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Planetenroman

 

Band 6

 

Im Zentrum der Nacht

 

Im Auftrag einer Superintelligenz – der Mann mit der Maske soll ein Sternenvolk retten

 

Robert Feldhoff

 

 

 

Im fünften Jahrhundert Neuer Galaktischer Zeitrechnung: Alaska Saedelaere, der Mann mit der Maske, ist mit der Galaktischen Flotte in einer weit entfernten Galaxis unterwegs. An Bord des Trägerraumschiffes BASIS erhält er einen Auftrag von kosmischer Bedeutung.

Die Superintelligenz ES schickt ihn in den Kugelsternhaufen Bormeen. Die dort lebenden Wesen werden von einer ungeheuren Macht bedroht: Unbezwingbare Raumschiffe greifen ihre Welten an und lösen diese buchstäblich auf.

Saedelaere gelingt es dank der Hilfsmittel der Superintelligenz, den Kampf gegen die mysteriöse Macht aufzunehmen. Doch er muss erkennen, dass seine Gegner ihre Pläne schon vor urdenklichen Zeiten geschmiedet haben ...

Prolog

 

Die Geschichtsschreibung nimmt allgemein an, dass die Menschheit erst im Jahr 1312 Neuer Galaktischer Zeitrechnung zum ersten Mal mit dem Begriff »Die Fernen Stätten« konfrontiert wurde. Mit diesem Ausdruck bezeichnet man einen bis dahin unbekannten Teil der Mächtigkeitsballung der Superintelligenz ES, der in einem fernen, den Menschen unzugänglichen Bereich des Universums liegt.

Bis dahin hatte man allgemein angenommen, dass der Einflussbereich des Geistwesens sich auf die Lokale Gruppe beliefe – eine Annahme, die nicht zuletzt auf mit anderen Superintelligenzen gemachte Beobachtungen zurückging. Deren Einflussbereich erstreckte sich immer nur auf einen bestimmten, meist klar abgegrenzten Teil des Kosmos.

Rückblickend hingegen kommt einigen isolierten Berichten aus früheren Zeiten der Menschheitsgeschichte nun größere Bedeutung zu. Immer wieder schon hatte es Hinweise gegeben, dass sich das Wirken von ES keineswegs nur auf die Lokale Gruppe beschränkte, sondern auch andere, deutlich weiter entfernte Galaxien einbezog.

Eine wichtige Rolle in diesem Zusammenhang spielt ein bislang kaum bekannter Bericht von Alaska Saedelaere aus dem April 426 NGZ. Wie im Vorläuferband ausführlich behandelt, stand die Galaktische Flotte zu diesem Zeitpunkt in der unmittelbaren Umgebung des Frostrubins. Die Terraner und ihre Verbündeten waren mit der Erforschung dieses zu jenem Zeitpunkt noch unerklärten kosmischen Phänomens beschäftigt, das so direkt an die drei Ultimaten Fragen geknüpft schien. Die kosmischen Enthüllungen, die sich dem Ereignis kurz bevorstehenden Sturz in den Frostrubin, dessen Moment sich an die im Folgenden geschilderten Geschehnisse anschloss, sind zur Genüge bekannt.

Weniger bekannt ist allerdings, dass ein Kugelsternhaufen namens Bormeen zum direkten Einflussbereich von ES zu gehören scheint oder doch zumindest damals zu gehören schien. Über die Position von Bormeen in Relation zum Rest der Mächtigkeitsballung ist nichts bekannt, aber das große Interesse, das ES an diesem abgelegenen Teil des Universums hatte, lässt auf eine gewisse Wichtigkeit schließen. Man darf also zumindest darüber spekulieren, dass Alaska Saedelaeres Erlebnisse in Bormeen in der Tat den ersten direkten Kontakt der Menschheit mit den Fernen Stätten darstellten.

