cover.jpg

img1.jpg

 

Nr. 304

 

Sohn der Götter

 

Begegnung mit dem Wächter des schlafenden Fafnir

 

von Marianne Sydow

 

img2.jpg

 

Sicherheitsvorkehrungen, die auf Atlans Anraten noch gerade rechtzeitig getroffen wurden, haben verhindert, dass die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist.

Doch die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt und nicht bereinigt worden. Der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wieder aufgetauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis.

Atlan, Lordadmiral der USO, und Razamon, der Berserker – er wurde beim letzten Auftauchen von Atlantis oder Pthor zur Strafe für sein »menschliches« Handeln auf die Erde verbannt und durch einen »Zeitklumpen« relativ unsterblich gemacht – sind die einzigen, die die Sperre unbeschadet durchdringen können, mit der sich die Herren von Pthor ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Allerdings verlieren die beiden Männer bei ihrem Durchbruch ihre gesamte Kleidung und technische Ausrüstung.

Und so landen Atlan und Razamon – der eine kommt als Späher, der andere als Rächer – nackt und bloß an der Küste von Pthor, einer Welt der Wunder und Schrecken.

Ihre ersten Abenteuer bestehen sie am »Berg der Magier«. Ihr weiterer Weg führt sie zur »Straße der Mächtigen« und zum SOHN DER GÖTTER ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Atlan und Razamon – Die Besucher von Terra begegnen dem Wächter des schlafenden Fafnir.

Honir – Ein ›Göttersohn‹ wird demaskiert.

Muur-Arthos – Honirs treue Diener.

Szaru – Ein Mitglied der Horden der Nacht.

1.

 

Hugin und Munin zogen ihre Kreise in der Nähe der Stadt Zbahn. Unter ihnen zog sich die Straße der Mächtigen wie ein gewundenes Band aus Altsilber durch die steppenartige Landschaft. Im Osten waren einige Häuser ziemlich deutlich zu erkennen – das war Harsth, eine Art Vorort von Zbahn. Alles andere verschwamm im Dunst.

Aber die scharfen Augen der beiden Raben waren nicht auf die Stadt gerichtet. Sie beobachteten die Straße und deren Umgebung. Sie bemerkten das Burkoll, das weiter westlich den Kadaver eines Tieres von der Straße herunterschleifte und sich im trockenen Gras zu seiner Mahlzeit niederließ.

Plötzlich stieß Hugin ein scharfes Krächzen aus. Munin warf sich in der Luft herum und änderte seine Flugrichtung. Fast gleichzeitig stiegen die beiden Vögel weiter nach oben, und dabei richtete sich ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Stadt, über der ein kurzer, gleißender Lichtreflex erschienen war.

Dann sahen sie den Zugor.

Das Fahrzeug raste heran. Es schlingerte und torkelte, und die beiden Raben stoben krächzend zur Seite. Hugin und Munin sahen zwei Menschen, die in dem Zugor saßen, sich mit dessen Bedienung aber wohl nicht sehr gut auskannten. Die Geschwindigkeit der Schale war zu hoch. Und was noch schlimmer war: Der Zugor verließ die schmale Flugschneise, in der allein er sich bewegen durfte.

Die Raben stießen dem abstürzenden Fahrzeug nach. Aus sicherer Entfernung beobachteten sie, wie die Flugschale kurz vor der Berührung mit dem Boden kippte und sich fast überschlug. Die beiden Insassen wurden hinausgeschleudert. Ein paar Meter von den reglosen Gestalten entfernt schlug das Fahrzeug auf. Sand wirbelte durch die Luft und versperrte den Vögeln die Sicht. Sie zogen ihre Kreise und warteten.

Der Zugor hatte sich mit der Kante teilweise in den lockeren Boden hineingebohrt. Er stand schräg, mit dem gewölbten Boden nach oben. Die beiden Menschen rührten sich immer noch nicht.

Hugin krächzte rau und ließ sich nach unten fallen. Der andere Rabe blieb auf seiner Flugbahn und behielt die Umgebung im Auge, während Hugin landete und vorsichtig durch das trockene Gras stolzierte. Aus unmittelbarer Nähe betrachtete er die beiden Menschen. Der eine hatte silberweißes Haar, was dem Raben ein kurzes, beinahe erschrockenes Glucksen entlockte. Der andere war dunkelhaarig. Beide lebten und waren anscheinend kaum verletzt.

