Die Südharzreise
ein SuKuLTuR Produkt
eBook-Ausgabe Dezember 2012
1. Auflage (Print) März 2010
Lektorat: Antje Töpel
Umschlaggestaltung: Andreas Vogel
SuKuLTuR, Wachsmuthstraße 9, 13467 Berlin
www.sukultur.de · post@sukultur.de
ISBN (Print) 978-3-941592-12-4
ISBN (ePub) 978-3-941592-92-6
eBook-Herstellung und Auslieferung
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
Veröffentlicht unter der
Creative Commons-Lizenz
BY-NC-SA 3.0 DE
Frank Fischer
Die Südharzreise
Abstrakter Tourismus
zwischen Leipzig und Göttingen
Mit einem Nachwort von
David Woodard
und
Bildern von
Andreas Vogel
SuKuLTuR
2012
2. Oktober 2008 | |
Leipzig, »Telegraph«, 23:59 Uhr |
0 km |
3. Oktober 2008 | |
Leipzig, Völkerschlachtdenkmal, 0:37 Uhr |
5 km |
Rastplatz »Pösgraben«, 0:59 Uhr |
27 km |
Belantis, 1:09 Uhr |
44 km |
Großgörschen, 1:30 Uhr |
64 km |
Lützen, 1:53 Uhr |
72 km |
Röcken, 2:22 Uhr |
77 km |
Rippach, 2:28 Uhr |
81 km |
Poserna, 2:34 Uhr |
84 km |
Weißenfels, Schloss, 3:01 Uhr |
93 km |
Goseck, Sonnenobservatorium, 3:32 Uhr |
104 km |
Kreuz Rippachtal, 3:59 Uhr |
135 km |
Abfahrt Leuna/Merseburg, 4:03 Uhr |
142 km |
Bad Lauchstädt, 4:28 Uhr |
159 km |
Halle-Neustadt, 5:02 Uhr |
196 km |
Eisleben, 6:14 Uhr |
228 km |
Allstedt, 6:45 Uhr |
257 km |
Sangerhausen, Autohof, McDonald’s, 7:04 Uhr |
269 km |
Sangerhausen, Rosarium, 8:16 Uhr |
273 km |
Sangerhausen, Café Kolditz, 9:28 Uhr |
276 km |
Sangerhausen, Friedhof, 9:41 Uhr |
277 km |
Kyffhäuserdenkmal, 10:37 Uhr |
308 km |
Bad Frankenhausen, Panorama-Museum, 12:25 Uhr |
323 km |
Sondershausen, 13:14 Uhr |
347 km |
Rastplatz »Goldene Aue«, 14:00 Uhr |
373 km |
Stolberg, 14:44 Uhr |
392 km |
Nordhausen, 15:30 Uhr |
427 km |
Mittelbau-Dora, 16:06 Uhr |
434 km |
Bleicherode, 17:04 Uhr |
466 km |
Leinefelde, 17:32 Uhr |
494 km |
Teistungen, Grenzlandmuseum Eichsfeld, 18:05 Uhr |
512 km |
Heiligenstadt, 19:16 Uhr |
545 km |
Heidkopftunnel, 19:40 Uhr |
560 km |
Friedland, 19:51 Uhr |
568 km |
Dreieck Drammetal, 20:33 Uhr |
577 km |
Bördel, Sesebühl, 20:53 Uhr |
596 km |
Göttingen, 21:20 Uhr |
612 km |
4. Oktober 2008 | |
Leipzig, »Telegraph«, 01:01 Uhr |
864 km |
Wo ein Denkmal steht, muss man natürlich hin.
ANDREAS NEUMEISTER: Könnte Köln sein
23:59 Uhr | 0 km
Von der Thomaskirche her schlägt es Mitternacht, der Tag der Deutschen Einheit beginnt und gleich auch die Südharzreise. Im Prinzip will ich lediglich innerhalb von 24 Stunden entlang der A38 von Leipzig nach Göttingen fahren und zwischendurch immer wieder kurz ins Hinterland abbiegen, »gegen die Anmaßung der Autobahn, zwischen Punkt A und B könne es nur sie geben«.
