TROPEN       SACHBUCH

Titel

AUS DEM AMERIKANISCHEN
VON
GREGOR HENS

Impressum

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Tropen

Aus dem Amerikanischen von Gregor Hens

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel

»The Ecstasy of Influence« in erweiterter Fassung im

Verlag Doubleday, New York

© 2011 by Jonathan Lethem

© 2012 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Herburg Weiland, München

Datenkonvertierung: Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung Stuttgart

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50318-0

E-Book: ISBN 978-3-608-10336-6

Der Text dieses E-Books entspricht der 1. Auflage 2012 der Printausgabe.

Inhalt

I. Mein ursprünglicher Plan

Mein ursprünglicher Plan - Erster Teil

Geschichten aus dem Modernen Antiquariat

Bücher, die sie lasen

Verderben in Wendover

Der Zelig des Skandals: Bret, Donna und die anderen

II. Dick, Calvino, Ballard: Science-Fiction und die Postmoderne

Mein ursprünglicher Plan - Zweiter Teil

Der verrückte Freund (Philip K. Dick)

Was ich bei der Science-Fiction-Tagung lernte

Das Beste von Calvino: Gegen den Vollständigkeitswahn

Die Postmoderne als Liberty Valance. Notizen zu einem Ritualmord

Die Forderung der Zeit (J. G. Ballard)

III. Plagiate

Einflussekstase

Das Nachleben der »Einflussekstase«

IV. Gegen die »Popkultur«

Gegen die »Popkultur«

»Supermen!« – Eine Einführung

Die fünf deprimiertesten Superhelden

Verfilmungen (Spider-Man)

Alles kaputt (Die Kunst der Finsternis)

Am Ende der Fahnenstange: Marlon Brando

Der Hintern von Donald Sutherland oder Filmsex für Leute, die noch Sex haben

Auszeiten (Knut)

Reklame für Norman Mailer

Termiten und weiße Elefanten: Positionen im Leben eines Schriftstellers im 21. Jahrhundert

V. Dylan, Brown und Punk

Das Genie des James Brown

People Who Died

Das Haar in der Suppe

Über Architektur tanzen oder Die fünften Beatles

Interview mit Dylan

VI. Was von meinem Plan geblieben ist

Was von meinem Plan geblieben ist

Für Richard Parks

Der Wahrheitssinn des Künstlers. – Der Künstler hat in Hinsicht auf das Erkennen der Wahrheiten eine schwächere Moralität als der Denker; er will sich die glänzenden, tiefsinnigen Deutungen des Lebens durchaus nicht nehmen lassen und wehrt sich gegen nüchterne, schlichte Methoden und Resultate. Scheinbar kämpft er für die höhere Würde und Bedeutung des Menschen; in Wahrheit will er die für seine Kunst wirkungsvollsten Voraussetzungen nicht aufgeben, also das Phantastische, Mythische, Unsichere, Extreme, den Sinn für das Symbolische, die Überschätzung der Person, den Glauben an etwas Wunderartiges im Genius: er hält also die Fortdauer seiner Art des Schaffens für wichtiger als die wissenschaftliche Hingebung an das Wahre in jeder Gestalt, erscheine diese auch noch so schlicht.

FRIEDRICH NIETZSCHE, Menschliches, Allzumenschliches

Die Vorstellung, dass die Kunst einen teuren Brocken eines stark reglementierten Gebiets darstellt, muss das Talent eines jeden modernen Malers bedrücken …

MANNY FARBER, »White Elephant Art vs. Termite Art«

Bestimmt haben Sie in Ihrem Eifer unvorstellbare, durch Tatsachen nicht zu rechtfertigende Versprechen gegeben, was durchaus einen Wert hat, aber hat sie jemals jemand eingefordert?

ANDER MONSON, »The Essay Vanishes«

Bild

Twist away the gates of steel
Unlock the secret voice –

DEVO, »Gates of Steel«

In jedem Buch steckt ein Buch.

RICHARD G. STERN

Mein ursprünglicher Plan – Erster Teil

Mich gibt es nur, weil sie ausgestiegen sind. Ich lernte gleich zu Beginn, dass es besser ist zu gehen, als sich feuern zu lassen. Meine Mutter brach ihr Studium ab und schloss sich der Gegenkultur an. Der Legende der Judith Lethem nach war dies ein brillanter Schachzug, der nicht bereut werden durfte, allerdings erinnere ich mich an ein Gespräch über eine Werbung des Empire State College, das einen Studienabschluss im Fach Lebenserfahrung versprach. Demos, Selbsterfahrungsgruppen, Sozialarbeit, Drogenerfahrung, das hätten sie ihr alles angerechnet. Die Werbung für dieses Studium fand sich auf einem Streichholzheftchen. Mein Vater, ein Fulbright-Stipendiat, hatte Malerei an der Columbia University und in Paris studiert. Als er fertig war, schlug er eine Professur aus und arbeitete eine Weile als Schreiner. Den kommerziellen Galerien in Manhattan zeigte er die kalte Schulter, er vertraute sich lieber einer Künstlerkooperative in Brooklyn an. Damals tauchte man ab, um die Welt neu zu erfinden. Man verschwand in Dachstuben und schrieb, bis das Feuer des Prometheus aus den Manuskripten schlug. Man trampte nach San Francisco. Die Vorstellungen der Beat-Generation lagerten in den tiefsten Schichten meiner Persönlichkeit, dabei hatte ich schon früh das Interesse an Kerouacs Romanen verloren. Die erste Arbeitsanweisung, die auf dem Schreibtisch deines Lebens landet, sind deine Eltern, die Akte ist so dick, dass du kaum drübergucken kannst. Wenigstens die Hälfte des erforschten Universums hatte vollständig aufs Studium verzichtet. Es war, so ging die Legende der Judith Lethem (die vermutlich nur in meinem Kopf existierte), »die schlauere Hälfte«. Die Mauern ihres Märchenschlosses bestanden aus Regalwänden. Später stellte ich fest, dass viele der Bücher in diesen Regalen den Eintrag Richard Lethem, Columbia University auf dem Vorsatzblatt trugen.

Noch heute gratuliert man mir dazu, dass ich, anders als die meisten Mitstreiter meiner Generation, nicht in die Mühlen universitärer Schreibprogramme geraten bin. Ich müsste mich in solchen Momenten zum Verteidiger all jener aufschwingen, die mit allen Mitteln, seien sie noch so schmerzhaft und furchtbar, versuchen, Schriftsteller zu werden. Wenn ich vor Studenten des Kreativen Schreibens spreche, rührt mich oftmals ihre Hingabe. Doch statt einer Verteidigung biete ich nur Schweigen, denn ich würde vor Scham vergehen, wenn ich erklären müsste, warum ich nicht einmal mitbekommen hatte, dass man als angehender Schriftsteller einen ganz bestimmten Weg zu gehen hat. Ich verstand das System erst, als es für mich zu spät war, denn ich war benebelt von einer anderen Geschichte, die fünfzig Jahre alt und längst nicht mehr aktuell war. Schriftsteller, dachte ich, wird man so: Man jobbt in einer Buchhandlung, bis man seinen ersten Roman vorlegen kann.