Hugin entfaltete die Schwingen und kehrte zu Munin zurück. Mit lautstarkem Krächzen verständigten sich die beiden Vögel. Sie lösten sich aus ihrer Kreisbahn und strebten mit kräftigen Flügelschlägen nach Westen.

Über dem Burkoll hielten sie kurz an, kreisten und krächzten abermals und starrten dabei nach unten. Das Burkoll unterbrach seine Mahlzeit und sah mit feuchten, dunklen Augen zu den Raben hinauf. Das halbintelligente Wesen wusste bereits, dass es Arbeit gab. Es hatte den Aufprall gespürt. Es wunderte sich über das Verhalten der Vögel. Es hatte Nahrung gefunden, und sobald es gesättigt war, würde es zum nächsten Beobachtungspunkt eilen. Die Erschütterung des Bodens war nur schwach zu spüren gewesen. Die Unfallstelle musste jenseits des Horizonts liegen.

Es schien, als wollten die Raben dem gepanzerten Wesen etwas mitteilen. Was immer es sein mochte – das Burkoll begriff den Sinn der Botschaft nicht. Hugin und Munin gaben es auf, ließen sich von den warmen Luftströmungen in eine größere Höhe tragen und flogen nach Westen davon. Nach einiger Zeit glitzerte unter ihnen die Fläche des Kelch-Or-Sees. Das Wasser umschloss den Rundbau des Schlosses Komyr mit seinem hoch aufragenden Turm. Die beiden Raben zogen die Flügel eng an ihre Körper und stürzten wie lebende Geschosse in die Tiefe. Vor den Zinnen des Turmes fingen sie ihren rasenden Flug ab. Sie hörten das melancholische Schwirren einer Windharfe. Sie waren am Ziel.

 

*

 

Der Besuch der Raben hatte das Burkoll beunruhigt. Brummend und schnaufend ließ es von dem Kadaver ab, hob die stumpfe Nase in die Luft und schnüffelte, als könnte es dem leichten Wind Informationen über die Art des Hindernisses entnehmen, die es zu beseitigen galt.

Das Burkoll verstand sich als einen der Wächter über diesen Teil der Straße der Mächtigen. Gemeinsam mit seinen drei Brüdern sorgte es für Ordnung. Das Burkoll wusste, dass es außer ihm und seinen Brüdern noch einen anderen Wächter gab, einen Zweibeiner mit gewaltiger Rüstung und ungeheurer Macht, in den Augen der Gepanzerten schon fast ein Gott. Er kam bisweilen und beseitigte Gefahren, mit denen ein Burkoll nicht fertig wurde. Aber er griff die Gepanzerten niemals an, und darum waren das Burkoll und seine Brüder zu der Überzeugung gelangt, dass ihre Tätigkeit im Sinne des Zweibeiners war.

Das Burkoll verbrachte ganze Tage und Nächte mit Überlegungen dieser Art. Es glaubte, bereits einige Erkenntnisse gewonnen zu haben.

Der Wind war an diesem Tag aber nicht dazu aufgelegt, das Burkoll zu unterstützen. Er wehte aus der falschen Richtung. Der Gepanzerte empfing schwach den Körpergeruch eines anderen Burkolls, das westlich von ihm einen Abschnitt der Straße bearbeitete. Wieder einmal waren die seltsamen Wesen am Werk gewesen, die die Straße zu versperren versuchten, wann immer sie eine Gelegenheit dazu fanden.

Auch das war ein Rätsel. Das Burkoll hatte schon viele Sperren beseitigt, aber es hatte die, welche sie erbauten, noch niemals gesehen oder gewittert. Sie kamen und gingen lautlos und hinterließen keine Spuren – von den Sperren einmal abgesehen. Das Burkoll stellte fest, dass sein Bruder mit der vorhandenen Sperre allein fertig werden würde und gab seinen jetzigen Standort endgültig auf. In langen, geschmeidigen Sprüngen rannte es nach Osten. Es betrat das altsilberne Band der Straße nicht, sondern hielt sich auf dem sandigen Streifen daneben. Während des rasenden Laufes achtete es weder auf die Straße, noch auf seine Umgebung. Es konnte sich unmöglich auf zwei Dinge gleichzeitig konzentrieren.

Die Horden der Nacht kamen selten so nahe an die Straße heran, und selbst wenn eines der monströsen Wesen sich über die Gesetze hinwegsetzte, genügte es, sich südlich der Straße zu halten. Noch niemals hatte das Burkoll ein solches Ungeheuer die Straße der Mächtigen überqueren sehen.