Bei der neuerlichen Lektüre dieser Aufzeichnungen sieht sich der Chronist zu zwei Anmerkungen veranlasst:

Zum einen geht aus den Aufzeichnungen des Maskenträgers klar hervor, wie sehr er unter seinem Dasein als Träger des Cappinfragments litt und wie glücklich er war, als er, wenn auch nur kurzfristig, eine Daseinsform fand, die ihn von den damit verbundenen Zwängen befreite. Poetischer veranlagte Gemüter als dieser Chronist mögen es sicherlich als Ironie des Schicksals empfinden, dass Saedelaere weniger als einen Monat später beim Sturz durch den Frostrubin seines Cappinfragmentes verlustig ging.

Zum anderen nimmt es wunder, dass die ursprüngliche Datei eine andere Datierung aufweist als die, zu der sich die Geschehnisse tatsächlich zugetragen haben. Diverse Hinweise in Saedelaeres Aufzeichnungen erwähnen die Zweite Pforte des Loolandre, siedeln die Geschehnisse also im April 427 NGZ an, fast ein Jahr nach dem tatsächlichen Datum.

Zu diesem Zeitpunkt war Saedelaere schon lange kein Maskenträger mehr. Diese Datierung kann also nicht stimmen.

Wieso ist dies so? Hat ES die Erinnerung des Maskenträgers nach seiner Rückkehr aus Bormeen manipuliert? Wenn ja, warum? Liegt hier eine komplexe Wechselwirkung mit den verschobenen Wirklichkeiten im Umfeld der Vier Pforten des Loolandre vor?

Oder müssen wir darin einen Hinweis sehen, dass sich die Fernen Stätten, wie aufgrund der komplizierten Strangeness-Verhältnisse schon spekuliert wurde, nicht oder doch zumindest nicht komplett im Standarduniversum befinden?

 

(Aus: Hoschpians unautorisierte Chronik des 14. Jahrhunderts NGZ; Kapitel 3.3.1, Die Fernen Stätten: Vorwissen der Galaktiker)

Teil eins: Zauberer

 

1.

 

»Alaska Saedelaere!«

Die Stimme war nur ein Hauch, doch der Mann mit der Maske saß schon beim ersten Ton unwillkürlich stocksteif.

»Komm, Alaska Saedelaere ...«

Er begriff, dass die geflüsterten Worte direkt in seinem Geist entstanden. »Was ist?«, stieß er hervor. »Wo bist du, und vor allem: Wer bist du?«

Die Pilotin seiner Space-Jet schaute von den Kontrollen auf und warf ihm einen überraschten Blick zu. »Ich verstehe nicht ... Mit wem sprichst du, Alaska?«

Wie durch einen Schleier sah er, dass sich ihre Züge umwölkten. Es war das alte Spiel, dachte Alaska, er war der Mann mit der Maske, der Ausgestoßene. Innerlich misstraute sie ihm. Er hatte kein Gesicht, dessen Mienenspiel Aufschluss gab, und der Anblick des Cappinfragments war tödlich für jedermann. Während seines Transmitterunfalls im Jahre 3428 war er mit einem Cappin zusammengestoßen – als Andenken trug er diesen Klumpen im Gesicht, der sich wohl niemals lösen würde.

»Achte nicht auf mich«, bat Alaska. »Es galt nicht dir.«

»Kann ich helfen?«

»Nein, bestimmt nicht«, antwortete er, so deutlich er im Augenblick noch konnte. »Das geht nur mich an.«

»Alaska Saedelaere!« Erneut sprach die Stimme, die er hätte kennen müssen und deren Herkunft ihm doch nicht bewusst wurde ... »Komm, ich brauche dich.«

»Was willst du von mir?«, rief er in Gedanken, während sein dürrer Körper nach wie vor steif im Sessel hockte. Für Entspannung war jetzt nicht die Zeit, gewiss nicht. Kaum etwas hätte ihn derzeit bewegen können, seine absolute Konzentration aufzugeben.