Die Weltgeschichte hat ein paar Dutzend Orte neben dieser neuen Autobahn verteilt und der Tourismusindustrie einige Superlative und Einmaligkeiten geliefert. Manchmal müssen diese aber auch klug erfunden werden, denn es kann nur ein größtes Denkmal der Welt, eine größte Kirche Europas, ein größtes Gebäude der Stadt geben. Also wird zeitlich, typologisch und regional eingeschränkt, was schnell lächerlich wirken kann wie die sprichwörtliche ›größte spätgotische Hallenkirche Ostsachsens‹. Und das Kyffhäuserdenkmal ist nur das drittgrößte Denkmal in Deutschland, nach dem Konkurrenten an der Porta Westfalica aber schon das zweitgrößte Kaiser-Wilhelm-Denkmal und sicher das allergrößte Denkmal Nord-, Süd-, Ost-, West- und Mittelthüringens.
Den Genius loci bekommt man normalerweise nur noch gegen Eintrittsgeld zu spüren, aber vielleicht genügt schon das hypertouristische Vorbeirennen an den Orten. In diesem alten Godard-Film zum Beispiel stürmt die »Bande à part« in nur 9 Minuten und 43 Sekunden durch den gesamten Louvre. Für die A38, den über 200 Kilometer langen Flurgang eines riesigen Open-Air-Museumskomplexes, reichen vielleicht 24 Stunden.
Im »Telegraph« interessiert es alle noch mal kurz ein bisschen, einer der Freunde findet es eine gute Idee, dass ich per GPS die Bewegungsdaten aufzeichnen und die aneinandergereihten Koordinaten danach als Reisebericht veröffentlichen möchte. Denn im Prinzip müsse überhaupt niemand mehr selbst von den Dingen erzählen, an denen er vorbeifahre. Auch der Text dieser Reise entstehe einfach schon dadurch, dass ich mich mit meinem Auto »in die Strecke einschreibe«.
Am Ende gibt es noch einen Sturzkaffee aufs Haus, es ist 0:27 Uhr, und nachdem ich mehrfach unverhohlen der Pigafetta des 21. Jahrhunderts geschimpft werde, ist es Zeit.
Über den Martin-Luther-Ring umfahre ich südlich das Zentrum, an der Stadtbibliothek vorbei, die mir aus der Ferne entgegenleuchtet. Das Gebäude ist von außen schön wie eine Matroschka, und ich nutze eine rote Ampelphase, um kurz etwas genauer hinüberzusehen.
0:37 Uhr | 5 km
Beim Völkerschlachtdenkmal, dem größten europäischen Denkmal der Welt, sozusagen, halten sich Schönheit und Klotzigkeit halbwegs die Waage. Der Bau verliert aber schon bedeutend an Monstrosität, wenn man während der Öffnungszeiten einen rettenden Blick in das Dienstzimmer am Eingang zur Ruhmeshalle wirft und sich bewusst macht, dass sich in der Holzvertäfelung darin seit gut hundert Jahren der Schweiß der Pförtner sammelt. Diese Linderung durch einen Moment Weltlichkeit ist um diese Uhrzeit jedoch nicht möglich, und überhaupt ist hier nicht das Geringste zu sehen, denn das Monument wird gerade aus unerfindlichen Gründen nicht angestrahlt. Erst nach einigen Sekunden in der Dunkelheit kann ich in der Höhe ein paar Schemen ausmachen, die wachenden Walhalla-Krieger, die um die Spitze herumgruppiert sind.
Das Denkmal wurde 1913 eingeweiht, zum hundertjährigen Jubiläum der Schlacht. Ein paar Jahrzehnte davor hatte Nietzsche den Sieg noch als gesamtdeutsches Armutszeugnis interpretiert: »Die Deutschen haben ... mit ihren ›Freiheits-Kriegen‹ Europa um den Sinn, um das Wunder von Sinn in der Existenz Napoleon’s gebracht, – sie haben damit Alles, was kam, was heute da ist, auf dem Gewissen, ... sie haben Europa selbst um seinen Sinn, um seine Vernunft – sie haben es in eine Sackgasse gebracht.«
Immerhin gibt es gleich zweihundert Meter weiter einen Napoleonstein, auf dem der Satz zu lesen ist: »Hier weilte Napoleon am 18. Oktober 1813, die Kämpfe der Völkerschlacht beobachtend.« Es wird also aus historischen Gründen daran erinnert, dabei hätte man zum Ausgleich ruhig auch ein paar Dankesworte für den Code civil mit unterbringen können.
