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Planetenroman

 

Band 7

 

Chandris Welt

 

Ein Terraner erwacht in einer fremden Welt – der Mann ohne Gedächtnis sucht sein altes Leben

 

Susan Schwartz

 

 

 

Im 35. Jahrhundert alter Zeitrechnung: Auf einem fernen Planeten erwacht ein Terraner – er kann sich an nichts erinnern. Wesen, die wie terranische Wölfe wirken, finden ihn und pflegen ihn gesund. Die Anen, so nennen sich die fremden Wesen, bezeichnen ihn als »Nacktgesicht« und geben ihm den Namen Chandri.

Chandri will mehr über sich und seine Herkunft wissen. Wer ist er? Ist er vielleicht mit jenem Perry Rhodan identisch, den Wesen von außerhalb des Planeten mit »Großadministrator« ansprechen?

Das »Nacktgesicht« macht sich mit seinen neuen Freunden auf einen Weg voller Gefahren. Am Ende stößt er auf eine Wahrheit, die ihn erschüttert ...

Prolog

 

Gleichwohl die Geschichtsschreibung des Solaren Imperiums von Anfang bis Ende ausgesprochen gut dokumentiert ist, gibt es doch eine schier unermessliche Anzahl von kleinen und kleinsten Ereignissen, die entweder in den Annalen des Imperiums gar nicht vorhanden sind oder aber denen eher anekdotaler Charakter zuzuschreiben ist. (Das war schon allein durch die Größe bedingt, die das Reich vor der Lareninvasion im Jahr 3459 n. Chr. erreicht hatte.)

Manche dieser Ereignisse sind mit wichtigen Entwicklungen in der Geschichte der Menschheit verknüpft, andere wiederum sind Einzelschicksale, die uns zumindest schlaglichtartig bestimmte Zeitpunkte erhellen.

Und dann wiederum gibt es Geschehnisse, die völlig unerkannt von der solaren Öffentlichkeit verlaufen sind und von denen wir, so überhaupt, allenfalls durch Zufall erfahren. Seit der Frühzeit des Imperiums können wir eine stetig wachsende »Dunkelziffer« von Personen beobachten, die in wichtigen oder auch weniger wichtigen Einsätzen verloren gehen und oft nach längerer Zeit, manchmal aber auch gar nicht mehr, wieder auf die Erde zurückkehren. Dies begann bereits im einundzwanzigsten Jahrhundert, als »Kosmische Agenten« im Auftrag der Menschheit im Einsatz waren (seinerzeit, um die Existenz der Erde vor den Machtbestrebungen des als größte bekannte Gefahr geltenden arkonidischen Robotregenten zu schützen). Entsprechende Datenlücken sind die Folge.

Die nachstehende Datei schildert einen solchen Fall, der sicherlich kaum mehr als eine Fußnote in der galaktischen Geschichte der Menschheit darstellt, aber trotzdem ein bezeichnendes Licht auf all jene Qualitäten wirft, die den Terranern zur Eroberung des Weltraums verholfen haben – weshalb er hier exemplarisch behandelt werden soll.

Der Ursprung der Datei ist mysteriös. Sicher ist nur, dass ein Mehandor-Händler namens Abnar bel Geddas sie im Januar 1200 NGZ zu einem Spottpreis auf einem seit Jahrhunderten veralteten Datenträger verkaufte, als er während der ersten Hyperraum-Parese in der Nähe des Solsystems gestrandet war. Er gab an, sie von Angehörigen eines Volkes namens »Yanten« auf einem Planeten namens »Tulsan« erstanden zu haben.

In den bekannten galaktischen Datenbanken ist weder über dieses Volk noch über den Planeten etwas verzeichnet. Auch die Suche nach den anderen in den Aufzeichnungen erwähnten Völkern sowie den historischen Hintergründen, die zu der Begebenheit auf Tulsan führten, erbrachte keine zählbaren Erfolge.

Und wer waren die mysteriösen »Waranti«? Gibt es hier verschüttete Querverbindungen der frühen, präterranischen Geschichte der Milchstraße? Könnte es sich etwa um Aras gehandelt haben? Ohne Kenntnis der galaktischen Position von Tulsan ist diese Frage nicht zu beantworten.

