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Stefanie Zweig

Die Kinder der
Rothschildallee

Roman

LangenMüller

Für Wolfgang, dem Liebe nicht nur ein Wort ist.

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www.langen-mueller-verlag.de

3. Auflage
© für die Originalausgabe: 2009 LangenMüller in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
© für das eBook: 2012 LangenMüller in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines
Fotos von © shutterstock/Serhiy Kyrychenko
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7844-8109-8

Wie lange hält es der Mensch
aus, dass ihn die Hoffnung
an der Nase herumführt?
Bis zum letzten Tag!

1
WENN ES AN DER TÜR KLOPFT

Silvester 1926

Die einzige der vier Töchter des renommierten Frankfurter Geschäftsmanns Johann Isidor Sternberg, deren Charakter dem liebenswerten und fröhlichen Naturell seiner Frau Betsy ähnelte, war die achtzehnjährige Anna. Dank dieser lebensbejahenden Heiterkeit und einer Natürlichkeit, die ihre drei Schwestern als ein überholtes Relikt aus bürgerlichen Zeiten belächelten, war Anna der Trost ihres alternden Vaters. Obwohl ihr Kinderglück und Urvertrauen sehr früh genommen worden waren, blieb Anna die Optimistin, die sich zu ihrem vierten Geburtstag einen Teppich aus Rosinen und eine Kutsche aus Marzipan gewünscht hatte und die dann eine Tüte Makronen bejubelte.

Der Backfisch Anna war auf sehr sympathische Weise von der Launenhaftigkeit und dem Missmut verschont worden, die das Zusammenleben mit ihrer gleichaltrigen Schwester in der Zeit der beginnenden Nestflucht zu einem Tanz auf dem Vulkan machten. »Anna grinst sogar das Salzfass an«, pflegte Victoria am Frühstückstisch zu konstatieren, wenn ihr die Mutter die gute Laune ihrer gleichaltrigen Schwester vorhielt. »Das weiß doch jeder, dass sie eine Heilige ist.«

Bei Anna hatte sich seitdem nichts verändert. Ihr Optimismus und ihre Freundlichkeit fielen auch Leuten auf, die Unfreundlichkeit und Pessimismus für die einzig möglichen Lebensbegleiter hielten. Anna brauchte doppelt so viel Zeit wie ihre Mutter, um Brötchen zu holen. Nie kam sie an den Kindern vorbei, die in der Anlage in der Günthersburgallee mit Schaukel, Wippe und Sandkasten spielten. Mit den Nachbarn im Hausflur unterhielt sie sich so lange, als wäre sie gerade von einer Weltreise zurückgekehrt, und sie ließ sich von Fremden in nicht enden wollende Gespräche ziehen. Wenn die Geschäftsleute auf der Berger Straße über die Zeiten und die Politiker klagten, war Anna eine aufmerksame und anteilnehmende Zuhörerin. Sie erkundigte sich nach der Familie des Schornsteinfegers, tröstete weinende Kinder mit Bonbons, die sie eigens zu diesem Zweck besorgte, und bewunderte die Babys stolzer Puppenmütter. Auch jeder Hund, der in ihren Augen aussah, als brauche er Zuspruch und einen Klaps auf den Kopf, wurde von Fräulein Anna bedacht.

Ihre Schwester Clara, acht Jahre älter und um Äonen lebenserfahrener, beliebte des Öfteren – und auch in Gesellschaft! – zu erzählen, sie hätte Anna heimlich beim Fischhändler beobachtet. Dort hätte Anna mit einer ganzen Platte grüner Heringe geflirtet. »Und mich haben noch nicht mal die Karpfen mit einem Blick beachtet, und die waren noch lebendig.«

Wenn Anna nachts die Gardinen ihres Zimmers zuzog, hüpfte sie immer noch in den siebten Himmel. In dem Regal über ihrem Bett standen ihre alten Märchenbücher und die sentimentalen Geschichten für junge Mädchen, die ihr weisgemacht hatten, das Leben sei ein Kinderspiel. Die Puppe, die das mutterlose, verängstigte achtjährige Kind im Arm gehalten hatte, als ihr Vater sie in sein Heim und zu seiner Frau gebracht hatte, saß wie in alten Zeiten auf dem kleinen Sofa und schaute zum Mond. Der alte Teddybär hatte eine grüne Jacke an und eine rote Schleife um den Hals.

