Mark Twain

Meine geheime Autobiographie
- Textedition -

Herausgegeben von Harriet Elinor Smith

unter Mitarbeit von Benjamin Griffin, Victor Fischer, Michael B. Frank, Sharon K. Goetz und Leslie Diane Myrick

Aus dem amerikanischen Englisch von Hans-Christian Oeser

Mit einem Vorwort von Rolf Vollmann

Impressum

Mark Twain, Meine geheime Autobiographie – Textedition

 

Die Originalausgabe unter dem Titel

Autobiography of Mark Twain.The Complete and Authoritative Edition, Volume I

erschien 2010 bei bei University of California Press, U.S.A.

Die amerikanische Ausgabe entstand als eine Veröffentlichung des Mark Twain Project der Bancroft Library.

Mark Twain Project® ist eine eingetragene Marke.

 

Mit einer Abbildung

 

Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

 

ISBN 978-3-8412-0490-5

 

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Oktober 2012

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die deutsche Erstausgabe erschien 2012 bei Aufbau, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

© 2010 The Regents of the University of California

Published by arrangement with University of California Press

Lektorat Nele Holdack

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Covergestaltung hißmann, heilmann, hamburg

unter Verwendung eines Motivs von © William Vander Weyde

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

 

www.aufbau-verlag.de

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Inhalt

Vorwort

Von Rolf Vollmann

Mark Twains Autobiographie

[Meine Autobiographie]

[Florentiner Diktate]

[New Yorker Diktate]

[Vorläufige Manuskripte und Diktate]

[Erste Versuche]

[Die Grant-Diktate]

[1890–1897]

Vier Skizzen über Wien

[1898–1905]

»Wir sollten in Zukunft hier draußen diktieren. Das muss ein Ort der Inspiration sein.«

Mark Twain, Upton House, 1906

Vorwort

Von Rolf Vollmann

Wenns nicht gar zu sehr eilt, dann sollten sich auch die Ältesten unter uns noch ein bisschen Zeit lassen mit dem Sterben, dies ist nur der erste Band von Mark Twains bislang geheim gehaltner Autobiographie, zwei kommen noch, und es wäre doch, so herrlich wie das Ganze losgeht, zu schade, wenn wirs nicht weiter-, nicht auslesen könnten im schönsten Fall.

Selber ist er ja mit der Zeit umgegangen, als hätt er davon geerbt wie sonst kein Schreibender, Jahrhunderte, und verfügt testamentarisch, kaum fängt er an mit dem Erzählen seines Lebens, dass erst ein volles Jahrhundert nach dem Ende dieses Erzählens und Lebens wir so viel später noch Lebenden das Vergnügen haben sollen, ihm noch einmal Stunden, Tage, Wochen lang zuzuhören.

Das Vergnügen – davon nämlich, dass es für uns eines sein muss nach hundert Jahren, ist Mark Twain offenbar überzeugt. Wenn sonst einer anfängt, sein Leben zu beschreiben, bringen ihn ja besonders zwei Probleme wirklich in die Klemme, nämlich erstens, dass das Geschriebne nicht zu spät herauskommt, wenn er selber nichts mehr davon hätte und womöglich längst tot und, ach Gott, ja, vergessen wäre und es dann ohnehin kein Verleger mehr drucken würde; aber zweitens darfs auch nicht zu bald sein, wenn etwa welche noch leben von denen, über die er endlich gern mal was Wahres sagen möchte; so dass er nun, will ers doch herausbringen, solang sie noch leben samt Frauen und Kindern und Enkeln und Anwälten, lügen und das Beste verschweigen muss, oder wieder druckt es kein Verleger.

Und da sind nun hundert Jahre ein Maß, als hätte ein Kind alle Zweifel gelöst und gesagt: sag einfach 100 Jahre. Wie ist einer, der darauf hört? Demütig? Selbstbewusst? Größenwahnsinnig? Selber kindisch? Alles wahrscheinlich, also wirklich ein großer Mann, und davon überzeugt, dass er einer ist, und das mit Recht, wie wir jetzt zu unserm Vergnügen und Staunen sehn. Und neben dem Vergnügen dieses Staunen, das ähnelt ein bisschen wirklich dem Gefühl, das wir haben, wenn Homer manchmal von seinen Helden sagt, solche wie sie gäb es heute nicht mehr.

