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Nr. 2661

 

Anaree

 

An Bord der LEUCHTKRAFT – die Geheimnisse der Morgenschwester

 

Uwe Anton

 

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Wir schreiben das Jahr 1469 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) – das entspricht dem Jahr 5056 christlicher Zeitrechnung. Auf eine bislang ungeklärte Art und Weise verschwand das Solsystem mit seinen Planeten sowie allen Bewohnern aus dem bekannten Universum.

Die Heimat der Menschheit wurde in ein eigenes kleines Universum transferiert, wo die Terraner auf seltsame Nachbarn treffen. Die Lage spitzt sich zu, als die Planeten von fremden Raumfahrern besetzt und die Sonne Sol »verhüllt« wird. Seither kämpft die solare Menschheit um ihr Überleben.

Von all diesen Entwicklungen weiß Perry Rhodan nichts. Auch ihn hat es in einen fremden Kosmos verschlagen: Mit dem gewaltigen Raumschiff BASIS gelangt er in die Doppelgalaxis Chanda. Dort regiert die negative Superintelligenz QIN SHI, die für ihre Pläne das geheimnisvolle Multiversum-Okular benötigt.

Es gelingt Perry Rhodan, einen wertvollen Stützpunkt QIN SHIS zu vernichten – und dabei fällt ihm eine »wichtige Gefangene« des Feindes in die Hände. Diese stirbt aber, ehe sie miteinander reden konnten: Offenkundig handelt es sich um die Beauftragte der Kosmokraten, die Enthonin Samburi Yura.

Doch in Wahrheit ist es ANAREE ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Terraner erlebt die Geschichte einer Proto-Enthonin.

Anaree – Ihr Aussehen prägt ihr Leben.

Samburi Yura – Die Enthonin treibt ihre Pläne voran.

QIN SHI – Eine Superintelligenz greift nach dem BOTNETZ.

Prolog

Die Ruhe vor dem Holo

 

Alles war ruhig. Fast unnatürlich ruhig.

Perry Rhodan sah auf das Holo in der Zentrale von MIKRU-JON. Leuchtende Ziffern zeigten die Terrania-Standardzeit. In der Hauptstadt der Liga Freier Terraner war es kurz vor Mitternacht. In ein paar Minuten würde der 19. November 1469 NGZ anbrechen.

Rhodan fragte sich, was in diesem Augenblick auf seiner Heimatwelt geschah. Terra war verschwunden, mit dem gesamten Solsystem entführt worden, und ihn hatte es in die ferne Galaxis Chanda verschlagen. Im Reich von QIN SHI wurde er von einem Ereignis zum anderen gehetzt. Wie sollte er die Initiative ergreifen, das Heft des Handelns in die Hand nehmen, ohne jede Unterstützung, ohne jede Machtbasis? Wie konnte er mit einem Raumschiff etwas gegen die parasitäre Superintelligenz unternehmen, die ganz Chanda terrorisierte?

Vielleicht bietet die Flotte im Kalten Raum uns die Möglichkeit, gegen QIN SHI vorzugehen, dachte Rhodan. Vielleicht kann Ramoz ...

»Ich glaube, mir ist es gelungen, etwas zu ... öffnen«, riss Ennerhahl ihn aus seinen Gedanken. Der zwei Meter große Humanoide mit den beneidenswerten Proportionen erhob sich von seinem Pult und hielt Rhodan einen Kristall hin.

Er und Gucky hatten das Sternjuwel untersucht, jenen blauweiß funkelnden, reich facettierten Saphir von etwa anderthalb Zentimetern Durchmesser, den Nemo Partijan aus der Leiche der Kosmokratenbeauftragten Samburi Yura geborgen hatte, die vor ihren Augen gestorben und geradezu zerflossen war.

Wobei Rhodan gewisse Zweifel hegte, was die Echtheit des Juwels betraf.

Froh um die Ablenkung, griff Rhodan nach dem Kristall – zum ersten Mal, seit er ihn gefunden hatte, mit der nackten Hand.

Der Schlag traf ihn mit unvermuteter körperlicher Wucht. Er hatte den Saphir nicht einmal berührt, doch das Juwel schien nur auf einen direkten Kontakt gewartet zu haben. Rhodan glaubte, dass seine Nerven plötzlich in Flammen stünden.