Geschichten aus dem Antiquariat

Aufschließen

Mit fünfzehn erlebte ich meinen ersten Karrieresprung. Hatte ich bis dahin nur den gestrichenen Dielenboden fegen und die Ware auf den bunt zusammengewürfelten, grob gezimmerten Regalen in Ordnung bringen dürfen, hatten sie mich immer nur zu Steve’s Restaurant rübergeschickt, um Kaffee (»nicht zu stark«, in Pappbechern, die mit dem Abbild des Parthenon geschmückt waren) zu holen sowie scharf angeröstete Mais-Muffins, durfte ich nun allein den Laden aufschließen. Und zwar samstags und sonntags. Es war ein kleines Antiquariat auf der Atlantic Avenue, neben Teppiche Kalfian. Gegenüber war ein Reifenhändler, sonst war auf der Straße überhaupt nichts los. Heute sieht es dort ganz anders aus. Wir werden niemals erfahren, was uns die Sanierungswelle gebracht hätte, wir waren mit unserem exzentrischen kleinen Antiquariat zwanzig oder dreißig Jahre zu früh.

Michael war ein Langschläfer, und es fiel ihm von Mal zu Mal schwerer, sich aufzuraffen, um einem leeren Geschäft vorzustehen. Die Lösung dieses Problems war ich, der Junge von nebenan, der nur um der Anerkennung willen für die Erwachsenen »schuftete«, auch wenn ich eigentlich nichts tat, als zu lesen, mich im wohnzimmerartigen Lager umzusehen und ein Spiel zu spielen, das ich »Gott der Bücher« nannte. Meine »Bezahlung« bestand darin, dass ich mir ein paar Bücher mitnehmen durfte. Ich war ständig damit beschäftigt, einen Stapel im hinteren Teil des Flurs zu pflegen, bis ich schließlich genug verdient hatte, um die Bücher in meinem Rucksack verschwinden zu lassen. In einer Vitrine bewahrten wir außerdem die Sonderausgaben auf, darunter zwei, die ich unbedingt haben musste. Es dauerte Monate, bis ich genug angespart hatte: Hamlet, die Korrespondenz von Henry Miller und Michael Fraenkel, unbeschnitten und mit rotem Bändchen, sowie eine signierte Ausgabe von Bernard Wolfes geheimnisvollem Roman Limbo. (Den Wolfe besitze ich heute noch, doch ich habe vergessen, wie mir der Miller-Fraenkel abhandengekommen ist.)

Immer um elf, nachdem ich mir Tee geholt hatte (keinen Kaffee, aber einen gerösteten Mais-Muffin), zerrte ich den Wagen mit den klaubaren Taschenbüchern auf den Bürgersteig und stellte ihn vor das Schaufenster. Dann pflanzte ich mich hinter den massiven alten Schreibtisch, der aus Überwachungsgründen gleich rechts neben der Tür stand, und wartete auf den ersten Kunden. Manchmal wartete ich über eine Stunde. Da wir keine Heizung hatten, trug ich in der kalten Jahreszeit stets Schal und Mütze und rieb die Handschuhe aneinander, ungeduldig, dass die ersten Sonnenstrahlen ins Schaufenster fielen und den vorderen Teil des Ladens aufwärmten. Das Wechselgeld lag in der obersten Schublade in einer Zigarrenkiste, und beim einzigen Mal, dass ich kurz meinen Posten verließ, eine Minute, nicht länger, wurde die Kiste ausgeräumt. Meine Schuld, ich weiß, aber Michael schüttelte nur den Kopf, er wusste, dass Diebstahl in diesem Viertel einfach dazugehörte. Der Vorfall sprach nicht gegen mich, sondern gegen die Geschäftslage, und es dauerte nicht lange, bis er mit seinem kleinen Laden nach Manhattan umzog, in ein Untergeschoss auf der Vierundachtzigsten Straße, Upper East Side – der Laden war halb so groß wie in Brooklyn und brachte hundertmal mehr ein.

Lovecraft im Keller

Den Laden auf der Livingston Street in Brooklyn gab es seit den Dreißiger- oder frühen Vierzigerjahren, so genau wusste das niemand, der damalige Chef hatte ihn in den Siebzigern übernommen. Dieser Mann hasste Bücher. Der Laden war eine Katastrophe. Uralte Bücher verkannter Qualität waren in tiefen Schichten unter den zweifelhaften Ankäufen der letzten Jahrzehnte begraben, und der Chef, der sich durch das – aus seiner Sicht undurchschaubare – Antiquariatsgeschäft verunsichert fühlte, rettete sich damit, dass er jede neue Bibelausgabe ins Angebot nahm und Bücher über Traumdeutung und kistenweise gebrauchte Ausgaben von Playboy und Penthouse verkaufte sowie Übungsbücher für die Prüfungen zur Aufnahme in den Öffentlichen Dienst. Es gab Typen, die erst das Buch Feuerwehr kauften und dann, nachdem sie durch die Prüfung gefallen waren, Müllabfuhr oder Gefängniswärter. Der Laden war lang und schmal und hatte eine sehr hohe Decke. Mit Leitern erreichten wir das obskure Material, das auf den oberen Regalen in fünf, sechs Metern Höhe lagerte. Einen muffigen, schimmeligen Keller gab es auch, er war immer abgeschlossen, und es hieß, er stecke voller Schätze, die die früheren Eigentümer zurückgelassen hätten, darunter eine große Sammlung seltener Ausgaben aus der Hinterlassenschaft von H. P. Lovecraft.

Der Chef, der aus seiner Not heraus junge Leute anstellte, die sich besser mit Büchern auskannten als er, vertraute niemandem, er befürchtete, dass wir Bücher verkannten Werts aus dem Laden schmuggelten. Und so war es ja auch. Er hatte deshalb verschiedene absurde Regeln aufgestellt. Wir durften nicht mehr als zwei Bücher pro Woche kaufen, auch nicht zum vollen Preis. Ich war also gezwungen, Strohmänner einzusetzen, Freunde, die hereinkamen und taten, als würden sie mich nicht kennen. Ich drückte ihnen Bücher in die Hand, die sie für mich kauften. Es war auch untersagt, länger als eine oder zwei Minuten im Keller zu bleiben. Wenn uns der Chef hinunterschickte, um bestimmte Dinge zu holen – Glühbirnen oder Tüten, niemals Bücher –, blieb er oben an der Treppe stehen, rieb sich nervös die Hände und trieb uns mit lauten Rufen an. Blieben wir zu lange unten, befürchtete er gleich, wir würden die Schätze heben, die in den Regalen des stockfinsteren Kellerlabyrinths standen, Bücher, deren Wert er nur erahnen konnte, während wir eine ziemlich genaue Vorstellung hatten. Und so war es ja auch. Ansonsten ließ er uns niemals allein, nicht für eine einzige Minute.

