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Prof. Dr. Norbert Wolf,

geboren 1949 in Regensburg, Studium der Kunstgeschichte, Linguistik und Mediävistik an den Universitäten Regensburg und München. 1983 Promotion im Fach Kunstgeschichte über Materialprobleme in der Bildhauerkunst des deutschen Manierismus. Anschließend wiederholte Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent an der Universität München. Ab 1985 Mitarbeit an dem Forschungsprojekt »Die Kunst im Heiligen Römischen Reich« von Wolfgang Braunfels. 1992 Habilitation in München über Schnitzretabel des 14. Jhd. Gastprofessuren in Marburg, Frankfurt a. Main, Leipzig, Düsseldorf, Nürnberg-Erlangen, Innsbruck.

Norbert Wolf lebt in München und ist hier vor allem als wissenschaftlicher Autor tätig. Zahlreiche Veröffentlichungen zur älteren und neueren Kunst, insbesondere zur Malerei und Buchmalerei, darunter Überblickswerke und Künstlermonographien.

Zum Buch

Die bedeutendsten Maler der Neuen Zeit

Präsentierte der erste Band »Alte Meister« vom Mittelalter bis zum ausgehenden Rokoko, so stellt das vorliegende Buch in 64 übersichtlichen Kapiteln herausragende Maler vom Klassizismus bis zur Gegenwart vor.

Analog zu ihrem Vorgänger rückt auch diese Publikation die Frage in den Mittelpunkt, welche Kriterien das überragende Können bestimmter Maler bedingen. Da diese Frage nicht mit Hilfe ausführlicher Werkbeschreibungen untersucht wird, sondern im Kontext übergreifender kunstwissenschaftlicher Erörterungen, wurde bewusst auf Abbildungen verzichtet.

Dem Hauptteil ist ein stilgeschichtlicher Abriss vorangestellt. Kommentierte Literaturangaben ermöglichen eine vertiefende Fortsetzung der Lektüre.

Norbert Wolf

Die bedeutendsten Maler der Neuen Zeit

Norbert Wolf

Die bedeutendsten
Maler der Neuen Zeit

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012

ISBN: 978-3-8438-0239-0

www.marixverlag.de

INHALT

EINFÜHRUNG

VOM KLASSIZISMUS BIS ZUR GEGENWART

EIN STILGESCHICHTLICHER LEITFADEN

KLASSIZISMUS UND ROMANTIK (AB CA. 1750 UND AB CA. 1800)

DAS FORTLEBEN VON KLASSIZISMUS, HISTORISMUS UND ROMANTIK IM 19. JAHRHUNDERT

DER REALISMUS (AB 1840/50)

DER IMPRESSIONISMUS (AB 1874)

AUF DEM WEG ZUR MODERNE (AB DEN 1880ER-JAHREN)

PRÄRAFFAELITEN UND SYMBOLISMUS (1848–UM 1900)

FIN DE SIÈCLE UND JUGENDSTIL (UM 1900)

DER FAUVISMUS (1905–1911)

DER EXPRESSIONISMUS (1905ff.)

KUBISMUS UND ORPHISMUS (1907ff.)

DER FUTURISMUS (1909ff.)

DIE GEOMETRISCHE UND DIE »PHILOSOPHISCHE« ABSTRAKTION (CA. 1913ff.)

DADAISMUS UND MARCEL DUCHAMP (1916ff.)

PITTURA METAFISICA UND SURREALISMUS (1911ff.)

ZWISCHEN REALISMUS UND ABSTRAKTION (20ER-JAHRE–50ER/60ER-JAHRE)

POP-ART (1952ff.)

POSTMODERNE UND NEUER PLURALISMUS (1960ff.)

DIE GROSSEN MALER

FRANCISCO DE GOYA Y LUCIENTES

JACQUES-LOUIS DAVID

CASPAR DAVID FRIEDRICH

JOSEPH MALLORD WILLIAM TURNER

JOHN CONSTABLE

JEAN-AUGUSTE-DOMINIQUE INGRES

THÉODORE GÉRICAULT

JEAN-BAPTISTE CAMILLE COROT

EUGÈNE DELACROIX

HONORÉ DAUMIER

ADOLPH VON MENZEL

GUSTAVE COURBET

ARNOLD BÖCKLIN

ÉDOUARD MANET

EDGAR DEGAS

PAUL CÉZANNE

CLAUDE MONET

AUGUSTE RENOIR

PAUL GAUGUIN

VINCENT VAN GOGH

FERDINAND HODLER

GEORGES SEURAT

JAMES SIDNEY ENSOR

GUSTAV KLIMT

EDVARD MUNCH

HENRI DE TOULOUSE-LAUTREC

WASSILY KANDINSKY

EMIL NOLDE (EIGTL. HANSEN)

HENRI MATISSE

PIET MONDRIAN

KASIMIR MALEWITSCH

PAUL KLEE

ERNST LUDWIG KIRCHNER

PABLO PICASSO

EDWARD HOPPER

MAX BECKMANN

AMEDEO CLEMENTE MODIGLIANI

ROBERT DELAUNAY

OSKAR KOKOSCHKA

MARCEL DUCHAMP

KURT SCHWITTERS

MARC CHAGALL

GEORGIA O’KEEFFE

GIORGIO DE CHIRICO

EGON SCHIELE

OTTO DIX

RENÉ MAGRITTE

MAX ERNST

JOAN MIRÓ

MARK ROTHKO

WILLEM DE KOONING

SALVADOR DALÍ

FRANCIS BACON

JACKSON POLLOCK

ROY LICHTENSTEIN

ANTONI TÀPIES

ROBERT RAUSCHENBERG

ANDY WARHOL

YVES KLEIN

CY TWOMBLY

GERHARD RICHTER

FRANK STELLA

DAVID HOCKNEY

ANSELM KIEFER

INDEX

EINFÜHRUNG

1837 schrieb Honoré de Balzac die zweite, die erweiterte Fassung einer Furore machenden Künstlererzählung. Seine Novelle »Le chef-d’œuvre inconnu« spielt im Paris des 17. Jahrhunderts. Sie lässt den jungen Maler Nicolas Poussin sowie seinen Kollegen Porbus mit dem betagten Hofkünstler Frenhofer zusammentreffen. Seit zehn Jahren arbeitet Letzterer an einem Frauenporträt, das er indes allen Blicken verbirgt. Poussin brennt darauf, das Bild zu sehen, von dem jedermann munkelt, es sei ein Geniestreich. Um die Erlaubnis zu erhalten, bietet Poussin sogar seine Geliebte Gillette dem alten Maler als Modell an. Als Frenhofer schließlich das Gemälde auf der Staffelei enthüllt, sehen die Betrachter nur ein abstraktes Gewirr, ein Knäuel von Linien und Farbschichten. Einzig die Spitze eines herrlich gemalten Fußes ist als figuratives Überbleibsel im Chaos der Übermalungen zu identifizieren. Im Moment des Vorzeigens erkennt Frenhofer, dass Vollendungswahn von seinem Bild-Konzept nichts übriggelassen hat als ein unentwirrbares Netzwerk jahrelanger Korrekturen. Frenhofer fehlt noch das argumentative Zaubermittel späterer Avantgarde, statt des fertigen Werks den Weg zu ihm, das »work in progress« als das eigentliche Ziel auszugeben! In der Nacht darauf vernichtet er alle seine Werke und stirbt.