Du trägst einen Vitalenergie-Speicher!, hörte er unvermittelt eine Stimme in seinem Kopf. Auf dich habe ich gewartet!

Bevor Rhodan reagieren konnte, bildete sich eine Gestalt vor ihm.

Das habe ich doch schon mal erlebt ...! Vor einem Tag, als sich ihm an Bord der Werft ein Hypergespinst genähert hatte. Er hatte um sein Leben gefürchtet, doch das Gespinst war zusammengebrochen. Zum Vorschein war eine schlanke, humanoide Gestalt von 1,70 Metern Größe und unbestimmbarem Alter gekommen.

Genau wie damals bemerkte Rhodan nun zuerst die riesengroßen schwarzen Augen. Sie erinnerten ihn an den bodenlosen Abgrund eines Zeitbrunnens. Das Gesicht der Frau war makellos und fein geschnitten. Ihre Miene atmete auf eine nicht definierbare Weise Trauer, selbst wenn sich kein Muskel regte.

Sie trug als Gewand eine Art knöchellangen Chiton, der aus zwei viereckigen, an den Schultern von Fibeln zusammengehaltenen und in der Taille gegürteten Stoffbahnen bestand. Als Rhodan auf das seidig fließende Gewebe schaute, glaubte er sich im Weltraum zu verlieren, in eine matt funkelnde Szenerie wie am Rand einer Galaxis zu sehen, wobei die Falten zu Raum-Zeit-Falten oder Schwarzen Löchern wurden.

Er war dieser Frau nie persönlich begegnet, erkannte sie aber sofort aus Beschreibungen Alaskas und Kantirans.

Diese Frau war Samburi Yura. Die Enthonin, die in den Dienst der Kosmokraten getreten war, um die Existenz der Friedensfahrer zu sichern.

Nein, dachte Rhodan voller Entsetzen. Die Zeit läuft zurück. Meine Gedanken sind in einem Kreislauf gefangen. Ich habe sie schon einmal gedacht ...

Das Holo bewegte sich, öffnete den Mund. »QIN SHI ist erwacht«, sagte die Enthonin. »Das BOTNETZ steht bereit.«

Dann wurde Rhodan bewusst, dass nicht die Duplizität der Ereignisse die eigentliche Gefahr darstellte, sondern die Präsenz, die er plötzlich in dem Holo spürte. Er konnte sie nicht beschreiben, doch sie war vorhanden und griff aus dem Juwel nach ihm.

Sie überwältigte ihn, zog sein Bewusstsein mit unwiderstehlicher Kraft in das Juwel.

Gucky!, dachte er verzweifelt. Erkennst du nicht, was hier geschieht? Hilf mir!

Aber der Mausbiber saß einfach da und schaute gelangweilt drein. Er schien nicht mitzubekommen, was sich vor seinen Augen ereignete.

Rhodan wollte schreien, konnte es aber nicht. Konnte keinen Widerstand leisten, konnte nichts tun.

Nichts.

Er verlor sich in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort.

1.

Der Baum

 

Fünf, dachte Anaree. Tara hat gesagt, ich bin fünf Jahre alt, aber was ist ein Jahr? Ich bin Tagvolk, und das Tagvolk kennt keine Jahre. Wie kann ich dann fünf Jahre alt sein? Und woher weiß Tara überhaupt, was ein Jahr ist?

Anaree grub den Stock tiefer in den Sand und weitete die Furche aus. Zuerst floss das Wasser des Flusses nur langsam in den schmalen Kanal, den sie gebaut hatte, dann sprudelte es schneller, riss immer mehr kleine Körner mit sich, bahnte sich einen Weg.

Wie sollte ich geboren worden sein? Jedenfalls erzählt mir keiner davon, und erinnern kann ich mich daran auch nicht.

Aber woran konnte sie sich schon erinnern? An den letzten Tag und an den vorletzten und an den davor. Und an Tara und Wila und Siroe und all die anderen. Tara war ihr bester Jäger. Er brachte regelmäßig Fleisch. Aber an mehr?

Mehr gab es nicht. Nur das Tagvolk und den Fluss und den Sand und die Ebene.

Und die Tiere, die Tara jagte, und das Getreide und die Früchte, die ringsum wuchsen, und den Himmel und die Morgenschwester. Auch wenn sie die noch nie gesehen hatte. Aber die anderen erzählten viel von ihr.

