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M.A. phil. Katharina Maier, geb.1980, hat Vergleichende Literaturwissenschaften studiert und arbeitet inzwischen als freie Schriftstellerin und Übersetzerin. Ihre Spezialgebiete sind der populäre historische Roman der letzten 25 Jahre, die Literatur der Aufklärung und der Goethezeit, europäische und amerikanische Literatur des 19. Jahrhunderts, das neuere irische Drama, die Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts und der englische Roman der Postmoderne. Sie ist seit 2005 als Redaktionsassistentin für ›Anglia. Zeitschrift für Englische Philologie‹ tätig.

Zum Buch

Die berühmtesten Dichter
und Schriftsteller Europas

Schriftsteller und Dichter prägen unsere Kultur, unser Denken, unser Reden, unser Sein. Die Namen bedeutender Poeten führt jeder im Mund. Aber wer genau war Charles Baudelaire? Warum ist Mary Shelleys Frankenstein zu einem modernen Mythos geworden? Was hat Dante geschrieben? Und was machte William Shakespeare zum Inbegriff des Dichters? – Das vorliegende Buch geht solchen Fragen nach, indem es die berühmtesten europäischen Dichter und Schriftsteller der Neuzeit vorstellt und ihr Leben, ihre literarische Bedeutung und ihre vielfältigen Beiträge zu unserer Alltagskultur beleuchtet.

Katharina Maier
Die berühmtesten Dichter und Schriftsteller Europas

Katharina Maier

Die berühmtesten
Dichter und
Schriftsteller Europas

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012
Covergestaltung: Thomas Jarzina, Köln
Bildnachweis: akg-images GmbH, Berlin
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0223-9

www.marixverlag.de

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT: DEN DICHTERN ZUM RUHME

DANTE ALIGHIERI (1265–1321)

FRANCESCO PETRARCA (1304–1374)

GIOVANNI BOCCACCIO (1313–1375)

LUÍS VAZ DE CAMÕES (1524/25–1580)

MIGUEL DE CERVANTES (1547–1626)

LOPE DE VEGA (1562–1635)

WILLIAM SHAKESPEARE (1564–1616)

PIETER CONELISZOON HOOFT (1581–1647)

MOLIÈRE (1622–1673)

DANIEL DEFOE (1660–1713)

JONATHAN SWIFT (1667–1745)

VOLTAIRE (1694–1778)

JEAN-JACQUES ROUSSEAU (1712–1778)

DENIS DIDEROT (1713–1784)

WILLIAM BLAKE (1757–1827)

WALTER SCOTT (1771–1832)

JANE AUSTEN (1775–1817)

STENDHAL (1783–1842)

ALESSANDRO MANZONI (1785–1873)

GEORGE GORDON LORD BYRON (1788–1824)

MARY SHELLEY (1797–1851)

HONORÉ DE BALZAC (1783–1842)

ALEKSANDR PUŠKIN (1799–1837)

ALEXANDRE DUMAS, PÈRE (1802–1870)

VICTOR HUGO (1802–1885)

HANS CHRISTIAN ANDERSEN (1805–1875)

CHARLES DICKENS (1812–1870)

IVAN TURGENEV (1818–1883)

CHARLES BAUDELAIRE (1821–1867)

FËDOR DOSTOEVSKIJ (1821–1881)

GUSTAVE FLAUBERT (1821–1880)

HENRIK IBSEN (1828–1906)

LEV TOLSTOJ (1828–1910)

JULES VERNE (1828–1905)

GIOVANNI VERGA (1840–1922)

ÉMILE ZOLA (1840–1902)

STÉPHANE MALLARMÉ (1843–1898)

PAUL VERLAINE (1844–1896)

HENRYK SIENKIEWICZ (1846–1919)

AUGUST STRINDBERG (1849–1912)

ARTHUR RIMBAUD (1854–1891)

OSCAR WILDE (1854–1900)

GEORGE BERNARD SHAW (1856–1950)

SELMA LAGERLÖF (1859–1940)

ANTON ČECHOV (1860–1904)

MAURICE MAETERLINCK (1862–1949)

H. G. WELLS (1866–1949)

MARCEL PROUST (1871–1922)

JAMES JOYCE (1882–1941)

VIRGINIA WOOLF (1882–1941)

NIKOS KAZANTZAKIS (1883–1957)

J. R. R. TOLKIEN (1892–1973 )

FEDERICO GARCÍA LORCA (1898–1936)

SÁNDOR MÁRAI (1900–1989)

GEORGE ORWELL (1903–1950)

JEAN-PAUL SARTRE (1905–1980)

SAMUEL BECKETT (1906–1989)

EUGÈNE IONESCO (1912–1994)

GERARD REVE (1923–2006)

HARRY MULISCH (1927)

IMRE KERTÉSZ (1929)

UMBERTO ECO (1932)

A. S. BYATT (1936)

PÉTER ESTERHÁZY (1950)

LITERATUR

ALPHABETISCHE LISTE DER VORGESTELLTEN DICHTER

VORWORT:
DEN DICHTERN ZUM RUHME

Oh sage, Dichter, was du tust?
– Ich rühme.
Aber das Tödliche und Ungestüme,
wie hältst du’s aus, wie nimmst du’s hin?
– Ich rühme.
Aber das Namenlose, Anonyme,
wie rufst du’s, Dichter, dennoch an?
– Ich rühme.
Woher dein Recht, in jeglichem Kostüme,
in jeder Maske wahr zu sein?
– Ich rühme.
Und daß das Stille und das Ungestüme
wie Stern und Sturm dich kennen?
: – weil ich rühme
.

RAINER MARIA RILKE

Das vorliegende Buch versteht sich als ein Mosaik des Dichterruhms. Es findet seinen Sinn und Zweck im Rühmen der berühmten Dichter und Schriftsteller, die das kulturelle Bewusstsein Europas geprägt, ja geformt haben. Sie haben sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben, diese Dichter und Schriftsteller, ihre Namen lösen ein Echo des Wiedererkennens aus. Sie verstanden es, die Zeichen ihrer Zeit zu lesen, und bannten diese auf Papier, so dass sie ihrerseits selbst Zeichen setzten. Die Produkte ihrer Feder, seien es literarische Gestalten oder Geschichten, sind zu modernen Mythen geworden, derer wir uns unentwegt bedienen, um uns die Welt zu erklären. Nicht selten umgibt das Leben dieser Dichter eine Aura des Geheimnisvollen, Verruchten, Tragischen oder gar Glorreichen, sie sind es, die unsere Begriffe von Genie und Kultiviertheit (mit)definieren. Und nicht zuletzt markieren viele ihrer innovativen, ja visionären, poetischen Machwerke Höhe- und Wendepunkte der europäischen Literatur und lenkten die Geistesgeschichte in neue Bahnen. – Dies sind einige der möglichen Erklärungen dafür, was den Ruhm eines Poeten ausmacht, doch tatsächlich liefern die acht mal acht Autorenporträts dieses Buchs je eine eigene, individuelle Antwort auf diese Frage. So entsteht in Form eines Mosaiks aus 64 Steinchen ein Panorama der neuzeitlichen europäischen Literatur, das auf Vielfältigkeit ausgerichtet ist. Die Auswahl dieser ›Steinchen‹ ist notwendigerweise subjektiv wie selektiv und von der Absicht inspiriert, das Spektrum dichterischen Ruhms in all seinen Schattierungen zu präsentieren.

