image

Erasmus Schöfer

Sonnenflucht

image

Erasmus Schöfer

Sonnenflucht

Die Kinder des Sisyfos

Zeitroman

image

In diesem Buch folgt der Autor im Zweifel lieber seinem Sprachgefühl als dem kommissarischen Rechtschreibkanon. E. S.

2. Auflage 2009

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-937717-16-6

eISBN 978-3-943941-13-5

© Dittrich Verlag, Berlin, 2005

Umschlaggestaltung: Guido Klütsch
Illustration: Barbara Manns
Druck und Bindung:
Elbe Druckerei Wittenberg GmbH

www.dittrich-verlag.de

VORBEMERKUNG DES AUTORS

Der Text des hier vorliegenden Romans beruht auf dem 1986 erschienenen Roman »Tod in Athen«, den ich in den Jahren 1980 bis 1985 schrieb. Die Veränderungen und Ergänzungen in dieser Neuauflage 2005 sind bedingt durch die Notwendigkeit, Einzelheiten der Erzählung dieses Romans mit den beiden später geschriebnen, aber in der historischen Kronologie früher spielenden Romanen »Ein Frühling irrer Hoffnung« (2001) und »Zwielicht« (2003) in Übereinstimmung zu bringen.

Ich habe meinen Text von 1986 auch auf stilistische und sachliche Fehler hin überarbeitet und dabei die Hinweise kompetenter Kritiker des »Tod in Athen« berücksichtigt.

Der Titel »Tod in Athen« war ein faktorientierter Arbeitstitel, der sich mangels eines treffenderen zum Werktitel verfestigt hatte. Die mögliche Assoziation literarischer Vorläufer habe ich dabei in Kauf genommen. Der neue Titel scheint mir psychologisch sachgemäßer und ist zugleich ein Hinweis auf die Einordnung des Romans in die Konzeption des Epos »Die Kinder des Sisyfos«, die erst Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts entstand.

In Erinnerung an meinen zu früh verstorbnen Freund, den Dichter Manfred Esser.

Er hat an diesem Roman mitgedacht.

SISYFOS SCHLÄFT

Mondlose Nacht

Der Berg verschwunden im Schwarz

Vom Felsen nur seine Härte

gegen das Fleisch

Die Schwerkraft des Schlafs

zerrt den Riesen ins Moos

Er bettet den Kopf

auf die verfluchte die Last

Die Leichen der Götter die Sterne

nicht oben nicht unten

Hinter der Stirn

etwas Licht

Unsichtbar lächelnd

träumt er Befreiung

Aus dem Berg flattern

schrecklich vertraut

die Mahre

Die Nacht verschlingt seinen Schrei

KATINA

EIN ABSCHIED IN DIE ZUKUNFT

Also Viktor, Vik, lieber Freund, ich versuch mal, dir von Sotiria zu erzählen, was du noch nicht weißt. Wird schon klappen mit diesem Ding. Was sollen wir anders machen, wenn die Ärzte mich nicht zu dir lassen. Meiner Mutter hab ich manchmal solche Berichte nach Kreta geschickt, statt Briefen, weil sie nicht gut lesen kann. Ein Radio mit Kassettenspieler hat heut fast jede Familie bei uns. Wird sicher jetzt noch einfacher sein, das Erzählen, wo ich dich wirklich sehe. Also technisch ist es kein Problem, ich meine nur – vielleicht wird alles ein bisschen durcheinandergehn, verstehst du? Aber wenigstens hörst du dann meine Stimme. Eine Art Gruß von draußen an dein Bett.

Es gab ja vieles, aus den letzten Tagen mit Sissu. Zum Beispiel dieser Morgen in Poulithra, eh wir nach Athen zurückgefahren sind. Ich glaube, es war der wichtigste Tag unserer Ferien. Bestimmt der schönste. Fing schon in der Nacht an. Verschlafen hab ich noch im Bett gesessen, im Rücken die kühlen Eisenstäbe, ein Doppelbett, ein altes Bauernbett aus dem vorigen Jahrhundert mit einem Eisengestell wie ein Baldachin für das Moskitonetz, das Kopfende geschmiedet, sehr einfach, vom Dorfschmied, aber schön, gibts heute kaum noch, ich fühl die Stangen an meinen Wirbeln wie gestern, wollte aufwachen. Mein Kopf noch ganz leer, so plötzlich war ich hochgeschreckt, und Sotiria huscht im Zimmer herum, barfuß auf den Dielen, lautlos, hat eine Kerze angezündet, kämmt sich die Haare. Langsam dämmert es mir – Abfahrtstag, ja, Reise, packen, der Bus – aber jetzt schon? Müssen wir wirklich schon los? Wie spät ist es?

Vier Uhr, sagt Sotiria, wir wollten ans Meer, Tinka – Tinka hat sie mich genannt oder Katinka, wenn sie ein bisschen zärtlich sein wollte, aber erst seit den Ferien, dort hat sie sich das ausgedacht. Ist die russische Form von Katina. Kommst du nicht mit? hat sie gesagt, Abschied nehmen.

Jetzt – mitten in der Nacht? Verbiestert war ich noch, und draußen hat der Hahn von unserem Bauern gekräht, wie bestellt, direkt vor der offenen Tür. Ob sie den bestellt hat? Hat sie gelacht, klar, extra für dich, hab ihn bestochen mit Kuchen, und ob sie mir einen Tee kochen sollte.

Da bin ich auf, und wie ich meine Sachen zusammensuch, vom Boden, steigt mir der Abend wieder rauf ins Gedächtnis, das Abschiedsessen beim Nikos, auf der Platia, ich denk, ich muss zu viel getrunken haben. Wenn dus nicht mehr weißt, meint sie, muss es wohl so sein. Scheiß Retsina. Haben wir über das Tanzen geredet, sie fands schön, ich auch. Der Stavros mit seiner Bouzouki und Asteris, ein andrer Fischer, mit der Fidel. Die dicken rissigen Finger mit Dreck unter den Nägeln auf dem schmalen Holz, immer wieder diese flinken Finger, die kaum Platz hatten zwischen den Saiten, und darüber das lachende Gesicht, die schwarze Fischermütze in den Locken und Schweiß auf der Stirn. Obwohl ich das alles kannte, von zu Hause, hab ichs mit ganz neuen Augen gesehn. Zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder auf einem Dorf! Hab gemerkt in den drei Wochen, wie sehr mich die Großstadt entfremdet hat, von meiner eignen Kindheit.

Wir haben geschwitzt, vom Tanzen, von der Musik, vom Wein, ungeheuer lustiger Abend. Wir waren fast die einzigen griechischen Frauen, die getanzt haben, die vom Dorf trauen sich ja immer noch kaum mitzutanzen. Und so paradox – ein paar von den Fremden haben besser getanzt als wir! Die deutschen Mädchen, hat Sissu gemeint, die lernen unsre Tänze, und in Athen kennt sie bald keiner mehr. Vielleicht hast du auch einen gelernt, auf Leros? Wenigstens den Kalamatianos?

Wie ich mich angezogen hab, ist mir noch der rothaarige Engländer eingefallen, ja, Steve hieß er, hab von dem erzählt, der hat mir sein Zelt angeboten, mit Luftmatratze und Wellenplätschern, direkt am Strand. Hat Sotiria gelacht, weil der Typ ihr dasselbe gesagt hat, auch die Liebe auf den ersten Blick geschworen, und wir haben überlegt, wem von uns er zuerst seine Gunst bezeugt hat. Wir haben gedacht, jetzt wissen wir, wie die griechischen Jungs es mit den Turistinnen anstellen. Bei uns griechischen Frauen dürfen sie sich das ja nicht erlauben, diese Kamaki-Tricks.