Doch einmal stand ich früh auf, da ich um sieben mit einem Kollegen, der später mein Mitbewohner wurde, verabredet war. Wir verbrachten einige Stunden vor der Ankunft des Chefs damit, uns einen Überblick über die Bestände zu verschaffen. Die Mühe lohnte sich kaum, wir fanden nur fünf oder sechs interessante Bücher, nichts Besonderes, vor allem fanden wir keine Spur von einem Lovecraft-Schatz. Ein paar Wochen später kündigten wir und zogen weiter.

Paloma Picasso

Mein Mitbewohner machte mittlerweile die Spätschicht in einer Buchhandlung Ecke Broadway und Achtzigste. Es war ein hoher, schmaler Laden mit einer zentralen Treppe, oben befanden sich die Sonderausgaben, unter der Treppe stand ein Karton mit gebrauchten Schallplatten. Ich war seine Aushilfe und für den Ladenschluss am Freitag und Sonntag zuständig. Am Wochenende zwischen sieben und zehn war am meisten los, Pärchen schlenderten nach dem Kino oder nach dem Essen herein, die Kasse klingelte. Dagegen war in der letzten Stunde, besonders sonntags zwischen elf und zwölf, praktisch nichts los. Es war ein solcher Sonntag, ich saß an der Kasse und las. Außer mir befand sich in dem Laden noch eine Gestalt mit einem ewig langen Hals. Sie trug Haute Couture und stapelte ein Kunstbuch nach dem anderen auf dem Arm, mehrmals trat sie an den Tresen, um ihre Bild- und Fotobände abzuladen, nur um darauf erneut in den Regalen zu verschwinden. Der teure Stapel wuchs immer weiter an, und ich begann, mich für die Situation zu interessieren, ich hatte das vage Gefühl, dass eine verschwörerische Verbindung zwischen uns entstand, die ich sexy fand. Ohne ein Wort zu sagen, gab sie mir dann ihre Identität preis, und zwar genau wie in einer Fernsehwerbung, die damals sehr bekannt war: Sie zahlte mit ihrer Kreditkarte.

Chris Butler

Der winzige Buchladen in der Bergen Street hielt sich vielleicht ein halbes Jahr, und als die Eigentümer, ein Hippie und seine Hippiefreundin (in die ich mich verschossen hatte), dichtmachen wollten, war ich drauf und dran, ihn zu kaufen. Wenn ich ihn zusätzlich als Wohnung nutzte, so meine Überlegung, würde er sich vielleicht tragen, und ich könnte mir auf diese Weise leisten, allein in der Stadt zu leben. Ich träumte davon, den ganzen Tag in meinem Laden zu sitzen und zu schreiben – ruhig genug war es ja. Doch dann zog ich nach Kalifornien und blieb ein ganzes Jahrzehnt dort. Der Laden, der die Größe eines begehbaren Kleiderschranks hatte, wurde später in eine Videothek umgewandelt, dann in einen Hot-Dog-Stand.

Lange, ruhige Nachmittage verbrachte ich dort, zwei Ereignisse sind mir im Gedächtnis geblieben: Ich saß am Tresen und hörte den Sender WBAI, als der Jazz-Schlagzeuger Philly Joe Jones starb. Bizarrerweise starb ein weiterer Jazz-Schlagzeuger, Papa Joe Jones, keine achtundvierzig Stunden später. Der Discjockey spielte die Stücke der beiden Joe Jones’, er sprach in würdigem Ton über ihre Bedeutung, doch nicht ein einziges Mal erwähnte er den absurden Zufall, dass sie den gleichen Namen trugen. Ich hatte vorher weder vom einen noch vom anderen Schlagzeuger je etwas gehört.

Und: Eines Tages kam Chris Butler herein, der Songwriter der Band The Waitresses, und wollte sich mit mir unterhalten. Ich weiß nicht mehr, wie er mir zu verstehen gab, wer er war, ich bin mir aber sicher, dass ich nur zu bereit, vielleicht sogar verzweifelt bereit war, mich auf einen Kunden einzulassen, der offenbar ein solcher Hipster war.

Die gebieterische Autorin

Eines Nachmittags trat eine gebieterische Memoirenschreiberin mittleren Alters in die Buchhandlung auf der Solano Avenue in Berkeley, ein Laden von der Größe eines Supermarkts. Vier Regalwände voller antiquarischer Bücher zogen sich tief in den Raum, wo Restexemplare und neue Bücher in Stapeln auf Tischen lagen, wo Kästen voller Schallplatten standen und das Zeitschriftenregal so hoch war, dass wir einen Spiegel installieren mussten, um es zu überwachen. Vier oder fünf von uns arbeiteten jeweils im Laden, zwei an der Kasse.

Sie brachte einen ganzen Hofstaat mit, verschiedene ortskundige Helfer und die ein oder andere literarische Eskorte folgten ihr, Hofschranzen, die fragten, ob wir Bücher der Autorin vorrätig hätten. Wir begannen, uns über den Anspruch lustig zu machen, mit dem diese Leute auftraten. Wir waren zwar nur einfache Verkäufer, aber wenn wir im Laden waren, gehörte er doch irgendwie uns, und so nahmen wir uns das Recht heraus, jeden, der zur Tür hereinkam, einer scharfen Beurteilung zu unterziehen. Einer von uns machte eine unhöfliche Bemerkung gegenüber der Memoirenschreiberin, und jemand sprang ihr bei mit dem Satz: »Wissen Sie eigentlich, mit wem Sie es zu tun haben?«

Eine weitere Besonderheit dieses Buchladens war, dass wir immer wieder die Spitzel der Rechteverwertungsgesellschaft ASCA P abwehren mussten, mormonisch gekleidete Männer und Frauen, die Klemmbretter in den Händen hielten und nicht aufhörten, unangenehme Fragen zu stellen. Wir sollten dafür bezahlen, dass wir die gebrauchten Platten aus den Ramschkästen hinterm Tresen auflegten. Natürlich konnte man die Musik im ganzen Laden hören, doch wir stellten uns stur und behaupteten, dass wir sie allein zum persönlichen Vergnügen abspielten und dass die Kunden eher dazu neigten, sich über die Musik zu beschweren, was sogar der Wahrheit entsprach. Wenn sie endlich gingen, kicherten wir hinter vorgehaltener Hand, fasziniert von der Seelenlosigkeit bürokratischer Langweiler.

Conlon Nancarrow

Ein gebeugter, gebrechlicher Mann mit einem eleganten Spitzbart kam eines Tages in den Laden auf der Solano und sah sich die Schallplatten an. Er wurde von einem Typen aus Berkeley begleitet, den wir als einen etwas eitlen, semiprominenten Experimentalmusiker kannten. Der Name, der auf dem Scheck stand, den der alte Herr mit zitternder Hand ausfüllte, war Conlon Nancarrow, der legendäre Avantgarde-Künstler, der seine Kompositionen, die für menschliche Pianisten zu schnell waren, im mexikanischen Exil auf Notenrollen konserviert hatte. Ich stieß einen kurzen Freudenschrei aus, als ich den Namen las, und rief nach unserem Platteneinkäufer, der im hinteren Teil des Ladens sein Versteck hatte. Zum Glück hatten wir einige von Conlon Nancarrows LPs, Restbestände, die er mit einem silbernen Filzschreiber signierte.