Im Vordergrund dieses Mosaiks der großen Namen stehen Dichter, die sowohl archetypische Manifestationen des Geistes ihrer Zeit schufen (und/oder selbst waren) als auch einer zeitlosen oder zumindest universell modernen conditio humana poetische Gestalt gaben – beginnend mit Dante Alighieri, dessen Göttliche Komödie (La Divina Commedia, 1307–21) am Anfang der Literatur der Neuzeit steht, und schließend mit Péter Esterházy, dessen Harmonia Cælestis (2000) eine postmoderne Kristallisation der europäischen Geschichte und des 20. Jahrhunderts konstituiert. Das Leitmotiv der Berühmtheit führt zu der Konzentration auf englisch- und französischsprachige Autoren sowie auf die Literaten des (erweiterten) 19. Jahrhunderts. Erstere sind – neben den deutschsprachigen Schriftstellern und Dichtern, denen ein eigener Band der Reihe gewidmet ist – diejenigen Poeten, die im deutschen kulturellen Bewusstsein am lebendigsten sind. Letztere wiederum trugen derart wesentlich zur Entwicklung des modernen Welt- und Selbstverständnisses bei, welches nicht zuletzt in der großen gesellschaftspolitischen, weltanschaulichen und auch poetologischen Krise des 19. Jahrhunderts seinen Ursprung hat, dass ihre Werke nichts von ihrer oft berückenden Aktualität verloren haben. Die Kreation eines Mosaiks der Berühmtheit von begrenztem Rahmen erfordert allerdings auch weniger einfach zu treffende Entscheidungen. Dazu gehören etwa die zeitliche Grenze von vor 1950 geborenen Literaten, die Ausschließung der großen Autoren der Kinderliteratur (wie z. B. J. M. Barrie, Lewis Carroll und Astrid Lindgren) – und leider auch die Konzentration auf männliche Literaten. Denn die Geschichte des (literarischen) Ruhms ist nach wie vor eine Geschichte der ›großen Männer‹, und so enthält dieses Buch nur jene Handvoll von Poetinnen, deren weibliche Stimme zu sprachmächtig und eigenwillig war, um vom dominanten, vielstimmigen männlichen Chor übertönt zu werden. Es bleibt zu hoffen, dass diesem Mangel in einer weiblichen Geschichte der Literatur beizukommen sein wird.

Obwohl der Fokus dieses Buches auf den ›großen Namen‹ liegt, erstellt es keinen Kanon der neuzeitlichen europäischen Literatur. Der Leser mag durchaus das ein oder andere ›Steinchen‹ vermissen oder von der Integration dieses oder jenes Literaten in ein ›Berühmtheitsmosaik‹ überrascht sein. Doch in einer Geschichte der Dichter und des Dichtens kann Vollständigkeit immer nur angestrebt, nie erreicht werden, und letzten Endes findet sich die Autorin dieses Buches – in typisch (post)modernem Perspektivismus – auf nichts anderes zurückgeworfen als auf das eigene Empfinden des Rühmenswerten. Denn um eine adequate Präsentation der berühmtesten Dichter und Schrifsteller zu kreieren, erscheint mir, ganz im Rilke’schen Geist, kein anderer Modus des Schreibens besser geeignet, als der des Rühmens selbst. Und so ist dieses Buch auch gedacht als ein Loblied auf die Dichter, auf ihre genialische Kreativität wie auf ihren unentwegten Kampf mit der Sprache und dem Verstummen, auf ihren selbstüberhebenden Wahrheitsanspruch wie auf ihren ewigen Skeptizismus, auf ihre Popularität wie auf ihren Elitarismus, auf ihre atemberaubenden Elfenbeintürme wie auf ihre kritischen Gesellschaftsspiegel, auf ihr nicht selten schillerndes Leben wie auf ihre monumentalen Werke, hinter denen die Verfasser fast zu verschwinden drohen – kurz: auf das Dichtertum in all seinen Spielarten.

Katharina Maier

DANTE ALIGHIERI

(1265–1321)

»La Divina Commedia« – Die Göttliche Komödie

Der Pilger

Dante Alighieri steht mit seiner Göttlichen Komödie (La Divina Commedia, entstanden 1307–21) am Anfang der Literatur der Neuzeit und schuf – vor allem mit deren berühmtestem Teil, dem Inferno – ein symbolisches Feld, das über die Jahrhunderte nichts von seiner Fruchtbarkeit verloren hat.

Dante Alighieri ist für die italienische Literatur, was William Shakespeare für die englische und Johann Wolfgang Goethe für die deutsche darstellt: ein Nationaldichter. Er war der erste große Dichter in dieser Sprache, ja, er hat die italienische Schriftsprache im Grunde erst geschaffen, indem er der damaligen Vielfalt der italienischen Dialekte die Forderung nach einer überregionalen Volkssprache entgegensetzte und diese auf seinem toskanischen Dialekt basierende volgare durch seine Werke verbreitete und literarisch legitimierte. Unter anderem mit der auf Latein verfassten Schrift Über die Volkssprache (De vulgari eloquentia, entstanden um 1303/04) trat Dante als Dichtungstheoretiker, Philologe und Philosoph von ungeheurer Bildung auf und wurde sozusagen zum Gründungsvater der italienischen Literatur.

Von Dantes Leben ist wenig gesichert bekannt, vieles muss als Legende betrachtet werden. Er wurde in den niederen Adel von Florenz geboren und blieb seiner geliebten Heimatstadt Zeit seines Lebens aufs Engste verbunden, auch wenn er die letzten neunzehn Jahre im Exil verbringen musste. In seiner Jugend, während er eine solide humanistische Ausbildung genoss, nahm er aktiv an den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Florenz und anderen italienischen Stadtstaaten teil. 1287 ging Dante dann allerdings nach Bologna, wo mit Das neue Leben (Vita nouva, um 1293/94) seine erste poetische Schöpfung entstand, die zugleich das erste konsequent durchkomponierte Werk der italienischen Literatur war. Nach seiner Rückkehr nach Florenz begann Dante dort während einer Phase der Volksherrschaft seine politische Laufbahn. Er wurde zu diesem Zweck Mitglied der Apotheker- und Ärztezunft und bald zum angesehenen Diplomaten. Er stellte sich offen gegen Papst Bonifaz VIII., der die gesamte Toskana seinem Einflussbereich hinzuziehen wollte und sich mit dem französischen König Philippe dem Schönen verbündete. Dessen Bruder Charles de Varlois marschierte 1301 in Florenz ein, während sich Dante auf einer diplomatischen Mission befand. Der Dichter konnte nicht mehr in seine Heimatstadt zurückkehren und verbrachte die letzten Jahre seines Lebens an den Fürstenhöfen Oberitaliens. Sowohl seine theoretischen Schriften als auch Die Göttliche Komödie entstanden in dieser Zeit des Exils. Die 1307 begonnene und etwa 1315 abgeschlossene Comedia, die Giovanni Boccaccio in seinem Kommentar (entstanden 1357–60) mit dem Attribut divina (›göttlich‹) versah, ist ihrerseits bis heute das Hauptwerk der italienischen Literatur geblieben.1