Draußen war es stockfinster. Der Mond längst untergegangen. Kein Funken Licht in den Häusern. Sotiria hatte eine Taschenlampe, aber das hat mich gestört, dies Flackern, da konnten sich die Augen nicht an die Dunkelheit gewöhnen. Ein Sternenhimmel – ich hab gedacht, ich schau ins Universum. Das gibts nie hier in der Stadt. Hast du vielleicht auch mal gesehen, da draußen auf deiner Insel.

Wir sind den Hügel hoch, den Eselpfad, zwischen den Dornen, jeden Stein hab ich gespürt durch die dünnen Sohlen von meinen Sandalen, ganz zerkratzte Waden hinterher. Ich wollte öfter stehenbleiben, nach den Sternen schauen, hab auch eine Sternschnuppe gesehen, aber Sotiria hatte es eilig. Mir ist meine Kindervorstellung wieder eingefallen, dass der Himmel ein großes schwarzes Kopftuch wär mit Mottenlöchern darin und darüber alles Licht. Ich glaube, meine Großmutter hat mir das so erzählt, als Märchen. Und mein Traum, ja. Verrückter Traum. Da war nämlich noch ein anderer Mann, an dem Abend, ein Norweger, so ein Stiller. Wir sprachen kaum etwas, schöne Augen hatte der, ein bisschen traurig, oder filosofisch, siehst du – mit dem hätt ich mir etwas vorstellen können, hab ich auch, aber nicht am letzten Abend, wenn ich weiß, dass ich am Morgen fortfahre. Wenn ich den am Anfang der Ferien getroffen hätte. Obwohl es dann mit Sotiria nicht so schön geworden wäre, so ungestört. Jetzt bin ich froh, dass es so gelaufen ist. Von dem hab ich jedenfalls geträumt, und das fiel mir ein, als wir durch die Dunkelheit zum Meer gingen.

Nichts hast du gehört als das Knirschen der Kieselsteine unter den Sandalen. Kein Wind. Nicht mal das Meer. Nur manchmal, fern im Tal, ein Hahn, dem ein andrer antwortete und noch einer – als ob sie sich zukrähten. Als ob sie den Raum hörbar machen wollten. Sotiria hat gemeint, sie wären Schreihälse, hätten schon die ganze Nacht Spektakel gemacht, die Gockel. Da hab ich gemerkt, dass sie schlecht geschlafen hatte. Immer vorm Reisen, hat sie behauptet. Ich weiß nicht, ob das stimmt.

Das letzte Stück Weg ging bergab, ziemlich steil, bis Sissu stehenblieb. Da waren die Felsen. Jetzt müssten wir warten. Das Meer war eine riesige dunkle Fläche, kein Stern drin gespiegelt, und dicht unter uns so ein schläfriges Plätschern, verschlafene kleine Wellen, und als ob es kühl heraufwehte. Ich hatte einen Schauder, nur mit meiner dünnen Bluse, da hat Sotiria mich umarmt. Ich sollte nicht frieren. Sie hat mich gewärmt mit ihrem Körper, ich habe ihr Haar, ihre Haut gerochen, das war schön. Wir hatten ja drei Wochen zusammen in dem großen Bett geschlafen, ganz schwesterlich, waren ziemlich vertraut – obwohl du im Sommer einen anderen Körper nicht so nah vertragen kannst, wegen der Hitze. Deshalb war das unsere erste richtige Umarmung. Und die letzte. Fast. Ich hab das nicht als Abschied empfunden, wie konnte ich, höchstens als Abschied von den Ferien. Es war eher ein Versprechen auf die Zukunft, unsere gemeinsame Zukunft in Athen.

Eine Zukunft von zwei Tagen, ja.

Kannst du das verstehen, als Mann, dieses vertrauensvolle Gefühl, was da übergeht von einem Körper zum andern? Also ganz ohne Erotik. Zärtlich schon. Ich hab genau Sotirias kleine Brüste gespürt, neben meinen, und das hat mir gefallen.

Ich sah plötzlich, über ihre Schulter, dass irgendwas am Himmel sich veränderte. Was war das? Eine leichte Verfärbung in der schwarzen Tinte. Kann man den Morgen ahnen? Oder den Horizont? Eben gab es noch keinen, jetzt ein kaum wahrnehmbarer Strich als Grenze zwischen Meer und Himmel.

Sotiria hat sich umgedreht und mit ruhiger Stimme festgestellt: Ja – sie fängt an, unsere Abschiedsvorstellung. So wie ein Reiseleiter. Der sagt: Ja, das ist unsere Akropolis. Oder so. Selbstverständlich und doch fremd. Man kann es nicht beschreiben, wie eigenartig unwirklich jedes Wort, jeder Satz in dieser Situation wurde, selbst ganz einfache. Ich hab mich hingehockt, die Arme um die Knie, weil mir gleich wieder kalt war. Und Sissu, als ob sie ein Kochrezept beschriebe: Es sickert herauf. Es wird ein Tropfen Milch ins Nachtmeer geschüttet. Und noch einer. Und noch einer.

Die Veränderung geschah aber immer schneller, da wurde mächtig nachgekippt, Licht nämlich, und es stieg hoch von unten nach oben, und ich sagte: Wie das wohl funktioniert? Begreifst du das? Ich sollte es einfach anschauen, hat sie gesagt. Ich war, glaube ich, ein bisschen eigensinnig. Ich wollte wissen, warum das Licht nicht plötzlich da ist, wie wenn ich meine Schreibtischlampe einschalte. Wie die Sonne das macht, dass sie hier schon leuchtet, obwohl wir sie nicht sehn. Nicht sehn und doch sehn. Du hättest das sicher gleich fysikalisch erklären können. Schickt sie aus der Türkei ein paar Strahlen vor, die über den Horizont rutschen auf meine Netzhaut? Wo doch Strahlen sich gerade ausbreiten – soviel weiß ich auch.

Sotiria dachte, dass sie uns in der Schule nur Homers rosenfingrige Morgenröte beigebracht haben, nur die Poesie, Aristoteles schon nicht mehr, Naturwissenschaft ist nichts für Frauen.

Ich war zornig in dem Augenblick, was alles mein Kopf nicht weiß, der schon zwanzig Jahre mit mir durch Griechenland läuft. Wollte gleich als erstes nach unserer Rückkehr einen finden, der Fysik studiert, hier am Polytechnio, der erklären kann, warum wir das Sonnenlicht sehen, obwohl wir die Sonne nicht sehen, und auch nichts am Himmel war, was ihre Strahlen reflektieren konnte. Jetzt weiß ich es immer noch nicht. Hab natürlich daran nicht mehr gedacht, nach allem, was passiert ist. Man könnte sich vielleicht auch damit zufriedengeben zu sagen: Ist eben ein Wunder, nicht? Denn selbst wenn du bis in die Atome rein weißt, wie das alles funktioniert, bleibt ja doch noch erstaunlich genug, dass es funktioniert.