 

(Aus: Hoschpians unautorisierte Chronik des Solaren Imperiums; Anhang VII.13.5, Exemplarische Aufarbeitung einiger »vergessener« Einzelschicksale)

1.

 

Ein greller Lichtblitz zerbarst vor seinen Augen, und Schmerz jagte wie ein tobender Orkan durch seinen Körper. Es war fast, als würde das Universum um ihn herum in einem leuchtenden Feuerwerk explodieren, und für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Gefühl zu sterben. Dann umfing ihn Dunkelheit, und sein Verstand stürzte in endlose Tiefen ohne Träume.

Als sein Bewusstsein wieder erwachte, lag er in Dunkelheit, und er war nicht sicher, wo er sich befand: im Nichts oder im Irgendwo. Das Einzige, was er fühlte, war Schmerz; sein ganzer Körper schien nur aus quälendem Schmerz zu bestehen, der kalt und heiß zugleich war, mal stärker, mal schwächer. Was ist geschehen und wo bin ich?, fragte er sich und versuchte sich zu erinnern, ob er etwas Ähnliches schon einmal erlebt hatte.

Er wusste es nicht. Er wusste überhaupt nichts mehr. Alle Erinnerungen waren wie ausgelöscht. Alles, was geblieben war, war das Gefühl, einmal Erinnerungen und einen Namen besessen zu haben. Er schien nur noch aus Dunkelheit und Schmerz zu bestehen, vielleicht für die Ewigkeit. Tief in ihm schrie etwas voller Angst und Verzweiflung auf, und sein Bewusstsein stürzte ein zweites Mal ins Nichts.

Das nächste Erwachen war längst nicht mehr so schmerzhaft, und er konnte seinen Körper fühlen und bewegen, wenngleich er auch weiterhin nichts sehen konnte. Er bemühte sich wiederum, sich an irgendetwas zu erinnern, aber sein Gedächtnis war ebenso dunkel wie sein Blick. Für einen Moment stieg wieder Panik in ihm auf, doch er zwang sich, ruhig zu bleiben und zu überlegen, was er tun konnte.

Der Schock, dachte er. Ich habe durch den Schock mein Gedächtnis verloren. Ich hatte vermutlich einen Unfall, bei dem ich schwer verletzt wurde. Und ich befinde mich in den Händen irgendwelcher Personen, die sich auf Medizin verstehen, denn ich fühle mich viel besser als das erste Mal. Ich werde versuchen zu sprechen, vielleicht können wir uns verständigen.

»Wo bin ich?«, sprach er laut, und seine Stimme kam ihm seltsam rau vor. »Können Sie mich verstehen?«

Er hörte eine leise Stimme, die in einer ihm unbekannten, melodischen Sprache antwortete, und spürte die prickelnde, leicht elektrisierende Berührung einer flaumigen Hand auf seinem Arm.

»Warum kann ich nichts sehen?«, fragte er verzweifelt. »Ist denn niemand hier, der meine Fragen beantworten kann?«

Die Hand streichelte seinen Arm, und er glaubte, Bedauern in der Stimme zu hören. Er fühlte sich hilflos wie ein Gefangener in einer winzigen finsteren Zelle und bäumte sich auf; mehrere flaumige Hände hielten ihn fest, und ein feuchtwarmes Tuch wurde auf seinen Mund gedrückt. Er versuchte sich zu wehren, als starke Dämpfe ihm in Mund und Nase drangen, aber sein Verstand umnebelte sich rasch, und er schlief ein.

Als er aufwachte, erinnerte er sich an einen Traum voll grüner Wiesen, alter Bäume, an einen See. Und er erinnerte sich an einen Namen. Terra. Der Name gehörte zu dem Traum. Terra war ein Planet, seine Geburtswelt, er wusste es genau. Er war Terraner. Er seufzte unwillkürlich vor Erleichterung, als er endlich eine Erinnerung wiedergefunden hatte, und war nun sicher, dass er sein Gedächtnis durch einen Schock verloren hatte. Eine Amnesie durch Unfallschock war jedoch in der Regel nur vorübergehend und löste sich mit der Zeit. Er durfte nur nicht zu ungeduldig sein und sich dazu zwingen, ständig darüber nachzudenken.