Die Idylle trog – Anna war keine, die nicht erwachsen werden wollte. Sie verlangte nicht nach den Armen, die sie behütet hatten. Sie war auf eine besondere Weise lebensklug, denn sie war schon früh imstande gewesen, sich vor den Illusionen zu hüten, die junge Menschen erbarmungslos in die Irre führen. Wenn Anna aus dem reichen Hause Sternberg träumte, war sie noch immer armer Leute Kind; das kleine Glück als Objekt der Begierde reichte ihr. Der Gedanke an den Neid der Götter, sobald sie an das große dachte, ängstigte sie. Hans im Glück, der sich bei jedem Tausch verschlechtert, den er macht, und der sich trotzdem begnadet wähnt, war einst ihr Lieblingsheld gewesen. Sie hielt ihm ein Leben lang die Treue.

»Anna ist dumm geboren«, hatte einst die zehnjährige Victoria mit der erbarmungslosen Zunge der unschuldigen Kinder diagnostiziert.

»Sie ist klüger als du, mein Kind«, hatte ihre Mutter sie aufgeklärt, »aber ich würde mich wundern, wenn du das je begreifen solltest.«

Nun, mit achtzehn, wünschte sich Anna einen klugen, beredten Ehemann, der gelegentlich auch seine Frau zu Wort kommen ließ. Wie sie sollte er gern Bildungsromane und Reiseberichte lesen, sich an weichen Eiern im Glas delektieren und Freude an Wald und Flur haben. Sonntags sollte dieser Prachtmensch mit seiner Gattin zum Vierwaldstätter See im Frankfurter Stadtwald radeln und sie abends in die Alemannia-Lichtspiele an der Hauptwache führen. Dort war Platz für achthundert Zuschauer. Im eleganten Foyer waren vier Pfeiler, die mit Metallrahmen und mattem Glas als Leuchtkörper gestaltet waren. Anna war erst zweimal in diesem eindrucksvollen Kinoparadies gewesen, als Johann Isidor und Madame Betsy nach dem großen Umbau mit sämtlichen Honoratioren der Stadt zur feierlichen Wiedereröffnung geladen worden waren.

Anna wünschte sich ein Häuschen im dörflichen Frankfurter Vorort Seckbach. Der Garten sollte groß genug für drei Kinder sein, eine Dogge, wie sie Bismarck gehabt hatte, und eine gescheckte Katze, die ja allgemein als Glücksbringerin galt. Sie wollte ihren Mann bitten, vor dem mächtigen Apfelbaum eine Bank aufzustellen und sie grün anzustreichen. An sonnigen Tagen wollte die Hausfrau dort ihre Erbsen pulen und nach getaner Arbeit Socken für den Winter stricken.

Victoria, die sich noch nicht einmal vorstellen mochte, sie würde je heiraten, geschweige denn Kinder bekommen, war eine besonders aufmerksame Zuhörerin, wenn die beiden ungleichen Halbschwestern einander Zukunft ausmalten. Trotzdem schloss sie meistens die Augen, als könnte sie die Bilder vom bürgerlichen Glück nicht ohne Schmerz ertragen. Mit einem kleinen Seufzer, der dem von Maria Stuart in Gefangenschaft entsprach, wenn sie in ihrem Kerker an das schöne Leben in Frankreich zurückdachte, und der bei Victoria ebenso herzzerbrechend ausfiel, sagte sie: »Meine kleine Spießerin in der Kittelschürze.«

Auch Anna kannte ihren Text. »Bei Spießern weiß man doch wenigstens, woran man ist«, hatte sie zu antworten, worauf sie und Victoria so unbefangen lachten, als wäre der kleine Sketch tatsächlich nur ein Spiel mit Worten gewesen.

Gerade Victoria, die ganz sicher war, dass bald die berühmtesten Theaterintendanten Deutschlands mit langfristigen Verträgen vor ihrer Tür Schlange stehen und sich ihretwegen duellieren würden, schätzte hin und wieder die harmlosen Spiele ihrer Kindertage. Noch mehr schätzte sie es allerdings, dass sie ihrer Lust an kleinen Bosheiten nachgeben konnte, ohne dass das Opfer ihrer spitzen Zunge sich getroffen fühlte. Anna war schon immer die ideale Partnerin gewesen – sie nahm nicht übel, war leicht zu beeindrucken, nie eifersüchtig, und sie kannte ihre Grenzen.