Sotiria hat mich wahrscheinlich nicht ernstgenommen, war in andren Gedanken, ihr Gesicht konnte ich noch nicht sehen. Ich hatte plötzlich den Eindruck, dass die Sterne funkeln, viel stärker als vorher. Als ob sie mich anfunkeln, mir zublinzeln. Müsste man mal zurückfunkeln können. Hat Sissu gelacht, das könnten wir nur in den Liebesliedern, bei den Dichtern.

Allmählich sind die Berge drüben aus dem Meer gewachsen. Oder es waren Wolken, das kann man zuerst nicht unterscheiden. Sie fand, es sei, als ob die Erde anfängt zu sprechen. Als ob sie buchstabiert: Berg. Und Tal. Und Insel und Meer.

So ein durchsichtiger blauer Rauch stieg auf, im Osten, vom Rand des Meeres, dehnte sich aus, eine unmerkliche Bewegung. Also Farbe – das ist das Seltsame. Und nicht Gelb, sondern Blau. Ja ist denn die Sonne blau in der Türkei, hinter dem Horizont? Ich hab Späße gemacht, weil auch der Horizont etwas so Festes, Greifbares schien – wär ich dahinten, wollte ich mich auf den Bauch legen, an der Kante festhalten und über den Rand schauen. Das war wohl ein alter Menschentraum, hat Sissu gemeint, und ob das von meinen kretischen Großmüttern wär. Weil ich noch ein bisschen weitergesponnen habe, von einem Türken, der jeden Morgen über den Horizont guckt, der Sonne ins Schlafzimmer, dass sie rot wird vor Scham und zornig aus dem Bett springt. War aber von mir.

Sagt Sotiria plötzlich, das wär nun der letzte Sonnenaufgang, für dieses Jahr. Das war seltsam. Ich hab natürlich nicht viel dabei gedacht, zuerst, Sissu hat auch erklärt, was sie meinte – dass es eben in Athen keine richtigen Sonnenaufgänge gibt, in all dem Beton und Abgas, aber jetzt, hinterher, wenn die Gedanken wieder zurückkehren zu den letzten Tagen und noch deine Fragen im Kopf dazu, denkt man, es hätte vielleicht auch etwas andres bedeutet.

Sie hat mir dann eine Geschichte erzählt, die hat mich sehr traurig gemacht. Wenige Sätze nur. Eine ziemlich typische Geschichte bei uns, deshalb konnte ich sie mir sofort vorstellen. Ihre Mutter stammt aus diesem Dorf, wo wir waren, Poulithra, daher besaßen sie das kleine Haus, und Sotiria hat dort früher jeden Sommer verbracht, mit ihren Eltern und ihrer Schwester. Der Platz zwischen den Felsen sei ihr Geheimplatz gewesen, als Kind, und der Stein lag noch da, auf dem sie gesessen hatte, mit zwölf, in einer Nacht, als der Vater ihr die Zöpfe abgeschnitten hatte. Ja, tatsächlich. Sie muss wunderschöne starke Zöpfe gehabt haben, wenn du ihr dichtes dunkles Haar gekannt hast, auf dem Bild sieht man es. Das war wohl, als ob man ihr die Kindheit oder die Schönheit abgeschnitten hätte. Der eigene Vater. Ich hab es selber getan, mit sechzehn, weil ich erwachsen sein wollte, das ist was andres. Obwohls mir heut auch leid tut.

Sie hätte auf dem Stein gesessen und gedacht, es soll nicht mehr Tag werden. Und dann sei er eben doch gekommen, der König Helios, wie in dem Lied. Wir haben ein Volkslied, das fängt damit an, dass der König Sonne aus dem Meer steigt. Sotiria sagte, immer in den Ferien ginge sie zum Abschied auf den Felsen, um zu sehn, ob der König Helios noch aus dem Meer steigt und unser Leben weitergeht. Seltsam, nicht? Wörtlich so. Der Satz hat mich getroffen, schon an dem Morgen. Ich hab ihre Hand genommen, über ihr Haar gestrichen, wollte ablenken, hab gefragt, ob sie die Zöpfe wenigstens aufgehoben hat? Da kam ein ganz bitteres Lachen von ihr, nein, er hat sie verkauft, und das Geld auf ihr Sparbuch, für die Aussteuer. Bei der Bank, wo er Angestellter war. Der sorgsame Vater. Ich hab einen Zorn gehabt in dem Augenblick!

Ach, jetzt hast du wieder stärkere Schmerzen Viktor, ich seh es. Können sie dir denn nicht helfen! Ich kann dir nur erzählen, von diesem schönen Morgen, und hoffen, dass du mich hörst. Wenn nicht heut, dann morgen vielleicht.

Dieses Blau, weißt du, das veränderte sich jetzt allmählich in Rosa. Es wurde immer höher geschoben und schluckte die Sterne weg. Von unten das Rosa. Das Rosenfingrige. Der Homer war nur nicht früh genug aufgestanden, dass er mit Rosa angefangen hat, meinte Sissu. Oder sie hätten nur dies eine Wort gehabt, unsere Vorfahren, für das Himmelsschauspiel. Hab ich gemeint. Aber hundert für ihre Waffen und Kriege, wenn du das mal liest, wie sie da geschwelgt haben! Na ja, Männer eben.

Ich wollte von ihr wissen, warum sie mich mitgenommen hat, zu ihrem Geheimplatz. Sie hat nachgedacht. Ich konnte schon lesen in ihrem Gesicht, das rosa Licht darauf. Sie sah angestrengt aus, vielleicht übernächtigt. Weil du meine Freundin geworden bist. Das war ihre Antwort. Und: Es gibt nichts Schöneres als unsern Sonnenaufgang.

Als ob sie mir diesen Sonnenaufgang zum Geschenk machen wollte, als ihrer Freundin.

Ich wusste gar nichts zu antworten. Im Bett gelegen hätt ich noch! Und wie mufflig bin ich gewesen, als sie mich geweckt hat. Mir war plötzlich bewusst, dass sie sehr einsam sein musste, und was diese drei gemeinsamen Wochen für sie bedeuteten. Für mich ja auch! Aber wir hatten bis dahin über unsere Gefühle kein Wort gesprochen. Und jetzt holt sie aus ihrer Tasche – sie hatte ihre Umhängetasche mit – holt sie ein Buch raus, es waren die Nachbarschaften der Welt von Ritsos, und liest mir daraus eine wunderschöne Stelle vor – ach schade, dass ich den Band nicht mitgebracht habe – eine Stelle, wie für diesen seltsamen Abschied von unsern Ferien bestimmt. Diesen halb traurigen, halb erwartungsvollen Abschied. Das Buch ist nach unserm Bürgerkrieg geschrieben, in einem Lager zum Teil. Es ist auch von den Toten die Rede, in den Versen, aber vor allem von der Sonne. Die uns am Abend nach der Arbeit, nach der Pflicht, in die Augen lächelt und verspricht: Ich komme wieder, gewiss doch komme ich wieder. Und diese Zeile, die ich mir jetzt ganz festhalte: Nein, wir sind nicht auf die Welt gekommen, nur um zu sterben. Natürlich hatte der Satz vor einer Woche noch eine andere Bedeutung für mich, das ist klar. Ich hab ihn viel allgemeiner verstanden.