Das Streben des Genies nach dem Absoluten weicht zuletzt der Verzweiflung über die Unerreichbarkeit des künstlerischen Ideals. Das abstrakte Liniengeflecht auf der Oberfläche der Leinwand stand für die Leser des Jahres 1837 noch als Zeichen dieses Scheiterns. Das Sich-Verlieren in die Ungegenständlichkeit galt als Chiffre für das drohend Labyrinthische künstlerischer Phantasie, in dem kein Ariadnefaden den rettenden Weg zeigt.

Umgekehrt sollte die rund drei Generationen später beginnende Moderne, die mittlerweile längst das Prädikat der »klassischen Moderne« besitzt, in der Abstraktion nicht das Signet des Scheiterns, sondern neuartigen Kunst-Gelingens verkünden – gegen jene Verfechter der Gegenständlichkeit, die es nach wie vor gab. So gleicht es einem Paradigma, dass eine 1931 in Paris erschienene Neuauflage der Balzac’schen Novelle von Pablo Picasso illustriert wurde, dem genialsten Grenzgänger zwischen Abstraktion und Figuration, den das 20. Jahrhundert aufzuweisen hatte.

Während die beiden »Epochenschwellen«, die um 1800 und die um 1900, mit Klassizismus und Jugendstil (Art Nouveau) noch zwei Stile aufzuweisen hatten, die alle Bereiche von »Hochkunst« und Kunstgewerbe, von bildenden Künsten und Architektur umfassten, summierten sich dazwischen und insbesondere seit dem frühen 20. Jahrhundert die »Ismen«, die gesellschaftlich nur noch einzelne Bereiche abdeckten. Es wurden ihrer derart viele und sie überschritten mit Begeisterung so gut wie alle Gattungsgrenzen, dass das wahrnehmungstechnische Dickicht, das sich auf Frenhofers Bild abzeichnete, inzwischen anderswohin abgewandert scheint: ins »System« der Kunstszene. Existiert dann überhaupt noch eine Orientierungsmöglichkeit: metaphorisch gesprochen jener identifizierbare Fuß, dem Frenhofer eine Nische im phänomenalen Chaos gelassen hatte? Jedes einzelne der kommenden Kapitel ist getragen von der Überzeugung, dass dies der Fall ist – ungeachtet gravierender Probleme, die die Aufgabenstellung mit sich brachte.

Wenn ich im ersten Band, der 2007 »Alte Meister« vom Mittelalter bis zum ausgehenden Rokoko vorstellte, einleitend anmerkte, dass die eklatanteste Schwierigkeit des Konzepts in der Auswahl der Künstler und in den Auswahlkriterien lag, so gilt das auch für die Fortsetzung, die in mehr als 60 Abschnitten herausragende Maler vom Klassizismus bis zur Gegenwart präsentiert. Das Problem spitzt sich sogar weiter zu, da für viele der neuesten Künstler noch kein Kanon, kein Wertmaßstab existiert, der das Auswahlprinzip steuert und erleichtert.

Welches Gewicht sollte ich also in die Waagschale werfen, um den einen Künstler aufzunehmen, den anderen nicht? Ich habe versucht, nicht nur sogenannte entwicklungsgeschichtliche Kriterien und solche der Innovation zu berücksichtigen, sondern, so altmodisch es klingen mag, vor allem auch Parameter der künstlerischen Qualität, der Ernsthaftigkeit und Hartnäckigkeit, mit der ein Künstler an die Lösung von Problemen heranging und -geht. Obwohl sich die moderne Kunst häufig nur noch mit sich selbst beschäftigt (der viel zitierte selbstreflexive Faktor und die Eigenreferenz des Mediums »Bild«), ist, wie ich glaube, die Frage nach der kreativen Qualität nach wie vor möglich und legitim.

Eine diskursive Beschränkung auf die Gattung Malerei bringt für das 20. und das noch junge 21. Jahrhundert ein weiteres, ein genuines Problem mit sich, und zwar dort, wo die Grenze zwischen Flächen- und Raumkünsten aufgehoben wird oder wo sich das traditionelle Werk-Verständnis in der Konzeptkunst oder in der Aktion (Happening usw.) auflöst. Um den Umfang des Buches nicht zu sehr anwachsen zu lassen, beschränkt sich deshalb die Auswahl moderner Maler auf diejenigen, die »im Rahmen« bleiben, also einem Betrachter weiterhin Bild-Flächen anbieten, seien diese auch noch so sehr zu Experimentierfeldern verwandelt (weswegen ich beispielsweise auf ein den hauptsächlich durch Aktionen, Rauminstallationen, »soziale Plastiken« definierten Joseph Beuys – schweren Herzens – verzichtet habe; gleichermaßen habe ich jene Künstler beziehungsweise Gruppierungen außer Acht gelassen, die, wie ich glaube, über den Kanon ihrer Schriften und Manifeste mehr Aufsehen erregten als durch die Qualität ihrer realisierten Werke – ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Futuristen –, oder solche, deren Arbeiten die Grenze zum architektonischen Projekt überschreiten, wie das bei vielen Konstruktivisten der Fall ist. Ich bin mir bewusst, damit eine wissenschaftlich riskante Eingrenzung vorgenommen zu haben.

Analog zu ihrem Vorgänger rückt, wie erwähnt, die jetzige Publikation die Frage in den Mittelpunkt, welche Kriterien das überragende Können bestimmter Maler bedingen. Da diese Frage nicht mithilfe ausführlicher Werkbeschreibungen untersucht wird, sondern im Kontext anderweitiger kunstwissenschaftlicher Gesichtspunkte, wird bewusst auf Abbildungen verzichtet. Vorangestellt ist dem Hauptteil ein stilgeschichtlicher Abriss, zugeschnitten auf den Untersuchungszeitraum und in konzentrierter Kürze (also nicht mit der Absicht, jede Strömung beziehungsweise Gruppierung aufzuführen). Er versteht sich lediglich als Orientierungshilfe, nicht als verbindliches Raster. Kommentierte Literaturangaben bieten dem interessierten Leser die Möglichkeit zu einer vertiefenden Fortsetzung der Lektüre. Und mit einem interessierten, einem engagierten Leser rechnet dieses Buch – und es glaubt an ihn!