Bücherdiebe

Irgendwann wurde unter den Buchhändlern in Berkeley bekannt, dass sich eine Bande von Bücherdieben auf die teuersten Bildbände spezialisiert hatte und diese weiterverkaufte, ein leichtes, schnelles Geschäft. Unsere Bücher waren bereits in anderen Läden aufgetaucht und wir hatten uns ohne unser Wissen mitschuldig gemacht, als wir Bücher aus anderen Buchhandlungen unseres Viertels angekauft hatten. Die Diebe, so hieß es, waren schmierig, exzentrisch und schwul – was uns, die Belegschaft von der Solano Avenue, in höchste Alarmbereitschaft versetzte.

Es dauerte nicht lange, bis wir die Bande in unserem Laden entdeckten, es waren zwei Männer und eine Frau, sie stromerten durch die hinteren Regalreihen. Wir verständigten uns mit Handzeichen, bildeten einen vier oder fünf Personen starken Trupp und stellten uns ihnen entgegen, berauscht von Adrenalin und Empörung. Wir führten sie in ein Hinterzimmer, wo die Diebe bedrückt ihre Beute aus Mänteln und Taschen zogen und auf den Tisch legten, es waren sechs oder sieben schwere Bildbände. Staunend ob dieser Dreistigkeit, dieser Maßlosigkeit, stotternd und taub vor Wut und Selbstgerechtigkeit fuhren wir sie an: Ihr wollt unkonventionell sein, ihr tut, als würden euch Bücher etwas bedeuten, und zwingt uns Angestellte in die Rolle von Polizisten? War das nicht ein besonderer Vertrauensbruch, die Verletzung einer Art Übereinkunft? Bücherdiebe, die aussahen wie Gema-Mormonen, das wäre etwas anderes gewesen. Aber diese hier sahen aus wie wir selbst, unbedarft, ungepflegt, hip – sie sahen aus wie Typen, die in Modernen Antiquariaten jobbten. Wir schickten sie fort und beglückwünschten uns, blieben aber verunsichert. Ich habe noch nie in einer Buchhandlung gearbeitet, in der sich die Belegschaft nicht gelegentlich bediente, wir glaubten immer, dass wir ein größeres Anrecht auf die Ware hatten als die zahlende Kundschaft. Und einer der besten, engagiertesten Menschen, mit denen ich jemals zusammengearbeitet habe, ein Buchhändler aus Überzeugung, ist später sogar im Gefängnis gelandet. Er wurde verurteilt, weil er mit unmäßigem Eifer, so der Richter, aussortierte antiquarische Bücher und Manuskripte aus einer Universitätsbibliothek gerettet hatte.

Eldridge Cleaver, Greg Bear, Joseph McBride

In einer weiteren Buchhandlung in Berkeley – in palastartigen Räumlichkeiten auf vier Stockwerken mitten auf der zum Campus führenden Telegraph Avenue – war man an berühmte Kundschaft beinahe schon gewöhnt. Wer an der Universität zu tun hatte, fand sich früher oder später in diesem Laden wieder, der in den Sechzigern von einer Legende der kalifornischen Antiquariatsszene gegründet worden war. Auf der dritten Etage, bei den Geisteswissenschaften, stöberten berühmte Gelehrte, bei den Raritäten und Kunstbüchern im obersten Stock begegneten sich Künstler, Fotografen und weltbekannte Sammler. Wir selbst waren in gewissem Sinn berühmt, zumindest waren wir berüchtigt für die Arroganz, mit der wir unsere Kunden behandelten. Obwohl wir uns im freundlichen Kalifornien befanden, erlaubten wir uns, wie New Yorker Buchhändler die Nasen zu rümpfen und kurze, scharfe Befehle zu bellen. Unser Gründervater, eine Art Totem, kam immer noch in den Laden. Meistens saß er vorn beim Ankauf, ein Turm von einem Mann wie Pere Ubu, und versprühte nach Zigarren schmeckende Speicheltröpfchen, wenn er über die minderwertige Ware schimpfte, die ihm angeboten wurde. Er aß mit schmutzigen Fingern Dim Sum, bis ihm die scharfe Sauce über das Kinn in den Kragen lief, wo sie den Rest des Nachmittags verbrachte. Zu den heruntergekommenen Figuren, die immer wiederkamen, um ein paar zerfledderte Bücher loszuschlagen, gehörte auch Eldridge Cleaver in seinen letzten Lebensjahren. Wenn seine Bücher nicht angenommen wurden, nuschelte er etwas und sah gedemütigt auf den Boden.

An einem ruhigen Tag trat Greg Bear, Präsident der Vereinigung amerikanischer Science-Fiction-Autoren, an die Kasse, um etwas zu bezahlen. Er war groß und schwer wie ein König. Ich erkannte ihn – mal wieder, weil ich seinen Namen auf der Kreditkarte sah. Ich kam mir sehr clever vor, als ich ihm verriet, dass ich zahlendes Mitglied seines Verbands sei – ich hatte damals drei oder vier Erzählungen in Science-Fiction-Zeitschriften veröffentlicht –, und natürlich konnte er nicht wissen, wer ich war. Trotzdem sah er mich mit großen Augen an und breitete die Arme aus: Greg Bear wollte mich an seine breite Bärenbrust drücken. Ihm war wohl die große sozialistische Wahrheit offenbart worden, dass es überall, selbst an der Kasse eines Antiquariats, kleine Leute gab, die der Armee der Science-Fiction-Autoren zugeführt werden konnten.

An einem Freitagabend arbeitete ich allein an der Kasse, als ein bärtiger Mann in Begleitung einer Frau aus dem dritten Stock herunterkam. Sie kamen aus der Filmabteilung und trugen einen Paloma-Picasso-artigen Stapel nur noch antiquarisch erhältlicher Filmbücher vor sich her. Sein Scheckheft wies ihn als Joseph McBride aus, den Biographen von John Ford, Orson Welles und Frank Capra. Ich wusste, dass er lange Nachmittage in diversen Filmstudios verbracht hatte, um Welles und Howard Hawks bei der Arbeit zuzusehen und ihnen Fragen zu stellen. » Der Joseph McBride?«, rief ich aus, und bevor McBride mir noch antworten konnte, runzelte die Frau die Stirn und sagte trocken: »Also so hat das bisher noch niemand ausgedrückt.«

