte sich offenbar bei gar zu schlechtem Wetter ausruht. – In und bei dem Hause war alles verwahrlost, denn die Besitzerin beschränkte sich darauf, durch Versenken in die Natur sich zu verinnerlichen. – Sie fand das Treiben ihrer Kameraden lärmend und zog sich von den zu lauten Idealisten zurück. Lebte in einem ruinenhaften Haus. Schlief auf bloßem Stein. Aß nur rohe Wurzeln. Jede Nacht kletterte sie auf einen Berggipfel. Klaubte trockenes Reisig zusammen. Legte ein großes Feuer an und siebte die Asche, wobei sie jammervoll schrie: »Mein Gott, es ist noch nicht fein genug!« Die St. Lotte von Ascona endete nicht ganz so, wie es sich für eine Heilige ziemt. Einmal packte Lotte der unheilige Geist, und sie vergiftete sich. – Sie lebte in einer phantastischen Wunder- und Märchenwelt, die für sie keine poetische Ausschmückung der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit selbst war. – Ihr religiöser Wahn wuchs sich zeitweilig zu offensichtlichem, allerdings harmlosem Irrsinn aus. (Robert Landmann, 1930) – Zuweilen ging sie, einen roten Schal über ihr langes Hemd geschlagen, angetan mit Sandalen und einem Blumenkranze, den sie täglich erneuerte, zu Fuß nach Florenz, begriff nicht, daß sich in den Straßen alles staute. – Alle Philosophien lagen hinter ihr, alles war erlebt, erlitten und überwunden. Was nun? Sie führte die Gedanken Ödenkovens und Gräsers folgerichtig zu Ende. Jede Anstrengung zur Erhaltung des Lebens war ihr Raub an der Natur, und Einkehr ins wunschlose Nichts das einzige Ziel. »Wenn man alles versucht hat, und es war alles nichts, kehrt man am Ende wieder zum Anfang zurück.« – Je höher sie stieg in ihren himmelstürmenden Phantasien, desto tiefer mußte sie stürzen. Zwischen dem Spiritualismus ihrer theosophischen und dem harten Realismus ihrer anarchistischen Freunde fand sie keine Brücke, keine Mitte, die sie hätte auffangen können.