Immerhin wusste er jetzt, was er war und dass er sich aufgrund der Verständigungsschwierigkeiten nicht auf Terra befand. Es war nicht viel, aber immerhin ein Anfang.

Während der nächsten Schlaf- und Wachperioden, die er der Einfachheit halber in Tage und Nächte unterschied, fühlte er zusehends, wie der Heilungsprozess in seinem Körper voranschritt. Er trug an Brust, beiden Beinen und am linken Arm Verbände; der Schmerz hatte sich bis zur Hautoberfläche zurückgezogen. Wenn er sein Gesicht befühlte, konnte er noch einige alte Brandmale ertasten, über die sich zarte neue Hautschichten zogen. Er hoffte, dass er nicht zu viele Narben davontragen würde, und verfluchte seine Blindheit. Über seinen Augen lagen Verbände; vermutlich waren sie nicht verbrannt, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er die Sehkraft wieder zurückerhalten würde.

Er war ständig zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin und her gerissen und versuchte weiterhin, Kontakt mit seinen Rettern aufzunehmen. Er konnte inzwischen vier Stimmen unterscheiden: drei kräftige, ein wenig rollende, und eine weichere und höhere, von der er annahm, dass sie einer Frau gehörte. Sie hatte auch die zartesten Hände und schien sich oft bei ihm aufzuhalten; manchmal sang sie, und es klang sehr angenehm. Die Sprache war mit vielen zwitschernden Schnalzlauten durchsetzt, und als er hin und wieder versuchte, bestimmte Laute nachzuahmen, erntete er ansteckendes Gelächter. Seine Retter konnten lachen, und das war schon die erste Gemeinsamkeit, die sie hatten.

Die Freundlichkeit der Wesen half ihm über seinen Kummer hinweg, und er begann sich mit den gegebenen Umständen abzufinden, ohne jedoch zu resignieren. Je besser er sich fühlte, umso stärker wurde auch der Bewegungsdrang. Die Verbände waren zum Großteil entfernt, und die neue Haut war noch sehr empfindlich, aber er war nahezu schmerzfrei. Er begann die Umgebung zu ertasten und vermutete, dass er bei einem stark mit der Natur verbundenen Volk lebte, denn er spürte nichts Metallisches oder Künstliches. Sein Bett war relativ hart, vielleicht mit Holzwolle oder Stroh gefüllt, und der Bezugsstoff war ein wenig rau. Der Boden war lehmig, ebenso die Wände. Die Luft war von der Temperatur her gleichbleibend angenehm, nur abends wurde es kühler und frischer.

Er konnte inzwischen Tag und Nacht unterscheiden, sowohl von der Temperatur her als auch von der Aktivität um ihn herum, und sein Körper stellte sich allmählich darauf ein. Zu trinken erhielt er Wasser oder Kräutertee, und die Nahrung bestand zum Großteil aus Früchten, roh oder in Blätter eingewickelt gegart, und Gemüse, das ihn vom Geruch und der Konsistenz her an Pilze erinnerte. Die Nahrung war offensichtlich gesund und für Menschen geeignet, denn er vertrug alles ohne Schwierigkeiten und fühlte sich täglich besser.

Als er das erste Mal aufstand, half ihm einer seiner Retter und stützte ihn; er wollte ihn gern abtasten, um sich eine ungefähre Vorstellung über sein Aussehen machen zu können, wagte es aber noch nicht, da er seinen Wunsch noch nicht verständlich machen konnte. Das Gehen war nicht einfach, offensichtlich hatte er sehr lange gelegen, sein Kreislauf und seine Muskeln mussten erst wieder richtig in Schwung kommen. Seine Pfleger unterhielten sich lebhaft, während er seine ersten Gehversuche machte. Derjenige, der ihn gestützt hatte, ließ ihn schließlich los, und er tastete sich allein an den Wänden voran. Er befand sich in einer runden Hütte, die nur aus einem Raum bestand, und die Einrichtung war wohl zweckmäßig einfach: seine Schlafmatratze, eine aus Ton gebrannte Tischplatte auf dem Boden und Sitzkissen von ähnlicher Beschaffenheit wie seine Matratze. In der Nähe des Eingangs erfühlte er einige Werkzeuge an der Wand; gekocht wurde offensichtlich außerhalb der Hütte.