»Weißt du das nicht? Ich habe es dir eben gesagt, ich brauche dich, Mensch.«

Das Wort Mensch hatte einen besonderen Klang. Es war leicht, seine Zugehörigkeit zu vergessen, wenn man sich als ausgestoßen fühlte. Ein paar Jahrhunderte waren vergangen, doch mit dem Cappinfragment hatte er sich im Grunde nie wirklich arrangiert. Das machte die Stimme deutlich, und eine Sekunde lang hasste er sie dafür.

»Wohin soll ich kommen?« Der Transmittergeschädigte atmete schwer.

»Du wirst es wissen«, sprach die Stimme. »Folge deinem Instinkt.«

»Gib mir Informationen!«, forderte er. »Oder einen Hinweis zumindest!«

Überall war Stille, sowohl in seinem Kopf als auch im Steuerraum der Space-Jet. Die Pilotin regte sich nicht. Kein Indiz wies darauf hin, dass er einer Täuschung zum Opfer gefallen war, und Alaska fragte sich mit leiser Selbstironie, wie es um seine geistige Gesundheit stand. Auf dem Panoramaschirm huschten dünne Schlieren vorüber. Es waren Einheiten der Galaktischen Flotte, die aus irgendwelchen Gründen rasche Korrekturmanöver flogen. Nichts, worum er sich sorgte – und nichts, was augenblicklich geholfen hätte.

Er musste der Tatsache ins Auge sehen: Wenn es eine Möglichkeit gab, die Herkunft der Stimme zu klären, so bestand sie darin, dem Ratschlag des unbekannten Sprechers zu folgen. Er musste seinem Instinkt vertrauen. O ja, sein Instinkt. Darauf zumindest konnte er stolz sein. Alaska Saedelaere, der kosmische Mensch, der Mann mit Instinkt.

Er lachte bitter. Durch den Mundschlitz der Maske drangen dumpfe Laute.

»Alaska!«

Er sah die Pilotin verständnislos an.

»Was ist los, Alaska? Soll ich auf Kurs bleiben?«

War da nicht verborgener Abscheu in ihren Worten? Nein, nicht mehr als sonst. Es gab Probleme genug, und er durfte nicht noch durch seine Einbildung alles schlimmer machen.

Mühsam konzentrierte er sich. »Dieser Kurs bringt nichts ein, wir fliegen besser zurück zur BASIS. Ich hatte Kontakt mit irgendetwas. Ich weiß auch nicht; jedenfalls ist unsere Mission hier beendet.«

Die Pilotin führte ihre Space-Jet in weitem Bogen zum Mutterschiff. Augenblicklich hatte die Galaktische Flotte Position in der Nähe des Frostrubins bezogen. Der Frostrubin, das war letztlich nicht mehr als ein materieloser Abschnitt im Zentrum der kosmischen Wüste, in der sie sich befanden, der die Form einer Scheibe besaß. Diese hatte einen Durchmesser von 2000 Lichtjahren und war einhundert Lichtjahre hoch. Seit etwa einem Monat waren sie nun hier, zusammen mit einer ungeheuren Ansammlung fremder Raumschiffe.

Die rätselhafte Flottenansammlung reichte bis weit in die Tiefen des Raumes, ihre Grenzen ließen sich nicht bestimmen. Ab einer gewissen Entfernung löste sich das Bild in einem diffusen Nebel auf. Das konnte auf geschickt aufgebaute Ortungsstörfelder zurückzuführen sein, aber es konnte auch durch die Ausdehnung dieser unheimlichen Verbände ausgelöst werden.

Die Lage war gespannt, und es war schon zu einigen kleinen Konflikten gekommen. Alaska selbst war mit der SODOM auf einem Erkundungsflug gewesen. Er hatte Kontakt mit den Cygriden der Armadaeinheit 176 aufgenommen und war erst vor drei Tagen wieder bei der BASIS eingetroffen.