Schon in seinem Erstlingswerk Das neue Leben kündigt Dante indirekt die Göttliche Komödie an. Das Werk besteht aus 31 Gedichten (hauptsächlich Sonetten und Canzonen) und kommentierenden Zwischentexten in Prosa und konstituiert eine Art poetischer Selbstdarstellung seines Schöpfers. Im Mittelpunkt steht jedoch die Begegnung mit der berühmten Beatrice2, die der Dichter von weitem und bei flüchtigen Begegnungen glühend verehrt. Die unerwiderte Neigung zu Beatrice und der frühe Tod der Geliebten werden als Triebfedern einer sittlichen Erneuerung des Mannes dargestellt. Dessen Liebe sublimiert sich von Begehren zu idealer Verehrung, die ihn auf den Weg der Tugend, aber auch der Philosophie und der Wissenschaften bringt. Dieses Motiv der erlösenden Weiblichkeit ist ein zentrales der europäischen Literatur geworden und manifestiert sich etwa auch in Goethes Faust. Dantes Neues Leben ist von symbolischen und allegorischen Bezügen durchsetzt, die er später in der Göttlichen Komödie, seiner großen Wanderung durch das Jenseits, ausbauen würde. Hier wird die Figur Beatrices endgültig zur verklärten Verkörperung von Tugend, Weisheit und Schönheit und führt den ›Pilger‹ Dante – das lyrische Ich der Komödie – durch das Paradies (Paradiso) und in die Gegenwart Gottes hinein. Zunächst jedoch muss der Dichter unter der Führung Vergils durch Hölle (Inferno) und Fegefeuer (Purgatorio) wandern, eine Reise, die mit der berühmten Inschrift über den Pforten der Hölle beginnt: »Lasciate ogni speranza – Lasst alle Hoffnung fahren«. Alle drei Bereiche des Jenseits sind bevölkert von mythischen, historischen und zeitgenössischen Persönlichkeiten, die in die übergreifende Ordnung unwiderruflich eingebunden sind, indem sie die Strafe oder Belohnung für ihre Taten an ihrem jeweiligen Platz in den je neun Ringen der Hölle, des Fegefeuers und des Paradieses empfangen1. So begegnet der Pilger über 600 Personen, die durch Dantes sprachliche Prägnanz treffend und lebendig charakterisiert werden. In den Gesprächen des Ichs mit sublimen wie teuflischen Gestalten, Dichtern, Philosophen, Politikern und vielen mehr manifestiert sich die beispiellose Vielschichtigkeit seiner Sprache genauso wie in den eindringlichen Beschreibungen der jenseitigen Landschaften. Die formale Struktur der 100 Gesänge (34 + 33 + 33) ist streng organisiert und orientiert sich an einer elaborierten Zahlensymbolik. Den göttlichen Zahlen 3 und 9 kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu; sie manifestieren sich u. a. in der von Dante geschaffenen komplexen Strophenform der Terzine.

Der streng geordnete Kosmos von Inferno, Purgatorio und Paradiso ist ein Desiderat der Glaubenswelt des Mittelalters, als dessen letztes großes Werk Dantes Lehrgedicht angesehen werden kann. Der Pilger Dante, der das Jenseits vom Gründonnerstag bis zum Ostersonntag des Jahres 1300 durchwandert und schließlich die Göttliche Dreieinigkeit und ihre allumfassende Liebe erfährt, stilisiert sich dabei zum Propheten der Wahrheit, ein Gestus, der den antiken Topos des Dichters als göttlich inspirierter Sehender wiederbelebte und einen entscheidenden Einfluss auf die Literaturgeschichte ausübte, da sich über Jahrhunderte immer wieder Generationen von Dichtern (etwa die europäischen Romantiker) in diese Tradition stellten und noch heute stellen. Obwohl die monumentale – und auch sperrige – Göttliche Komödie erst Jahrhunderte nach Dantes Tod außerhalb der Grenzen Italiens bekannt wurde1, ist dieses Werk, das an der Grenze von Mittelalter und Renaissance steht, eine der zentralen literarischen Schöpfungen der westlichen Welt.

Wichtigste Werke

Vita nuova (Das neue Leben, enstanden 1283–93/95)

De vulgari eloquentioa libri duo (Über die Volkssprache, entstanden 1303/04)

Il convivio (Das Gastmahl, entstanden 1303–08)

La comedia/La divina commedia (Die göttliche Komödie, enstanden 1307–23)

1 Der Titel ›Komödie‹ stammt aus der zeitgenössischen Poetik; laut Dante selbst bezeichnet er ein Werk, das schrecklich beginnt und glücklich endet, nicht in Latein verfasst ist und sämliche ›hohen‹ wie ›niederen‹ Stilebenen umfasst.

2 Das biographische Vorbild Beatrices ist vermutlich Bici di Folco Portinari.

1 Die neun Kreise der Hölle Dantes sind sprichwörtlich geworden. Sie sind fortschreitend nach schwereren Sünden und dementsprechend härteren Strafen angeordnet. Etwa platziert Dante die mythisch-homerische Gestalt Odysseus in den achten Kreis der Hölle, wo er seine Hinterlist im Trojanischen Krieg büßen muss, im Zentrum der Hölle (zermalmt von den drei Mäulern Luzifers) befinden sich mit Judas, Brutus und Cassius die drei großen Verräter der Geschichte.

1 Die erste deutsche Übersetzung stammt aus dem Jahr 1767, und erst die Romantiker Friedrich und A. W. Schlegel sowie G. W. F. Hegel brachten Dante in Deutschland zu Ansehen.

FRANCESCO PETRARCA

(1304–1374)

»Rerum vulgaria fragmenta« – Bruchstücke muttersprachlicher Dinge

Der Liebesdichter

Francesco Petrarca – zusammen mit Dante Alighieri und Giovanni Boccaccio eine der tres corone, der drei literarischen ›Kronen‹, der italienischen Renaissance – schuf mit seinem Canzioniere, seinen Liebesgedichten an die berühmte unerreichbare Laura, nicht nur das wirkungsmächtigste Werk der italienischen Literatur, sondern auch die bedeutendste Gedichtsammlung der Neuzeit.