Zum Schluss sei noch einmal Balzac zitiert. Er lässt Porbus und Poussin im Atelier Frenhofers vor die Staffelei treten: »›Dort‹, fuhr Porbus fort und berührte die Leinwand, ›endet unsere Kunst auf Erden‹. ›Und von dort verliert sie sich in den Himmel‹, sagte Poussin.«

VOM KLASSIZISMUS
BIS ZUR GEGENWART

EIN STILGESCHICHTLICHER
LEITFADEN

Die Französische Revolution setzte im ausgehenden 18. Jahrhundert die unüberhörbaren Zeitzeichen einer neuen Epoche, indem sie die Tradition monarchischen Gottesgnadentums für nichtig erklärte, den Absolutismus zugunsten von Volksherrschaft und Republikanismus beseitigte. Allerdings zeichnete sich geistesgeschichtlich und künstlerisch ein radikaler Umbruch schon vorher, schon gegen 1750 ab, mit der vernunftbestimmten, gegen religiösen Aberglauben ankämpfenden Aufklärung, mit einem neuen psychologisch argumentierenden Subjektivismus, der – als Gegenpol gegen die zum Dogma erhobene Ratio – auch das Unbewusste und Irrationale im Menschen anerkennt, ferner mit einer neuen »Religion der Natur« (»Rousseauismus«) usw.

KLASSIZISMUS UND ROMANTIK (AB CA. 1750 UND AB CA. 1800)

Der Klassizismus ist kurz nach der Mitte des 18. Jahrhunderts als »akademischer« oder »archäologischer« Klassizismus in Rom entstanden. 1738 hatten Ausgrabungen in Herculaneum begonnen. Sie und die zehn Jahre später einsetzende Freilegung von Pompeji erweiterten die Kenntnis antik-römischer Malerei. Gleichzeitig propagierte der deutsche Theoretiker Johann Joachim Winckelmann ab 1755 den kulturellen Vorrang des antiken Griechenlands über das alte Rom und »infizierte« den Klassizismus mit dem Ideal der »edlen Einfalt und stillen Größe«. Jenes Leitmotiv entsprach in der Dominanz des Figurenbildes (wobei die Menschen verhalten agieren, kaum Emotionen zeigen), in der Reanimierung mythologischer Inhalte, im »Kult« antikischer Nacktheit, in der Bevorzugung »klassisch-edler« und »reiner« Materialien (in der Bildhauerei weißer Marmor und Bronze) dem hohen sittlichen Anspruch und dem Bildungsgedanken dieser Richtung. Die Baukunst huldigte einem antiken Repertoire (Säulenordnung, Tempelfronten, Proportionslehren usw.), verzichtete auf »malerische« Dekoration (im Inneren verschwinden die großen illusionistischen Fresken) und bevorzugte geometrisch-stereometrische Elemente.

Der »akademische« beziehungsweise archäologische Klassizismus wandelte sich gegen Ende des Jahrhunderts in Frankreich zum »revolutionären« Klassizismus (»Revolutionskunst«), der sowohl in der Malerei – mit dem Hauptvertreter Jacques-Louis David – als auch in der Architektur von einer teilweise rigiden Geometrisierung, immer aber von einem extremen Pathos getragen ist. Schnell freilich wich im Klassizismus die monumentalisierende Formensprache, die auch nach Russland und in die USA abstrahlte, einer bürgerlichen Intimität, sodass Querverbindungen zur Geisteshaltung der Romantik und ihrer Vorläufer möglich wurden.

In vielen Erscheinungen des Malerischen und Stimmungshaften, in einer Mittelaltersehnsucht und einer genussvoll ausgebreiteten Ästhetik des Verfalls (»Ruinenromantik«) bereitete sich gleichfalls seit der Mitte des 18. Jahrhunderts eine »Präromantik« aus, die ein paar Jahrzehnte später in eine Bewegung voller nervöser Energie mündete: In Deutschland bezeichnet man diese Phase als »Sturm und Drang«, mit der man europaweit auch phantastisch geprägte Bilder wie die eines Johann Heinrich Füssli oder William Blake kennzeichnet. Die Malerei schickte sich nun an, die Führungsposition in den bildenden Künsten einzunehmen.

Die Romantik ist, auch wenn eines ihrer Hauptzentren in Deutschland lag, eine gesamteuropäische Erscheinung seit dem späten 18. Jahrhundert. Obwohl die Bild-Verherrlichung Napoleons gelegentlich bereits über das Pathos von Form und Farbe zu einer Art Romantisierung führte, entwickelten sich die Anfänge der französischen Romantik kurz nach 1800 im Widerspruch zu dem von Bonaparte geförderten klassizistischen Stil des »Empire«. Das Werk eines Antoine-Jean Gros oder Théodore Chassériau belegt wie das der beiden Hauptvertreter, Théodore Géricault und Eugène Delacroix, wie sehr die französische Romantik die im übrigen Europa so bevorzugte Gattung der Landschaft beiseite ließ zugunsten des Historienbildes.

In der norddeutschen Romantik, in der Dresdener Schule, bei Caspar David Friedrich – weniger bei Philipp Otto Runge – spielte die Landschaft als Stimmungsträger, als »Empfindungslandschaft«, eine alles überragende Rolle. Die im Vergleich zu Friedrich und Runge künstlerisch heute geringer eingeschätzten »Nazarener« dagegen, der katholische Zweig der deutschen Romantik, legten ihrer angestrebten figurativ ausgerichteten Nationalkunst christlich mittelalterliche Traditionen zugrunde. Für die zumeist sentimentale Gestaltung ihrer nostalgischen und politisch konservativen Themen bevorzugten sie die linear geschlossene Form.

In wechselnder Intensität verbreitete sich die Romantik über ganz Europa, ja auch in den USA. Einige wenige große Einzelne an der Jahrhundertwende beziehungsweise in den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts, wie John Constable oder die überragende Ausnahmeerscheinung Francisco de Goya, waren stellenweise von der Romantik beeinflusst, ohne dass man sie jedoch dieser Strömung kategorisch zurechnen dürfte.

DAS FORTLEBEN VON KLASSIZISMUS, HISTORISMUS UND ROMANTIK IM 19. JAHRHUNDERT

Der Klassizismus hielt sich in der Architektur noch über weite Strecken des 19. Jahrhunderts, ebenso in der Bildhauerei und im Kunstgewerbe. Auf dem Sektor der Malerei garantierte das lange Wirken des gefeierten Klassizisten Jean-Auguste-Dominique Ingres eine entsprechende Kontinuität.