Aber der Offensivschlachtkreuzer war ihm ein zu hektischer Ort gewesen, auf dem er sich nicht konzentrieren konnte, sich nicht wohlfühlte. Und mit Clifton Callamon, dem Kommandanten, war er überhaupt nicht zurechtgekommen.

Also hatte Alaska danach eben jenen Instinkt, von dem die sonderbare Stimme gesprochen hatte, ausnutzen wollen, um einige hilfreiche Aufschlüsse zu gewinnen. So war er also losgeflogen, weit in die Ruhezone abseits der großen Schiffsverbände. Und die Botschaft hatte ihn dabei gestört.

Nun sah es nicht mehr aus, als sollte er bei der Erforschung des Frostrubins eine große Hilfe sein. Er hatte ohnedies kaum daran geglaubt, sondern lediglich einer Bitte der Schiffsführung entsprochen.

Die Pilotin sah nicht mehr in seine Richtung. In ihrem Gesicht spiegelten sich Unbehagen und auch ein wenig Furcht, was begreiflich war. Nicht allein die potenziellen Gefahren des unbekannten und unerklärlichen kosmischen Phänomens und der vielen fremden Raumschiffe, die es umgaben, machten ihr zu schaffen, sondern auch sein undurchschaubares Verhalten.

Fast gemächlich steuerten sie die Öffnung an, die der Hangarmeister ihnen zugewiesen hatte. Dabei hatte er es eilig, ihm brannte die Zeit unter den Nägeln. Vertraue deinem Instinkt ... Dies war leichter gesagt als getan, weil niemand besser wusste als er, welch ein unsicherer Genosse der menschliche Instinkt sein konnte.

Gefühle ließen sich nicht herbeizwingen. Man hatte sie oder kam ohne aus. Vollkommen rational eben – wobei er Letzteres bevorzugte, wenn ihm die Wahl offenstand.

Aber wer hatte die Wahl?

Was konnte er schon tun als herumlaufen und nach irgendeiner Art von Inspiration Ausschau halten? Ganz klar, er musste zumindest die Mutanten fragen, ob ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen war. Doch eine innere Stimme sagte ihm, dass er sich die Mühe sparen könne.

Er fand Gucky und Fellmer Lloyd, die beiden Mutanten an Bord der BASIS, in einem schmalen Raum, der dem Zentralesektor angegliedert war und den Mutanten manchmal zum Aufenthalt diente. Als Träger des Cappinfragments gehörte er selbst lose zu ihrer Gruppe.

»Hallo, Alaska! Erfolg gehabt?«

»Hallo«, gab er lahm zurück. »Kein Erfolg, nein.«

»Du hast nicht daran geglaubt. Du konntest auf die Art keinen Erfolg haben, denke ich.«

»Mag sein, Fellmer. Trotzdem, erzwingen lässt sich nun mal nichts.«

»Hm.«

Er sah, dass Lloyd seine Worte in Zweifel zog, aber nicht weiter darüber diskutieren wollte. »Irgendwelche besonderen Vorkommnisse?«, fragte er so harmlos wie möglich. Etwas hinderte ihn daran, den schwer erklärlichen Vorgang zu erwähnen. Sonderbar.

Alaskas Stimme tönte hohl wie stets durch den Maskenschlitz, und seine Züge, die ungewollt verräterisch hätten wirken können, lagen tief unter der Maske und dem Cappinfragment verborgen. Blieb nur die Gestik, und die kontrollierte er gut.

Trotzdem kam Lloyd misstrauisch hoch. »Vorkommnisse? Wie meinst du das, Alaska?«

»Nur so, du weißt ja, der Frostrubin macht uns allen Sorgen. Wenn etwas geschieht, werdet ihr Mutanten es als Erste merken.«

»Und du glaubst, dass wir jetzt etwas hätten bemerken sollen?« Das Misstrauen war noch immer nicht aus Lloyds Miene gewichen. Ihn hätte die Stimme ansprechen sollen; der andere besaß zehnmal mehr Instinkt, als Alaska derzeit aufbringen konnte.