Wenn sie also länger darüber nachdachte, gab es ziemlich viel, woran sie sich erinnerte und was sie wusste.

»Aber was sind Jahre?«, flüsterte sie und schaute zu dem verbotenen Baum am Flussufer hinüber. Mal hingen seltsame Anzüge an seinen Ästen, die ganz schwarz und düster waren oder rot oder gelb oder blau und leuchtend. Dann wieder kleine, bunte Steine, die hell im Licht der Sonne funkelten.

Diesmal baumelte am untersten Zweig des Baums ein blauweißer Kristall, groß wie eine Nuss oder eine kleine Frucht.

Nein, dachte sie. Ich werde verbrennen, wenn ich ihn anfasse. Alle sagen, dass ich verbrennen werde. Also werde ich ihn nicht anfassen.

Die Morgenschwester hatte ihnen verboten, die Anzüge oder Steine zu berühren, und das Tagvolk hielt sich daran.

Meistens. Anaree hatte niemals erlebt, dass jemand gegen das Tabu verstieß, aber manchmal, in den leeren Stunden, flüsterten die Alten des Tagvolks, dass früher einmal, viel früher, jemand zum Baum gegangen war und ...

Anaree fröstelte, obwohl die Sonne hoch am Himmel stand. Sie wagte es nicht, sich an das Wispern zu erinnern, und beobachtete wieder das sprudelnde Wasser.

Nur ein paar Herzschläge lang. Warum hing der Kristall dort, wenn sie ihn nicht anfassen durfte? Warum leuchtete er so hell? Warum strahlte er geradezu, flüsterte ihr zu: Komm! Nimm mich! Berühre mich! Ich bin dein!

Und warum hörte kein anderer aus dem Tagvolk den lockenden Gesang, sondern nur sie? Wieso war sie anders als die anderen?

Sie zeichnete mit ihrem Stock Bilder in den feuchten Sand des Flussufers, gab dann jedoch wütend auf. Ganz egal, wie weit entfernt vom sprudelnden Wasser sie malte, die Strömung schien jedes Mal die Richtung zu verändern und zuerst nur wenige, dann immer mehr Tropfen genau dorthin zu leiten, wo sie mit dem Stock grub.

Nein, dachte sie und schaute wieder zu dem Baum. Ich werde nicht ...

Sie schnappte nach Luft und dachte gar nichts mehr, als ein Schatten auf das neu geritzte Bild und den Stock fiel. Langsam drehte sie den Kopf und sah hoch. Sie fühlte sich ertappt.

Die Morgenschwester will mich warnen! Ich sehe zu dem Baum, zu dem blauweißen Kristall, und jemand kommt und weiß ... und weiß, dass ich das Juwel anfassen will.

Sie schluckte heftig, bekam den Speichel aber nicht hinunter. Natürlich war er es. Wer auch sonst?

Tara Marate, der beste Jäger der Gemeinschaft. Als sie zum ersten Mal zu dem Kristall geschaut hatte, hatte sie schon gewusst, dass er kommen würde.

Tausende fein verknüpfte Zöpfe hingen reglos über Taras weiß schimmerndem Gesicht und dem nackten Oberkörper. Um die Hüfte hatte er ein dünnes Fell gebunden.

Er musterte sie streng, hob dann den Kopf und sah zum Baum, und zwischen den dünnen, glänzenden Zöpfen machte Anaree absolut schwarze Augen aus.

Sie erkannte Weisheit in ihnen. Tara war der Stammesälteste des Tagvolks, und plötzlich fürchtete sie sich vor ihm. Sie konnte den Blick nicht von den drei geschwungenen Linien lösen, die sich beidseitig über seine nur angedeutete Brustmuskulatur erstreckten. Ihre Anordnung erinnerte Anaree an die Darstellung eines Vogels mit ausgebreiteten Flügeln.

Anaree hatte Tara oft bewundernd angesehen und wusste, dass die Linien nicht etwa mit Farbe aufgetragen waren, sondern in die Haut eingeritzt. Das war keine Körperbemalung, das waren Ziernarben. Sie fragte sich, ob sie irgendwann auch einmal solche Narben bekommen würde.

Sie schloss die Augen. Auf Taras vernarbter Brust jagten sich kurz Licht und Schatten und vereinigten sich dann.