In den deutschsprachigen Regionen ist der nahtlose Übergang von der Romantik zum Biedermeier zu beobachten. Eine »neue Innerlichkeit« bestimmte hier die Malerei seit den 30erJahren, die nicht als klar formulierter Stil, sondern aus einer geistigen Haltung heraus zu erklären ist. Das Bescheiden-Einfache äußert sich in unpathetischen Kompositionen von kleinem Format für private Räume. Carl Spitzweg ist ein bekanntes Paradigma dieser Haltung.

Im letzten Jahrhundertdrittel zeigt sich Romantisches erneut mit Vehemenz. Zu nennen sind vor allem die Bilder eines Arnold Böcklin sowie die der anderen sogenannten »Deutschrömer«, nämlich eines Hans von Marées, Anselm Feuerbach, des jungen Max Klinger.

Wie in vielen sonstigen Kunstlandschaften, glitt auch in England die spätere romantische Malerei gerne in einen schwärmerischen Historismus und in einen damit verbundenen Eskapismus, eine »Flucht« vor den brisanten Zeitproblemen, ab und suchte in theatralischen Inszenierungen (in denen man sich mit der akademischen und der Salonmalerei des 19. Jahrhunderts traf), den nicht zuletzt aus handwerklicher Routine geborenen Verlust gedanklicher Tiefe auszugleichen. Allerdings war es vorher, circa 1800–1840, zu einem unvergleichlichen Aufschwung englischer Landschaftsmalerei gekommen. Sie verwandelte die objektiven Gegebenheiten des Naturvorbildes in eine Phänomenwelt des erlebenden Subjekts. Zu nennen wären beispielsweise John Crome, Richard Parkes Bonington oder John Sell Cotman. Sie alle gingen zumeist von der topographischen Wirklichkeit aus, tauchten diese aber in eine von Licht und Atmosphäre beherrschte malerische Textur. Im Unterschied zu den Lichtvisionen Claude Lorrains aus dem 17. Jahrhundert, die für viele von ihnen bewunderte Vorbilder waren, verzichteten sie auf eine metaphysische Interpretation derartiger Phänomene, vielmehr kennzeichneten sie diese als Ergebnis physikalischer Gesetze und als Resultat subjektiven Erlebens. Demgemäß öffneten sich von hier aus gleichermaßen die Wege zu einer eher romantischen wie zu einer eher realistischen Landschaftsmalerei. Aus dieser Schule der englischen Landschafts- und Aquarellmalerei wuchs auch das einzigartige Werk William Turners heraus, dessen in Farbe und Licht aufgelösten Bilder von John Ruskin, dem führenden Kunsttheoretiker der Romantik in England, 1843 in seinem Buch »Modern Painters« gegen Spötter verteidigt wurden.

In Frankreich hallt das romantische Echo noch in der Landschaftsmalerei der den Impressionismus vorbereitenden Schule von Barbizon (Théodore Rousseau, Camille Corot, Charles-François Daubigny und andere) oder in einigen, mit dem Namen Jean-François Millet (ebenfalls eng mit der Schule von Barbizon liiert) verbundenen Werken nach.

DER REALISMUS (AB 1840/50)

Mit der englischen Landschaftsmalerei um 1800, mit bestimmten Künstlern und Richtungen der Romantik und des Klassizismus, mit so manchem Einzelgänger an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, waren formal bereits ausgesprochen naturalistische Haltungen verknüpft gewesen, die um 1840/50 fortgesetzt und zum sogenannten Realismus intensiviert wurden.

Die Realisten verwahrten sich in der Regel gegen die Wiedergabe von Träumereien, Phantasien, Poesie und Imagination, was ihnen den Vorwurf des Materialismus eintrug. Die Grundüberzeugung lautet, der Künstler habe unbeschönigt die Wahrheit auszusprechen, was den Gegnern das böse Wort von der »Schule der Hässlichkeit« in den Mund legte. Der Künstler solle seine Motive nicht der Vergangenheit entnehmen, sich vielmehr als Augenzeuge um Gegenwärtiges kümmern – die intendierte »Immanenz« musste sich formal keineswegs in strikter Naturtreue spiegeln, sie konnte sich durchaus auch recht frei gehandhabter, stilisierender Gestaltungsprinzipien bedienen.

Die Sache war eher da als der Name. Denn erst 1855 hatte Gustave Courbet vor den Toren der Pariser Weltausstellung einen Pavillon aufstellen lassen, in dem er seine Bilder, die auf der Weltausstellung ausgeschlossen worden waren, zeigte. »Le réalisme« stand über dem Eingang des Pavillons. Bis ungefähr 1870 entwickelte sich der Realismus fast überall in Europa und Nordamerika zu einer beherrschenden Sprache. Massive, durch die bürgerliche und industrielle Revolution ausgelöste soziale Veränderungen, nicht zuletzt die Auswüchse einer rasant zunehmenden Urbanisierung, bildeten den gesellschaftlichen Nährboden realistischer Kunst. Die Beobachtung charakteristischer und den Alltag entlarvender Einzelheiten führte im Werk etwa eines Honoré Daumier oder Adolph von Menzel oft zu karikierenden oder parodistischen Zügen. In München vertrat der Kreis um Wilhelm Leibl (etwa Wilhelm Trübner, vorübergehend auch Hans Thoma) diesen Stil.

DER IMPRESSIONISMUS (AB 1874)

»Nennen Sie es einfach ›Impression‹ – Sonnenaufgang«, antwortete Claude Monet 1874 auf die Frage nach dem Bildtitel einer inhaltlich kaum noch zu erkennenden Hafenansicht aus seiner Hand. Die Kritiker Louis Leroy und Jules Castagnary griffen den Vorschlag auf und verwendeten ihn als Spottname für die »Impressionisten«, das heißt für all jene Künstler, die sich gegen die Normen der offiziellen Pariser Kunstausstellungen auflehnten. Von den zwischen 1874 und 1886 an den Gruppenausstellungen teilnehmenden Künstlern hat keiner die Ziele dieser Richtung, die heute so eindeutig vor Augen zu stehen scheinen, in Reinkultur verwirklicht.

Der im Zusammenhang des Impressionismus oft genannte Édouard Manet war als Anreger zweifellos von großer Bedeutung, stand aber immer in einiger Distanz zur Gruppe; das Lebenswerk von Edgar Degas, Henri de Toulouse-Lautrec und Auguste Renoir fällt, wie zu betonen bleibt, nur teilweise mit den impressionistischen Bestrebungen zusammen.