Ladenschluss

Es war eine Menge Arbeit, abends den Laden auf der Telegraph Avenue zu schließen. Wir mussten alle vier Etagen überprüfen und das Zwischengeschoss – Habe ich das Zwischengeschoss schon erwähnt? Seine Stadionatmosphäre? –, um die hartnäckigen Nichtkäufer zu verscheuchen und die Obdachlosen, die den Abend im Laden verbrachten. Wir konnten noch so oft durchs Treppenhaus hinaufrufen, dass wir schließen wollten, sie ließen sich nicht aus der Ruhe bringen. Am Ende mussten wir die Lichter in einer Reihenfolge ausmachen, die dazu erdacht war, die Kunden in Richtung Ausgang zu treiben, ein System, das der Notbeleuchtung im Flugzeug nachempfunden war. Immer wieder hatten wir Ärger mit Leuten, die es sich irgendwo zwischen den Regalen gemütlich gemacht hatten und mit Empörung auf die Information reagierten, dass sie sich in einer Buchhandlung befänden und dass diese Buchhandlung gleich zugemacht würde. Als ich eines Abends einen Mann mithilfe des Lichtschalters aus dem dritten Stock exilierte, geriet er in eine solche Rage, dass er mich einen verweichlichten Oberschichtsprössling schimpfte. Ich hatte damals lange Haare. Der Versuch, mich auf diese Weise zu beleidigen, ging dermaßen daneben – ich jobbte für ein paar Dollar die Stunde! –, dass ich in Gelächter ausbrach. Erst viel später verstand ich, dass sein unbeholfener Angriff eine Variation unseres eigenen, trotzigen Klassenbewusstseins war: Ich liebe den Laden mehr als du, und deshalb gehört er mir.

Der Ladenschluss auf der Solano Avenue, in einem eher bürgerlichen Teil von Berkeley, ging friedlicher vonstatten. »Wir schließen in fünf Minuten«, kündigte ich an, dann senkte ich die Nadel auf das letzte Lied von Bob Dylans Bringing It All Back Home, das mit den folgenden Worten beginnt:

You must leave now, take what you need, you think will last. But whatever you wish to keep, you better grab it fast …

Bücher, die sie lasen

Die Hippie-Eltern wussten zwar nicht, wohin mit sich, sie vergeudeten ihre Zeit mit Dreiecksbeziehungen und LPs und Antikriegsdemos, aber Analphabeten waren sie nicht. Es mag den ein oder anderen Totalaussteiger gegeben haben, der in die Berge gezogen war und dessen Lektüre nur aus dem Whole Earth-Katalog und der Anleitung zum Müßiggang bestand, vielleicht noch einer ölverschmierten Reparaturanleitung für den V W-Bus, aber die städtischen Hippies, die lasen Bücher, in der Tat. Man fand diese Bücher unten im Gästeklo und auf Nachttischen, man konnte zusehen, wie sie an Feiertagen aus Geschenkpapier gewickelt wurden, wie die Entdeckungen weitergereicht wurden, als wären sie Joints: Love’s Body von Norman O. Brown, Ehepaare von John Updike, Ich bin o.k., du bist o.k. von Thomas Harris, Ein Platz für Hot Dogs von Tom Robbins, Knoten von R. D. Laing. Und den Hite Report. Und Marshall McLuhan und Timothy Leary, Carlos Castaneda, Theodore Rosyak, Anaïs Nin, Philip Slater, Richard Buckminster Fuller. Das waren ihre Bestseller, die Bücher, die ihre Welt ausmachten, wie, sagen wir, Malcolm Gladwell, Deepak Chopra, Mitch Albom, Alice Sebold und American Psycho und Die Kunst, den Mann fürs Leben zu finden unsere Welt ausmachen. Es ist aus heutiger Sicht ein großes Durcheinander, die Titel widersprechen sich und haben so wenig miteinander gemein wie die Lieder aus zehn Jahren Hitparade oder die größten Kinohits des Jahrzehnts. Nur dass es in jedem dieser Bücher, ohne Ausnahme, um Suche und Aufbruch ging! Diese Leute damals gaben sich nicht mit dem Zurückliegenden ab, sie machten sich auf den Weg und hatten keine Angst vor dem Unbekannten. Sie waren nicht nur bereit für die Erweiterung ihres kulturellen und sozialen Erlebens, des Körperlichen, der Kunst und der Familie, sondern auch für eine Erweiterung nach innen, einem größeren Inneren. Das kollektive Gehirn der damaligen Zeit hatte einige zusätzliche Windungen. Wollten wir die Welt unserer Hippie-Eltern zum Leben erwecken, müssten wir es den Archäologen nachtun, wir müssten ihre Selbsterfahrungen ausgraben. Im Anschluss müssten wir uns gewissenhaft wie Leser mit ihnen auseinandersetzen, nur so könnten wir einem Weltgeist gerecht werden, der in einem tiefen Ozean aus Zeit versunken ist wie die Titanic. Dies wäre schlicht unmöglich. Selbst die Hippie-Eltern, die später fern vom Wrack aus dem Wasser gezogen wurden, wären dazu nicht in der Lage. Die Bücher sind – wenn sie nicht längst in Kartons verstaut im Keller gelandet sind, oder bei der Heilsarmee, die auch nichts mit ihnen anzufangen weiß – wie winzige Grabsteine, man sollte versuchen, sie zu entziffern. Uns Hippie-Kindern versprachen sie etwas, sie öffneten den Blick, selbst wenn sie uns bedrohlich erschienen, undurchsichtig wie Talismane. Womit wir gar nicht so falsch lagen. Die Bücher der Hippie-Eltern sind wieder im Geheimnisvollen versunken. Die Hippie-Eltern haben sie längst vergessen, wenn sie sie überhaupt jemals gelesen haben, und als wir so weit waren, uns in sie zu vertiefen, hatten wir schon unsere eigenen.

Den folgenden Text finde ich ärgerlich. Er entstand, bevor ich erfasst hatte, dass ein Essay einen Zweck verfolgen sollte, und begnügt sich mit dem Anekdotischen, öffnet den Blick nicht. Es ist damit ein wenig wie mit dem Trampen, die Reise wird überbewertet – es wäre halt schön, wenn man auch mal ankäme. Doch das Selbstporträt in diesem Text ist unbeabsichtigt ehrlich, wie ein Foto, das die Figur genau in dem Moment einfängt, da sie sich hinter dem eigenen Charme wegzuducken sucht.

Verderben in Wendover

Ich bin ein schwarzer Punkt in der Wüste, ein winziges Satzzeichen, das eine gerade Linie zieht auf einem gigantischen weißen Blatt Papier, schweißgebadet, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn, und bereue alles. Es ist der Hochsommer 1984, ich befinde mich an einem absoluten Tiefpunkt. Bitte, malen Sie sich die Szene aus: Eine Streife auf der Route 80 außerhalb von Wendover, Nevada, hatte mich nach Utah zurückgeschickt, eine Meile quer durch die Wüste, es war Mittag, die Sonne brannte erbarmungslos. Damit Sie verstehen, wie ich in diese Lage geraten war, muss ich zuerst erklären, dass ich nicht richtig eingeschätzt hatte, inwiefern Trampen in Neuengland etwas anderes war als Trampen in den Wüsten und Gebirgen des Westens. Um der Geschichte gerecht zu werden, spule ich einige Wochen zurück zu einer kleinen Landstraße in der Nähe von Chatham, New York. Ich war mit einem Hippie namens Melvin in einem orangefarbenen Käfer unterwegs.