»Nein, nein«, gab er zurück; womöglich eine Spur zu hastig. Doch seine holprige Sprechweise täuschte darüber hinweg, und Lloyd hätte den Gedankeninhalt eines alten Freundes niemals angetastet. So etwas brachte nur Gucky fertig. Der Mausbiber allerdings schien gerade mit anderen Dingen beschäftigt.

Alaska entfernte sich rasch und suchte die Zentrale des Fernraumschiffes auf. Die Wahrheit war ihm wie heißes Blei an der Zunge kleben geblieben. Ausgerechnet jetzt, in der kritischen Phase, die der Frostrubin und die zahlreichen Raumschiffe, die zur Endlosen Armada gehörten, dem Sammelbegriff für die ehemaligen Wacheinheiten des kosmischen Objektes, ihnen zweifellos bescheren würden ...

Er handelte grob fahrlässig, so viel war klar. Vielleicht brachte er die BASIS oder die ganze Galaktische Flotte in Gefahr.

»Keineswegs, so ist es nicht.«

Er fuhr auf dem Absatz herum. Waylon Javier, der gerade herübergeschaut hatte, warf ihm einen forschenden Blick zu.

Alaska winkte hastig ab. »Es ist nichts«, stieß er hervor. Sein Cappinfragment drückte nervös gegen den Plastikstoff der Maske. Schon wieder die Stimme und keinerlei Hinweis.

Aber da war noch etwas; nun endlich meldete sich der Instinkt, an den die Stimme appelliert hatte. Er wusste ganz sicher, dass der BASIS aus seinem Handeln keine negativen Folgen entstehen konnten.

Zielstrebig schlug Alaska den Weg zu seiner Kabine ein. Auf den Korridoren begegnete ihm kaum ein Mensch, was in Anbetracht der gigantischen Ausmaße dieses Schiffes wenig verwunderlich war. Er programmierte den nächsten Transmitter auf ein Empfangsgerät, das seinem Ziel nahe lag, und verlor so kaum drei Minuten.

Zwischendurch verfiel er unwillkürlich in Laufschritt. Zwei Männer, die unvermutet aus einem Nebengang traten, schenkten ihm so wenig Beachtung wie möglich. Er war der Mann mit der Maske, der Mann, mit dem man nichts zu tun hatte.

Ein eigentümliches Gefühl befiel ihn, kaum dass er die Kabinentür vor sich sah. Alaska hielt inne. Er lauschte in sich, stellte allerdings nichts Ungewöhnliches fest. Trotzdem gab es etwas, das ihn dort hineinzog ... Seine Hand schwebte kurz über dem Öffnungskontakt. Aber nur eine Sekunde lang, dann war der innere Zwiespalt entschieden. Vertraue deinem Instinkt, das hatte die Stimme gesagt, und er entschied, alle Vorbehalte fallen zu lassen.

Er ließ die Tür ins Lager gleiten und starrte auf das Bild, das sich ihm darbot.

 

»Ja, Alaska Saedelaere. Ich bin es.«

Mit einem Mal klang die Stimme so stofflich wie seine eigene, wenn er auch sicher war, dass dies auf einer Täuschung beruhte. Er trat zögernd über die Schwelle. Niemand hatte ihn gesehen, dessen vergewisserte sich der Maskenträger vorher gründlich. Störungen konnte er jetzt nicht brauchen, und die Anwesenheit eines Fremden hätte ganz gewiss gestört.

»Tritt näher! Worauf wartest du!«

Alaska folgte zögernd. Vor ihm stand ein uralter, kerzengerade aufgerichteter Mann, dessen Kinn- und Wangenpartie ein weißer Bart umgab. Auf dem Kopf des Mannes saß ein tiefblauer Hut, verziert mit silbrig leuchtenden Sternen und Kometenschweifen. Eine knöchellange Robe von ebensolcher Farbe verhüllte den Körper.

Alaska fasste sich willentlich. Er verdrängte mühevoll die Starre und setzte sich.