Ihrerseits bewunderte Anna ihre souveräne, aparte, großtuerische Schwester. Selbst deren Sarkasmus fand sie chic. Aus der koketten kleinen Vicky mit dem frühreifen Charme, dem weder Frau, Mann noch Kind hatten widerstehen können, war eine Schönheit mit langen Beinen und markantem Profil geworden. Fünfzehnjährige Jungen und würdevolle Familienväter wurden scharlachrot, wenn sie sich von Victoria Sternberg angeschaut glaubten. Alte Herren mit Rheuma gingen in die Knie, um das Taschentuch der Schönen vor rohen Füßen zu retten, und aus ihren Taschen fielen ständig altmodische Spitzentüchlein oder ebenso altmodische duftende Briefkuverts – genau wie in den Lustspielen aus der Biedermeierzeit. Die junge Sternberg, die sich vorgenommen hatte, so berühmt wie Sarah Bernhardt zu werden und so umschwärmt wie Josephine Baker, sah bei jedem Blick in den Spiegel eine Königin.

Der Schwester aus der anderen Welt imponierte nicht nur Victorias Schönheit, sondern noch mehr deren Besessenheit und Energie. Mochten ihr König, Bauer und Bettelmann mit Stentorstimme und Tag für Tag von dem Weg abraten, den sie zu gehen gedachte, sie verstopfte ihre hübschen kleinen Ohren mit schlanken, gepflegten Händen, an denen links ein Rubin und rechts eine goldene Schlange mit Augen aus Smaragd glänzten. Fräulein Sternberg wusste sich zur Schauspielerin geboren. Sie sah sich, ehe man sie nach Berlin holte, in ihrer Heimatstadt auf der Bühne stehen, mit Lorbeer bekränzt, auf Rosen gebettet und mit jubelnden Kritiken bedacht. Ihr Vater, der in den Augen der klugen Tochter von nichts wusste, was die Welt zusammenhielt, und der folglich Schauspieler als fahrendes Volk ablehnte, vor dem man die Wäsche schützen musste, würde mit feuchten Augen in der ersten Reihe sitzen. Auch die Mutter, diese skeptische Frau, die vom Denken ihrer Vorfahren nicht loskam und die sich nichts anderes als gut verheiratete Töchter wünschte und Schwiegersöhne, die ihr Ehre machten, würde ihre Tränen laufen lassen, wenn Victoria als blonde Ophelia von Hamlet ins Kloster geschickt würde.

Bisher hatte es diese außergewöhnliche schauspielerische Begabung noch nicht einmal zur Bühnenelevin gebracht. Doch nicht einmal in den trüben Momenten, da sie sich erinnerte, dass zwei Schauspiellehrer sie wegen mangelnder Begabung als Schülerin abgewiesen hatten, bezweifelte sie, dass sie Othellos Desdemona und Romeos Julia spielen würde. Und Fausts Gretchen auf eine noch nie da gewesene Art.

»Schon bei dem Gedanken, immerzu mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, wird mir übel«, sagte Anna.

»Du musst dir nur die richtigen Wände aussuchen, meine Gute. Aber ich fürchte, dazu hast du nicht genug Phantasie.«

Victoria täuschte sich. Anna hatte durchaus Phantasie. Nur sparte sie die für besondere Gelegenheiten auf. Manchmal wurde selbst sie es leid, als bescheidenes Veilchen im Schatten heranzuwachsen. Dann brach sie in sehr ferne Welten auf, war dort eine Dame vom Feinsten, trug werktags teure Seidenstrümpfe und immer durchsichtige Unterwäsche. Den neuen hellgrauen Topfhut mit dem lila Seidenband holte sie mit der gleichen Nonchalance aus dem Schrank wie andere Mädchen ihre Baskenmütze. In Momenten der allergrößten Sündhaftigkeit trieb es die Jungfer Anna noch toller. Dann ähnelte sie wie ein Zwilling dem anderen der verruchten Halbweltdame auf der Zigarettenpackung der Marke Xanthia.

Annas Vater rauchte neuerdings Xanthia – stets lag eine Packung auf dem Trommeltisch im Salon. Und manchmal konnte es geschehen, dass Anna, die nie vom geraden Weg abwich, eine geradezu körperlich quälende Sehnsucht nach Verruchtheit und Sünde spürte. Für Xanthia räkelte sich eine aschblonde Frau mit dem aktuellen Bubikopf der späten Zwanzigerjahre und der schimmernden Alabasterhaut einer Marmorstatue in einem schneeweißen Unterrock auf einer roten Ledercouch. Der Vamp hatte eine Knabenfigur und einen verschleierten Blick. In seiner Rechten hielt er eine lange schwarze Zigarettenspitze.

Anna mit dem langen Haar, das sie wie ein Burgfräulein aus dem Mittelalter zu einer adretten Krone um ihren Kopf legte und von dem sie sich trotz der aufreizenden Fotos der Garçonnes in den Zeitungen für die feine Dame nicht trennen mochte, war meilenweit entfernt von ihrer Traumvorlage – nicht nur äußerlich. Sie war zu zurückhaltend, um auch nur eine der vielen reizvollen Rollen zu erwägen, die jungen Frauen von smarten Journalistinnen als Sprungbrett in die Moderne anempfohlen wurden.