Der Canzioniere, der ursprünglich unter dem Titel Rerum vulgaria fragmenta (›Fragmente muttersprachlicher Dinge‹) bekannt war2, kann ohne Übertreibung als Francesco Petrarcas Lebenswerk bezeichnet werden. Der Poet arbeitete über Jahrzehnte an den 366 Gedichten, die die Endfassung von 1374, dem Jahr seines Todes, enthält. Doch Petrarca betätigte sich nicht nur als Dichter in der volgare, der italienischen Volkssprache, der er zusammen mit Boccaccio und vor allem Dante Vorschub leistete; der in Arezzo geborene Sohn eines Notars wirkte vielmehr auch als einflussreicher Politiker. Nach einem Studium der Rechte in Montpellier und Bologna trat Petrarca 1326 in die Dienste des Kardinals Giovanni Bologna und begann damit eine Laufbahn, die ihn als Diplomat unter anderem nach Flandern, Aachen, Köln und Rom führte. Petrarca war ein leidenschaftlicher Anhänger der Idee einer Wiedergeburt des mächtigen Roms, wurde jedoch von der politischen Realität enttäuscht. Seinen Lebensabend verbrachte er als hochverehrter Dichter und Politiker in Venetien.

Petrarcas zeitgenössischer literarischer Ruhm war nicht nur auf seine lyrischen Werke in der volgare zurückzuführen, sondern zu einem Großteil auch auf sein auf Latein verfasstes Œuvre, das ihn zu einem der Begründer des Humanismus machte und somit zu einem derjeniger Geister, die die westliche Welt so entscheidend geprägt haben. Während seines Studiums in Bologna kam Petrarca mit dem Gedankengut des Frühhumanismus in Berühung, das er in seinen Texten sukzessive ausbaute und belebte. In seinen von römischen und griechischen Autoren inspirierten lateinischen Dichtungen entdeckte er die Antike sozusagen neu und trug damit entscheidend zu deren ›Wiederauferstehung‹ in der Renaissance bei. Nach ihrem Vorbild rückte Petrarca das schöpferische Individuum in den Mittelpunkt seines Schreibens und setzte sich somit deutlich vom Gedankengut des Mittelalters ab. Zugleich schuf er die antike Literatur nicht einfach nach; vielmehr nutzte er sie als Inspirationsquelle für neue, andere Dichtungsformen. Hierin wurde er wiederum zum Vorbild für nachfolgende Generationen von Poeten. Petrarcas literarischer Ruhm, den er selbstreflexiv zusammen mit seiner Liebe zu Laura als die große Motivationsquelle seines Schaffens benannte1, fand zu seinen Lebzeiten einen Höhepunkt, als er Ostern 1341 auf dem Kapitol von Rom triumphal zum Dichter gekrönt wurde.

Im Mittelpunkt von Petrarcas Canzioniere steht die unerwiderte Liebe des dichtenden Ichs zu Laura, deren autobiographischem Vorbild Petrarca vermutlich in der Karwoche des Jahres 1327 begegnete und die er bis zu ihrem frühen Tod ein Jahr später glühend und unerhört verehrte. Die Liebesgedichte des Canzioniere lassen sich entsprechend in drei Phasen einteilen: Zunächst löst die erste Verliebtheit im Ich die unterschiedlichsten und widersprüchlichsten Gefühle aus; dann wird die unerreichbare Frau ähnlich wie die Beatrice Dantes zum moralischen wie geistigen Vorbild des mit sich ringenden Dichters; nach ihrem Tod schließlich wird Laura als transzendente Geliebte verherrlicht und zum Brennpunkt der sublimierten Sehnsüchte des Ichs. Die Frau wird so sukzessive entpersonalisiert und zu einem Symbol der Treue, Hoffnung und Liebe, aber auch des humanistischen Geistes und der Dichtkunst selbst1. Petrarca reiht sich hiermit zwar in die bereits bestehende Tradition der donna angelicata ein, der ›Engelsfrau‹, die durch das Versagen ihrer Gunst den Dichter auf den Weg der Tugend führt2, hebt sie aber auf neue symbolische Ebenen und sieht zugleich nicht davon ab, Lauras physische Schönheit zu rühmen. Petrarca trug damit entscheidend zu der Etablierung des Schönheitsideals der Renaissance bei, das die europäische Liebesdichtung für mehr als zwei Jahrhunderte dominieren sollte. Dieses Ideal manifestiert sich auch in der Lyrik des Petrarkismus, eine an den ›Meister‹ angelehnte Stilrichtung, die durch den festen Schematismus ihrer Motive und der formalen wie stilistischen Elemente gekennzeichnet ist. Während petrarkistische Gedichte mit einem festen Katalog poetischer Bilder arbeiteten (etwa die Frau als Jägerin, die das Herz des hilflosen Dichters in ihren Netzen fängt), die in einem (im besten Fall virtuosen) ästhetischen Spiel endlos variiert wurden, zeichnet sich Petrarcas Metaphorik noch durch ihre Originalität und Schlichtheit gleichermaßen aus (wenn sie auch durchaus zeitgenössischen Schönheitskonventionen folgt).

Die dominierende Form, die Petrarca seiner Liebeslyrik gibt, ist die des Sonetts, die dank des Canzioniere ihren Siegeszug durch Europa antrat und dabei sprachbedingte Variationen erfuhr. Die Grundform des Petrarca-Sonetts besteht aus zwei vierversigen Strophen und zwei dreiversigen, in denen das in den sogenannten Quartetten angedachte Thema auf eine höhere Ebene und/oder zu einer wirkungsvollen Schlussfolgerung gebracht wird. Mit seiner klaren, festen Struktur, die sich auch auf das Reimschema erstreckt und in einem festen Rahmen unendliche Variation erlaubt, wurde das Sonett zu einer der wichtigsten lyrischen Formen überhaupt, und das gilt bis heute. Petrarcas Bedeutung für die Gattung der Lyrik erschöpft sich jedoch nicht in der Begründung einer neuen Art der Liebesdichtung und der Verbreitung der Sonettform. Vielmehr erhoben seine Verse in der volgare die Volkssprache ganz gleich welchen Landes in den Status einer poetischen Sprache; Latein wurde nicht länger als die einzige der Dichtung würdige Sprache angesehen. Und nicht zuletzt handelt es sich beim Canzioniere um die erste nachantike Gedichtsammlung, die konsequent durchkomponiert ist und einen dezidierten Schwerpunkt auf die Reinheit der lyrischen Form legt. Dadurch begründete Petrarca ganz neue Standards der Dichtkunst, ohne die die Entwicklung der neuzeitlichen Lyrik gar nicht denkbar wäre.