Schließlich kehrte er zu seiner Matratze zurück, verarbeitete die Entdeckung und versuchte, sie sich bildlich vorzustellen. Es war ihm alles weitgehend bekannt, aber er wusste nicht, woher; vielleicht hatte er darüber gelesen oder Ähnliches auf dem Planeten namens Terra gesehen. Er war inzwischen sicher, dass er selbst in einer anderen, von Technik beherrschten, künstlichen Umgebung gelebt hatte und sich nur zu bestimmten Gelegenheiten in einem Wald oder an einem See aufgehalten hatte.

Seine Helfer waren verstummt, während er nachgedacht hatte, und er bewegte ein wenig hilflos den Kopf. Er spürte die zarte Hand der Frau auf seinem Arm; sie nahm seine Hand und führte sie ihren Arm entlang zu ihren Schultern.

Fell, dachte er. Er fuhr mit den Fingern durch das weiche, dichte Fell und stellte sich unwillkürlich vor, wie es aussehen mochte. Fell, dachte er wieder.

Und plötzlich hatte er das Gefühl, dass er verstanden wurde, obwohl er nicht laut gesprochen hatte. Er spürte ein behutsames Tasten in seinem Kopf, nur ganz leicht, und sein Herz begann aufgeregt zu klopfen. Fell, wiederholte er in Gedanken und projizierte erneut das Gedankenbild, während er den Arm antippte und die Haare zwischen die Finger nahm.

»Fell«, sagte er laut. Dann ergriff er die Hand der Frau, führte sie an seinen Arm und strich mit ihren Fingern darüber. »Haut«, sagte er. Wieder spürte er das Tasten in seinem Kopf und konzentrierte seine Gedanken auf ein Bild.

Die Frau nahm nun wieder seine Hand und drehte die Handfläche nach oben, dann legte sie ihr Gesicht hinein. Er spürte ihre Wange, die von Flaum bedeckt war. Sie streckte seinen Zeigefinger, tippte auf ihre Wange, ihre Hand und ihren Arm.

»Lesaar«, sagte sie. Dann tippte sie seinen Finger an seine Wange, seine Hand und den Arm. Als er nicht reagierte, wiederholte sie die Prozedur an sich und sagte wieder: »Lesaar.« Dann verfuhr sie bei ihm genauso, schwieg jedoch.

Meinen Namen, dachte er. Sie will meinen Namen wissen. Sie hat mir ihren Namen gesagt, und nun will sie meinen wissen. Aber wie soll ich ihr begreiflich machen, dass ich das nicht weiß?

Er deutete auf sich und hob die Schultern. Ob sie die Geste verstand? Vielleicht fasste sie sein Schweigen auch als Weigerung auf und änderte ihr Verhalten daraufhin. Wenn er nur sehen könnte! Er deutete auf sie und wiederholte: »Lesaar«, dann deutete er auf sich und verstummte, hob die Hände und drehte die Handflächen nach außen. Leer. Leer wie ein unbeschriebenes Blatt ...

Vielleicht verstand sie das. Er konzentrierte sich auf eine bildliche Vorstellung, zwei Blätter nebeneinander, auf dem einen stellte er sich ihren Namen vor und projizierte ein Fell dazu, das andere Blatt blieb leer. Er spürte das seltsame Tasten in seinem Kopf, und dann streichelte die Frau seine Wange und sagte etwas zu ihm, das mitfühlend klang. Zum ersten Mal seit seinem schmerzlichen Erwachen geriet er in Hochstimmung, und er lachte. Sie hatte ihn verstanden.

2.