Die Impressionisten (genannt seien außer den bereits erwähnten nur noch die wichtigsten Repräsentanten: mit Einschränkungen Gustave Caillebotte und James Abbot McNeill Whistler, dann Berthe Morisot, Mary Cassatt, Camille Pissarro, Alfred Sisley, in Deutschland Max Liebermann, Lovis Corinth, Max Slevogt) setzten die Tendenzen des Realismus fort und korrigierten sie zugleich, indem sie ihr Interesse nicht nur auf die »greifbare« Gegenständlichkeit richteten, sondern auch auf das, was sich im spontanen Sehakt niederschlägt. Die dezidierte Umkehrung der akademischen Regel vom Vorrang der Linie über die Farbe, das von den Impressionisten fixierte Spiel des Lichts auf den Oberflächen der Dinge, ihre meist hellen, kräftigen Farbtöne bei freiem, lockerem Pinselstrich ohne vorbereitende Konturen dienen der direkten Umsetzung des Seheindrucks ins Bild. Angeregt durch japanische Farbholzschnitte und durch die von ihnen im 1861 eröffneten Atelier von Félix Nadar aufmerksam studierten Fotografien präsentieren viele Impressionisten Motive aus ungewohnten Perspektiven, schneiden diese an den Bildrändern ab oder überlagern sie im Sinne eines flüchtigen Ausschnitts.

In Italien hatten sich um 1855 in Florenz Künstler formiert, die »Macchiaioli«, die eine leicht und locker, in nebeneinander gesetzten Flecken hingetupfte Manier zur Wiedergabe der im Freien studierten Natur unter wechselnder Beleuchtung anwandten – ein dem französischen Impressionismus verwandtes Phänomen, wenn auch bei stets beibehaltener stärkerer Formkonstanz. Unter ihnen ragte Giovanni Fattori heraus. Erwähnenswert sind ferner Silvestro Lega und Telemaco Signorini. Sie alle verbinden eine lockere, duftige und dennoch klar strukturierte Mal- und Kompositionsweise mit einer an die gestalterische Kraft der Renaissance zurückerinnernden Klassizität. Aus dem Stil der »Macchiaioli« entwickelte dann der mit Manet befreundete Giuseppe de Nittis seine Formensprache in Richtung eines Impressionismus, der in seiner Konsequenz und seiner Qualität nach mit der französischen Hauptströmung konkordiert.

AUF DEM WEG ZUR MODERNE (AB DEN 1880ER-JAHREN)

Seit den 1880er-Jahren stellten die Pointillisten mit den beiden Hauptrepräsentanten Georges Seurat und Paul Signac den mittlerweile etablierten Impressionismus infrage. Dazu intensivierten sie die im Impressionismus bereits vorbereitete kleinteilige Farbzerlegung, im Wissen, dass sich die Farbpartikel nach den Komplementärgesetzen im Betrachterauge wieder zu einem Gesamteindruck vermischen. Das Wort »Pointillismus« bezeichnet treffend das Neue der daraus resultierenden Formensprache. Die Pointillisten reduzierten nämlich die Farbpartikel zu Punkten von nahezu rasterartiger Geschlossenheit. Deren Präzision verhindert jede psychische Spontaneität beim Malen von Bildern und bei ihrer Rezeption. Seurat nannte seine Methode »Chromo-Luminarismus«, Kritiker tauften sie »Neoimpressionismus«, »Divisionismus« oder eben »Pointillismus«.

Dieser verfiel allerdings keineswegs, wie man denken könnte, in eine Atomisierung der Bildwelt. Ganz im Gegenteil. Aus der engen Abfolge der Farbpunkte resultieren im Betrachterauge homogene Farbfelder, aus der Verkettung der Farbpunkte entsteht wieder eine harmonisch geschlossene Form – freilich eine souverän das Wirklichkeitsvorbild verfremdende. Der Weg zur modernen Autonomie der gestalterischen Mittel war somit eingeschlagen. Und dies taten noch radikaler und auf ganz anderem Wege drei Künstler, die man nicht umsonst als »Väter der Moderne« apostrophiert.

Paul Cézanne setzt beim Impressionismus an und geht sofort einen entscheidenden Schritt weiter, sodass er für manche Kritiker einerseits den Endpunkt der »traditionellen« abendländischen Kunstgeschichte, für andere den Beginn der Moderne in Richtung auf Abstraktion markiert. Während man Cézanne als einen Wegbereiter des Kubismus im 20. Jahrhundert betrachtet, gilt Vincent van Gogh als ein solcher des Expressionismus. Durch die Ausdrucksstärke der Farben und emotional bestimmte, expressive Farbkontraste versuchte er, seine subjektiven Eindrücke von Mensch und Natur in eine vollkommen persönliche Handschrift zu übertragen. Mit breitem, derbem Pinselstrich will er zu einer Synthese von Farbe und Linie gelangen. Paul Gauguin wiederum entwickelte zusammen mit Émile Bernard und anderen um 1886 im bretonischen Künstlerdorf Pont-Aven einen linien- und flächenbetonten Stil.

Schwingende, kraftvoll farbige Konturen, die sich zu rhythmischem Eigenleben verselbstständigen, umrunden in die Fläche gepresste, intensiv farbige Motive. Auf illusionistische Bildräumlichkeit ist völlig verzichtet, modellierendes Licht und Schatten spielen kaum noch eine Rolle. Die »Nabis« (außer Bernard vor allem auch Paul Sérusier, Maurice Denis, Kerr-Xavier Roussel, Paul Elie Ranson, Édouard Vuillard, Félix Vallotton – zeitweilig zudem der spätere Bildhauer Aristide Maillol) nahmen von hier ihren Ausgang und entwickelten zwischen 1888 und 1905 einen höchst dekorativen, von flächengebundener Farbigkeit (die ihre Darstellungswertigkeit weitgehend verlor) sowie vom Verzicht auf perspektivische Räumlichkeit geprägten Gruppenstil.

PRÄRAFFAELITEN UND SYMBOLISMUS (1848–UM 1900)

1848 wurde in London die Bruderschaft der Präraffaeliten gegründet (William Holman Hunt, John Everett Millais, Dante Gabriel Rossetti, assoziiert waren: Ford Madox Brown, William Dyce, Edward Burne-Jones, William Morris; die Bildhauer übergehe ich). Die Maler strebten Bildthemen an, die sie in mittelalterlicher Sage und Literatur, in der Bibel und in Shakespeare-Stücken vorformuliert glaubten; indes erschöpften sich ihre Ideale nicht in einer Vergangenheitsperspektive, sie setzten sich auch mit Gegenwartserscheinungen auseinander. Häufig diente die altertümliche und allegorische Einkleidung der Thematisierung namentlich sexueller und morbid-psychologischer Inhalte, die von der viktorianischen Moral tabuisiert waren. Mit der Betonung ornamentaler Details zählten die Präraffaeliten überdies zu den Wegbereitern des Jugendstils.