Wichtigste Werke

Canzioniere (Canzioniere, entstanden 1336–74)

Africa (Africa, entstanden 1338–43)

De viris illustribus (entstanden 1338–53 )

De secreto conflictu curarum mearum (Gespräche über die Weltverachtung, entstanden 1342/43–58)

De vita solitaria (entstanden 1346–56)

2 Der Titel Canzioniere kam erst im 16. Jahrhundert in Gebrauch.

1 Dies bekennt Petrarca in seinem Selbstporträt Gespräche über die Weltverachtung (Secretum/De secreto conflictu curarum mearum, 1342/43–58), ein Totendialog mit dem Heiligen Augustinus in Anwesenheit einer schönen Frau, der Allegorie der Wahrheit.

1 Der Name Laura steht in enger lautlicher Verbindung mit dem lauro, dem Lorbeer, welcher als Symbol für den dichterischen Ruhm steht.

2 Diese Tradition geht auf den mittelalterlichen Minnesang zurück.

GIOVANNI BOCCACCIO

(1313–1375)

»Il Decamerone« – Zehn Tage

Der Novellendichter und der Eros

Giovanni Boccaccio ist der jüngste der tre corone, der drei ›Kronen‹ der italienischen Literatur1, die an der Schwelle zwischen Mittelalter und Renaissance stehen und eine neue Phase der europäischen Literatur einläuteten. Mit seinem Dekameron (Il Decamerone, entstanden 1349–53) wurde er zum ersten großen Prosaerzähler Europas und zum Begründer der Gattung der Novelle.

Ähnlich wie im Falle Dante Alighieris haben sich um Giovanni Boccaccios Biographie viele Legenden gebildet. Geboren wurde er wahrscheinlich in Florenz, und zwar als unehelicher Sohn eines Kaufmanns und einer adligen Französin. Mit vierzehn Jahren wurde Boccaccio von seinem Vater in eine Kaufmannslehre im neapolitanischen Bankhaus Bardi geschickt. In Neapel knüpfte er Kontakte mit den Gelehrten, Literaten und Aristokraten, die sich am Hof der Anjou, ein kulturelles Zentrum der Zeit, zusammenfanden. In den 1340er Jahren hielt er sich an den Höfen von Ravenna und Forlí und in Florenz auf, wo er als Notar und Richter tätig war. Nach der großen Pestepedemie des Jahres 1348, im Zuge derer Boccaccios Vater verstarb und die der Dichter in seinem Meisterwerk, dem Dekameron, thematisierte, begab er sich im Auftrag der Stadt Florenz auf diplomatische Mission und bereiste ganz Italien. Seinen Lebensabend verbrachte Boccaccio auf seinem Landgut Certaldo in der Nähe von Florenz.

Giovanni Boccaccio begann seine literarische Tätigkeit schon früh und kann ohne Zweifel als eine der Gründungsfiguren der italienischen Literatur genannt werden: Zwischen 1336 und 1338 entstand sein Erstlingswerk Il Filocolo, der erste italienische Prosaroman überhaupt; mit der Teseida (1339–40), seiner Bearbeitung des Theseus-Stoffes, begründete Boccaccio eine eigenständige italienische Epik; seine Fabeldichtung Die Nymphe von Fiesole (Ninfale fiesolano, entstanden 1344–46) über die Liebe zwischen einem Hirten und einer Nymphe, die sich durch ihre unverblümte Darstellung der Gefühlswelt der Liebenden auszeichnet, wurde zum Vorbild für die gesamteuropäische Pastoraldichtung. 1343/44, während Boccaccios Zeit in Neapel, entstand der Roman Fiammetta (Elegia di Madonna Fiammetta), der der Legendenbildung um seine Biographie schon zu seinen Lebzeiten entschiedenen Vorschub leistete. Der Roman basiert auf Boccaccios leidenschaftlicher Verehrung der verheirateten Maria d’Aquino, verkehrt jedoch die eigentliche Situation ins Gegenteil, da er in Form des intimen Tagebuchs der Madonna Fiammetta verfasst ist, die von ihrem jungen Liebhaber Panfilo (= Boccaccio) verlassen worden ist. Dieser Bekenntnisroman – der erste nachantike seiner Art – zeichnet sich durch eine psychologische Klarsichtigkeit aus, die seiner Zeit weit voraus ist. Ab 1350, nach seiner Begegnung mit dem Dichter und Humanisten Francesco Petrarca, begann Boccaccio, zahlreiche Werke auf Latein im humanistischen Geist zu verfassen. Sein letztes Projekt war die Abfassung der Kleinen Abhandlung zum Lobe Dantes1 (Trattatello in laude di Dante, entstanden 1357–60), ein Kommentar der ersten 17 Gesänge von Dantes Komödie (La Divina Commedia, entstanden 1307–21), die in diesem Text das Attribut ›göttlich‹ erhielt.

Doch so einflussreich Boccaccios sonstiges literarisches Schaffen in Hinsicht auf die italienische Literatur auch war, sein bahnbrechendes Dekameron übertrifft all seine anderen Werke. Mit ihm begründete Boccaccio die Gattung der Novelle, die Johann Wolfgang Goethe als »eine sich ereignete unerhörte Begegebenheit« definierte und damit zwei ihrer wichtisten Eigenschaften nannte: Das zentrale Ereignis, das in ihr in kurzer Form erzählt wird, ist von realistischer, aber ungewöhnlicher Natur. Charakteristisch für die Novelle ist außerdem ein überraschender Wendepunkt in der Erzählung, der in Anlehung an eine Novelle aus dem Dekameron als ›Falke‹ bezeichnet wird2. In größerem Maße jedoch noch als die Form seiner Erzählungen wirkte der Rahmen, in den Boccaccio diese ›Mosaike‹ setzt, stilbildend: Die Rahmenerzählung thematisiert die große Pest von 1348 und den von ihr verursachten Zusammenbruch der sozialen Ordnung. Zehn junge Aristokraten (drei Männer und sieben Frauen) fliehen vor der Pest auf ein Landgut in der Nähe von Florenz, wo sie sich über zehn Tage verteilt je zehn Geschichten erzählen, die sich an einem Motto orientieren, das der jeweilige re oder die regina (›König‹ bzw. ›Königin‹) des Tages festlegt3. So werden insgesamt hundert Novellen wiedergegeben, die von regionalen Anekdoten und Schwänken über Klerikersatiren bishin zu dramatischen und tragischen Erzählungen reichen. Dieses in eine Rahmenhandlung eingebettete Erzählen wurde zur Urform all jener Novellensammlungen, die in den folgenden Jahrhunderten in ganz Europa entstanden.