 

Die nächsten Tage verbrachten sie mit der Verständigung; da er durch seine Blindheit behindert war, waren die meisten Begriffe für ihn abstrakt und schwer zu begreifen, und er musste sich sehr intensiv konzentrieren, damit Lesaar seine Vorstellungen korrigieren konnte. Nachdem die ersten Hindernisse überwunden waren, ging es bedeutend schneller; das größte Problem stellte die Artikulation der fremden Sprache dar, und er hatte manchmal das Gefühl, sich die Zunge zu verrenken. Angesteckt durch Lesaars Heiterkeit, der es offensichtlich Vergnügen bereitete, ihn zu unterrichten, lernte er zu lachen und wieder so etwas wie Lebensfreude zu empfinden.

Den Gedanken an sein verlorenes Gedächtnis verdrängte er, soweit es ging, wenngleich er oft über sich selbst nachdachte und Vermutungen anstellte. Er träumte sehr viel von seinem früheren Leben, von der Umgebung, in der er sich anscheinend zumeist aufgehalten hatte, aber das brachte ihn seiner Identität keinen Schritt näher. Er konnte alles sein, vom Politiker bis zum Mörder, von einem ganz normalen Angestellten bis zum reichen Nichtsnutz, und der Gedanke daran erregte und deprimierte ihn zugleich. Trotz der Träume konnte er sich nicht im Geringsten vorstellen, was mit ihm geschehen sein mochte; vielleicht war er hier von irgendwelchen Gegnern ausgesetzt worden, vielleicht hatte er aber auch wirklich nur einen Unfall gehabt. Hatte er irgendwo eine Familie, die sich um ihn sorgte? Wurde er vermisst?

»Worüber denkst du nach?«, fragte Lesaar in seine Gedanken hinein. Inzwischen unterhielten sie sich fast fließend, und er konnte sich gar nicht mehr vorstellen, jemals Verständigungsschwierigkeiten gehabt zu haben.

»Ich denke über mich nach, Lesaar«, antwortete er. »Siehst du, du hast einen Namen, aber ich habe keinen.«

»Du wirst dein Gedächtnis wiedererhalten, da bin ich mir sicher«, gab sie zurück.

»Sagen wir, es ist nicht ausgeschlossen, wenn ich es durch einen Unfall verloren habe. Aber vielleicht ist es gelöscht worden, Lesaar, und was dann? Denkst du, ich werde mich jemals damit abfinden können, keine Erinnerung an früher mehr zu haben?«

»Ich werde dir dabei helfen, Waranti.«

»Waranti? Was bedeutet das?«, fragte er erstaunt.

Sie kicherte ein wenig verlegen. »Nacktgesicht«, gestand sie dann. »Die anderen nennen dich so. In unseren Überlieferungen gibt es Berichte über Nacktgesichter wie dich.«

»Hm«, machte er. »Soll ich darüber nun glücklich sein oder nicht?«

»Je nachdem, wer diesen Namen benutzt«, erwiderte sie. »Manche meinen es nicht freundlich, denn die Nacktgesichter sollen uns einmal etwas Schlimmes angetan haben. Auf alle Fälle trifft der Name aber auf dich zu, denn im Gegensatz zu uns bist du wirklich ein Nacktgesicht. Ich werde dich Waranti nennen, bis ich einen anderen Namen für dich gefunden habe. Bist du damit einverstanden?«

Er nickte. »Ein Name ist wie der andere, solange es nicht meiner ist. Es klingt zumindest besser als Namenlos. Lesaar, wir können uns nun gut verständigen. Wir sollten darüber sprechen, wie ich hierhergekommen bin.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen, Waranti. Nomaden fanden dich und ließen dich bei uns, bevor sie weiterzogen. Du warst bewusstlos und hattest viele Verbrennungen. Wir pflegten dich. Das ist alles.«

»Haben die Nomaden denn nicht erzählt, wo sie mich fanden?«

»Nein.«

Er hatte den Eindruck, dass sie mehr darüber wusste, aber das konnte er später noch genauer erfragen; er wollte nicht zu viel auf einmal fordern. »Und hatte ich denn nichts bei mir? Vielleicht am Handgelenk?«

»Nichts. Nur ein paar Kleidungsfetzen, es war bestimmt nichts weiter bei dir. Die Nomaden haben dir eine neue Kleidung genäht, ähnlich der, die du trugst. Sie ist natürlich nicht aus so gutem Stoff ...«