Und sie gliederten sich jener Bewegung ein, die man »Symbolismus« nennt. Erfahrungen, die man bevorzugt außerhalb der gültigen moralischen Normen suchte, spiegeln sich bei den Symbolisten vor allem in der Beschäftigung mit Liebe und Sexualität, thematisiert nicht zuletzt im Bild der Frau als »Femme fatale«, als anbetungswürdiges wie männermordendes Wesen, als Madonna, Eva oder Salome. Und ebenso gerne suchten Symbolisten wie Gustave Moreau, Odilon Redon, der Grafiker Aubrey Beardsley, die einstigen »Deutschrömer« Max Klinger und Arnold Böcklin, der Schweizer Ferdinand Hodler, der Norweger Edvard Munch, die Belgier Fernand Khnopff und James Ensor (viele andere Maler wären in diesem Zusammenhang noch aufzuführen, auch solche aus Russland) ihre Träume in der meditativen Versenkung und letztlich im Tod.

FIN DE SIÈCLE UND JUGENDSTIL (UM 1900)

Jahrhundertende, Jahrhundertbeginn: Geburt eines neuen Stils. »Jugendstil« nannte man ihn in Deutschland, »L’Art Nouveau« in Frankreich und Belgien, »Modern Style« in England, »Stile Liberty« in Italien, »Stile moderniste« in Spanien, »Sezessionsstil« sagte man in Österreich. Eine internationale Rebellion der späten achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts war es gegen die erstarrten Traditionen der Kunstakademien. Neue, fließende, organisch geschwungene Formen, der Natur abgeschaut und dann dekorativ stilisiert, neue Inhalte, auf menschliche Kreativität bezogen, die Verschmelzung von Kunst, Industrie, Handwerk und Leben – das waren die Ziele von jungen Malern, Grafikern und Architekten. Das alle Gattungen übergreifende Gesamtkunstwerk wurde zu ihrer Leitvorstellung: Von der Baukunst über die Malerei zu Graphik, zu Plakat und Buchkunst, von Möbeln und sonstigen Inneneinrichtungen bis zu Mode und Schmuck erstreckte sich das Repertoire. Deswegen suchte man die Aufhebung der Grenzen von Kunsthandwerk, Design und »hoher« Kunst.

Die Jugendstil-Malerei (zum Beispiel Gustav Klimt in Wien oder der freilich auch dem Symbolismus zugerechnete einflussreiche Franz von Stuck in München, ebenfalls der auch als Maler tätige belgische Architekt und Designer Henry van de Velde) und -Graphik, die sich, oft in enger Verwandtschaft mit dem Symbolismus, in den Neunzigerjahren rasch ausbreitete, hielten bei allen Unterschieden im Einzelnen in der Regel an der Flächigkeit des Bildaufbaus, der Betonung der Silhouettenwirkung, der Vereinfachung der Formen, der Reduzierung des Kolorits auf wenige klare Töne und an der Dominanz der Linie fest. Viele dieser Merkmale gingen in der Moderne des 20. Jahrhunderts fast nahtlos in den frühen abstrakten Expressionismus eines Kandinsky über und mündeten vor allem in das Art Déco der Zwanziger- und Dreißigerjahre.

DER FAUVISMUS (1905–1911)

1905 provozierte eine Schar junger Künstler das inzwischen an Impressionismus und Pointillismus gewöhnte Pariser Publikum. Ein Kritiker nannte sie »les Fauves«, die »Wilden«; allen voran Henri Matisse, Georges Rouault, Maurice Vlaminck und André Derain. Ein Jahr später komplettierten unter anderen Georges Braque und Raoul Dufy den freilich recht kurzlebigen Fauvismus.

Die Eigenheit der Fauves darf man zusammenfassen als eine farbenreiche, großflächige und aufs abstrahierende Vereinfachen bedachte Malerei. Zumeist ist das aus ungemischten Tönen zusammengesetzte Kolorit von höchster Intensität. Die Farbe ist nicht länger an die Aufgabe naturalistischer Dingbeschreibung gebunden und vermag deshalb die Kraft ihres Ausdrucks ungeheuer zu steigern. Manchmal fassen straffe Linien die Farbflächen zusammen, oft verlaufen sie aber locker und approximativ, so dass nicht immer eine systematische Umrandung entsteht: Sie dienen eher der markanten Hervorhebung als der Isolierung. Die Faszination, die die schwarzafrikanische und ozeanische Kunst auf die Repäsentanten dieses Stils ausübte, bestärkte die Fauves in dem Ziel, mit scheinbar einfachsten Mitteln dekorative Reize zu erzeugen. Wenn der Bildrhythmus es notwendig machte, griff man zur Deformation, gleichermaßen zur »Irrealität« von Raumbeziehungen.

DER EXPRESSIONISMUS (1905ff.)

1905 gründeten Fritz Bleyl, Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff in Dresden die Künstlergruppe »Die Brücke«. 1906 schloss sich Max Pechstein der Gruppe an sowie Emil Nolde, der aber nach eineinhalb Jahren wieder austrat. 1910 stieß Otto Mueller hinzu. Sie alle gaben sich vor allem postimpressionistischen und fauvistischen Eindrücken hin und solchen, die sie vor mittelalterlichen Holzschnitten gewannen. Und sie alle waren fasziniert von der Kunst der Südseevölker und Schwarzafrikas. Die massiven Konturen, der eckige Figurentypus, die maskenhaften Gesichter und die lebhafte Haltung der Gestalten in ihren Bildern rühren zum Teil daher. 1911 ging die Gruppe nach Berlin. Herwarth Walden hatte hier eben die Galerie »Sturm« gegründet und mit der Herausgabe der gleichnamigen Zeitschrift begonnen. Einer der Redakteure war Oskar Kokoschka, der, zusammen mit Egon Schiele, maßgeblich den österreichischen Expressionismus repräsentiert.

Die süddeutsche Version des Expressionismus bildete der »Blaue Reiter« in München, der sich 1911 um Wassily Kandinsky und dessen Freundin Gabriele Münter, um Franz Marc und den Grafiker Alfred Kubin gruppierte. Auch August Macke beteiligte sich. In Marcs Artikel »Die neue Malerei«, erschienen im März 1912 in der Zeitschrift »Pan«, ist die Forderung erhoben, die innere, geistige Seite der Natur malerisch aus den Fesseln des Sichtbaren zu lösen. Es war Kandinsky, der dies tat, indem er als einer der ersten europäischen Künstler den Weg zur Abstraktion einschlug.