Das neue Selbstbewusstsein von Frauen, die bei jeder Gelegenheit von Freiheit redeten und die entsprechend freie Auffassungen vom Leben hatten, waren im Hause Sternberg ausschließlich die Domäne von Clara und Victoria. Allerdings war Alice mit den großen himmelblauen Augen, erst elf und doch schon Frau und wie der Schönling Narziss ins eigene Spiegelbild verliebt, ihre gelehrige Schülerin. Gleichgültig, ob die drei aparten Schwestern in Geschäften vor denen bedient wurden, die an der Reihe waren, ob sie im Palmengarten flanierten, in einem Kaufhaus Bewunderer fanden oder sich im Café an Komplimenten delektierten, die Aufmerksamkeit der Männerwelt und der Frauen Neid waren ihnen gewiss.

Victoria und Clara zeigten schon morgens Bein. Jeden, der ihnen zuhörte, ließen sie wissen, Frauenbeine seien so erotisch wie beim Hahn der Kamm und beim Flamingo die rosa Federn. Sie trugen fleischfarbene Strümpfe aus Paris und zierliche Riemchenschuhe aus schwarzem Lackleder. Die Taillen ihrer Kleider waren in Hüfthöhe. Sie waren stolz auf ihre flache Brust und den schönen Schwanenhals. Erst ließ sich Victoria, anschließend Clara einen Bubikopf schneiden – der Nacken wurde beim Herrenfriseur ausrasiert. Frau Betsy verschlug es die Sprache. Ihre Töchter ließen jedermann wissen, sie würden sich nicht für die Männer anziehen, sondern ausschließlich für sich selbst. Beide zupften sie ihre Augenbrauen und benutzten schon tagsüber nachtblauen Lidschatten. Die Lippen waren purpurrot, die Fingernägel ebenso. »Als hätte einer mit dem Hammer draufgehauen«, befand ihr Vater.

In jeder Gesellschaft brillierte Victoria mit der Laszivität der jungen Wilden. Bereits nach dem ersten Glas Sherry proklamierte sie, ein Frauenbusen wäre allenfalls noch ein Gewinn für Ammen aus dem Spreewald und Buschfrauen. Claras Röcke bedeckten kaum das Knie. Um ihre knabenhafte Figur zu halten, knabberte sie mittags Selleriestangen und nahm, wie ihre Mutter zu Recht vermutete, Abführmittel. Aus der Perspektive der Eltern vergaß Fräulein Clara provozierend häufig, was geschehen war, ehe ihr der Vater die kleine Wohnung im vierten Stock überlassen hatte. Laut altem, immer noch bei rechtschaffenen Leuten geschätztem wilhelminischem Sprachgebrauch war nämlich die älteste Sternbergtochter ein gefallenes Mädchen.

Ihre Schwester Victoria fürchtete sich dennoch nicht, mit jedem Atemzug ihr Leben zu genießen. Mittags traf sie sich mit noblen Herren, denen sie phantasieentflammende Hoffnungen machte, zum Lunch à la mode. In vornehmen Restaurants flunkerte sie ihnen vor, in ihrem Elternhaus würden ausschließlich Weine serviert, die ein befreundeter Sommelier für die Pariser Hautevolee zu empfehlen pflegte. Erstaunlich anschaulich, weil sie weder das eine noch das andere je gekostet hatte, beschrieb sie die Wonnen von Coq au Vin und Froschschenkel in Riesling. Der Panther war ihr Lieblingstier. Sie liebäugelte mit einer Brosche im Schaufenster des teuersten Juweliers in der Stadt. Dort lag ein Panther aus Weißgold, mit Rubinen bestückt, auf einem schwarzen Samtkissen.