»Sie ist absolut ausreichend«, unterbrach er. »Ich brauche sie nur, weil ich kein Fell habe. Lesaar, gibt es sonst nichts mehr, was du von mir weißt?«

»Wirklich nicht, Waranti.«

Er seufzte. Wenn er wenigstens seine Uhr noch gehabt hätte und wieder sehen könnte, dann wüsste er, wie viel Lebenszeit er verloren hatte und welche Zeit hier im Vergleich zur Erde verging. »Ich bin also sozusagen neu geboren«, murmelte er. »Lesaar, erzähl mir von deiner Welt.«

»Gern, Waranti. Unsere Welt heißt Tulsan, Leben, und wir selbst sind die Anen, die Bodengeborenen. Wir leben im Einklang mit unserer Natur und achten ihre Gesetze. Unsere Ältesten bilden einen Rat, der über Familienangelegenheiten entscheidet und die Geschicke des Dorfes in Notzeiten bestimmt, ansonsten geht jeder seiner Arbeit nach oder seinem Vergnügen. Wir haben kein besonders schweres Leben, denn die Natur ist gut zu uns, und wir haben ein paar Spiele erfunden, mit denen wir uns die Zeit vertreiben.«

»Habt ihr so etwas wie einen Glauben an eine höhere Macht, die euch erschaffen hat?«

»Natürlich nicht«, entgegnete sie verwundert. »Wir waren schon immer da.«

Nun war er erstaunt. »Wisst ihr denn nicht, wie ihr entstanden seid? Ich meine, wie ihr euch entwickelt habt?«

»Aber Waranti, hast du mich denn nicht verstanden?«, sagte sie neckend. »Ich sagte dir doch, dass wir schon immer da waren. Unser Leben verlief immer auf dieselbe Weise wie heute. Es ist unsere Tradition, und sie ist gut, deshalb wird sie auch nie geändert werden.«

»Aber offensichtlich kannten eure Vorfahren doch Wesen wie mich.«

»Ja. Manche sagen, dass die Nacktgesichter den Anen etwas Schreckliches zugefügt hatten. Heute weiß niemand mehr, was damals passiert ist. Seither sind auch nie mehr Nacktgesichter in großer Zahl gekommen.«

Er horchte auf. »Willst du damit sagen, dass vor mir noch andere auf so seltsame Weise hierherkamen?«

»Hin und wieder, die Nomaden erzählen manchmal davon. Aber die Zahl ist äußerst gering, und in unseren eigenen Überlieferungen wird gar nichts darüber berichtet. Bist du jetzt sehr enttäuscht, Waranti?«

»Ja. Es wäre immerhin ein kleiner Hoffnungsschimmer gewesen. Was für eine Zeiteinteilung habt ihr, Lesaar?«

»Wir zählen acht Stunden des Tages nach dem Stand der Sonne und acht Stunden der Nacht nach dem Stand der Sterne und unserer Monde. Die Monde verändern ihre Gestalt einmal innerhalb sechsunddreißig Tagen, insgesamt sechzehnmal von der ersten bis zur nächsten Blüte, und das nennen wir dann einen Sonnenwechsel. Hast du das verstanden, Waranti?«

Er lächelte unwillkürlich. »Ja, Lesaar. Ich kann es allerdings nicht mit meiner Zeitrechnung vergleichen. Wie lange war ich nach eurer Zeitrechnung krank?«

»Fast zwei Mondwechsel. Aber deine Wunden sind alle gut verheilt, du hast nur ganz wenige Narben.«

Seine Hände fuhren unwillkürlich zu dem Augenverband. Sie wechselten regelmäßig seine Verbände, allerdings stets in der Dunkelheit, und er hatte seine Augen nie berühren oder gar öffnen dürfen. »Und meine Augen?«, fragte er leise. »Was ist mit meinen Augen?«

Sie streichelte beruhigend seinen Arm. »Die Verletzung sah sehr schlimm aus, aber ich glaube, wir können den Verband bald abnehmen.«

»Davor habe ich ein wenig Angst«, gestand er. »So kann ich mir einbilden, wegen der Verbände nichts sehen zu können, aber wenn die Sehnerven zerstört sind, werde ich für immer blind bleiben.«