1924 schlossen sich Lyonel Feininger, Kandinsky, Paul Klee und Alexej von Jawlensky zur Gruppe »Die Blauen Vier« zusammen, die Ideen aus der Münchner Zeit an das »Bauhaus« weiterreichten. Zwar war der Expressionismus in erster Linie der kardinale Beitrag der deutschen Kunst zur Moderne, seine Tendenzen fanden aber durchaus auch in Belgien und den Niederlanden und mit den Malern Georges Rouault und Chaim Soutine auch in Frankreich Parallelen.

Aus den »Stahlgewittern« des Ersten Weltkrieges ging nicht der vom Expressionismus ersehnte »neue Mensch« hervor, vielmehr zog eine geschlagene Armee heimwärts in eine durch Hunger und Inflation erschütterte Republik. Otto Dix, Max Beckmann und George Grosz, die alle vom Expressionismus ausgingen, um sich dann dem Dadaismus, schließlich dem Verismus zuzuwenden, setzten sich intensiv und stets gegenstandsbezogen mit der schockierenden Realität der menschlichen Wracks, der Kriegskrüppel und Kriegsgewinnler, der Huren und neuen Demagogen auseinander.

KUBISMUS UND ORPHISMUS (1907ff.)

Den Auftakt zum Kubismus gab, so zumindest die verbreitete Ansicht, ein einziges Bild: Pablo Picassos 1907 vollendetes Schlüsselwerk der Moderne Les Demoiselles d’Avignon (New York, Museum of Modern Art). Es zerstörte nicht nur radikal alle bisherigen Sehgewohnheiten, es bot über alle Provokation hinweg auch die programmatische Möglichkeit, innovative Formprobleme anzugehen. 1907 lernte Picasso Georges Braque kennen. Dieser stellte 1908 in der Pariser Galerie Kahnweiler geometrisch vereinfachte Bilder aus, für die ein Kritiker die Bezeichnung »Cubes« verwendete. Der Kubismus hatte seinen Namen gefunden.

Der bis 1912 dauernde sogenannte »Analytische Kubismus« verschmolz in einer von mehreren Seiten zugleich gebotenen Ansicht der Dinge Form und Raum zu einem System aus Facetten, das das Gegenständliche schon weitgehend auflöste und abstrahierte. An die Stelle früherer Perspektivik trat ein Gefüge einander sich durchdringender und überschneidender Flächen. Die Farbe verzichtete auf atmosphärische Wirkungen und beschränkte sich auf eine braun-grau-blaue Grundskala. 1911 fügten Picasso und Braque auch Zahlen, Wortfragmente usw. in ihre Kompositionen ein.

Die Fortsetzung des analytischen, der »Synthetische Kubismus«, begann 1912. Seine wichtigste Innovation betraf die Anwendung der Collage: Braque klebte 1912 erstmals ein »papier collé«, ein Tapetenstück, als Realitätsfragment in ein Früchtestillleben ein. Die mit Abstand wichtigsten Künstler, die inzwischen zu den Kubisten gestoßen waren, sind Juan Gris und Fernand Léger.

Schon 1911 war jedoch eine weitere Version des Kubismus ins Leben getreten, der Orphismus von Robert Delaunay. Der für die Klassische Moderne so immens einflussreiche Delaunay ging vom Kubismus aus, doch störte ihn das Marginale der Motive, an denen dessen Formzersplitterung exemplifiziert wurde. Ihn zogen die Bewegungsstrukturen der Großstadt, ihre Simultaneität, das elektrische Licht, neue Zeit- und Raumperspektiven in Bann, die er in eine dynamische, exquisite, zunehmend abstrahierte Farbmalerei einfließen ließ.

DER FUTURISMUS (1909ff.)

Auch der italienische Futurismus liebte die Straße, die Stadt, das elektrische Licht, die Rasanz des modernen Verkehrs; für die künstlerische Umsetzung bedienten sich die Futuristen eines dynamischen Linienstakkatos, der Simultaneität der gezeigten Sujets und Ereignisse sowie der Durchdringung der Bildebenen. Durch diese sollte zu den drei räumlichen Dimensionen die Dimension der Zeit hinzutreten.

1909 hatte der Dichter Filippo Tommaso Marinetti in der Pariser Zeitung »Le Figaro« das »Manifest des Futurismus« veröffentlicht, das unter anderem den Krieg – »diese einzige Hygiene der Welt« – verherrlicht. Die fünf stärksten künstlerischen Talente, die die Position der futuristischen Malerei vertraten, waren Umberto Boccioni, Carlo Carrà, Luigi Russolo, Giacomo Balla und Gino Severini. Formal lehnten sich die Futuristen an die analytische Dingzerlegung des Kubismus an, farblich huldigten sie dem Divisionismus (Pointillismus). Ehe der Futurismus zur Zeit Mussolinis peinlich verödete, hatte er sich, seit 1912, als eine der einflussreichsten Strömungen über ganz Europa verbreitet und zum Beispiel in Russland um 1913 kurzfristig den sogenannten Kubo-Futurismus (Rayonismus) entstehen lassen.

DIE GEOMETRISCHE UND DIE »PHILOSOPHISCHE« ABSTRAKTION
(CA. 1913ff.)

Die frühe Moderne erlebte eine Reihe von sehr unterschiedlich benannten und international verflochtenen Strömungen, die das Kunstwerk nicht mehr länger als individuelle und subjektive Schöpfung behandeln wollten, sondern als Resultat eines kollektiven Werkgedankens in Analogie zur industriellen Produktion. Kreatives Leitbild war nicht der Künstler, sondern der Ingenieur. Die Strategien in den einzelnen Ländern waren unterschiedlich, das ersehnte »konstruktivistische«, abstrakt-geometrische Ziel jedoch relativ identisch. Als 1917 die Revolution den Sieg über den Zarismus davongetragen hatte, beteiligten sich die russischen Avantgardekünstler, wie Wladimir Tatlin, mit Emphase am Aufbau einer neuen Ordnung, und über El Lissitzky beeinflusste der russische den gesamten europäischen Konstruktivismus und nicht zuletzt das deutsche »Bauhaus«.

Ebenfalls in Russland entstand um 1913 auf Initiative Kasimir Malewitschs der »Suprematismus«. Anders als der Konstruktivismus wollte hier das geistige Prinzip der Erfahrung, die geistige Durchdringung der Welt mithilfe der Ästhetik die Oberhand (Suprematie) über ein rein utilitaristisches Gestalten, über industrielle Fertigung und über jeglichen Produktfetischismus triumphieren.