Boccaccios vielgestaltiges Dekameron, das er in seiner Einleitung den ›holden Frauen‹ widmet, entwirft eine Gesellschaftsskizze des ausgehenden Mittelalters. Alle sozialen Schichten und Lebensbereiche, alle denkbaren Typen von Menschen sind vertreten. Gleichzeitig zeichnet sich das Dekameron durch eine Universalität und Überzeitlichkeit aus, die zu einem großen Teil auf sein zentrales Thema der Liebe und des Eros zurückzuführen ist. Boccaccios Darstellung der Liebe hat nichts von der Idealisierung oder Tabuisierung vorangegangener Jahrhunderte; er präsentiert sie als das zentrales Lebenselement schlechthin, und ihre körperliche wie seelische Erfüllung ist es, die die Charaktere in den Novellen vor allen Dingen motiviert, und zwar sowohl auf physischer als auch auf geistiger Ebene. Die schwankhaften Erzählungen sind oft derb und immer lustvoll, die Atmosphäre zwischen den die Novellen erzählenden jungen Aristokraten ist erotisch aufgeladen. Aber auch tragische Leidenschaft und reine Verehrung finden ihren Weg in das Dekameron, das somit als eine Studie aller Spielarten des Eros gesehen werden kann, die nichts (oder zumindest wenig) auslässt. Im Kontrast zu der durch die Pest entstandenen lebensbedrohlichen Situation, die zu Beginn evoziert wird, wird in den Novellen ein Panorama prallen Lebens entworfen, eines Lebens, in dem der Mensch oft der Willkür der Fortuna und des Amor ausgeliefert ist, in dem er sich aber auch als gewitzter Schmied seines eigenen Glücks beweisen kann. Boccaccios 100 Novellen werden deshalb nicht selten in Entsprechung zu den 100 Gesängen von Dantes Göttlicher Komödie als große ›Menschliche Komödie‹ angesehen.

Wichtigste Werke

Il Filocolo (entstanden 1336–38)

Teseida (entstanden 1339–40)

Ameto (Aus dem Ameto, enstanden 1341)

Elegia di Madonna Fiammetta (Fiammetta, entstanden 1343/44)

Ninifale fiesolano (Die Nymphe von Fiesole, entstanden 1344–46)

Il Decamerone (Das Dekameron, entstanden 1349–53)

Trattatello in laude di Dante (Kleine Abhandlung zum Lobe Dantes, entstanden 1357–62)

1 Neben Boccacio gehören zu den tre corone Dante Alighieri und Francesco Petrarca.

1 auch unter dem Titel Das Leben Dantes erschienen

2 Die fragliche Novelle erzählt von einem armen Adligen, der eine Dame umwirbt und ihr zum Gastmal – aus Ermangelung einer anderen Möglichkeit – ohne ihr Wissen seinen Lieblingsfalken serviert. Auf sein Angebot, der Dame zum Zeichen seiner Liebe alles zu gewähren, was sie sich von ihm wünscht, verlangt sie nichts anderes als seinen berühmten Jagdfalken.

3 Der Titel Decamerone/Dekameron setzt sich aus dem griechischen deka (zehn) und hemera (Tag) zusammen.

LUÍS VAZ DE CAMÕES

(1524/25–1580)

»Lembrança da longa saudade« – Erinnerung an langes Weh

Portugals Krieger-Poet

Luís Vaz de Camões ist Portugals Nationaldichter. Mit seinem nationalen Epos Die Lusiaden (Os Lusíadas, ca. 1553–70) schuf er ein Werk, das sowohl für Jahrhunderte das portugiesische Nationalbewusstsein definierte als auch die portugiesische Literatur bis weit ins 20. Jahrhundert hinein beeinflusste. Camões ist einer der bedeutendsten Lyriker des 16. Jahrhunderts. Viele seiner formvollendeten Gedichte sind Ausdruck des für die portugiesische Seele so charakteristischen melancholischen Sehnens: der saudade.

Wenig ist vom Leben von Luís Vaz de Camões gesichert bekannt, Rückschlüsse lassen sich oft nur aus seinen vermutlich autobiographischen Gedichten ziehen. Was man jedoch weiß bzw. vermutet, legt nahe, dass Camões nicht nur ein großer Renaissance-Dichter, sondern – im Stil der portugiesischen ›Helden‹, die er besingt – auch ein Renaissance-Abenteurer war.

Schon der Geburtsort Camões’ ist nicht eindeutig bekannt; gleich mehrere portugiesische Städte nehmen diese Ehre in Anspruch. Die wahrscheinlichsten Kandidaten sind Lissabon, woher der dem niederen Adel angehörige Vater des Dichters stammte, und Coimbra, wo der junge Luís bei seinem Onkel, dem Kanzler der Universität von Coimbra, aufwuchs. Später kehrte Camões nach Lissabon zurück, wo er in den Palästen der Hauptstadt verkehrte und in Form von Gelegenheitsgedichten den Großteil seines lyrischen Werkes verfasste. Aus unbekannten Gründen wurde er mehrmals verbannt, was unter anderem zu einem Aufenthalt in Nordafrika führte, wo Camões sein rechtes Auge verlor1. Nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt, den ein königlicher Gnadenerlass beendete, brach Camões im Jahr 1555 im Dienste des Königs João III. nach Goa und Macao auf. Sein Nationalepos Die Lusiaden entstand zum Großteil während seiner Zeit in Asien. Wie das Epos selbst zu berichten weiß, war das Manuskript das einzige, was Camões retten konnte, als er bei der Rückfahrt nach Portugal Schiffbruch erlitt und dabei seine Geliebte, eine junge Chinesin, verlor. Dieses tragische Ereignis verarbeitete Camões in den sogenannten Dinamene-Gedichten, von denen Ein frühes Grab (Alma minha gentil1, 1595) das berühmteste ist. Dieses Sonett wird oft als vollendetste Manifestation der saudade betrachtet, dieser typisch portugiesischen Geistes- und Gemütshaltung, die in keiner anderen Sprache eine genaue Entsprechung findet und noch heute im fado, dem portugiesischen Volksgesang, ihren Ausdruck findet. Die Mischung aus sehnsuchtsvollem Erinnern, herb-süßer Melancholie und steter Bewusstheit von Vergänglichkeit, die im Herzen der saudade liegt, findet sich oft in Camões’ Lyrik, etwa auch in dem für das Weltbild des Dichters zentralen Text An den Flüssen, die durch Babylon ziehen (Sôbolos rios, um 1572), der auf dem die Gefangenschaft Israels in Babylon besingenden Psalm 136 basiert und über die barocke Erkenntnis der Unbeständigkeit des Irdischen zur Verehrung der absoluten Schönheit gelangt. Das Hauptthema von Camões’ Lyrik ist der Liebesschmerz und die Schmerzliebe, ihr Hauptmerkmal die hochgradige Kunstfertigkeit, die ihren Schöpfer einen Gipfel der Renaissance-Dichtung erreichen lässt. Kritisch und produktiv setzt Camões sich hier mit antiken wie neuzeitlichen Vorbildern (allen voran dem Werk Francesco Petrarcas) auseinander und versucht gleichzeitig, diese zu übertreffen. Deswegen nehmen seine Gedicht vielfältige geistige Strömungen in sich auf und finden verschiedenste Formen (Sonett, Ode, Elegie, Oktave, Terzine, Redondilha etc.), die Camões alle mit großer Meisterschaft beherrschte. Zugleich zeichnen sich die Gedichte des großen Portugiesen durch die Intensität und Authentizität des Gefühlsausdrucks aus. Camões’ Lyrik, die alle Einflüsse der Renaissance sozusagen bündelt, wurde zum Paradigma für die portugiesische Dichtung der folgenden Jahrhunderte und etablierte, zusammen mit dem großen Epos Die Lusiaden, das Portugiesische als eine Literatursprache aus ihrem eigenen Recht heraus2.