Diese Ferne, die er sich so zu dem genommen hat, was er erzählt, gibt dem Erzähler nun eine geradezu unbedenkliche Freiheit, und seiner Erzählung jenen Schimmer wunderbarer Ungezwungenheit, der uns von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde immer faszinierter zuhören lässt. Zuhören lässt eher als Lesen, und von Minute und Stunde zu Minuten und Stunden eher als von Seite zu Seite – Mark Twain hat diese fast unendliche Geschichte nicht selber aufgeschrieben, sondern diktiert, als wär es die spontane Erzählung, nach der sie klingt. Es kann aber nicht daran liegen, zum Beispiel hat sein berühmter Kollege und Zeitgenosse Henry James seine späteren großen Romane ebenfalls diktiert, ohne dabei doch je den ungeheuer komplexen Stil zu verleugnen, den keine spontane Erzählung haben kann, und niemals haben will. Und man erinnert sich dann, dass diesen besagten Schimmer schöner Ungezwungenheit Mark Twains Romane und Erzählungen immer schon hatten; und es sieht nun fast so aus, als war dies alles, diese Unbedenklichkeit, diese schöne Ungezwungenheit, diese Ferne der hundert Jahre und dies wie hingeredete Erzählen nur ein und dasselbe Wesen einer glücklichen Schriftstellernatur.

Ab und zu, aber ohne den Leser allzu sehr strapazieren zu wollen, schaltet Mark Twain Reflexionen ein über das, was er da treibt. Zu den vorhin genannten Problemen beim Beschreiben des eignen Lebens kommen ja noch andre dazu, eines ist, dass es zu vorzeitiger grausamer Ermüdung führen kann, wenn wir den Selbsterzähler sagen wir mit dem vierten Jahr seines Lebens beginnen sehn und wissen, dass er achtzig geworden ist; Goethe, den Mark Twain gut kannte, er war, Mississippi rauf und Missouri runter, ein außerordentlich belesener Schriftsteller, Goethe gibt dafür ein hübsches ironisches Beispiel, wenn sein Wilhelm Meister der schönen Mariane seine Kindheit erzählt, und diese dabei, und sie liebt ihn wirklich, wunderbar einschläft. Tagebücher wieder, obgleich sie reine Gegenwart zu sein scheinen, machen durch sagen wir sechzig Jahre hindurch mitunter etwas ungeduldig, vielleicht hier noch obendrein durch das Fehlen jeden Lichts von woandersher, von jetzt vielleicht.

Mark Twain nun, dieser höflichste aller Schreiber, der lieber zehnmal nachdenkt, eh er einmal den Leser ermüden könnte, erfindet nun die eigentlich allerselbstverständlichste Methode für sein Vorhaben (bei ihm kommen einem alle Methoden wie die simpelsten Selbstverständlichkeiten vor), er beginnt nämlich, sozusagen ein Tagebucherzähler, jedes Mal mit dem, was der Tag, der nun ist, bringt, er berichtet vom Tage; und während er das tut, schweift er, zufällig, mutwillig, irgendwoher oder irgendwohin angeregt, weit vom Tag ab zu irgendwelchen Geschichten von damals, und was immer dabei an Erzähltem herauskommt, nachher und im Lauf der Zeit, und wenn der Zuhörer den richtigen Spaß dabei gefunden hat, wird das Erzählte immer deutlicher zu jener Lebensgeschichte, um die es geht. Während noch der Tag, an dem erzählt wird, seine eigne Gegenwart gewinnt, füllt er sich schon mehr und mehr und schöner und schöner mit der Gegenwärtigkeit des erzählten Lebens von damals auf.

Es scheint durcheinanderzugehen wie beinahe bei Sterne, dessen Tristram Shandy alle ermüdende Ordnung vernachlässigt, und zwar gleich von Anfang an, nämlich indem er nicht, wie ein ordentlicher Autobiograph, etwa bei seiner Geburt beginnt, sondern neun Monate vorher, bei seiner fast verunglückten Empfängnis, als die Uhr nicht schlägt: da kann dann nichts mehr gehen, wie es bei ordentlichen Leuten geht. Mark Twain liebte Sterne; Tristram Shandy ist aber ja eine fiktive, eine erfundne Person, kaum ein gutes Vorbild also, sollte man denken, für einen, der sein wirkliches Leben erzählen will.