»Dann werde ich dein Augenlicht sein, Waranti.«

Er lachte kurz auf. »Lesaar, du hast doch sicherlich andere Verpflichtungen, als ständig meine Pflegerin zu sein. Ich kann mir auch vorstellen, dass es deinen Freunden nicht recht ist, wenn du dich nur noch mit einem außerplanetarischen Fremdling abgibst.«

»Ich habe keine eigene Familie«, erwiderte sie. »Und was die anderen sagen, ist mir egal. Ich werde dir helfen, solange du meine Hilfe brauchst. Du wirst sehen, dass du auch ohne Augenlicht leben kannst.«

»In Abhängigkeit von euch.«

»Waranti, du kannst dich bewegen, deine Hände und Beine gebrauchen. Du bist nicht abhängig von uns. Außerdem ist eine Gemeinschaft dazu da, sich um die Schwächeren zu kümmern. Uns wachsen die Früchte in den Mund, und wir müssen nicht ums Überleben kämpfen. Worüber machst du dir also Sorgen? Und du hast noch andere Freunde außer mir; meinen Vater Lasswa zum Beispiel. Er hat eine Stimme im Rat. Quäle dich nicht, Waranti. Es ist nicht zu ändern.«

Er sagte nichts mehr.

3.

 

Die nächsten Tage verbrachte der Terraner damit, die Umwelt außerhalb der Hütte abzugehen und zu ertasten. Da er sich noch nicht darauf eingestellt hatte, die Augen völlig abzuschalten, stolperte er sehr oft. In einer heftigen Reaktion riss er sich den Verband von den Augen, tastete sie mit den Fingern ab und öffnete sie schließlich.

Dunkelheit. Seine Augen waren noch da, aber er konnte nichts sehen. Einen Moment stand er starr da, er verspürte den verzweifelten Wunsch, irgendetwas zu zerschlagen – aus Wut über sein zerstörtes Augenlicht.

»Waranti, kannst du sehen?«, erklang Lesaars sanfte, melodische Stimme hinter ihm.

»Nein«, sagte er in frustrierter Wut. »Nein, ich sehe gar nichts. Alles ist dunkel.«

»Es hat sich also nichts geändert«, meinte sie.

Zum ersten Mal fühlte er ihr gegenüber Zorn; er verstand nicht, wie sie so gleichmütig sein konnte, zumindest Mitleid hätte er erwartet »O doch, es hat sich etwas geändert«, erwiderte er. »Die Blindheit ist dieselbe, das stimmt, aber die Situation ist anders. Ich trage keine Verbände mehr, verstehst du? Die Verletzung ist verheilt, und ich sehe trotzdem nichts. Es besteht zwar noch die winzige Hoffnung, dass die Sehnerven nur geschwächt und nicht zerstört sind, aber das halte ich für unwahrscheinlich. Ich sitze hier fest, für immer blind. Dort, wo ich herkomme, hätte man etwas dagegen unternehmen können, aber hier ...«

»Waranti, ich verstehe dich einfach nicht«, sagte sie, und er hörte Hilflosigkeit aus ihrer Stimme. »Warum bist du zornig über eine unabänderliche Tatsache? Komm, gehen wir weiter, ich zeige dir ...«

»Nein«, unterbrach er sie barsch. »Nein, ich will jetzt nicht weitergehen, ich kann nicht einfach so tun, als wäre alles ganz normal. Ich will jetzt allein sein, sonst nichts.«

»Wie du willst«, erwiderte sie ruhig, Sie wollte ihn führen, aber er entzog ihr seine Hand und suchte selbst nach dem Eingang seiner Hütte.

Am nächsten Morgen hörte er ihren leichten Schritt vor seiner Hütte und rief sie herein.

»Geht es dir besser, Waranti?«, fragte sie.

»Ja. Viel besser. Es tut mir leid, dass ich mich gestern so schlecht benommen habe. Ich habe die ganze Zeit nachgedacht, nach meinen verlorenen Erinnerungen gesucht und bin irgendwann eingeschlafen.«

»Hast du Hunger? Ich kann dir etwas holen.«

»Später vielleicht.«

»Gut. Möchtest du einen Ausflug machen, Waranti? Du kannst unsere Welt auch ohne Augen kennenlernen. Du kannst riechen, hören und fühlen, und ich werde dir alles beschreiben.«

»Ich glaube, ich kann so blind noch nicht besonders gut laufen. Ich werde dauernd stolpern und hinfallen und bestimmt nicht weit kommen«, meinte er.