Die Lusiaden sind ein Nationalepos im wahrsten Sinne des Wortes. Am Vorbild von Homers Odyssee und Vergils Aeneis orientiert – die er verspricht zu übertreffen, da er einen größeren Helden zu besingen hat –, poetisiert Camões die Entdeckung des Seewegs nach Ostindien und die Umseglung des Kaps der Guten Hoffnung durch den portugiesischen Seefahrer Vasco da Gama (1497). Eingebettet ist die als heldenhafte und gottgefällige Unternehmung dargestellte Fahrt da Gamas zum einen in eine Gesamtschau der portugiesischen Geschichte, die durch zahlreiche Erzählungen der ›Helden‹ evoziert wird, und zum anderen in einen mythologischen Rahmen: Die antiken griechisch-römischen Götter werden im homerischen Stil als Verbündete und Gegner der Portugiesen aufgerufen, denen die Abstammung von der Göttin Venus ›zugeschrieben‹ wird1. Die Lusiaden werden so zu einer Mischung aus klassisch-epischem Lobgesang, beschreibendem Realismus2 und überbordender Fantasie. Camões’ Epos, das anders als die antiken Vorbilder nicht einen einzigen Mann, sondern ein ganzes Volk besingt, entstand aus dem Sendungsbewusstsein des eigenen Landes heraus und mag in seiner Verherrlichung der Portugiesen und ihrer großen Seefahrer durchaus als das erscheinen, als was der große amerikanische Literaturkritiker Harold Bloom Die Lusiaden augenzwinkernd bezeichnet: »the most politically incorrect poem ever written«3. Doch Camões schrieb auch das Epos eines Volkes, das er mit den mythischen Figuren Prometheus, Phaeton und Ikarus vergleicht – Figuren, die nach der Macht der Götter greifen, jedoch teuer dafür bezahlen müssen. So erhält der Gründungsmythos Portugals einen warnenden Unterton, der seinem epischen Überschwang die Waage hält.

Die portugiesische literarische Tradition, die Camões begründete, ist noch in den Werken des großen Romanciers des 19. Jahrhunderts, Eça de Queiros, und des bedeutenden Modernisten Fernando Pessoa zu spüren. Portugal feiert den Epiker, Lyriker und Dramatiker bis heute als Nationaldichter, und sein Todestag, der 10. Juni, ist portugiesischer Nationalfeiertag.

Wichtigste Werke

Os Lusíadas (Die Lusiaden, um 1553–70)

Sôbolos rios (An den Flüssen, die durch Babylon ziehen, um 1572)

Alma minha gentil (Ein frühes Grab, 1595 )

1 Dieses Vorkommnis hielt Camões unter anderem in einer canção (›Gesang‹) mit dem Titel Lembrança da longa saudade (›Erinnerung an langes Sehnen‹ oder ›Erinnerung an lange Schwermut‹) fest.

1 wörtlich übersetzt: ›Meine liebe Seele‹

2 Allerdings ist es schwierig, genau zu rekonstruieren, ob alle Gedichte, die Camões zugeschrieben werden, auch von ihm stammen, da die ursprünglichen Handschriften verloren sind und zu seinen Lebzeiten nur drei Gedichte gedruckt wurden.

1 Der Titel Die Lusiaden/Os Lusíadas ist eine neugebildete Bezeichnung für ›die Portugiesen‹, die aus dem Namen des angeblichen von Aeneas, dem Sohn der Venus, abstammenden Stammvater Luscus gebildet wird.

2 Camões zog als Quellen Chroniken, Tagebücher, Logbücher, Reiseberichte und mündliche Berichte heran.

3 »das politisch inkorrekteste Gedicht, das je geschrieben wurde« (meine Übersetzung). aus: Bloom, Harold. Genius. A Mosiac of one hundered exemplary creative minds. New York: Warner Books 2002. S. 510

MIGUEL DE CERVANTES

(1547–1616)

»El ingenioso hidalgo« – Der sinnreiche Junker

Der Ritter von der traurigen Gestalt und sein Siegeszug durch die Weltliteratur

Don Quijote de la Mancha (1605/15) von Miguel de Cervantes ist nach der Bibel das meist gelesene Buch der westlichen Kultur. Der ›Ritter von der traurigen Gestalt‹, der in einer Art ›heiligen Wahn‹ versucht, die untergegangene chevaleske Zeit wiederzubeleben und so im wahrsten Sinne des Wortes gegen Windmühlen kämpft, und sein treuer ›Schildknappe‹ Sancho Pansa sind zu sprichwörtlichen Figuren geworden und haben unzählige literarische wie populäre Reinkarnationen gefunden. Und wie seine Hauptfiguren hat auch der Roman selbst seinen Autor hinter sich gelassen.

Das ›Verschwinden‹ des Autors Miguel de Cervantes hinter seinem Text liegt zunächst in der simplen Tatsache begründet, dass nur wenige verlässliche Informationen über seine Biographie existieren. Cervantes, der heute als der größte Schriftsteller des sogenannten Siglo de Oro – dem goldenen Zeitalter der spanischen Literatur – angesehen wird, war der Sohn eines armen Wanderarztes, erhielt aber vermutlich eine humanistische Ausbildung. Aus ungewissen Gründen verließ Cervantes Spanien im Jahr 1569, um im Gefolge des Kardinals Giulio Acquaviva nach Rom zu gehen. Später verdingte er sich in Neapel als Soldat der katholischen Liga im Kampf gegen die Türken, in Zuge dessen seine linke Hand verstümmelt wurde. Das Schiff, auf dem Cervantes 1575 nach Spanien zurückkehren wollte, wurde von Piraten gekapert und Cervantes selbst als Gefangener nach Algier gebracht, wo er erst fünf Jahre später vom Trinitatierorden freigekauft wurde. Zurück in Spanien heiratete Cervantes im Jahr 1584 die 18jährige Catalina de Palacios und veröffentlichte ein Jahr darauf Der Galatea Erster Teil (La Galatea), seinen unvollendet gebliebenen Schäferroman. Erst zwanzig Jahre später erschien sein zweites literarisches Werk: der erste Teil des Don Quijote, den Cervantes nach eigenen Angaben zu einem Großteil während seiner drei Gefängnisaufenthalte angefertigt hatte. Der Roman wurde schnell ein gesamteuropäischer Erfolg: Die erste englische Übersetzung etwa erschien bereits 1612, 1614 kam eine anonyme ›Fortsetzung‹ auf den Markt, die nicht aus Cervantes’ Feder stammte und die im eigentlichen zweiten Teil von 1615 zu verspotten der Schriftsteller sich nicht nehmen ließ. Zwei Jahre zuvor hatte Cervantes außerdem seine Exemplarischen Novellen (Novelas ejemplas) veröffentlicht, die die weitere Entwicklung der Gattung entscheidend beeinflussten und in Spanien zeitweise noch beliebter waren als der Roman über den ›Ritter von der traurigen Gestalt‹ – vor dem in literaturgeschichtlicher Hinsicht jedoch selbst diese bedeutenden Novellen verblassen, ganz zu schweigen von Cervantes’ lyrischen und dramatischen Werken.