»ES«, brachte er hervor, »du bist es also.«

Der Unsterbliche von Wanderer. Er hatte es gleich gewusst, er hatte sofort gespürt, dass die Stimme vertraut und fremdartig zugleich war. Schon oft war das Geistwesen in den verschiedensten Projektionsgestalten aufgetreten. ES hatte den Menschen Ratschläge übermittelt, ihnen auf andere Art Hilfestellung geleistet oder ihre Dienste in Anspruch genommen.

»Weshalb kommst du zu mir?«, wollte er mit holpriger Stimme wissen. »Wirst du uns helfen? Ist der Frostrubin für Menschen nicht verständlich? Droht uns eine Gefahr, der wir uns allein nicht erwehren können? Kommt es zum Kampf mit den Armadaeinheiten?«

»Keineswegs, Alaska Saedelaere.« Die Stimme und die Bewegungen, die der Mund des Alten tat, waren asynchron.

Zuweilen trieb der merkwürdige Humor des Geistwesens sonderbare Blüten, und dazu gehörte auch sein Aufzug: Wer außer ES wäre auf die Idee verfallen, im Gewand eines Zauberers aufzutreten? Aber der Maskenträger lachte nicht, weil in seinem Geist kein Platz für Humor war. Dafür blieb später noch Zeit genug.

»Es gibt einen Auftrag für dich, Maskenträger. Du musst weit fort.«

»Aber ich kann nicht!«, rief er impulsiv. »Der Frostrubin und die vielen Schiffe der Armada, sind sie kein Hindernis für mich?«

Gleichzeitig wurde ihm die Torheit seiner Worte bewusst. Das Geistwesen war an Bord der BASIS erschienen, und es würde aufgrund seiner Machtmittel imstande sein, ihn an jeden Ort des Universums zu transportieren.

»Den Frostrubin sollen andere erforschen, Alaska Saedelaere, du kannst nichts dazu tun. Das Geheimnis dieses Objekts ist zu groß für einen Einzelnen, und was sich ereignen muss, wird sich ereignen, ob du dabei bist oder nicht. Ich werde dir sagen, wo du etwas tun kannst. Es ist sehr weit fort, an der Grenze meines Machtbereichs.«

Alaska schluckte ein paarmal, und über seinen Rücken lief ein Schauer. Er gehörte zum Kreis der Unsterblichen – doch nie zuvor war er ES oder einem seiner Projektionsträger so nahe gewesen wie jetzt. »Werde ich zurückkehren?«, fragte er. »Hierher, zu den Menschen, die ich kenne?«

»Das liegt bei dir; eine Rückkehr gibt es nur, wenn du der Bedrohung in jenem Randgebiet meiner Mächtigkeitsballung, wohin ich dich schicken will, Herr wirst. Wie das anzustellen ist, musst du herausfinden. Ich kann dir nur ein wenig Hilfe geben, weil meine Kapazitäten an anderer Stelle gebunden sind. Auch ich bin nicht allmächtig.«

Alaska wusste das sehr gut. Endlich wurde er ruhiger und gefasster, als habe gerade das Eingeständnis des Geistwesens, selbst Beschränkungen zu unterliegen, ihm die eigene Existenz erträglicher gemacht. »Worum geht es? Erkläre!«, bat er.

»Unsere Frist ist fast um, Alaska Saedelaere. Die Sekunden verstreichen ... Nein, für Erklärungen bleibt jetzt keine Zeit. Ich werde deinen Körper versetzen, und du wirst nichts mitnehmen als das, was du am Körper trägst. Deine Kleidung, die Maske, den Aktivator und die wenigen Dinge in deinen Taschen. Alles Weitere erledigen wir auf der Reise. Dann will ich dir übermitteln, was du wissen musst und woraus ich die Existenz einer großen Bedrohung ableite.«

»Ich soll gehen, ohne den Grund zu kennen? Nein. Das werde ich nicht tun, Unsterblicher, ich bin kein Werkzeug.« Er fühlte, dass die Worte krächzend seinen Hals verließen und in der endlosen Räumlichkeit, die plötzlich seine Kabine war, verhallten.