Der alte Jäger stand da wie erstarrt. Alle Geräusche erstarben. Die plötzlich eingetretene Stille kam Anaree unheimlich vor.

Als wäre sie abrupt aus einem tiefen Schlaf erwacht, aus einem lebhaften Traum.

»Ich kann es nicht ändern«, sagte Tara. »Es gab schon viele wie dich. Sie alle haben zum Baum gesehen. Sie hatten denselben Blick wie du. Und sind dann irgendwann verschwunden.«

Anaree wusste nicht, was er meinte, doch seine Worte bereiteten ihr Unbehagen. Mehr noch, sie machten ihr Angst.

Sie schwieg betroffen.

»Gealtert und dann verschwunden. Einfach so.«

»Wohin?«

Der alte Jäger zuckte die Achseln. »Ich kann es nicht ändern«, wiederholte er. »Du wirst es tun.«

»Was?«

»Das weißt du doch, oder, Anaree?«

Sie schwieg wieder.

»Aber du siehst aus wie die Morgenschwester. Und das macht alles nur umso schlimmer.«

»Ich sehe aus wie die Morgenschwester?«

Tara nickte, betrübt, wie es Anaree vorkam. »Die Morgenschwester tut nichts ohne Grund. Und wenn eine aus dem Tagvolk aussieht wie sie ...«

Anaree war erst fünf, doch sie wusste, dass Tara mehr sagen wollte, als er soeben gesagt hatte. Warum sagte er es nicht?

Die Morgenschwester ... Anaree hatte sie noch nie gesehen, nur von ihr gehört. Sie war die Göttin, die für das Tagvolk sorgte, ihm Wasser und Nahrung gab.

Und Anaree sollte aussehen wie die Morgenschwester? Wieso? Sie verstand nicht, was Tara Marate ihr sagen wollte.

»Ich kann es nicht ändern«, wiederholte der Jäger. »Ich weiß, es wird geschehen. Und ich weiß, wir werden das Kaninchen jagen. Es war so, es ist so, und es wird so sein. Aber ich bitte dich dennoch – geh nicht zu dem Tabu.«

»Zu dem Tabu?«

»Zu dem Baum mit dem Kristall ... dem Sternsaphir!«

Sternsaphir? Was war ein Sternsaphir?

Aber sie stellte die Frage nicht.

Sie atmete erleichtert aus und war froh, als er sich umdrehte und wieder ging.

Warum ist er überhaupt hierhergekommen?, fragte sie sich. Und wenn er mir etwas sagen will ... warum sagt er es mir dann nicht? Warum redet er darum herum? Was sollen diese Andeutungen?

Aber wusste sie nicht genau, was er meinte? Und war seine Ermahnung nicht berechtigt?

Die eindringlichen Worte schienen genau das Gegenteil von dem zu bewirken, was sie beabsichtigt hatten. In Anaree wurde die Sehnsucht immer stärker, das funkelnde, verführerisch gleißende Sternjuwel zu betasten, zu erfühlen, eingehend zu untersuchen.

Es war eine schier unstillbare Sehnsucht, die sie im Gegensatz zu allen anderen des Tagvolks verspürte.

Warum ich?, dachte Anaree. Die anderen des Tagvolks mieden den verbotenen Kristall, doch sie konnte dem Reiz des Verbotenen kaum widerstehen. Warum? Was macht mich anders als alle anderen?

In diesem Augenblick war ihr klar, was sie tun würde. Sie wollte Antworten haben, und sie würde sie erhalten.

Sie wartete, bis Tara Marate außer Sichtweite war, hinter den Bäumen auf dem Weg zu den zehn Hütten, die das Dorf bildeten. Dann schlenderte sie zu dem Baum, verharrte hin und wieder und zeichnete mit dem Stock in den Sand.

Natürlich würde sie niemanden damit täuschen und ganz bestimmt nicht Tara, falls er umkehren und noch einmal nach ihr sehen sollte. Doch sie kritzelte wieder Bilder, tat ganz unbeteiligt.