Ich hatte gerade das erste Studienjahr hinter mich gebracht. Mein Freund Eliot und ich hatten uns »beurlauben« lassen – er von der University of Chicago, ich vom Bennington College. Nachdem wir das Studium hingeschmissen hatten, waren wir in Eliots Elternhaus im nördlichen, ländlichen New York gelandet, wo wir mit Eliots Mutter einen Vertrag über Unterkunft und Verpflegung schlossen, der uns dazu verpflichtete, das ganze große Haus von außen zu streichen. Halbherzig, wie wir nun einmal waren, erfüllten wir unsere Pflicht, nur war unsere Vorstellung davon, was gute Grundierung bedeutet, eine solche, dass die Farbe bald abblättern würde wie Schuppenflechte. Wir schliefen jeden Morgen, bis Eliots Mutter aus dem Haus war, dann rauchten wir ein paar Joints und legten eine Menge Vinyl bereit: James Brown, die Minutemen und Little Feat waren besonders gefragt. Nach diesen Vorbereitungen stiegen wir auf unser Gerüst, schlugen die Hornissen unter dem Dachvorsprung tot und träumten davon, endlich fortzukommen.

Ich hatte noch eine Freundin in Vermont, und eines Tages war ich dermaßen geil, hatte dermaßen die Nase voll von den Farbausdünstungen und hatte außerdem kein Gras mehr, dass ich aus dem Malertrupp desertierte und nach Bennington zurück trampte. Eigentlich dauerte die Fahrt nur eine Stunde, als Tramper schaffte man die Strecke in drei. Das entsprach dem üblichen Verhältnis, wenn man in Neuengland von einem Städtchen ins nächste fahren wollte, man konnte sich beinahe darauf verlassen. Man hielt den Daumen raus und ließ sich eine kurze Strecke mitnehmen, und das machte man zehn oder fünfzehn Mal. Gelangweilte Vertreter in Pick-ups nahmen einen mit, liebenswürdige Familienväter, verträumte, harmlose Schwule und natürlich die Studenten aus Hampshire oder Bard in Toyota Corollas, die es darauf anlegten, ihre Passagiere innerhalb von zehn Minuten high zu kriegen. Trampen hinterließ keine Spuren, man musste sich auf nichts einlassen. Man unterhielt sich ein wenig, und schon war man ein paar Orte weiter.

Melvin war um die dreißig, trug einen Bart und hatte es in sich. Irgendwo kurz hinter Chatham hielt er an und nahm mich mit, ein paar Minuten später war ich, jawohl, high und ließ es zu, dass er mich um meine Geschichte erleichterte: Freundin, Haus anstreichen, Hüttenkoller. Freund Eliot und ich hätten vage Pläne, in den Westen zu fahren und Eliots verrückten Onkel in Berkeley zu besuchen, erklärte ich, wir bräuchten nur noch einen Wagen.

»Also, na ja, der Käfer muss zurück nach Colorado«, sagte er und erzählte irgendwas von einer Freundin, die ihn mit zurück nehme. Einfacher ging es nicht. Als er mich rausließ, waren wir uns einig. Wir hatten unsere Telefonnummern ausgetauscht, und ich gab ihm Eliots Adresse. Eine Woche später brachte er den Käfer zu Eliots Haus und verschwand. Er war sogar pünktlich.

Am liebsten würde ich schreiben: We drove that car as far as we could / Abandoned it out West. Genau das taten wir nämlich. Natürlich rissen wir tausend Witze darüber, dass die Karosserie mit einer Million in Koks vollgestopft war. Wir fuhren bis Golden, Colorado, um genau zu sein, und fanden das riesige M, das über dem Ort in den Fels geschlagen ist. Und eine Pizzeria mit einem ausgestopften Elch, der auf alle vier Wände verteilt war – Kopf, Fell und Hufe. So weit war ich noch nie im Westen gewesen, und nun erst fiel uns ein, dass wir uns keine Gedanken darüber gemacht hatten, wie wir das letzte Drittel dieses mächtigen Landes überwinden würden, wir hatten nicht einmal darüber gesprochen.

Ein paar Tage tummelten wir uns in Colorado, wir fuhren sogar zum Flughafen in Denver und bemühten uns um einen Freiflug mit einer Postmaschine, wer weiß, wie wir auf diese bescheuerte Idee gekommen waren. An der Universität in Boulder fanden wir schließlich eine Pinnwand für Mitfahrgelegenheiten, und Eliot erwischte eine Fahrt bis Berkeley in einem Zweisitzer. Die Fahrerin des Cabrios war angeblich hübsch. Angeblich, weil ich sie nie zu Gesicht bekam. Das war die einzige Mitfahrgelegenheit und ich hatte nichts dagegen, nach Berkeley zu trampen. Ich war eh seit Tagen drauf und dran, es zu wagen, ich wusste ja, wie man das macht. Dachte ich.

Der Fehler lag im Maßstab. Die Route 80, die von Cheyenne, Wyoming, nach San Francisco führt, durchquert ein gigantisches Ödland, bestehend aus nichts als Wüsten und Bergen. Die windschiefen Bretterbuden, die Benzin und Essen und einarmige Banditen im Angebot haben, kommen immer erst in Sicht, wenn der Tank fast leer ist. Auf tausend Meilen sind Salt Lake City und Reno die einzigen Ballungsgebiete, der Rest besteht aus Little America und Elko, Markennamen, die nur demjenigen geläufig sind, der sich mal genötigt sah, auf dieser Strecke einen Reifen wechseln zu lassen oder eine Sandwichkreation namens Hoagie zu verschlingen. Das Trampen in dieser Marslandschaft hat mit der gleichnamigen Fortbewegungsart in Neuengland praktisch nichts gemein. Hält einer an, um dich mitzunehmen, erklärt er sich einverstanden, die nächsten ein, zwei Stunden mit dir zu verbringen, es sei denn, er hat vor – oh nein, bloß nicht! –, dich irgendwo zwischen zwei Städten zurückzulassen.

Das Verhältnis des einen zum anderen Trampen entspricht in etwa dem Verhältnis eines Wimbledon-Finales zu einem Federballspiel auf einem Kindergeburtstag. Heute kann ich mit Gleichmut darüber sprechen, doch als mir das damals klar wurde – ungefähr fünfzig Meilen hinter Cheyenne, nachdem mich ein Christ rausgelassen hatte, der mich ausführlich davor warnte, bei den Männern, die illegal und auf eigene Faust im Westen von Wyoming nach Öl suchten, ins Auto zu steigen, und bevor ich eine Stunde später auf einen Pritschenwagen aufstieg, in dem genau diese Bier trinkenden, auf ihre Gewehre gestützten Ölmänner saßen –, nun, als mir das endlich klar wurde, war es, als hätte man mir gerade mitgeteilt, ich würde an einer tödlichen Krankheit leiden.