Weil der Ritsos am Schluss von einem Tischler spricht – er macht immer solche konkreten Vergleiche – wie der zur Arbeit geht und seine Kinder anlächelt, dass er wiederkommen wird, mit einem Brot unter dem Arm, deshalb habe ich an meinen Vater gedacht. Wie der mich manchmal morgens, vor Tag, mitgenommen hat zum Netzeinholen. Was sehr ungewöhnlich war – mich, ein Mädchen. Aber ich konnte mich an keinen Sonnenaufgang erinnern. Für uns war der Sonnenaufgang nur eine Form von Wetter, gut oder nicht gut. Da hat Sotiria sehr protestiert und es nicht geglaubt. Sie kannte nur das Bild von meinem Vater, das über meinem Schreibtisch hängt – vielleicht hast du es bemerkt – seine Augen, meinte sie, er hätte nur keine Worte gehabt auszudrücken, was er damit gesehen hat.

Sie beneidete mich um einen Vater mit solchen Augen. Versteh ich, hatte sie recht, ich hab wirklich Glück gehabt mit meinem Vater.

Der Sonnenaufgang war auch noch längst nicht zu Ende, es sah aus – Blut, oder Feuer, wir konnten nicht so schnell schauen, wie der Himmel sich veränderte. Erst recht nicht das ausdrücken – wie sollte ein einfacher Fischer das können? Der nie Bücher gelesen hat. Es gibt noch viel zu wenige Sonnenaufgänge in unsrer Literatur, dachten wir. Und Sotiria sagte: Dies ist jetzt unser Sonnenaufgang. An jedem Tag, an jedem Ort ein eigner Sonnenaufgang, aber dies ist unsrer. Heut sind wir die Dichter. Ich natürlich: Dichterinnen! Hat sie gelacht. Aber nur ganz kurz.

Und ich, weil ich beobachtet hab, wie es so langsam unmerklich heller wurde, sah auf unsre Füße, das weiß ich noch genau. Sotirias krumme Zehen gegen meine, die waren jetzt deutlich sichtbar. Hab vermutet, dass das Stadtkind zu enge Schuhe getragen hat. Bei uns auf dem Dorf sind wir noch barfuß zur Schule. Und im Winter die viel zu großen Stiefel von meinem Bruder.

Ich hab geredet, was weiß ich, von den Inselbergen, die immer dicker, immer plastischer wurden, oben am Himmel flog ein Düsenflugzeug aus der Nacht in den Morgen, schnurgerade, lautlos, sah aus wie ein Reißverschluss zwischen den Sternen, der Kondensstreifen, hab mir vorgestellt, dass die Piloten schon über den Horizont sehen konnten, wollte Sotiria ablenken, weil ich merkte: sie war traurig, auf eine tiefere Weise traurig, trotz der Schönheit um uns herum.

Hab sie dann doch danach gefragt – unsre gemeinsamen Ferien, daran war nichts zu betrauern. Und der Abschied davon? Mich hat eher der Gedanke beflügelt, dass wir nun zusammen nach Athen fuhren, mit diesem Erlebnis der vergangnen Wochen im Gedächtnis, ich hab mich gefreut auf die Arbeit. Da antwortet sie, und das hat mich wie ein Schreck getroffen: Wie schön der Frieden ist. Ich mag nicht kämpfen, Katina. Genau so. Sie wollte es dann erklären, dass wir sagten, es sei ein Kampf gegen das Kapital oder gegen den Krieg, aber es seien doch fast immer Menschen, Unternehmer oder Polizisten oder selbst Nachbarn, was ja stimmt, es sind lebendige Menschen, zu denen man eigentlich freundlich sein möchte, wie zum Beispiel auch ihr Vater, sie könnte ihn nicht bekämpfen, obwohl er politisch ihr Gegner war, sie wollte ihn lieben. Solche Gedanken Vik. Sotiria. Ich hab sie erst kaum verstanden. Bis mir dann doch eingefallen ist, was ich dir auch von ihr erzählt habe, an unserm Abend, wie sie sich manchmal verhalten hat.

Sie war plötzlich wieder sehr lustig, kam mir gleich was gezwungen vor, dies Umschalten, machte den Vorschlag, einen Leserbrief an den Rizospastis zu schicken, dass sie im Wetterbericht jeden Tag kurz schildern sollten, wo in Griechenland ein besonders toller Sonnenaufgang war. Mit der Begründung, dass die Leser bei allem Schmutz und Elend nicht vergessen sollen, welche Schönheiten es auf unserer Erde gibt. Ich hab das nicht ernst genommen, die Redakteure würden uns natürlich auslachen, aber sie hat die Idee weitergesponnen, wir könnten zur Begründung von unserm Sonnenaufgang erzählen und ein Preisausschreiben vorschlagen, für Berichte über Sonnenaufgänge, ausdrücklich, um den Genossen das Bewusstsein zu schärfen. Bewusstsein wofür? Ja für die Schönheit der Welt. Und ich: Du willst die Redakteure in Verlegenheit bringen, weil sie uns begründen müssten, warum das nicht geht. Obwohl der Gedanke an sich nicht falsch ist. Sie hat gesagt, ich sollte nicht so ängstlich sein, man müsste auch Schwieriges fordern dürfen ohne Skrupel, und jetzt sollte ich lieber schauen und staunen. So wie du gesagt hast, man muss Schwieriges aussprechen dürfen bei uns – weißt du noch? Aber ich konnte mir gar nicht aus dem Kopf schieben, was sie mir reingetan hatte. Und sie plötzlich – wieder so ein Satz: Ich glaub, ich bin ungeheuer sehdurstig!

War das ihre Begründung?

Ach Gott – entschuldige Viktor, wenn mir Tränen kommen. Es ist – ich muss an ihre Augen denken – was aus denen geworden ist.

Du siehst auch schlimm aus, jetzt, aber verglichen mit ihrem armen Kopf –

Was ich rede –. Nimm es nicht ernst, du.

Sotiria war da richtig begeistert, wollte mich wohl anstecken, und ich hab auch versucht mitzuhalten, wir haben uns gegenseitig angefeuert, kann man sagen, oder die Sonne hat uns angefeuert, hat die Wolken über dem schwarzen Meer angestrahlt, wie Saurier, dicke Elefanten, verrückte Wolkentiere, die das Gold gefressen haben, und davon strahlte ihre Haut, fand Sissu, auch alles um uns herum, die Felsen, wurden rot, wurden verzaubert. Und plötzlich, fast ein Witz nach dem ganzen Aufwand, taucht ein Stückchen Feuer aus dem Meer, nur ein winziges Stück glühndes Metall, und ich: Ja, ist das dein König Sonne? Ich denk, nach der Vorankündigung macht der lässig eine Flanke über den Horizont, steht da in seiner vollen Größe, der blonde Typ? Nein, sagt sie, das ist schon in Ordnung so, erst diese pompöse feierliche Morgenmusik, und dann steigt er ganz langsam aus dem Wasser, damit man sich nicht erschrickt als kleiner Mensch.

Ging aber doch ziemlich schnell, wie er hochkam, immer strahlender, immer blendender, ich sag, Kerl, hat der sich einen angefressen in der Nacht, den ganzen Bauch voll Gold, wie ein dicker Buddha, und sie, überhört das, meint, alle Maler der Welt zusammen könnten niemals diese friedliche Gewalt von Schönheit darstellen, wie jetzt die Landschaft verwandelt war, und hat dagestanden, ganz versunken, sagt, als ob sie mich vergessen hat: Augen – könnt ihr euch das merken?