Victoria, mit dem Talent, sich selbst zu inszenieren, fand Hausmannskost überholt und das Hausfrauendasein eine »Fessel, die nicht mehr in die Zeit passt«. Ihrer Mutter, die fünf Kinder geboren und großgezogen hatte, sagte sie das, ohne zu erröten. Sie schwärmte für grünen Curry, den es nur in einem einzigen Geschäft zu kaufen gab, und fand Hummer, wenn »man ihn zu oft vorgesetzt bekommt, doch ein wenig fad«. Obwohl sich Victoria vor Schweinefleisch ekelte, das in ihrem Elternhaus selbst in Zeiten der Not nicht auf den Tisch gekommen war, ging sie oft in die Bürgerlokale von Sachsenhausen. Dort aß sie mit Männern, die sie als wichtig für ihr Fortkommen einschätzte, Rippchen mit Sauerkraut und trank Ebbelwein, den sie nicht vertrug. Mit einem Regisseur, der ihr eine Hauptrolle versprochen hatte, obgleich er selbst seit zwei Jahren ohne Engagement war, hatte sie sich sogar an eine Schweinshaxe gemacht. In der Nacht musste ihr die Mutter warme Leibwickel auflegen, und Victoria fragte sich, ob nicht vielleicht doch der Glaube ihrer Kindertage stimmte, dass Gott den Genuss von Schweinefleisch bei Juden umgehend mit dem Tod ahndet.

Die Köchin Josepha indes, die dem süßen Vickylein Zwetschenkuchen gebacken und Himbeerpudding gekocht hatte, behandelte die erwachsene Victoria immer noch mit dem Respekt, der der treuen Seele zukam. Taktvoll verschwieg ihr das snobistische Fräulein die Veränderungen der Zunge und was sie aß, wenn sie ihre langen Beine nicht unter den Familientisch stellte. Mehr noch: Victorias sanfte braune Augen wurden feucht, wenn, wie in früheren Zeiten, zu ihrem Wiegenfest eine Schokoladentorte mit kandierten Veilchen auf dem Geburtstagstisch stand. Dann dachte die eindrucksvollste Salondame, die das deutsche Theater je kennenlernen sollte, an Großtante Jettchen. Vicky war ihre Lieblingsnichte gewesen; zu jedem Geburtstag hatte sie ihr einen Teil aus ihrer wertvollen Schmuckschatulle geschenkt und, als Erinnerung an glückliche Zeiten, aus Baden-Baden Schokoladenpflaumen in Goldpapier kommen lassen. Jettchen war vor fünf Jahren gestorben, im Schlaf und ohne dass die Familie hatte Abschied nehmen dürfen. Victoria konnte deren Tod nicht verwinden.

Sie hatte ohnehin Schwierigkeiten mit der Endgültigkeit. Den Tod ihres ältesten Bruders Otto, der schon im dritten Kriegsmonat fiel, hatte sie als Sechsjährige erlebt und umgehend aus ihrem Gedächtnis gestoßen. Die Vergangenheit wurde im Schrank hinter schweren Wolldecken aus Notzeiten gelagert – eine vergilbte Fotografie, auf der das Gesicht des Bruders sich nicht mehr mit Victorias Erinnerungen deckte, und das schwarzrot gepunktete Kostüm, in dem die Sechsjährige als Glückskäfer am Vorabend des Weltbrands ihren ersten Theatertriumph feierte. Otto hatte den Kopfputz, einen breiten roten Haarreif mit schwarzen Hörnern, unmittelbar vor dem Einrücken für sie gebastelt.

Victoria dachte nur an den Bruder, wenn sie ihren Vater die Zeitung für jüdische Frontkämpfer lesen sah. Sobald sie Tante Jettchen erwähnte, stotterte sie. Vom Tod der französischen Theaterheroine Sarah Bernhardt im März 1923 und vom toten Rudolph Valentino, dem Filmidol aus Hollywood, berichtete sie, als wäre sie dabei gewesen. Sie bezeichnete den Verlust der beiden Künstler als »eine der größten Menschheitstragödien des zwanzigsten Jahrhunderts« und befand es als »niederschmetternd typisch für unsere Zeit«, dass die Menschen, selbst die Leute vom Theater, sie verständnislos anschauten, wenn sie mit sonorer Stimme ihre Sicht der Welt darlegte.

Auch ihre ältere Schwester hatte Schwierigkeiten mit der Zeit, in der sie lebte. Sie war ausschließlich von jenen gut gelitten, die sich, wie sie, frei vom »Muff der Spießer« wähnten. Clara Sternberg war nun sechsundzwanzig, ledig und ohne Aussicht auf Veränderung ihres Familienstands. Sie trug ihr Schicksal erhobenen Hauptes und rechtfertigte sich weder bei Freund noch Feind für den Weg, den sie gegangen war. Die, die Bescheid wussten, befanden unter vorgehaltener Hand, ein solcher Stolz käme selbst einer Sternberg nicht zu; das würde, wussten sie, die Zukunft erweisen. Frau Winkelried, die Putzfrau, sprach es am deutlichsten aus. »Das Fräulein Clara«, pflegte die aufrichtige Seele mit Volkes Stimme zu schelten, »ist ein gefallenes Mädchen.«