Stellen Sie sich vor: Meine Stoppelfrisur wuchs gerade nach, dazu eine hippe Kassenbrille wie Elvis Costello, kurze karierte Hose, Chucks, erkennbar jüdische Züge (erkennbar für jeden, der schon einmal einen Juden gesehen hatte), und meine einzige Ausrüstung für die Wüste bestand aus einem Meat-Puppets-T-Shirt. Hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, wo ich schlafen würde? Nein. Mütter, zittert um eure Söhne! Ich war ja nicht dumm, zumindest gab es dafür keine Anzeichen. Ich hatte immer brav meine Hausaufgaben gemacht und sogar die Zulassung zum College geschafft, und dann, eines Tages im August, stand ich an der Route 80 und hatte keine Sonnencreme dabei.

Ich erinnere mich an jede einzelne Fahrt. Ich erinnere mich an einen chinesischen Händler, der unerklärlicherweise einen Lieferwagen voller Softdrinks neunzig Meilen durch die Wüste fuhr. Und ich erinnere mich an einen Fernfahrer, der hinter den Sitzen im Führerhaus eine Schlafmatte ausgebreitet hatte, auf der ein Baby schlief, und ich war dafür verantwortlich, dass es nicht runterrollte. Und ich erinnere mich an einen rasenden Vertreter, der das Risiko liebte und ausgerüstet mit Radar und CB-Funk wie ein Profi den Geschwindigkeitskontrollen entging. Ich erinnere mich an jeden einzelnen, doch die Geschichte, die ich eigentlich erzählen will, spielt in Wendover, an der Grenze zwischen Utah und Nevada.

Der Typ, der mich, so dachte ich, aus Utah hinausbringen würde, buchte als Agent Rockbands, die in einem der beiden großen Casinos von Wendover, einem Ort gleich hinter der Grenze in Nevada, auftraten. Wendover, ein Flecken am Großen Salzsee, ist der letzte Ort auf der Route 80, an dem man legal zocken kann. Es war ein Freitag gegen vier Uhr, als ich bei ihm einstieg, die Fahrt sollte zwei Stunden dauern. Wir hörten Neil Youngs Everybody’s Rockin’, mein Körper sog die Luft aus der Klimaanlage ein, und ich staunte über die unmöglichen, wunderschönen Salzflächen und entdeckte am Rand der Straße die Namen von Liebenden, die mit schwarzen, wie Pupillen glänzenden Steinchen ihre Namen in das Salz geschrieben hatten. Der Agent erzählte mir, dass er in seiner glorreichen Vergangenheit die Tourneen von Three Dog Night gemanagt hatte. Er war freundlich und erwähnte, nachdem er zu einer Einschätzung meiner Naivität gekommen war, dass die Zimmer in den Casinohotels sicher alle ausgebucht seien. Und behutsam warnte er mich: dass er mich an der Landstraße vor Wendover rauslassen müsse, dass ich ihn nicht aufsuchen und um irgendwelche Gefallen bitten dürfe. An der Route 80 müsse unsere Bekanntschaft enden: Nimm es nicht persönlich.

Ich wusste nicht, was ich mit dieser merkwürdigen, offenbar auf bösen Vorahnungen beruhenden Warnung anfangen sollte, und winkte ab. Ich plante, am gleichen Abend noch weiterzufahren, vielleicht schaffte ich es bis Reno. Als er mich an der Abfahrt herausließ, glühte bereits das Abendrot. Ich war ungefähr eine Meile hinter der Grenze in Nevada. Es dauerte nicht lange, bis ich verstand, dass ich nie wieder einen Ort verabscheuen würde wie diesen! Hungrig und müde, wie ich war, wartete ich bestimmt eine Stunde. Hinter der Landstraße glitzerten die Lichter von Wendover, und die Ödnis, in der wir – der Ort und ich – uns befanden, war bedrückend. Ich hielt den Daumen raus, Dunkelheit legte sich über die Wüste, noch nie war mir Zeit so langsam, so zäh vorgekommen. Es war der Albtraum eines jeden Trampers: ein vollgepacktes Mormonenauto nach dem anderen rauschte vorüber, kinderreiche Familien auf dem Weg in ihre Wochenendhäuschen.

Dann kam der eigentliche Albtraum in der Gestalt eines Landstreichers mit einem Spazierstock und den Augen von Charles Manson. Er schlurfte heran und betrachtete mich mit hungrigem Blick.

»Kommt man schlecht weg, was?«

Ja, dachte ich, praktisch unmöglich, wenn du hier rumlungerst. »Ja.«

»Also, wenn du nicht wegkommst und irgendwo schlafen willst, ich hab mein Lager da oben …« Er zeigte auf eine kahle, armselige Erhebung auf der anderen Straßenseite.

»Ich will weiter.« Jetzt erst recht.

»Ich mein ja nur, falls es nicht klappt …«

»Dann nehme ich mir wahrscheinlich einfach ein Zimmer in der Stadt«, sagte ich, bevor ich nachdenken konnte. Hätte ich mir gleich eine Zielscheibe auf die Stirn malen können.

»Ach so … na gut.«

Sein ganzer Körper sagte: Den Jungen mache ich fertig.

»Ich glaube, ich gehe jetzt gleich«, sagte ich und lief die halbkreisförmige Rampe hinab in Richtung Wendover, den Blick des Landstreichers noch eine ganze Zeit im Nacken.

In Amerika gibt es doch in jeder Stadt wenigstens ein billiges Motel, oder? Kein billiges Motel. In Wendover gab es nur zwei ausgebuchte Casinos voller adretter Pärchen und Mormonenfamilien, und eine unübersehbare Ansammlung von Wellblechhütten und Wohnwagen, in denen verdächtige, abgebrühte Croupiers wohnten, das Wachpersonal und die Zimmermädchen der Hotels. Ich wanderte auf die Neonlichter zu, ich zitterte vor Angst, mein ganzer Körper kribbelte. Jetzt verstand ich, warum mich der Agent so ausdrücklich gewarnt hatte – ich hätte längst vor seiner Tür gestanden.

Ich betrat das Stateline Casino. Sie haben bestimmt mal ein Bild gesehen von dem gigantischen Neoncowboy, dessen gigantischer Neonarm mit der Pistole auf- und abwinkt: genau der. Es war längst alles ausgebucht, für das ganze Wochenende. Die Empfangsdame sah mich von oben bis unten an, sie sah meinen Sonnenbrand und meinen Rucksack. Und ich stank. Ich fragte, ob die reservierten Zimmer zu einer bestimmten Zeit freigegeben würden.

»Um acht«, sagte sie, »manchmal werden dann ein, zwei Zimmer frei. Ich kann aber nichts garantieren.«

Verzieh dich endlich!, schrie ihr Blick. Was sie nicht wissen konnte, war, dass ich den Grad ihrer Feindseligkeit gegen den Wolfsblick des Landstreichers abwägte, ein Vergleich, den sie nicht gewinnen konnte. Ich pflanzte mich in die Lobby, horchte, wartete, beobachtete, wie sie mich beobachtete. Ein junges Pärchen trat an die Rezeption und bekam die gleiche Antwort wie ich, und als ich sah, dass sie ebenfalls warteten, stand ich auf und stellte mich an den Tresen, um meinen Anspruch geltend zu machen. Es war Viertel vor acht.