Ich hab gedacht, nein, können sie unmöglich, aber das stimmt nicht, in einer solchen Situation, einem solch einmaligen Augenblick des Lebens prägt man sich offenbar viel mehr ein als gewöhnlich. Gewiss nicht jedes Detail, mehr die großen Bilder. Und die Gefühle, die Gedanken dabei. Ich hab in den Tagen danach immer wieder Bilder dieses Morgens vor mir gesehn. Wie könnte ich sie sonst dir erzählen. Ob du sie dir dadurch vorstellen kannst, das ist ne andre Frage. Vielleicht wenn du mal Ähnliches erlebt hast.

Sotiria hat sich dann ausgezogen, ihr Kleid, ihre Sandalen. Nein, vorher, als sie aufgewacht ist aus ihrer Versunkenheit, hat sie noch gesagt, dass der König Helios ein großer Liebhaber sein muss, weil er so viele Kinder hat, uns alle, denen er das Leben gegeben hat. Zusammen mit der Mutter Erde. So ungefähr. Wir nackten Kinder, hat sie gesagt, und das muss das Stichwort gewesen sein. Als sie nackt auf dem Felsen stand, strich sie sich mit den Händen über den Körper, als ob sie sich auch noch die Haut ausziehn, noch nackter sein wollte, dachte ich, aber wahrscheinlich nur, weil ihr kalt war.

Ich hab mich wohl etwas erschrocken umgeschaut. Natürlich war um diese Zeit kein Mensch in der Nähe. Nur draußen in der Bucht zwei Fischerkähne. Sotiria hat mich angeschaut, erwartungsvoll, ein bisschen belustigt, weil ich mich genierte. Ist nur der König Sonne da Katinka. Hab ich mich also auch ausgezogen, wir sahen aus, als hätten wir weiße Bikinis an. Ich bekam sofort eine Gänsehaut, ein richtiges Fell, wie die Härchen plötzlich hochstanden, an Armen und Beinen, aber sie sagte, komm, wir schwimmen ihm entgegen, die Wellenleiter rauf. Meinte diesen glitzernden Lichtturm, der direkt vom Ufer bis an den Horizont aufstieg, und kletterte auch gleich die Felsen runter. Winkte mir von unten. Ich also hinterher.

Von nah sah das Wasser noch kälter aus. Sie hat behauptet, es wär so warm wie am Tag vorher, aber als ich eine Welle über die Füße bekam, schien es mir schrecklich kalt. Sie sagte, sie wollte auch von den Wellen Abschied nehmen, von den Fischen, von unsrer blauen Ägäis. Ich wollte trotzdem lieber auf sie warten.

Dumm, nicht? War ein richtiges Huhn, da. Muss sie enttäuscht haben, obwohl sie sich nichts anmerken ließ. Sie hat mich umarmt, und, ja, geküsst, auf den Mund. Ich habs kaum begriffen, hab nur ganz blöd gesagt, sie möcht nicht so lang bleiben. Sie ist reingesprungen und losgeschwommen. Sie kann kraulen, hat getaucht, und gespritzt mit Armen und Beinen, lauter Funken wurden die Spritzer, noch ein Lichterspiel, und sie ist genau auf die Sonne zugeschwommen, sehr weit raus, bis ich sie nicht mehr sehn konnte. So stark hat mich das Licht geblendet.

Ich glaub, ich hör jetzt auf zu erzählen. Wer weiß, ob du überhaupt so lang zuhören kannst. Vielleicht nicht alles auf einmal. Aber ich will dir noch sagen, dass du dir keine Sorgen machen musst – wir regeln alles, was nötig ist. Ich hoffe, du hast eine ruhige Nacht, Viktor. Ich denk an dich. Und nicht nur ich.

BLISS

UMZINGELT BIN ICH VON MIR

Weggelaufen, ja, weggelaufen. Nenns so. Du nimmst mir die Luft mit deinen deutschen Nachrichten. Wickelst mich in Stacheldraht und fragst, warum ich steche. Ich hab ein Recht auszubrechen, jeder Mensch hat das Recht auszubrechen aus eurer Vernunft und wegzulaufen ans Ende der Welt.

Wo ist das wirkliche Ende der Welt. Wenn es das gibt. Meine Verzweiflung wars nicht.

Ich find mich nicht ab Manfred. Nicht auf dem halben Weg. Du willst mich verschleppen.

Bliss spricht mit dem Wind, den Felsen, dem hitzebebenden Himmel, kickt Schottersteine über den Straßenrand in die Tiefe. Als Alekos winkt vom Motorrad und hält, ela Viktor, steig auf! lässt er sich nicht mitnehmen. Über den flachen Rand der Bachbrücke schiebt er einen größren Stein, der springt nur zweimal zwischen dem trocknen Felsgeröll, bleibt gleich liegen, blockiert. Die jungen Eukalyptusbäume werfen kurze, hilflose Schatten. Das Wasser in der halbrunden Bucht von Livadi Geranou so flach, dass die Seegraswiesen es dunkelgrün flecken, nur dünnes Blau über den Sandflächen.

Er sucht Manolis. Von der Straßenhöhe steigt der Leitungszweig in dreifach hängenden Bögen hinab zur Talsohle, teilt sich in den Tomatenfeldern zu den fünf weißen Häusern. An der Spitze eines Mastes klebt ein Arbeiter. Das ist er.

Der hatte am Abend beim Thanassis in der Taverne gesungen. Sein Gesicht war schwarz von Bartstoppeln und glänzend von der Anstrengung des Essens oder der Freude, als einer das Lied gedrückt hatte und die Melodie aus der Box sich unter die dichten Gespräche schob, sie hochhob, aus den Fenstern drängte, der Raum sich füllte aus den vier Winden mit summenden Bässen als hätte ein freundlicher Engel die Parole ausgegeben kallimera ilie kallimera, und Worte fanden sich dazu – kann man singend flüstern? – guten Tag Sonne, guten Tag am langen Abend, Verschwörer könnten so singen von ihrer unvergessnen Hoffnung. Sangen sich Kraft zu, die dreißig müden, schwitzenden Männer, kallimera ilie kallimera, und aus Manolis’ Gesicht drang das Lied, aus seinen Lippen, aus den Nasenlöchern, den lachenden Augenwinkeln, ansteckend, anzündend, dass er das Niegehörte wiedererkannte als wärs Erinnerung aus einem früheren Leben. Danach war der Abend verwandelt. Der Elkawe-Fahrer am Nebentisch hatte seine drei Zähne gezeigt und aus seiner Brieftasche den Talisman das zerknitterte LeninBild. Sie hatten die Tische zusammengerückt, ego Lefteris – esi? Viktor. Esi? Manfred. Und die Griechen hatten von der politischen Wende gesprochen, mit der das Land schwanger sei, die Wahlen im nächsten Herbst, er hatte es fast geglaubt, so begeistert.

Der Sandweg, gelb, horizontal am Berg, durch das wilde Gebüsch. Vorn, an der Mündung in Himmel und Meer, die Luft aus schmelzendem Glas. An der Klippe, dem Weststurm angeboten und der Brandung, verborgen vor den Turisten, unmissverständlich die Abfallkippe von Platanos: Der weiße Schwarm der kreisenden Hungervögel Müllmöwen, unhörbar ihr Geschrei. Vom Wind vertriebne Plastiktüten, angekohlte Papierfetzen, matt in den Zistrosen hängend, fast bis zur Straße. Und in verwehten dünnen Schwaden der süßliche Totengeruch schwelender Verwesung.