Selbst Josepha mit dem Herzenstalent, Frau Betsys Kinder so zu lieben, als wären es die eigenen, gelang da kein überzeugender Widerspruch. Frau Winkelried war, nachdem die wirtschaftlichen Verhältnisse der Oberschicht wieder leidlich ins Lot gekommen waren, im Hause Sternberg als Putzfrau fürs Grobe engagiert worden. Freitags wurde sie auch zu Clara in den vierten Stock geschickt. Dort scheuerte sie mit verkniffener Miene und moralischer Empörung Küche, Bad und Haustreppe. Gertrud Winkelried war als Kriegswitwe mit karger Pension und drei Kindern, die allesamt noch in der Schule und nicht satt zu bekommen waren, auf den zusätzlichen Verdienst bei Clara angewiesen. Jedoch ließ sie ständig sowohl ihre Familie als auch Josepha wissen, dass allein Mutterliebe und Not ihr geboten, »für so eine zu schaffen«.

Seit exakt acht Jahren und neun Monaten weigerte sich nämlich Fräulein Clara, den Vater ihres Kindes anzugeben. Selbst die eigenen Eltern mochten ihr die Absage an die bürgerliche Moral nicht verzeihen und schon gar nicht, dass sie weder Scham noch Reue zeigte. Claras Geschwister hingegen standen fest an ihrer Seite. Für Victoria war die ältere Schwester eine Heldin, die für das Recht der Frauen auf freie Liebe kämpfte. Anna und die kleine Alice waren stumme Bewunderer. Erwin, der geliebte Zwillingsbruder, selbst ein Rebell, der Kompromisse als Sünde verachtete, zollte ihr offenen Beifall. »Nicht jede jüdische Mutter findet einen gutmütigen Zimmermann, dem sie ihr Kind unterschieben kann«, beschied Erwin seinem Vater, als der sich wieder einmal über die deutsche Jugend im Allgemeinen und über Clara im Besonderen beklagte.

Erwin setzte sich sein giggelndes Nichtchen Claudette auf den Schoß, bekränzte sie mit Petersilie und Liebstöckel und sang mit ihr abwechselnd »Auf in den Kampf, Torero« und »Die Liebe vom Zigeuner stammt«. Das führte bei Claudettes Großeltern zu Irrungen und Wirrungen von ungeheurem Ausmaß. Im vierten Stock hatte zur Zeit von Claras Sturz aus dem Himmel der wohlerzogenen Jungfrauen nämlich ein Opernsänger gewohnt, schön wie Apoll und ein Frauenfänger wie Blaubart. Die romantische Spur war allerdings vom nichtsnutzigen Erwin, der seinerseits absolut im Bilde war, wem er seine putzige kleine Nichte verdankte, bewusst falsch gelegt worden.

Ein Kind der Liebe war die kleine Claudette allemal gewesen und schon als Achtjährige eine typische Sternberg– mit Augen, die wie Sterne funkelten, und Lippen, die früh Männerträume entzünden würden. Schon jetzt balgten sich auf der Burgstraße kleine Buben, um für die Schülerin Claudette Sternberg den Ranzen in die Merianschule tragen zu dürfen. Noch ehe sie das Wort Diva kannte, war sie eine. Die Schnittmuster für ihre Kleider ließ die Mutter aus Paris kommen, die breiten Haarschleifen stammten aus Großvaters Posamenterie. Die Söckchen waren weiß wie Schneeglöckchen, die Schuhe zierlich wie die von Aschenputtel, als sie aus der goldenen Kutsche stieg. Die künftige Königin hatte schwarze Ringellocken und hochstehende Backenknochen, die ihr schmales Gesicht noch zusätzlich veredelten. Selbst wenn sie Josephas Speisekammer plünderte und aus Großmutters Nähkorb die schönsten Knöpfe stibitzte, sah sie so unschuldig aus wie eine Barockputte. Raffiniert war sie wie Salome, entschlossen wie die Jungfrau von Orleans, und wenn sie einmal weinte, glitzerten ihre Tränen wie Perlen und bezauberten die Engel im Himmel.

Claudette Sternberg wurde eine Erziehung wider Zeitgeist und Moral zuteil. Freiheit war das Schlüsselwort. Zivilcourage und körperlicher Mut wurden ihr als die Waffe der Klugen anempfohlen. Das Leben dieser glücklichen Achtjährigen war so ungewöhnlich wie unbeschwert. Sie fragte ihre Mutter nie nach einem Vater auf Erden und selten nach dem im Himmel; sie durfte Bücher aus dem Regal holen, die anderswo vor Fünfzehnjährigen unter Schloss und Riegel gehalten wurden, und das Engelchen klärte sämtliche Freundinnen über den Umstand auf, dass der Storch keine Babys brachte und der Osterhase keine Eier legte.