Aber Mark Twain wusste, dass sein gleichsam persönliches Überdauern jener hundert Jahre wesentlich an seinen Romanen hing, am Mississippi und Missouri, an Tom Sawyer, an Huckleberry Finn und all ihren Freunden; und öfter in seiner Lebenserzählung, wenn er an bestimmte Jugendgeschichten gerät, erinnert er den Leser daran, wie der diese Geschichten schon einmal erzählt bekommen habe in jenen Romanen, von denen ja jeder auch schon wusste, dass sie ebenso sehr eigne wie erfundne Geschichten waren, erzählte Geschichten. Und wenn er nun also sein eignes Leben erzählte, so war dieses Leben auch das einer fiktiven, schon erzählten halb erfundnen Figur; zwar war das kein ganz und gar erfunden erst in die geschriebene, dann in die wirkliche Welt gesetzter Tristram Shandy, aber doch eben immer auch noch etwas andres als bloß der, der da erzählte, immer auch noch ein Tom Sawyer, ein Huckleberry Finn.

Es ist klar, und ist natürlich auch jedem Leser klar, das der Lebenserzähler jetzt, wenn er von Präsidenten, von Geschäftsleuten, von seiner Familie, von Reisen und Reportagen und Vorträgen erzählt, ein andrer ist als bloß ein erwachsen gewordener Held seiner Romane. Aber klar ist eben auch, dass kein Leser diesen Zusammenhang jemals ganz aus dem Kopf verlieren würde, deshalb konnte man ihn ja auch ruhig von Zeit zu Zeit daran erinnern. Und nun war beides zauberhaft: wenn erst derselbe wunderbare Schimmer der unbedenklich leichten Ungezwungenheit auf den alten Büchern und der jetzigen Erzählung lag, und nun obendrein das Licht der jetzt erreichten Zeit des zusammenfassenden Erzählens auch das Damals noch einmal beleuchtete. Und dieser Zauber, daran wird der diktierende Alte mit schöner Gewissheit geglaubt haben, werde auch in hundert Jahren noch wirken.

Als er irgendwann in diesem ersten Band auf seine Familie kommt, erzählt er ausführlich von seiner so sehr geliebten ältesten Tochter Olivia Susan, Susy genannt. Er erzählt, wenn man genauer hinsieht, genauer als er selber, lauter solche Geschichten, wie Eltern sie gern, und mit Recht, es sind wahre schöne Geschichten, von ihren Lieblingskindern erzählen, von klugen frühreifen weisen Sachen, die sie gesagt haben, von schönen Dingen, die sie getan haben, und so weiter. Mark Twain erzählt gerührt, alles was er da erzählt ist so ganz anders als was er je von sich in Büchern hatte erzählen können, und dann kommt hinzu, dass diese so geliebte begabte und fast so gegenbildnerische Tochter, lange schon kränkelnd, starb, mit 24 Jahren, er war grade auf Vortragsreise um die Welt.

Noch als junger Teenager hatte Susy angefangen, so etwas wie eine Biographie ihres berühmten Vaters zu schreiben, im Grunde wohl so etwas wie das wahre Leben und Wesen ihres Vaters, der sich niemals dagegen gesträubt, sondern eher alles dafür getan hatte, die legendäre Verkörperung amerikanischen Humors zu sein (ungeachtet aller profunden Kritik, die er an den Verhältnissen übte, unerschrocken übte, und natürlich nun erst recht und mit allen Namen in dieser Autobiographie: am Rande dies, und Susy wusste davon ja nichts). Die Tochter machte den ewig reisenden und redenden Mann nun aber zu einem wunderbaren Menschen, einem wunderbaren Vater, und vielleicht kann man sagen, zu dem, der er gern gewesen wäre, wäre er nicht mit Leidenschaft der geworden, der er, vielleicht ein bisschen zum Leidwesen seiner Tochter, doch war.

Und nun machte er etwas, das in dieser naiven Skrupellosigkeit wohl nur ein großer Mann wie er machen konnte: immer wieder zitiert er Sätze aus der töchterlichen Biographie, wunderbare Sätze, liebend verehrende Sätze, wie sie kein Beschreiber des eignen Lebens je über sich aufschreiben würde; er schreibt sie ab, und natürlich relativiert er sie, sie gehen ganz aufs Konto der kindlichen Liebe dieser klugen toten Lieblingstochter; aber da stehn sie nun einmal, und eben aus der Feder, aus dem Mund dieses so weisen jungen Mädchens, das ihn schreibend geliebt hatte wie sonst keiner, ihn in seiner Wahrheit.

Das ist ein ungeheuerlicher, ein ganz und gar unheimlicher Griff, den er da tut, und immer weniger wissen wir, wer uns da eigentlich nach hundert Jahren noch so sehr bezaubert, dass wir nicht über den Missouri wollen, und jedem raten, mit uns an diesem Ufer zu bleiben, eh das alles nicht ausgelesen ist.

Mark Twains Autobiographie