Anaree war selbst ein wenig erschrocken, als sie unvermittelt direkt vor dem Baum stand. Sie wagte es kaum, den Blick vom Stock zu lösen und den Kopf in den Nacken zu legen. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich den Mut fasste, an dem borkigen Ungetüm hochzusehen. Wie ein Riese türmte sich der Baum vor ihr auf. Die Laubkrone schien einen Schatten zu werfen, der den Fluss bis zur Mitte verdunkelte. Und kräuselte sich nicht die Rinde, als wolle sie sich aus eigenem Antrieb verändern, ein ... Gesicht bilden?

Sie schaute zu dem Kristall empor. Er baumelte zwischen den Blättern wie von einer unsichtbaren Geisterhand gehalten, schwang langsam hin und her, obwohl kein Windhauch ging.

»Berühre mich!«, schien er zu flüstern. »Berühre mich!«

Anaree zögerte. Sie war schon oft beim verbotenen Baum gewesen, hatte den Kristall pendeln sehen, obwohl es völlig windstill gewesen war, oder auch den seltsamen Anzug. Nie aber hatte das Juwel zu ihr gesprochen. Warum ausgerechnet jetzt?

Du wirst verbrennen, wenn du ihn berührst ... Sie hörte die andere Stimme ganz deutlich in ihrem Kopf, Taras Stimme oder die eines anderen aus dem Tagvolk. Sie fürchtete die angedrohte Strafe, doch gleichzeitig konnte sie sich nicht vorstellen, dass es tatsächlich so kommen würde. Verbrennen? Wer verbrannte, nur weil er einen dummen Stein berührte? Nie war jemand vom Tagvolk einfach so verbrannt. Nie zuvor.

Dann kam ihr ein Gedanke. Es ist auch eine Frage des Willens.

Erschrocken zog sie den Kopf ein. Hatte wirklich sie das gedacht? Aber schon stellte sich ein weiterer Gedanke bei ihr ein, der ihr völlig fremd war, den sie nicht ganz verstand.

Bestimmst du über dein Schicksal, oder bestimmen andere darüber? Du bist doch die Herrin über deinen Willen, oder etwa nicht?

Wer spielte ihr hier einen Streich? Anaree sah sich um, erwartete, jemanden zu sehen, der zu ihr gesprochen hatte. Doch da war niemand.

Es ist der Baum, dachte sie. Er lockt mich zu sich, aber dann will er mich verwirren, vertreiben. Wenn die anderen es nicht wagen, gegen das Tabu zu verstoßen, ich lasse mich nicht davon abschrecken!

Aber ihr wurde klar – wenn sie das Juwel berühren wollte, musste sie es sofort tun. Sollte sie diese Stimme noch einmal hören, würde sie auf der Stelle umdrehen und schreiend davonlaufen.

Flink wie ein Äffchen kletterte sie den Baumstamm hoch. Die harte Rinde schien unter ihren Fingern zu sprießen, vorwärtszuspringen, ihr stets den Halt zu bieten, den sie benötigte. Sie spürte schmerzhaft die scharfe Borke, glaubte, sie würde ihr in Handflächen und Fußsohlen schneiden. Sie hielt sich die linke Hand vors Gesicht: nichts, kein Riss, kein Schnitt, gar nichts.

Bloß drei Handspannen, eine ... Sie brauchte nur zuzugreifen, und das funkelnde Juwel gehörte ihr!

Sie zögerte erneut. Noch konnte sie zurück ...

Nein!, dachte sie. Sie hatte alles gewagt, war so weit gekommen ... Nun würde sie sich das nicht mehr nehmen lassen!

Sie berührte den Kristall mit den Fingerspitzen.

 

*

 

Der Schmerz war überwältigend.

Aber sie spürte nicht nur diese Pein, so stark, wie sie noch nie etwas wahrgenommen hatte. Da war etwas anderes, und Anaree konnte nicht sagen, was ihr mehr zusetzte. Das Feuer, das ihr durch die Fingerspitzen in den Körper floss, die grauenvolle Hitze, die sie verbrannte, die ihre Haut aufplatzen und die Knochen schmelzen ließ? Oder das Wissen und die Erkenntnis, die ebenfalls durch die Fingerspitzen in ihren Körper strömten, ihre Nerven entlangflossen, immer tiefer in sie hinein, so gewaltig, so stark, dass Anaree sie weder erfassen noch verstehen konnte?

Anaree wollte schreien, konnte es aber nicht. Sie riss den Mund weit auf, doch kein Ton drang über ihre Lippen.

Sie glaubte zu sterben.