Vor ihm tauchte eine gerüstähnliche Konstruktion auf. Das Burkoll wurde etwas langsamer und hielt direkt vor den untersten Stangen an. Es gab die Gerüste überall entlang der Straße, und das Burkoll war froh darüber.

Unbeholfen kletterte es an den Stangen und Streben hinauf. Seine krallenbewehrten Pfoten waren für diese Art der Fortbewegung nicht gut geeignet, aber die Mühe lohnte sich. Je höher es kam, desto größer wurde sein Horizont. Es konnte über die sonst geltenden Grenzen hinwegsehen – ein Phänomen, das das Burkoll immer wieder mit Ehrfurcht erfüllte. Die einfachen Zusammenhänge von der Höhe des Standorts und des sich damit vergrößernden Blickfelds waren ihm unbegreiflich. Für das Burkoll war der Blick über den »Horizont« ein Wunder.

Als es die obersten Stangen erreichte, klammerte es sich fest und verharrte regungslos. Die Vielzahl der Informationen, die der Wind ihm hier oben jedes Mal zutrug, versetzten es regelmäßig in einen wahren Rausch. Hinzu kam das leichte Vibrieren der Stangen unter seinen Füßen und der freie Blick in alle Richtungen.

Das Burkoll brauchte mehrere Minuten, bis es sich an diese Eindrücke so weit gewöhnt hatte, dass es sich seinem eigentlichen Vorhaben zuwenden konnte.

Das Burkoll starrte nach Osten. Es sah so viele Dinge, dass es ihm Mühe bereitete, die unwichtigen Eindrücke auszuschalten.

Endlich entdeckte es das Ding, das nicht in diese Landschaft gehörte. Es war grau und groß, und an einigen Stellen reflektierte es das Sonnenlicht in grellen Blitzen. Daneben gab es zwei dunkle Flecken.

Das Burkoll hatte schon etliche Zugors gesehen und auch beiseite geräumt. Trotzdem bereitete es ihm immer noch Schwierigkeiten, diese nicht essbaren Dinger mit seiner Arbeit in Verbindung zu bringen. Das Burkoll war ein Aasfresser. Irgendwann hatte es mit seinen drei Brüdern in Erfahrung gebracht, dass es auf und neben der Straße besonders oft Nahrung fand. Das war der Anfang seiner Tätigkeit. Erst später hatte es begonnen, auch Treibsand und andere Hindernisse wegzuschaffen.

So ein Zugor war ein dicker Brocken. Das Burkoll erinnerte sich verschwommen daran, wie schwer es war, ein solches Fahrzeug zu bewegen.

Mühsam stieg es nach unten. Seine Pfoten rutschten ein paar Mal an den glatten Stangen ab. Das Burkoll bekam jedes Mal einen solchen Schreck, dass es sich sekundenlang kaum zu rühren vermochte. Die Angst war der Preis für den Rausch, den es da oben genossen hatte. Das Burkoll wäre niemals auf die Idee gekommen, die Gitterkonstruktion so zu verändern, dass der Auf- und Abstieg erleichtert wurde. Statt dessen empfand es Demut und Dankbarkeit, als es wieder den gewohnten Sand unter den Füßen spürte.

Es betrachtete das Gerüst, legte leise winselnd den Kopf auf den Boden und schaufelte etwas Sand auf seinen Rücken. Regungslos wartete es, bis der Wind die feinen Körner davongeblasen hatte. Erst dann stand es auf. Es wartete gespannt, aber das Gerüst blieb heute stumm. Manchmal hatte die Zeremonie Erfolg, und es hörte ein feines Singen, das von der Spitze des Bauwerks zu ihm herabdrang. Vielleicht war das Gerüst unzufrieden. Das Burkoll wandte sich traurig ab und trottete nach Osten weiter.

Es musste den Zugor aus der unmittelbaren Nähe der Straße entfernen. Wenn ihm das gelang, würde es vielleicht beim nächsten Mal eine Antwort erhalten.

Die Hoffnung darauf wirkte ermutigend. Das Burkoll wurde schneller. Nach einiger Zeit tauchte vor ihm die schräg im Boden steckende Schale auf. Daneben lagen die beiden dunklen Körper. Das Burkoll hielt überrascht an. Neben dem Fahrzeug lag eine gute Beute. Sie würde ihm die Kraft geben, die es benötigte, um seine Aufgabe zu erfüllen.