Auf dem Eselspfad ins Tal hinkt ihm eine weiße Hausziege entgegen, die Vorder- und Hinterläufe eng zusammengebunden, zieht den ausgerissnen Pflock am Seil hinter sich her. Er bemerkt das aufgeblähte schwappende Euter, aber versucht nicht sie zu halten. Die Alte dann, schwarz bis auf die braune Faltenlandschaft, ihr geschrumpftes Gesicht, steigt blicklos an ihm vorbei, lockt hinter seinem Rücken das Tier.

Dass ich so sprachlos geworden bin. So mundlos. Dieser Mund, Zähne, Lippen, Zunge, Gaumen, und das dünne Häutchen im Hals, das die Atemluft tönen lässt, alles wie gelähmt, wie verabschiedet. Nur noch beißen, kauen, schlucken, älter als ein Steinzeitmensch. Und dahinter, im Hirn, die gefesselten Sätze, die hilflosen Wörter, meine grau gewordne, erstickte Sprache. Die doch so tüchtig, so klingend und bunt erst hineingelernt worden ist in den Schädelkasten, Schatzkasten, Weltkasten.

Er sieht sie wimmeln darin, die Namen, die Bilder, die Rufe und Seufzer, anrennen gegen die Knochenmauer in wirren Attacken, verweigern das natürliche Schlupfloch, den Fallgang zum Mund, sind dumm geworden oder so misstrauisch, kein Licht fällt durch die Lippen, den Ausgang zu zeigen, Monate schon. Nur die Umleitung ist offen, durch die rechte Hand aufs Papier – was da nach außen dringt, das lautlose Gekritzel, die Schattensprache, der blutleere Häcksel, bleich wie die Bilder hinter geschlossnen Lidern, damit wird einer verlornen Wissenschaft keine Lösung zum Leben gebaut.

Manfred da zwischen. Der schaut mir Fragen an den Kopf aus seinen schwarzen Augen, redet auch deutsch, aber findet den Schlüssel nicht. Die Axt. Ich selbst muss den Ausbruch wagen. Das Dickicht meines Schweigens.

Der Name verblasst, fremd geworden mangels Benutzung, angeblich hat ihn der Pass noch behalten. Der Fremde in Deutschland hat sich gemausert zum Fremden aus Deutschland. Den Dr. Bliss hat Manfred eingeschleppt, wer war das? Ein in die Sielen geratener Geschichtslehrer. Die Griechen kennen nur Viktor, o Jermanos o Viktor, das hat genügt als Identität. Die paar Sätze Griechisch, mühsam gelernt, die wie Porzellan klingen, ahnungslos, kein Echo in meiner Vergangenheit, auf Krücken durch die Luft hinken sie zu den Eingebornen, die mit denselben Worten spielen und tanzen. Die haben Wörter wie Hände.

Die Flüchtlinge aus der mitteleuropäischen Leistungswut, Bienenzüchter auf englisch, Ziegenhirten holländisch, Tauchfischer französisch, Tavernenkellner deutsch, die hat er verstanden, aber gemieden, er ist nicht Mitglied ihres unbeschwerten Vertriebnenbunds. Manchmal hat er eine deutsche Zeitung gekauft und Nachrichten wie ein Lepröser gelesen.

Wenn ich mich mitziehn lasse von Manfred in das Wörtergestiebe da drüben und hab nicht die eigne Sprache und eine Hoffnung befreit und aufgebaut als einen Schutzwall, dann wird es mich wieder zuschütten und von neuem ersticken.

Wie er jetzt im Tal auf der Bachmauer Schritt vor Schritt setzt, die Augen schmal im unerbittlichen Licht, das Gehör fast betäubt vom schrillenden Sägen der Zikaden, sieht er den Kontinent jenseits des Meers überzogen von fahlem Schimmel, eine wuchernde Schicht allgegenwärtiger, ausgelutschter Worthülsen, die Reste von Bedeutungen darin sterilisiert, zugestutzt auf DisneyFormat, in denen die Gefühle und Erfahrungen der Bewohner sich zersetzt haben, infiziert alle, krank, entstellt die wahren Bilder unter dem geruchlosen Pilz, das lichtschnelle Gift flirrt bis weit in die Atmosfäre hinauf und unter der versteinerten Erde, dienstbereite, verfügbare, blutsaugende Lügen, das billigste Humanizid der Geschichte, das auch die Gegenwehr der träumenden Kämpfer lähmt, abfälscht, verpestet – davon hat er sich losgemacht, aber um den Preis seines Verstummens. Dort hinein will Manfred ihn zurückzerren, eh er ein Serum gefunden hat.

Unklar, ob es das gibt. Ist die Geschichte noch auf dem Weg zur Befreiung ihrer Betreiber oder treiben sie haltlos in ihre Apokalypse? Wohin leuchten die Scheinwerfer des Weltgeistes? Oder sind sie bereits verglüht – was wir sehn der Widerschein das Restlicht des sterbenden blauen Sterns?

An den Feigenbüschen prüft er die grünen Früchte zwischen Daumen und Zeigefinger, findet einige weiche, deren Schale nicht von Wespen angefressen ist, reißt sie auf, keine Maden zwischen dem roten, weißfasrigen Mus, zerkaut das weichledrige Naturwunder, lustvoll die Zunge die Zähne, der fast medizinische Geschmack zwischen Traminer und süßem Pfeffer, den sein Mund vor zwei Wochen erst entdeckt hat und immer wieder, ungläubig, überprüfen muss. Auch die feste Nachgiebigkeit dieser Frucht, brustähnlich warm in den Lippen. Er steckt einige in seine Hemdtasche, mit zuckerklebrigen Fingern.

Feigenbrüste. Hohnlachen, ins Herz beißendes, lautloses Lachen. Kein Mund, kein Hals, kein Haar. Mönchische Monate, getrieben, durchwachsen von einer Bitterkeit, die er Hass nicht nennen wollte, die sich zu kalter Glut anfachte durch einen Wind von Gedanken, durch flüchtige, unkontrollierbare Bilder, unentrinnbar. Die Frau, die ihn von sich abgeschnitten hatte, verfolgte ihn mit seiner Liebe in Träume, aus denen er immer erwachen musste. Da lag er erwacht wie begraben in Eis und verweigerte den Tag. Oder legte Hand an sich, wenn der Schmerz im Geschlecht ihn schon biss, eine Hand die er nicht mehr kontrollierte in ihrer sich beschleunigenden Motorik, überwältigt von aufsteigenden Lustfantasien, befreite sich mit einem Unwillen, der seinen Körper und seine Person auseinanderriss. Wenn er dann dasaß, erschöpft, entleert, mit samenverschmierten Fingern, sprach er Lena schuldig dafür, dass er sich zu kasteien wünschte, da er nicht sie strafen konnte. Manchmal öffneten ihn die Träume, er sah sie zurückgekehrt, seinen Kopf an ihre Brust ziehend, streichelnd, mein kleiner Vik ich bin doch bei dir nichts ist geschehn, er schluchzte erlöst ohne Hemmung, und im Schmelz des Erwachens ließ ihn das Mitleid mit seinem entgleisten Leben wirkliche Tränen weinen. Zum Verzweifeln seine Wehrlosigkeit gegen die Überfälle aus den Schluchten seines Unbewusstseins.