Der Autor Cervantes verschwindet jedoch nicht nur in der biographischen Ungewissheit, sondern auch hinter der Größe seines Textes, der ihm, wie Hans-Jörg Neuschäfer spekuliert, »gleichsam beiläufig unterlief«1. Der Don Quijote steht am Anfang des modernen Romans und ist anders als alles, was in dieser – damals als frivol angesehenen – Gattung bis dahin existierte. Nicht nur wählte Cervantes anders als in den beliebten Ritterromanen ein realistisches setting und arbeitete mit alltäglichem, zeitgenössischen Personal (was auch der pikareske bzw. Schelmenroman bereits getan hatte); er erzählt auch die Geschichte eines problematisierten Protagonisten anstatt eines idealisierten Helden, und er reflektiert innerhalb des Textes über das Erzählen selbst. Don Quijote wird somit zum ersten Roman der Literaturgeschichte, der sich dezidiert ›seiner selbst bewusst‹ ist. Das bedeutet aber auch, dass der Text das Wesen einer Gattung diskutiert, die überhaupt erst am Entstehen ist. Diese poetologischen Reflexionen des Textes finden auf mehreren Ebenen statt. Da ist zum einen die Parodie der sentimentalen Ritterromane, die die Grundstruktur des Don Quijote bildet, der seiner locura (›Wahn‹) aufgrund zu leidenschaftlicher Lektüre verfällt und die vergangene Zeit chevalesker Ehre nachschaffen will: Als heldenhafter Ritter reitet er durchs Land, im Dienst einer Dame (eine Bauernmagd, die er zur verehrten Dulcinea hochstilisiert) und begleitet von seinem treuen ›Schildknappen‹, dem Bauern Sancho Pansa, hält sich streng an den längst nicht mehr zeitgemäßen ritterlichen Ehrenkodex1 und besteht große Abenteuer, von denen der Kampf mit den Windmühlen, die der Don für Riesen hält, das berühmteste ist. Diese offensichtliche parodistische ist aber bei Weitem nicht die einzige poetologische Ebene des Romans. Der Text diskutiert nämlich unentwegt das problematische Verhältnis zwischen Fiktion und Realität, welches den Wesenskern der neuen Gattung bildet. Während Cervantes’ Gegenüberstellung der dargestellten Alltagsrealität mit der überbordenden Imagination des Don eine strikte Trennung dieser beiden Bewusstseinsebenen suggeriert, wird durch andere Mittel genau diese Trennung wieder in Frage gestellt. Dies geschieht zum einen durch die konträren Figuren des idealistischen Don Quijote und des materialistischen Sancho Pansa, die in ständiger Rede und Gegenrede ihre Weltsicht diskutieren und so deutlich machen, dass die Wahrnehmung von Wirklichkeit von der Perspektive des Wahrnehmenden abhängt. Zum anderen beginnt Cervantes im zweiten Teil, der zehn Jahre nach dem ersten erschien, ein ganz neues metafiktionales Spiel: Don Quijote begegnet hier den Lesern des ersten Teils seiner Abenteuer, die ihn als Berühmtheit behandeln und zu ihrem Amüsement verspotten. Damit beginnt die Auseinandersetzung mit Cervantes’ großem Werk bereits im Don Quijote selbst, indem sein Autor Motive in ironischer Brechung umkehrt und den Roman mit der Desillusionierung des selbsternannten Weltverbesserers und dem Ende von dessen locura schließen lässt. Des Weiteren eröffnet dieser zweite Band einen fiktionalen Raum, der nicht an die Authentizitätsfiktion gebunden ist (die später etwa duch Daniel Defoes Robinson Crusoe gattungsbestimmend werden würde), weil er seine Fiktionalität so unmissverständlich offenlegt, und in dem Fiktion und Realität durch neue komplexe Erzählverfahren ineinanderblenden. Damit enthält der Don Quijote alles, was die heutige Literaturtheorie hochhält – weswegen die Rezeption von Cervantes’ großem Roman so spannend und fruchtbar ist wie eh und je. Denn jedes Jahrhundert scheint sich im Don Quijote wiederzufinden: Cervantes’ Zeitgenossen wurden eingefangen von der unwiderstehlichen Komik der Ritterparodie; die Romantiker feierten den Don als den tragischen Helden der Imagination; das Spanien des 19. Jahrhunderts erklärte den quijotismo zum Ausdruck seiner nationalen Identität; die Literaturtheoretiker des 20. Jahrhunderts fanden im Don Quijote alles angelegt, was die postmoderne Perspektive auf Literatur ausmacht: Dialogizität, Intertextualität, Selbstreflexivität. Es ist kaum zu bezweifeln, dass auch kommende Generationen neue Lesarten des Don Quijote entdecken werden.

Wichtigste Werke

El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha (Don Quijote de la Mancha, 1605/15)

Novelas ejemplares (Exemplarische Novellen, 1613)

1 Neuschäfer, Hans-Jörg. »Cervantes und der Roman des Siglo de Oro«. in: Neuschäfer, Hans-Jörg (Hg.). Spanische Literaturgeschichte. 2., erweiterte Aufl age. Stuttgart/Weimar: Metzler 2001. S. 123–51; S. 147.

1 Don Quijotes chevaleske Ehrenhaftigkeit parodiert allerdings nicht nur die Ritterromane, sondern hält – zusammen mit seiner unleugbaren Vernunft und menschlichen Größe – auch der kruden Gesellschaft , die den alten Kodex für überkommen hält, einen Spiegel vor.

LOPE DE VEGA

(1562–1635)

»Arte nuevo de hacer comedias « – Neue Komödienkunst

Spaniens Naturwunder

Lope de Vega, der von Miguel de Cervantes einmal als monstruo de naturaleza (›Wunder der Natur‹) bezeichnet wurde, war der vielleicht produktivste spanische Dichter überhaupt. Er versuchte sich in fast allen Gattungen seiner Zeit; unsterblich geworden sind seine vielseitige Lyrik und sein dramatisches Werk, allen voran die von ihm etablierte comedia, mit der er das spanische Nationaltheater begründete.