 

*

 

Honir sah die beiden Vögel nicht, denn seine Gedanken beschäftigten sich nicht mit dieser Welt. Er starrte über die Zinnen des Turmes in die Weite, ohne die Umgebung wahrzunehmen. Die klagenden Töne der Windharfe entführten seinen Geist in das Reich der Träume. Dort galt sein Schicksal nichts, dort war er alles, was er zu sein wünschte.

Erst als Munin ihm direkt ins Ohr krächzte, schrak Honir zusammen. Er drehte sich um. Die beiden Raben flatterten über seinem Kopf, vollführten tollkühne Flugmanöver auf engstem Raum und stießen dabei ihre rauen Laute aus. Honir neigte lauschend den Kopf und nickte schließlich. Seufzend nahm er Abschied von der Windharfe.

»Es ist gut!«, sagte er zu den Raben. Seine Stimme klang dumpf unter dem Helm hervor. Manchmal empfand Honir dieses Gebilde als unangenehm und hinderlich, aber er wollte diesen Helm niemals ablegen. Zwar vermutete er, dass die Raben sein Geheimnis niemandem verraten würden, aber er war vorsichtig. Außerdem musste er Muur-Arthos berücksichtigen.

Der Doppelköpfige war der treueste und ergebenste Diener, den man sich nur vorstellen konnte. Dennoch war Honir nicht bereit, auch nur das kleinste Risiko einzugehen.

Die Raben jagten noch einmal um den Turm und entfernten sich dann krächzend. Honir betrat die enge, gewundene Treppe, die nach unten führte. Im Innern des Turmes war es fast dunkel. Die wenigen, sehr schmalen Fenster reichten nicht aus, um die Treppe zu erhellen. Fast automatisch griff Honir in eine Nische und nahm den aus Stein geschnitzten Leuchter. Daneben stand eine Glutschale – Muur-Arthos hatte dafür zu sorgen, dass die Lichter stets entzündet werden konnten. Zwei klobige Kerzen flammten auf. Ihr flackerndes Licht erzeugte gespenstische Schatten an den steinernen Wänden.

Am Ende der Treppe wartete Muur-Arthos. Das verkrüppelte Wesen mit den bis zur Unkenntlichkeit verquollenen Gesichtern neigte demütig die beiden Köpfe.

»Es gibt Arbeit«, sagte Honir. »Hugin und Munin statteten mir einen Besuch ab. Es scheint, als wären Fremde in unserem Gebiet aufgetaucht. Ich muss herausfinden, was sie hier wollen.«

Muur-Arthos kannte seinen Herrn gut genug, um keine Fragen zu stellen. Honir schritt an ihm vorbei in die Rüstungskammer, und der Doppelköpfige eilte ihm nach.

»Jeder Fremde bedeutet eine Gefahr«, fuhr Honir fort, während er mit Muur-Arthos' Hilfe die schwere Rüstung anlegte. »Der schlafende Fafnir muss beschützt werden. Die Gnitaheide ist ein verlockendes Ziel für die Unwürdigen.«

»Ich komme selbst von dort«, antworteten die beiden Münder des Doppelköpfigen im Chor. »Wer sich auf die Ebene Kalmlech wagt, ist des Todes. Die Horden der Nacht lassen sich nicht überlisten.«

Honir lächelte unter dem Helm.

»Dich hat man bekehrt«, bemerkte er. »Das ist der Beweis dafür, dass auch die Horden der Nacht kein vollkommener Schutz sind. Sie hausen in der Gnitaheide, die du Kalmlech nennst, und ich kenne ihre vernichtenden Kräfte. Aber wir beide wissen auch, dass die Macht der Magie sie besiegen könnte.«

Muur-Arthos spürte, dass Honir unruhig war. Immer wieder kam es auf der Straße der Mächtigen zu Zwischenfällen, die die Ruhe im Schloss störten. Muur-Arthos hatte jedes Mal Angst um Honir, wenn dieser das Schloss verließ. Der Göttersohn hatte viele Kämpfe bestanden, aber der Doppelköpfige war der Ansicht, dass man sein Glück nicht übermäßig strapazieren solle. Er war von Honir abhängig. Der Göttersohn war unsterblich, solange er sich von allen Gefahren fernhielt. Ein Hieb oder ein Stich jedoch konnte ihn töten. Und dann war es für Muur-Arthos vorbei mit dem angenehmen Leben. Es gab noch drei andere Göttersöhne, aber Honir hatte mit keinem von ihnen Kontakt. Nach seinem Tode würde das Schloss Komyr verwaisen, und Muur-Arthos musste dann zu den Horden der Nacht zurückkehren.