Die eingewachsnen Erinnerungen wären wohl verdeckt worden durch eine neue Liebe, aber der gab er keine Gelegenheit, fühlte sich angegriffen, wenn er auf nackte Turistinnen am Strand seiner Bucht stieß, die den griechischen Frauen ihre Männer verlockten, schamlose Schönheiten. Hatte aufgehört sich zu waschen, ließ nur Sonne und Meerwasser an seinen Körper, wochenlang, nutzte die Wasserknappheit, um seine deutschen Reinigungszwänge loszuwerden, und stellte befremdet fest, dass die trockne Luft und das Meerwasser ihn daran hinderten zu stinken.

Obwohl er mit seiner vergammelten Kleidung, den strähnigen Haaren, sich der Erscheinung der Inselfreaks angenähert hatte, begegneten ihm die Griechen freundlich, weil er sich um ihre Sprache kümmerte und sie im Kafenio zum Kaffee oder Uso einlud. Er trank nur mit griechischen Männern. Dass er ein Buch schriebe, hielt sie von weiteren Fragen ab nach den Gründen seines langen Aufenthalts auf der Insel, aber er konnte sich nicht in ihrem freundschaftlichen Umgang verlieren, konnte nicht griechisch empfinden, die Gesten der Körper sprachen noch unterschiedlicher als die Münder.

Er liebte sich nicht mehr. Hatte sich mutwillig vergessen. Eine gläserne Tarnung umgab ihn. Eingesponnen. Rückwandlung des Falters zur Raupe.

Er verzieh sich nicht, dass er die Scheidung unterließ, als der Schmerz am stärksten war. Er hat sich gewöhnt zu verstehn, dass er den überfälligen Schritt aus der Bindung an sich im richtigen Augenblick nicht gewagt und nun sein Dasein zu tragen hat. Wiederholbar, nachholbar aus Überlegung, ist der gewaltsame Abschied vom Leben nicht mehr. Das Schweigen ein Mantel seiner Resignation.

Fand was Verstecktes aber in sich, als Jorgos der Bootsbauer in der Wellblechbaracke ihn gefragt hatte um ein paar Stunden Aushilfe – das harzduftende Holz im frischen Schnitt hat ihn angestiftet wie das Vertrauen des Mannes, die Werkstatt öfter aufzusuchen. Er nahm seine Hilfsarbeiten an Planken und Spanten wie Stelias Steinofenbrot, Geschenke eines unbekannten früheren Weltzustands. Eier und Ziegenmilch als Lohn obendrauf, später auch Drachmen in die Hand.

Und auch das warme abenteuerliche Ägäiswasser war eine archaische Verzauberung, die ihn für Stunden vergessen ließ. Wenn er mit langsamem Flossenschlag auf der Oberfläche der Tiefe dahinglitt, durch die Brille zum zerklüfteten Felsengrund spähend, sich vogelgleich fühlte über den gläsernen Räumen unter sich, kopfüber senkrecht hinabstieg zu einer Brasse oder Barbe, die Harpune im Anschlag, vom Jagdfieber gepackt, bis ihn die Atemnot wieder hochtrieb, selten mit einer gespießten Beute – dann war er der einsame Jäger in freier menschenloser Wildbahn, den nichts einschränkte außer der eignen Lungenkapazität. Gute erlegte Fische, die er rösten konnte am felsigen Strand, nahm er als Geschenke des Meers bis zu dem Tag, als er den Zackenbarsch anschoss und der sich wehrte gegen die in seinen Leib gedrungnen Widerhaken, mit aufgerissner Flanke nach einem endlos scheinenden Kampf in unerreichbare Tiefe davontrudelte zum langsamen Sterben. Die Erschöpfung, der Ärger über den Verlust der Beute war da gewichen der ihn überstürzenden Einsicht, welche Qual er dem Tier verursacht hatte. Er wurde inne seiner Verwandschaft mit dem schönen, auf den Tod verwundeten Fisch.

Er hat dann sein Gewehr dem Fischersohn Alek geschenkt, das Meer nur noch als Museum beschwommen. Da aber war er dann ihnen begegnet, den Verwandten des Meeres, den sagenumhegten Rettern und Gespielen der Menschen, als hätten sie die Nachricht telepatisch erhalten von seinem Friedensschluss mit den Meeresbewohnern und begrüßten ihn nun mit einem übermütigen, zirzensischen Tanz, der kein Traum war – erst nur die geschmeidige lautlose Annäherung der vier fünf dunkelhäutigen Körper, deren vertrauenheischend freundliche Gesichter er durch die Brille deutlich erkannte, deren überraschende Nähe, nach dem ersten Schreck, seinen Herzschlag hochjagte vor Freude über diese Begrüßung im andern Element, und die dann umsprang in eine tolle Begeisterung als die Delfine, Lichtfunken aus dem Wasser schlagend, ihn zu umspringen und umringen begannen in einem Reigen, der ihm eine kleine Ewigkeit zu dauern schien, bis ihn die Tiere, weil er sich verschluckte, hustend nach Atem rang, ins tiefere Blau entschwindend verließen.

Das Glücksgefühl, das dieser Besuch der freundlichen starken Verwandten ihm schenkte, erfüllte ihn tagelang, auch wenn eine weitere Begegnung sich nicht ereignete.

Die Schreibarbeit am Tisch seines Zimmers hat er mit verhohlner Genugtuung verrichtet, eine verwischte Lust hielt ihn an, das Scheitern der Studentenbewegung als unvermeidlich zu beweisen. Er schrieb damit seine frühen Hoffnungen tot.

Argwöhnisch betrachtet er jeden Gedanken, der in die Zukunft greift, und verstößt ihn. Noch manchmal der Alb, nicht nur nachts – Bliss die Knochengestalt nach dem Festmahl der Würmer. Es ist alles zu, obwohl der Brustmuskel seine Kontraktionen unerschüttert ausführt als sei nichts passiert.

Warum hat er den Haken ausgeworfen nach Manfred? Das ist die Frage. Und der hat die Postkarte zu schnell, zu begierig verstanden, steht ihm ins Haus das Schicksal, raubeiniger schnauzbärtiger Gott. Sagt erst Emigrant aus der Wirklichkeit, aber dann nur noch einfach Ich versteh dich nicht aber ich brauch dich. Wie das an ihm zerrt. Wer hat schon einen Freund der einem zweitausend Kilometer nachläuft.

Zwischen den niedrigen Tomatensträuchern die Bewässerungsfurchen, noch feucht vom Morgen. Er zieht die durchlöcherten Turnschuhe aus, sieht die matschige Erde braun zwischen seinen Zehen hochquellen, Behagen in den Fußsohlen. Unbestellt fällt ihm da der verrückte Sommertag mit Malina ins Hirn, auf der hessischen Bachwiese, der eklige Rinderspinat als braungrüne Socken und das nackte Bad dann mit der deutschen Nymfe, unendlich fern und herznah zugleich. Malina ist ihm ein Leuchtpunkt geblieben, unerreichbar am Nachthimmel. Und wo ist Jona die amerikanische Tochter? Dieser Trost glimmt nicht mal mehr, drei Briefe mit Absender und griechischer Marke an einen verstummten Kontinent.

Auf den roten Früchten, den gezähnten Blättern, der hellgrüne Staub des Chemiekonzerns. Wehrlos sind diese Menschen gegen die Verheißungen unsrer Giftmischer, die sich segensreich glauben.