Wenn es doch nur aufhörte!, dachte sie flehentlich.

Aber es hörte nicht auf. Das Feuer und das Wissen strömten in sie hinein, wie das Wasser durch die Flussrinne rauschte, unablässig, unaufhörlich.

Beides durchdrang sie. Sie brannte, und sie wusste.

Obwohl Anaree darauf hoffte, ließ der Schmerz nicht nach. Und sie gewöhnte sich auch nicht an ihn. An beides nicht.

Irgendwann, sie wagte längst nicht mehr, daran zu glauben, endete der Schmerz abrupt, und das Wissen versiegte irgendwo. Tröpfelte in irgendetwas wie das Flusswasser, dem Anaree mit dem Stock neue Wege bahnte, bis es schließlich unweigerlich im Sand versickerte.

Anaree spürte ein heftiges Stechen in einem Bein. Aber es war nichts im Vergleich zu dem, was sie soeben durchgemacht hatte.

Sie öffnete die Augen, sah sich um und stellte fest, dass sie auf die steinharte Wurzel des Baums gestürzt war. Sie musste heruntergefallen sein, ohne es bemerkt zu haben.

Der Sternsaphir pendelte über ihr, obwohl kein Windhauch ging.

Sie wusste, dass es ein Sternsaphir war.

Sie hob eine Hand, hielt sie vors Gesicht. Die Haut war unverletzt, obwohl sie hätte schwören können, sich an der harten, scharfen Borke aufgerissen zu haben. Sie konnte jedoch nicht die kleinste Abschürfung entdecken.

Aber die Hand kam ihr irgendwie ... anders vor.

Größer und schlanker als zuvor. Anaree sah keine dicklichen Wurstfinger mehr, wie kleine Kinder sie hatten.

Sie hörte ein Geräusch, nur den Hauch einer Bewegung, ein leises Knistern wie von Stoff, der sich ganz leicht an anderem Stoff rieb. Mühsam richtete sie sich auf, drehte den Kopf, sah sich um.

Sie hatte sich nicht getäuscht. Sie war nicht länger allein.

Vor ihr stand eine Frau. Verwirrt betrachtete sie deren Gesicht. Es kam ihr mehr als nur vertraut vor. Zuerst verstand sie nicht, doch dann begriff sie, um wen es sich handeln musste.

Die schlanke Gestalt trug ein knöchellanges Wickeltuch – einen »Chiton«, wie Anaree im nächsten Sekundenbruchteil dachte. Der Chiton bestand aus zwei viereckigen, an den Schultern von Fibeln zusammengehaltenen und in der Taille gegürteten Stoffbahnen. Als Gürtel diente eine weiße Kordel, deren Enden in fingerlangen Quasten ausliefen.

Als Anaree auf den seidig fließenden Stoff schaute, verlor sich ihr Blick, glitt ab und tiefer und sah etwas, das an einem anderen Ort sein musste: eine matt funkelnde Szenerie aus schwarzem Samt, in dem Myriaden winziger bunter Lichter funkelten.

Das waren ... Sie wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu führen.

Die beiden spiralförmigen, handflächengroßen Fibeln auf den Schultern bestanden aus einem golden spiegelnden, von innen heraus glimmenden Material.

Das war ... Carit!

Anaree hatte das Wort nie zuvor gehört, aber das Wissen um das Wort und seine Bedeutung war plötzlich da.

Vom Zentrum der Spiralen ragten blauweiß funkelnde, saphirähnliche, reich facettierte Kristalle auf. Sie waren winzig, hatten vielleicht anderthalb Zentimeter Durchmesser, mehr nicht.

Aber sie sahen genauso aus wie ... der Sternsaphir am verbotenen Baum!

Nein, dachte Anaree. Warum ich? Wie kann das ausgerechnet mir passieren?

Die Morgenschwester, die Göttin des Tagvolks, die schützend die Hand über sie alle hielt, machte einen Schritt auf sie zu.

Anaree konnte sich nicht bewegen. Widersprüchliche Gefühle drängten in ihr empor. Angst und Neugier, Freude und ... Scham.

Überwältigende Scham. Anaree hatte gegen das Tabu verstoßen. Sie war schwach gewesen, hatte der Verlockung nicht widerstehen können. Deshalb würde die Morgenschwester sie jetzt bestrafen.

verbrennen.