Die 1917 gegründete holländische »Stijl«-Bewegung war nicht weniger philosophisch universalistisch ausgerichtet als Malewitsch und sein Suprematismus. Die führende Gestalt der Gruppierung war der ebenso wie sein russischer Kollege von esoterischen Ideen erfüllte Piet Mondrian, der die Malerei auf eine elementare kosmologische Harmonie zurückführen wollte, indem er nur gerade Linien, die Vertikale und Horizontale, den rechten Winkel, sowie die Primärfarben Blau, Rot und Gelb und die Nichtfarben Schwarz und Weiß gelten ließ. Der Einfluss von Mondrians »Neoplastizismus« und der damit nicht in jedem Punkt konformen »Stijl«-Bewegung (vor allem auch die Auswirkungen der Kunst Theo van Doesburgs) wirkte sich hauptsächlich auf die Architektur der 20er-Jahre aus.

1919 gründete der Architekt Walter Gropius das »Bauhaus« in Weimar (1925 nach Dessau, 1932 nach Berlin verlegt, von den Nazis aufgelöst). Inspiriert vom anonymen Gemeinschaftswerk mittelalterlicher Bauhütten, sollte eine Synthese von Architektur, bildender Kunst und Handwerk vollzogen werden. Hochrangige Künstler unterschiedlichster Sparten wurden deshalb hier als Lehrer zusammengezogen, stilistisch herrschte die geometrische Abstraktion oder eine sich auf diese Richtung hinbewegende, hochgradig stilisierte Figuration vor, wie sie etwa Oskar Schlemmer vertrat.

DADAISMUS UND MARCEL DUCHAMP (1916ff.)

Der Dadaismus, dieser kulturelle Nihilismus, diese provokante Antibewegung gegen alle Versionen einer sich als »ewiges« Kulturgut beweihräuchernden Literatur und bildenden Kunst, dieser Abgesang auf jeden Fortschrittsoptimismus der modernen Gesellschaft ist nur aus der Tatsache heraus zu verstehen, dass er 1916, also mitten im großen Krieg, entstand, und zwar in der neutralen Schweiz, in Zürich, dann wie ein Lauffeuer 1918 aufs besiegte Deutschland übergriff und sich schließlich ins Frankreich der Jahre 1919/20 ausbreitete, als der wie ein Messias erwartete Literat und maßgebliche Wortführer der Bewegung, der Rumäne Tristan Tzara, dorthin übersiedelte.

Die Dadaisten waren die ersten Künstler des 20. Jahrhunderts, die bewusst Anti-Kunst betreiben wollten. In diesem Sinne hatten sich etliche Emigranten 1916 im »Cabaret Voltaire« in Zürich zusammengefunden. Dada war die anarchistische Empörung über das Völkermorden des Ersten Weltkriegs sowie über jene »Zivilisation, die das hervorgebracht hatte« (Max Ernst). Der Dadaismus hielt es mit dem Absurden, der Verfremdung, er veranstaltete chaotische und das Spießbürgertum schockierende Happenings, verwendete Flugblätter, Plakate und Reklamezettel, vor allem auch das Medium der Collage und der Fotomontage.

In Berlin trat Dada ab 1918 in Erscheinung, und zwar politisch aggressiver als anderswo, man denke an George Grosz und John Heartfield. In Hannover erhielt er durch Kurt Schwitters ein ganz eigenes Gesicht. Keiner aber hat die Skepsis gegenüber der herkömmlichen Kunst so weit getrieben (nicht zu vergessen ist freilich Francis Picabia) wie der Franzose Marcel Duchamp, der Begründer der Objektkunst, der »Readymades«: das Fahrrad-Rad, das er 1913 auf einen Hocker montierte, der Flaschentrockner von 1914, die Fontäne – ein Pissoirbecken, das er 1917 für eine Ausstellung einreichte, schockierten das Publikum. Mit Duchamp beginnt die Frage, die die Kunst ab jetzt nie mehr loslassen wird: Was ist denn eigentlich noch Kunst? Welche Aufgaben kann sie in der Neuzeit überhaupt noch wahrnehmen? Ist sie gar an ihrem Ende angelangt?

PITTURA METAFISICA UND SURREALISMUS (1911ff.)

Ab etwa 1911 entstanden die Bilder des Italieners Giorgio de Chirico, die unter dem Sammelbegriff »Pittura metafisica« bekannt wurden: Formal sind sie der Renaissance verpflichtet, inhaltlich jedoch jenen poetisch-beklemmenden Traumsituationen und rätselhaften irrealen Welten, die durch die Psychoanalyse erschlossen wurden und zum Surrealismus hinführten.

1924 fand in aller Form die Gründung der surrealistischen Gruppe in Paris statt, womit eine Übergangszeit von drei, vier Jahren, von Louis Aragon als »Mouvement flou« eingestuft, ihren Fokus fand. Einen Namen für die Bewegung hatte man ja schon, seit Guillaume Apollinaire 1917 revolutionären dichterischen Tendenzen statt des philosophisch vorbelasteten »Surnaturalismus« die Bezeichnung »Surrealismus« verlieh.

In eben jenem Jahr 1924 wurde das erste Manifest des Surrealismus veröffentlicht, in dem Sigmund Freuds Theorien vom Unbewussten, die Rolle sexueller Fantasien, alle potentiell kreativen Triebkräfte als Mittel und Ziel der Kunst proklamiert wurden. Der Surrealismus, der mit dem spanischen Filmregisseur Luis Buñuel und mit Malern wie Salvador Dalí, Max Ernst, Joan Miró, René Magritte, Yves Tanguy und vielen anderen wahre Kultfiguren des 20. Jahrhunderts hervorbrachte, ist der, was weltweite Verbreitung und Lebensdauer betrifft, sicherlich erfolgreichste Stil der Moderne geworden.

Zwar entstand er in Paris aus dem Zusammenschluss von nur zehn Leuten, indes blieb er nicht auf eine Pariser Clique oder auf Frankreich beschränkt, sondern wuchs unaufhörlich und gewann bald in England, Belgien, Spanien, der Schweiz, Deutschland, der Tschechoslowakei, Jugoslawien, in Afrika, Asien (Japan), Amerika (Mexiko, Brasilien, USA) zahlreiche Anhänger. Im Januar und Februar 1938 nahmen schon Künstler aus vierzehn Ländern an der internationalen Surrealisten-Ausstellung in Paris teil. Keine Künstlergruppe zuvor war derart international.

Der Surrealismus schob in radikalster Weise die ästhetischen Grenzen von Literatur, Malerei, Bildhauerei, Film und Fotografie in Neuland vor. Unter der Prämisse, alles könne zum legitimen Stoff des kreativen Schaffensprozesses werden, verwandelte sich – in einer an die Romantik, insbesondere an die deutsche Romantik um 1800 erinnernden Konsequenz – das Banale ins Wunderbare, das Harmlose ins Fantastische.