Manolis an der Spitze des Holzmastes, zwischen den Drähten. Stehend auf den zwei halbrunden, in den Stamm geschlagnen Steigeisen hängt er zurückgelehnt frei in der Luft, gehalten von dem um den Mast geschlungnen Sicherheitsgurt, verklemmt mit dem Kabelschuh das Kupferkabel am Isolatorkopf. Der Draht schimmert rötlich in der Sonne. Ein andrer Arbeiter des Elektrizitätswerks, den kennt er nur vom Gesicht, hält im Feld das ausgerollte Kabel gespannt. Manolis nickt ihm einen Gruß runter, lacht, aber unterbricht die Arbeit nicht. Am Fuß des Mastes eine Kabeltrommel, Werkzeug, ein paar zertretne Tomatenstauden.

Im Schatten eines Olivenbaums ein rund gemauerter Brunnen. Der Wasserspiegel noch ziemlich hoch, so dicht am Meerufer. Bliss schaut Bliss an, der Bube ohne Unterleib, in himmelblauer Gloriole. Er stellt sich auf den Brunnenrand, lässt am Seil den großen FetaKanister runter, aber schafft erst nach mehreren Versuchen, dass der Kanister kippt, Wasser schöpft, langsam untersinkt. Wie er ihn über den Wasserspiegel hebt, zieht ihn das Gewicht fast vornüber aus der Balance, er muss das dünne Seil mit beiden Händen halten, um es nicht zu verlieren. Er versucht Wasser herauszuschwappen, aber der Kanister läßt sich nicht mehr schaukeln. Der Grieche im Feld beobachtet ihn aufmerksam, lacht ihm zu. Er ruft ihn nicht zu Hilfe, hebt den Kanister eine halbe Armlänge, greift um, hebt wieder, in seinen Schläfen hämmert das Blut, noch stärker schmerzen die Handflächen. Er kämpft die Versuchung nieder loszulassen, zieht weiter, weiß, dass eine Sekunde Nachlassen ihm das Seil unhaltbar entreißen würde und zwingt den Kanister so bis auf den Rand mit einer Anstrengung, die ihm beschämend vorkommt.

Das Wasser darin weich, kühl, ohne Insektenlarven, glasklar. Er erlebt es mit den brennenden Händen, lässt es durch die Finger rinnen, schöpft heraus für die Stirn, den Mund, die Kehle, dieses südliche Gefühl noch in der Gurgel, für nichts zu kaufen in Deutschland – wie kann man das Wasser lieben, nur trinkend. Umarmen, ans Herz drücken kann man es nicht. Noch die Luft, noch die Sonne. Wie fremd uns die Elemente bleiben. Das Notwendigste, was uns erhält, wie unfasslich auch hier, wo es so stark und unmittelbar einwirkt.

Das sind Abschiedsempfindungen, weiß er, und steckt seinen Kopf neben dem Handholz bis an die Nase in den Kanister, fast verklemmt er sich zwischen Blech und Holz, aber die Kühlung ist wie ein Bad für die Gedanken. Als er auftaucht, steht neben ihm der Grieche, besorgt-verwunderte Augen. Er lacht durch das aus dem Haar rinnende Wasser, erklärend. Polli sesti, sagt er, viel Hitze, die Worte, die jedes Gespräch des Inselsommers eröffnen und immer bestätigt werden. Der Grieche gießt das Wasser in eine Furche zwischen den Stauden, zeigt ihm, wie er mit einem kurzen Seilschwung im Brunnen den Kanister kippt, vollaufen lässt und mit schwingendem Oberkörper, in langen sicheren Armzügen heraufholt. Das Spiel hat er oft gesehn und bestaunt. Auch das Heben und Neigen des Gefäßes über den Kopf, den vorschießenden Strahl, der übers Gesicht und in den Mund spült. Der Mann hat aber auch andere Arme.

Manolis seilt seine Zange, den Holzbohrer zu Boden, hält sich mit einer Hand an dem gekröpften IsolatorEisen, öffnet mit der andern den Karabiner des Sicherheitsgurtes, schlingt den Gurt unter dem nächsten Eisen um den Mast und hakt ihn ein, steigt zwei Schritte tiefer, öffnet, versetzt und schließt den Gurt erneut, steigt dann Schritt um Schritt den Stamm hinab, mühelos, als wär er auf Bäumen geboren. Er sieht das noch vor sich, das Bild von Manolis’ Kollegen, dem der Gurt riss, dass er hintenüber stürzte und mit gebrochenen Beinen an den Steigeisen vom Mast hing, da steht der schon unten, in der Latzhose mit dem Zeichen der Elektrizitätswerke, schnallt die Eisen von den Stiefeln, reicht ihm die Hand, jassou Viktor, ti kanoume? und zwischen den Bartstoppeln schimmern die Schweißperlen. Ela, katze na fame ligaki.

Im Schatten des Baums sitzend isst er von ihren salzigen Oliven aus der Plastiktüte, mit den Fingern vom bröckligen Feta aus Packpapier, pflückt und wäscht ein paar Tomaten, bietet seine Feigen an. Das hefeduftende Weißbrot schon lappig, das Wasser besser als Bier. Manolis schneidet die Melone in Scheiben, sie spucken die schwarzen Kerne. Bis zum Abend soll das letzte Bauernhaus angeschlossen sein, dann geht Strom auf die Leitung. Der Mittagswind rauscht plötzlich in der Olivenkrone, kühlt ihre feuchten Stirnen. Die Federbüschel des Bambusschilfs am Feldrand schwanken erregt. Die Zikaden sind verstummt. Durch die Tamarisken glänzt bleiern das noch ungeweckte Meer.

Manolis schickt den Kollegen zu dem Bauern, Bliss hat den Auftrag nicht verstanden. Wenn sie untereinander sprechen, versteht er kein Wort. Er zieht den Rizospastis aus dem Hemd, mit Flecken von Schweiß. Manolis, ohne hinzusehn, nimmt die Zeitung, verstaut sie in seinem Beutel, efcharisto Viktor. Gibt ihm die Zehndrachmenmünze. Ist das letzte Mal heut, der Manfred holt mich zurück nach Deutschland. Manolis fragt, ob die Partei ihn geschickt hat. Er schüttelt den Kopf. Ob er sein Buch fertig geschrieben hat. Er verneint. Es sei nicht das Buch, weshalb er auf Leros wohnt. Weshalb dann. Ihm sei sein Leben in Deutschland zu eng geworden. Manolis bietet ihm Zigaretten an, zieht sich eine, raucht.

Ob er im Gefängnis war?

Auch, sagt er seine Wahrheit.

Gut, dass du nun wieder zurück kannst, versteht Manolis. Sie werden dich brauchen.

Wer holt dir in Zukunft vom Kiosk den Rizospastis?

Manolis grinst breit. Studenten aus Athen sind da. Nach den Wahlen werd ich ihn selbst kaufen.

Er schöpft sich Wasser mit der hohlen Hand aus dem Kanister. Manolis reicht ihm seinen Blechbecher.

Heut nacht mit der Alkyon fahren wir.

Endaxi. Manolis lacht aus den Augenwinkeln. Wir werden weinen, Viktor.

ANKLAM

MIT DER ALKYON NACH EUROPA

Wo steckt der Kerl?

Manfred Anklam fror, hundemäßig. Der Stuhl neben ihm war leer. Er fasste auf die Sitzfläche. Kalt.

Hat sich wahrscheinlich unter Deck verkrochen. Wie spät? Vier! Und schon so hell. Das Meer grau, geplättet, unbegrenzt. Macht höchstens drei, vier Stunden Schlaf.