Keiner drohte Claudette mit dem schwarzen Mann und niemand mit der Hölle. Ohne dass ihre Mutter Einspruch erhob, durfte sie wie ein Bierkutscher fluchen; sie prügelte sich mit Gassenjungen, wenn sie ihr Fahrrad verteidigen musste, und sie lehrte Rivalinnen, die es wagten, an ihrer Ehre zu zweifeln, das Fürchten. Die beherzte Amazone mit der Zahnlücke bemalte ihre Fingernägel rot, probierte Mutters Lippenstift und Hüte aus und brauchte nie wie andere Kinder ihren Teller leer zu essen, Lebertran zu schlucken oder in der Ecke zu stehen, um Buße für eine Kindersünde zu tun. Sie wurde von ihrer Mutter und von blendend aussehenden Männern, die erfolglos um diese schöne Mami warben, mit in exquisite Lokale genommen. Dort durfte sie so lange Windbeutel und Mohrenköpfe essen, bis ihr schlecht wurde und einer der starken jungen Männer sie nach Hause tragen musste.

»Heute haben wir frische Liebesknochen«, sagte der grauhaarige Kellner im Café Hauptwache.

»Eclairs«, verbesserte Mademoiselle Claudette, denn sie kannte sich in der großen Welt besser aus als andere Mädchen in ihrer Schulfibel.

Schneewittchens Zwerge und Aschenputtels Nöte waren ihr gleichgültig. Hänschen klein zog bei ihr nicht in die Welt hinaus, kein Vogel machte Hochzeit, aber Charleston konnte sie tanzen, und sie liebte den Cancan. Tante Victoria war ihre Lehrmeisterin. Nichts wusste Claudette von Noahs Arche oder dem Apfelbaum im Paradies, doch erzählte ihr die vergötterte Frau Mama wunderbar anschaulich von Cleopatra, die sich der Liebe wegen in einen Teppich hatte wickeln lassen.

»Ohne Hemd und Höschen«, berichtete Claudette ihrer schockierten Großmutter, »ganz, ganz nackt war sie. Onkel Erwin hat gesagt, alle Männer haben sich ganz toll gefreut.«

»Unsere Tochter sollte sich schämen«, beklagte sich Frau Betsy bei ihrem Mann, »und ihr Herr Bruder ebenfalls. Einem kleinen unschuldigen Mädchen so etwas zu erzählen. Ich hätte mir lieber die Zunge abgebissen, als meinen Kindern so etwas zu sagen.«

»Zum Schämen ist es zu spät«, seufzte Johann Isidor. »Wenn sich hier einer schämen muss, sind wir es, meine Liebe. Wir haben als Eltern komplett versagt. Wenn du mich fragst, bei Victoria und Alice ebenfalls. Von Erwin ganz zu schweigen.«

Ein Jahr zuvor, an seinem fünfundsechzigsten Geburtstag, hatte er geschworen, sich nie wieder in seinem Leben über eines seiner Kinder aufzuregen. »Meine Zunge soll mir abfallen«, hatte er trotz der vielen Gäste beteuert, »wenn mir je wieder ein Wort der Klage über die eigene Brut entschlüpft.« Es war, wie alle Schwüre, nur eine öffentlich erklärte Absicht gewesen, ein Traum in einem Meer von Illusionen. »Unsere Clara hat sich nie geschämt, für nichts«, erinnerte er seine Frau, als sie ihm von Claudette und Cleopatra erzählte.

»Sie war viel zu jung, um zu begreifen, worauf sie sich einließ«, sagte Betsy. Sie sagte das immer, wenn von Clara die Rede war, doch sie hörte nie auf, sich Vorwürfe zu machen.

»Seitdem ist sie immerhin acht Jahre älter geworden. Irgendwann muss ihr doch aufgehen, dass sie nicht zu ihrem Vergnügen auf der Welt ist. Ihr Herr Bruder wittert doch auch mit zarten sechsundzwanzig den Ernst des Lebens«, bemerkte Johann Isidor.