»Nein, Unsterblicher, nein!«

»Du gehst, Alaska Saedelaere. Ich weiß, du wirst gehen.« Die milde Beharrlichkeit in der Stimme des alten Zauberers machte ihm mehr zu schaffen als alles andere.

»Ich gehe nicht. Nicht auf diese Weise, als wäre ich ein Ding, das man gebrauchen kann, wie es beliebt.«

»Du gehst. Von gekränkter Eitelkeit wirst du dich nicht abhalten lassen, weil du es im Grunde nicht anders haben willst. Es ist in dir. Dein Leben war schon immer von dem anderer Menschen verschieden. Mann mit der Maske, was hält dich noch?«

»Ich habe meine Würde! Ich gehe nicht!«

Das Lächeln des alten Zauberers schien zu gefrieren, und Eiseskälte ergoss sich von seinen unbewegten, mit einem Mal silbrig schimmernden Lippen in den Raum.

Alaska wusste nicht, wohin mit allen Gedanken, die in seinem Kopf waren. Das Cappinfragment sandte hellrote Lichtkaskaden vorbei an den Plastikrändern der Maske. Doch der alte Zauberer zuckte nicht einmal mit den Wimpern.

»Du gehst, Alaska Saedelaere. Verschwende nicht meine Zeit.«

»Ich ... gehe nicht.«

In seinen Eingeweiden wuchs ein taubes Gefühl. Die Kabinenbegrenzungen ließen ihn bald zu einem immer kleineren Staubkorn schrumpfen, und zuletzt, als er nicht länger widerstehen konnte, auch keinen Sinn mehr darin fand, gab er nach. »Also gut, Unsterblicher, ich gehe!«

»Dann sei bereit.«

Der Mann versank in einem schwarzen Strudel. Unbegreifliche Vorgänge trennten seinen Geist vom Körper und fügten beides nach scheinbaren Ewigkeiten wieder zusammen. Er war der Mann mit der Maske – wieder allein.

 

»Er war ganz sonderbar, Roi.«

Fellmer Lloyd sah den schlanken, hochgewachsenen Mann, den einstigen König der Freihändler, eindringlich an.

»Wem ist sonst noch etwas an Alaska aufgefallen?«

»Mir, Roi!«, rief Waylon Javier. Der Kommandant der BASIS trat zu ihnen. »Alaska blieb plötzlich in der Zentrale stehen, als habe ihn jemand gerufen. Da war aber niemand. Er ging dann weiter, und gesagt hat er nichts.«

»Ihr kennt Alaska«, versuchte Roi zu beschwichtigen. »Er ist ein sonderbarer Mensch, den wir selten verstehen. Niemand weiß genau, was er im nächsten Augenblick tun wird, aber für seine Loyalität legen wir alle die Hand ins Feuer.«

»Die wollte ich nicht anzweifeln«, unterbrach Lloyd kalt. »Was ich meine, ist, dass wir es uns nicht leisten können, direkt vor dem Frostrubin, angesichts dessen, was eine der größten Bedrohungen sein kann, der sich die Menschheit jemals stellen musste, einen möglichen Hinweis außer Acht zu lassen. Und Alaskas Verhalten könnte sehr wohl ein Hinweis sein.«

»Hm.« Danton schwieg eine Weile. »Ja«, gab er dann nachdenklich zurück, »ja, du hast recht. Sprich mit Gucky. Er soll Alaska unauffällig unter die Lupe nehmen.«

Lloyd atmete sichtlich erleichtert auf.