Das Pärchen reihte sich hinter mir ein. Ich hörte, wie sie flüsterten, es war, als wäre ich unsichtbar.

Sie: »Wenn es nur noch ein Zimmer gibt, können wir ihm doch anbieten, in unserem Auto zu schlafen.«

Ja!, dachte ich. Ich hatte noch ungefähr neunzig Dollar, das billigste Zimmer kostete siebzig.

Er: (nach einer langen Pause) »Kommt gar nicht in Frage.« Jetzt hoffte ich, dass genau ein Zimmer frei würde, sie hätten es nicht anders verdient gehabt. Allerdings glaube ich, dass sie es auch noch geschafft haben, genau weiß ich das nicht. Ich erinnere mich nur noch daran, wie erleichtert ich war, als ich meine schweißgetränkten Scheine rüberschob und einen Schlüssel ausgehändigt bekam. Ich hatte fest vorgehabt, dieses gemeine Nest hinter mir zu lassen. Nun triumphierte ich, weil ich für eine einzige Übernachtung innerhalb der schützenden Burgmauern meine gesamte eiserne Reserve rausrücken durfte. Oben im Zimmer drehte ich als erstes die Klimaanlage auf, stellte mich unter die Dusche und wusch mir zwei Tage Straßendreck ab. Dann zog ich mein gutes Hemd an. Auf dem Kopfkissen lag eine Rolle Münzen, ein Geschenk des Hauses, mit dem man sicherstellen wollte, dass die erschöpften Reisenden, die eigentlich nach Reno wollten, wenigstens einen Teil ihres ergaunerten Geldes hierließen. Ich beschloss, mir davon etwas zu essen zu kaufen, und ging nach unten.

Es ist bis heute die einzige Nacht in meinem Leben, die ich in einem Casino in Nevada verbracht habe. Das bedeutet, ich bin noch immer im Plus. Ich nahm die zehn Dollar, die ich geschenkt bekommen hatte, stellte mich an einen einarmigen Banditen und machte fünfzehn Dollar daraus. Mehr brauchte ich nicht. Mit dem gewonnenen Geld kaufte ich mir einen Krabbensalat, den ich in meinem Zimmer vor dem Fernseher verspeiste: Farrah Fawcett und Charles Grodin in Sunburn. Am Morgen verließ ich das Hotel und wanderte zurück zur Straße – an die Auffahrt Richtung Westen.

Das war der Moment, in dem es albern wurde. Ich stand von neun bis zwölf in der prallen Sonne. Ich zählte die Autos, ich gelobte Gott, dass ich nie wieder trampen würde, ich zählte wieder die Autos. Noch einhundert, dachte ich. Hundert Autos fuhren vorbei, ich musste wieder bei Null anfangen, ich hatte keine Wahl. Drei Mal an diesem Morgen fuhr die Polizei vorbei, sehr langsam, sie behielten mich eine Weile im Blick, ich störte mich nicht daran. Ich war in Wyoming schon einmal durchsucht und befragt worden, und ich lebte immer noch. Außerdem hatte ich weiterhin Angst vor dem Landstreicher, die Polizei war mein Freund und Helfer.

Irgendwann am frühen Nachmittag, als ich schon dachte, ich würde für immer in diesem Wendover feststecken, hielten sie an, um sich mit mir zu unterhalten. Ob ich denn wüsste, dass Trampen in Nevada verboten sei?

Nein, sagte ich, das wusste ich nicht. »Ich versuche ja nur, aus Ihrem Städtchen hier rauszukommen, Sir, ich mache so schnell, wie ich kann.« In Wyoming funktionierte dieser Satz, hier nicht.

Es ist aber verboten, sagten sie. In Utah dürfen Sie trampen, hier nicht.

Ich komme ja gerade aus Utah, erklärte ich, ich will nach Westen.

Nichts zu machen, sagte einer der beiden. Utah war da hinten – sie zeigten nach Osten –, ich sollte nach Utah zurückgehen und bloß den Daumen unten lassen. Sonst würde ich gegen das Gesetz verstoßen.

Aber am Ende komme ich doch wieder hier vorbei, bettelte ich.

Sie werden aber in Nevada nicht gesetzeswidrig handeln.

So kam es, dass ich ein winziger Punkt auf einem weißen Blatt Papier wurde, ein Zeichen, das in einer symbolischen Handlung im realen Raum über eine kartographische Grenze geschoben wurde. Ich schleppte mich in der Mittagshitze über den Standstreifen, während die Polizisten langsam neben mir herfuhren, sie eskortierten mich durch die Wüste, bis ich ein Schild erreichte, auf dem Willkommen in Utah! stand.

Ich dachte nach: Aus dem Osten kommend war Wendover die erste Tankmöglichkeit seit Stunden. Ich folgerte: Kein Auto, das dort nicht wenigstens zum Tanken und Pinkeln anhielt. Ich folgerte: An dieser Stelle falle ich tot um, bevor mich jemand mitnimmt. Keiner hält an, wenn er in zwei Minuten ohnehin tanken will. Selbst auf der anderen Seite, der richtigen Seite, war es mir ja nach Stunden nicht gelungen fortzukommen. Ich kehrte um und ging zurück nach Utah, sobald die Streife außer Sichtweite war. An der Rampe, an meinem Leidensort, an der Landstreicherstelle, an der Stelle des Todes blieb ich nicht einmal stehen, ich lief gleich weiter, ging in die Stadt bis zur ersten Tankstelle. Ich war gedemütigt, zu allem bereit, ich würde betteln und die Autofahrer an den Tanksäulen bedrängen. Wenn ich nur nah genug an die Leute herankam, könnte ich sie schon überreden, dann würde mich vielleicht jemand mitnehmen, ein paar Meilen in Richtung Westen, nur so war der Fluch zu brechen.

Als erstes trat ich an die Kasse, um dem Mann dort zu zeigen, dass ich harmlos war, ich wollte ihn auf meiner Seite haben. Er war ein uralter Negro (ich bin mir sicher, dass er diese Bezeichnung auch selbst gebraucht hätte), der erste Schwarze, den ich seit Tagen gesehen hatte. In einem Film würde man seine Rolle Scatman Crothers geben. In einem Film wäre es ein Klischee und hätte wohl auch etwas Rassistisches, wenn man den rettenden Engel in einem mormonischen Casino-Albtraum voller Bleichgesichter von einem Schwarzen spielen ließe, aber so war es nun mal. Er hörte sich an, was ich zu sagen hatte, lachte laut und antwortete in einem Dialekt, den ich kaum verstehen konnte:

»Nach der Schicht nehme ich dich mit, wenn du warten willst, ich bringe dich in den nächsten Ort Richtung Westen«, sagte er, zumindest hörte es sich so an.

»Dann warte ich.«