Statt über die B2 weiterzufahren und den Anfang der A38 zu verpassen, suche ich die B6 und nehme von dort aus die A14 bis zum Dreieck Parthenaue. Dort beginnt die A38, die den touristisch klingenden Beinamen »Südharzautobahn« trägt, die den Harz selber aber nicht einmal streift, daher also eher »Südlich-vom-Harz-Autobahn« genannt werden müsste. Oder noch treffender: »Kultur- und Weltgeschichts-Supertrasse«. Sie wird seit 1995 gebaut, als Nr. 13 der 17 Verkehrsprojekte Deutsche Einheit, die als großangelegte Integrationsleistungen die Ex-DDR schnell ins europäische Verkehrsnetz hereinholen sollten. Ursprünglich waren an ihrer Stelle zwei kleinere Autobahnen geplant, die man A82 und A140 nennen wollte, auch sehr schöne Namen.
Die A38 zieht sich, zweispurig, über 219 Kilometer vom westlichen Sachsen über das südliche Sachsen-Anhalt durch das nördliche Thüringen und inklusive eines Abstechers nach Nordhessen bis nach Südniedersachsen. Sie endet (oder beginnt) südlich von Göttingen, an der A7, der längsten der deutschen Autobahnen. Noch fehlen ihr aber etwa 35 Kilometer, zwei Teilstücke, von denen das größere zwischen Halle und Eisleben noch Mitte Dezember 2008, das kleinere zwischen Bleicherode und Breitenworbis Ende 2009 freigegeben werden soll.
0:59 Uhr | 27 km
Die Dunkelheit lenkt wenigstens nicht vom Weg ab. Auf den ersten Kilometern gäbe es auch nicht viel zu besichtigen, außer der relativ schwer vermittelbaren Sehenswürdigkeit ›Leipziger Tieflandsbucht‹. Trotzdem halte ich kurz auf dem ersten Rastplatz »Pösgraben« an, als Hommage an die internationale Rastplatzforschung.
Julio Cortázar und Carol Dunlop sind im Frühsommer 1982 die Autobahn von Paris nach Marseille abgefahren, ohne sie in 33 Reisetagen auch nur einmal zu verlassen. Übernachtet haben sie in ihrem VW-Bus, mehr oder weniger strikt auf jedem zweiten der insgesamt 65 Rastplätze. Ihr Expeditionsgebiet sollte ursprünglich die Autobahn sein, am Ende wird ihr Material aber zu einer Verherrlichung der Autobahnraststätten, einem Zwischenreich namens ›Parkingland‹.
Ihr Bericht »Die Autonauten auf der Kosmobahn« ist ein Schlüsseltext des abstrakten Tourismus. Die erkundeten Rastplätze sind als Readymades plötzlich Sehenswürdigkeiten und gleichzeitig ihr eigenes Museum. Die ordnungsgemäße Beschriftung dieser Kunstwerke ist nur eine Frage der Zeit: »Auf diesem Rastplatz verbrachte der argentinische Schriftsteller Julio Cortázar die Nacht vom 9. zum 10. Juni 1982, nachdem er gebratene Bananen mit Eiern und Schinken verspeist hatte.«
Während ich weiterfahre und überhaupt während der aktuellen Jahrzehnte entsteht links und rechts von mir das Leipziger Neuseenland, ein Verbund aus Tagebaurestlöchern, die sich langsam mit Badewasser füllen. Rechterhand sehe ich den Cospudener See schimmern, der erst vor ein paar Jahren vollgelaufen ist, der aber wirkt, als sei er schon immer dagewesen. Ein paar Sekunden später erscheint auf derselben Seite die goldgelb funkelnde Pyramide von Belantis.
1:09 Uhr | 44 km