»Es gibt noch mehr Straßenabschnitte«, murmelte er missmutig und reichte Honir die Stülphandschuhe. »Ich hörte, dass sie verwahrlost und ungepflegt sind.«

»Nicht alle Teile des schlafenden Fafnirs sind von gleich hoher Bedeutung«, erwiderte Honir streng. »Außerdem kümmert es mich nicht, wie es meine Brüder mit ihrer Aufgabe halten. Ich bin für meinen Bereich verantwortlich.«

Muur-Arthos schwieg vorsichtshalber. Er durfte Honir nicht reizen. Der Göttersohn konnte jederzeit seine Entscheidung, den Doppelköpfigen als Diener zu akzeptieren, widerrufen.

»Ist die Windrose bereit?«, fragte Honir und streckte gebieterisch die Hand aus. Muur-Arthos hakte die Vars-Kugel von der Wand und reichte sie seinem Herrn.

»Sie steht im Vorhof«, sagte er, und er konnte es sich nicht verkneifen, hinzuzusetzen: »Wie immer, Herr!«

Honir reagierte nicht auf die Anspielung seines Dieners. Er verließ die Rüstungskammer und schritt über die breite Galerie bis zu der wuchtigen Steintreppe, die in die Halle hinabführte. Muur-Arthos beeilte sich, an ihm vorbeizukommen. Der Doppelköpfige durchquerte auf seinen kurzen Beinen hastig die Halle. Sein Kettenhemd rasselte leise, als er die Riegel des Tores zurückschlug.

Er schaffte es auf die Sekunde genau. Als Honir das Tor erreichte, drückte Muur-Arthos die schweren Flügel auseinander. Helles Sonnenlicht flutete herein und ließ die Waffen an den Wänden der Halle aufblitzen.

»Darf ich das Tor hinter dir schließen?«, erkundigte sich der Doppelköpfige, als Honir an ihm vorbeiging. Er hatte diese Frage schon tausendmal gestellt und ebenso oft die stets gleiche Antwort erhalten.

»Nein!«

»Warum nicht?«

Honir drehte sich überrascht um. Es kam sehr selten vor, dass Muur-Arthos sich nicht mit der normalen Antwort begnügte.

»Das solltest du selbst am besten wissen«, bemerkte er langsam.

»Die Horden der Nacht sind sehr unruhig«, gab Muur-Arthos zu bedenken.

»Unruhig genug, um gegen den unumstößlichen Befehl zu handeln, den die Herren der FESTUNG gegeben haben?«, fragte Honir spöttisch. »Die Burgen der Göttersöhne sind für sie absolut unangreifbar. Sie dürfen sich nicht einmal in die Nähe des Schlosses wagen. Du bist die einzige Ausnahme – die Gründe dafür sind dir bekannt.«

»Wo es eine Ausnahme gibt, ist die zweite nicht fern«, murmelte Muur-Arthos besorgt, aber Honir ging nicht darauf ein. Er hatte bereits die Windrose erreicht und schwang sich auf den mittleren Sitz des Fahrzeugs. Muur-Arthos hatte sich an dieses Zauberding nie gewöhnen können. Er machte eine abergläubische Bewegung, als das Doppelrad sich zu drehen begann. Honir steuerte auf die Brücke zu, die den Vorplatz mit dem Ufer des Sees verband. Der Doppelköpfige sah zu, wie die Windrose auf die Straße der Mächtigen einbog und dort schnell an Geschwindigkeit gewann.

»Beim Traum des Fafnir«, sagte er zu sich selbst. »Dieses Ding haben die Geister der Finsternis geschaffen. Gut, dass Honir ein Göttersohn ist. Sonst hätten die bösen Geister mich bestimmt schon gepackt. Ich wollte, er würde das Zauberding da draußen stehen lassen.«

Muur-Arthos sprach oft mit sich selbst, wenn sein Herr auf der Straße der Mächtigen unterwegs war. Mit seiner eigenen Stimme versuchte er sich Mut zu machen. In Honirs Nähe fühlte er sich geborgen, aber sobald der Göttersohn das Schloss verließ, fühlte Muur-Arthos sich ungemütlich.