Sie lachte. »Aber Waranti, du sitzt selbstverständlich auf mir.«

Er stutzte. »Wie – wie meinst du das?«

»Es hat mich schon gewundert, dass dich das nie interessiert hat, wo du doch nur zwei schwache Beine hast«, lachte sie. »Komm her.« Sie ergriff seine Hand und führte sie über ihren Körper und die Beine hinab. Vier kräftige Beine mit breiten, krallenbewehrten Pfoten, ein buschiger Schwanz am Hinterteil und lange, mähnenartige Haare, die über den Rücken hinabfielen.

Er war so verblüfft, dass er sprachlos war. Er hatte schon bemerkt, dass sie ungefähr einen Kopf größer war als er, aber durch den menschenähnlichen Oberkörper wäre er nie auf den Gedanken gekommen, dass sie nicht zwei Beine wie er besaß. Er hatte nie darauf geachtet, weil er immer davon ausgegangen war, dass er sie bald sehen würde, und er war viel zu sehr mit sich beschäftigt gewesen. »Das ist mir wirklich nie aufgefallen«, stieß er schließlich hervor. »Manchmal kam mir dein Körper schon ein wenig merkwürdig vor, aber darauf wäre ich nie gekommen. Denkst du denn, dass du mich tragen kannst?«

»Natürlich. Setz dich auf mich.«

Er tastete über ihren Rücken und stemmte sich dann ein wenig umständlich hinauf; sie kicherte und prustete und wäre beinahe mit ihm umgefallen, aber schließlich saß er oben. »Ist es so bequem für dich, Waranti?«

»Sehr bequem. Aber ich bin dir doch zu schwer.«

»Nein, ich spüre dich wirklich kaum. Halt dich gut fest, ich gehe jetzt los.«

Sie ging langsam ein paar Schritte, und er suchte nach dem richtigen Halt. »Geht es so?«, rief sie nach hinten.

»Ich denke schon«, antwortete er.

Sie ging einige Schritte weiter und fiel dann in einen leichten, gleichmäßigen Trab, der sehr angenehm war. Der Terraner spürte die Sonne warm auf seinem Gesicht und stellte erfreut fest, dass seine Haut kaum mehr empfindlich darauf reagierte.

Lesaar führte ihn kreuz und quer über das Land, denn die Sonne beschien ihn immer wieder von einer anderen Seite. Das Land war hügelig, und er fragte die Anin immer wieder, ob er denn nicht zu schwer wäre, aber sie lachte jedes Mal nur. Wenn sie etwas besonders Sehenswertes fand, hielt sie an und führte ihn herum. Sie ließ ihn die sonnenerhitzte, feuchte Erde befühlen, das manchmal meterhohe raue Gras, die glatten Stämme der Bäume und beschrieb ihm das Aussehen. Manchmal sah sie ein Tier und erzählte ihm davon, und er fragte, ob sie auch jagten, denn er hatte nie Fleisch zu essen bekommen.

»Sehr selten«, antwortete sie. »Die meisten Tiere sind für uns giftig, selbst noch in gebratenem Zustand. Manchmal finden wir ein essbares Tier, dann gibt es ein Festessen fürs ganze Dorf. Ansonsten essen wir die Fische aus dem Bach.«

»Fische? Das ist mir nicht aufgefallen.«

»Sie sind auch winzig klein, und wir wickeln sie in Wasserpflanzen ein.«

Am Nachmittag kehrten sie in die Siedlung zurück, und der Terraner verbrachte die restliche Zeit des Tages damit, seine Eindrücke zu verarbeiten. Die folgenden Tage beschäftigte er sich damit, seine Sinne zu trainieren, und schließlich fand er sich auch ohne Augenlicht einigermaßen zurecht. Um sich nicht gänzlich nutzlos zu fühlen, bat er um eine Arbeit.