»Du erfährst rechtzeitig, was dabei herauskommt.«

»Schon gut, bis später also. Und Fellmer: Wenn du dich irrst, musst du dich bei Alaska entschuldigen.«

Gucky fluchte hingebungsvoll. Was so unvermutet eingetreten war, hatte niemand an Bord der BASIS erwarten können. Alaska war verschwunden, und nirgendwo inmitten des riesigen Schiffes gab es auch nur ein Anzeichen seines typischen Gedankenmusters. Er hätte dieses Muster aus Tausenden auf Anhieb herausgefiltert, dessen war Gucky sicher. Mit langen Beratungen hielt er sich nicht auf. Stattdessen teleportierte er direkt in die Kabine des Transmittergeschädigten.

Die Kabine war erwartungsgemäß leer. Ein Tisch, mehrere kahle Regalwände, die Tür zur Nasszelle, die offen stand ... Dort sah sich Gucky zuerst um, doch er fand kein Anzeichen eines ungewöhnlichen Vorgangs. Etwas aber erregte seine Aufmerksamkeit, und es war ein bestimmtes, höchst merkwürdiges Detail auf dem Tisch des Wohnraums.

Mit instinktiver Vorsicht duckte sich der Ilt zusammen. Er watschelte trotzdem hinüber und nahm den Gegenstand mit den Fingerspitzen auf. Es war eine Statuette, federleicht, vielleicht aus Plastik oder dünnem Porzellan.

»Nun, mein kleiner Freund?«

Beinahe hätte er die Statuette vor Schreck fallen lassen, dann siegte seine angeborene Unverfrorenheit. »Was heißt hier klein? Klein bist du, Statue!«

Er musterte das Abbild eines alten, blau gewandeten Zauberers, der einem terranischen Märchenbuch entsprungen zu sein schien, mit unverhohlener Neugierde. Jetzt wusste er, dass ihm keinerlei Gefahr drohte. Natürlich, das würde Roi interessieren. Der Mausbiber ergriff die Statuette.

Mit einem scharfen Knall rematerialisierte er in der Zentrale der BASIS. »Ratet mal, was das ist!«

Gucky ließ seinen Nagezahn sehen.

»Spann uns nicht auf die Folter, Kleiner!«, mahnte Roi. »Also, was ist es?«

»Es ist ein Bote«, antwortete der Ilt geheimnisvoll.

Roi Danton stutzte kurz. Seine Miene verfinsterte sich, doch bevor er ernstlich zornig wurde, setzte Gucky hinzu: »Ein Bote von ES, Roi! Ich bin ganz sicher, vielleicht ein Splitter des Kollektivwesens. In Alaskas Kabine habe ich ihn gefunden. Er wird uns etwas zu erzählen haben, da gibt's gar keinen Zweifel.« Er streckte Roi die Statuette entgegen.

»Wie recht du hast, kleiner Freund.«

Ein empörter Pfiff. »Klein bist du, Statue!«

»Nicht jetzt, Gucky«, warf Roi Danton unduldsam ein. Er bewies damit, dass auch er die Stimme vernommen hatte. Mit beiden Händen entwand er dem Mausbiber die Statuette, hielt sie direkt vor sein Gesicht und drängte: »Sprich! Was ist mit Alaska?«

Das Abbild des alten Zauberers schien zu zerfließen.

»Nun, mein Freund mit dem Nagezahn, wer von uns beiden ist klein?«

Gucky schwieg bockig. Die Statuette wurde transparenter, zunächst verflüchtigte sich ein Bein und fehlte bald gänzlich, dann das zweite, ein Arm ...

»Los, Gucky, sag schon«, forderte Roi Danton.

Der Ilt ließ plötzlich seinen Zahn in voller Länge sehen, was ein deutliches Zeichen bester Laune war. »Und wenn du dich auf den Kopf stellst, Statue: Der Kleinere von uns beiden bist immer noch du. Was du zu sagen hast, sagst du ja doch.«

Im verschwimmenden Gesicht des Zauberers schien ein Lächeln zu entstehen.

»Und jetzt die Botschaft!«, rief Danton.

Das Lächeln gefror, es wirkte transparent und verblasste zusehends.