Frau Betsy verabscheute ihren Gatten, wenn er ironisch wurde. »Mach dich nicht unglücklich«, sagte sie. »Wer weiß, was das Leben uns noch bringt. Es ist eine Sünde, die Hoffnung aufzugeben.«

»Du hast ja so recht, meine Liebe. Schau dir den Sohn des alten Wolf an. Der hält Bridgespielen für einen Beruf, aber mit fünfzig hat er ein Vermögen gemacht.«

»Wirklich?«

»Ich schwöre es. Das schlaue Kerlchen hat vier Tage nach dem Tod seines Vaters das Haus in der Wielandstraße verkauft. Das wird doch unser Erwin mit meinen Häusern auch eines Tages schaffen. Falls er nicht in den Main springt, wenn er erfährt, dass ich dich zu meiner Vorerbin gemacht habe und er hoffentlich noch viele Jahre warten muss. Auf seinen Pflichtteil, natürlich.«

»Komm, sag nicht solche Sachen. Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn du so von unserem Tod sprichst.«

»Wenn ich kein Testament gemacht hätte, Betsy, und dir unsere Kinder das Dach über dem Kopf versteigern könnten, ehe du von der Gemeinde die Rechnung für die Beerdigungskosten bekommen hast, müsstest du die Gänsehaut kriegen.«

Erwin lebte seit fünf Jahren in Berlin; dort hockte er in einem Hinterzimmer, trank zu viel Schnaps, wurde nie richtig satt und träumte in allen Farben, die den expressionistischen Malern heilig waren, die Welt würde eines Tages seinen Namen kennen. In sein Elternhaus kehrte Erwin nur dann zurück, wenn die finanziellen Zuwendungen aus Frankfurt aufgebraucht waren und er nicht mehr wusste, wie er in Berlin Kost und Logis bezahlen sollte.

Nach dem Tod seines Bruders Otto hatte sich der vielversprechende, vielseitig interessierte, intelligente, witzige, damals vierzehnjährige Erwin Sternberg dem Leben verweigert. Und seinem Vater. Er mochte nicht Stammhalter sein. Vaters Posamenterie, die Geschäfte, der Verlag interessierten Erwin nicht. Er wollte weder einen bürgerlichen Beruf, noch hatte er vor, für eine Familie zu sorgen. Das Abitur machte er nicht. Lehrstellen, die der Vater ihm hätte verschaffen können, lehnte er ab. Seine Ideale vergaß er so gründlich wie Caesars Kriegszüge und Ciceros Reden. Der Zionismus, der ihn als Jugendlicher begeistert hatte, erwärmte sein Herz nicht mehr. Vergessen waren die Kibbuzim in Palästina, wo er ein Leben in Gleichheit und Brüderlichkeit hatte führen wollen.

Erwin konnte sich sein Leben nur als Maler vorstellen, als ein Umjubelter, ein Begnadeter, wobei er einem Talent vertraute, das ihm seit der Quarta, als der Kunstlehrer den kohlenschwarzen Augen des Schülers Sternberg nicht hatte widerstehen können, niemand mehr bestätigt hatte. Fiebernd wartete Erwin auf den Tag seiner Entdeckung, und nichts beschleunigte seinen Herzschlag mehr als die Vorstellung, seine Bilder würden Höchstpreise erzielen, im Frankfurter Städel, in Berlin, London und New York hängen und sein Vater, dieser verbitterte und erbitternde Scharfrichter von Sohnestalent, wäre vor Scham gelähmt.

Bis dahin lebte der große expressionistische Maler Sternberg von der Hoffnung – und von Brot mit Senf und den Magenwärmern, die er aus einer Erbswurst in der Küche der gutmütigen Witwe Benantzky kochte; für junge Männer, die im Alter ihres in Frankreich gefallenen Sohnes waren, hielt Rosa Benantzky allzeit einen Platz in ihrem Herzen frei. Ihre Füße trugen kaum ihr Gewicht, und ihre Kittel ließen sich nicht mehr zuknöpfen, doch ihr Sofa mit drei selbst bestickten Kissen und einem vergilbten Eisbärfell war immer noch breit genug für zwei.

Je länger er in Berlin lebte, umso häufiger löste Erwin ein Bahnbillett dritter Klasse nach Frankfurt. Sein Vater war unglücklich, wenn sein schwieriger Sohn nach Hause kam, und noch unglücklicher war er, wenn er wieder abfuhr. Erwins Mutter erging es ebenso. Clara aber war so aufgeregt wie ihre kleine Tochter, wenn der geliebte Bruder mit seiner überbordenden Phantasie und einer Tüte Negerküsse vor der Wohnungstür stand und bei allen Heiligen schwor, er wäre auf einem weißen Ross über die Dächer geritten. Das Pferd hätte er an der Teppichstange im Hinterhof festgebunden, Claudette möge es bitte trockenreiben und sich die Perlen aus seiner Mähne holen. Erwin war so unbeschwert und witzig wie als Schulbub, war wieder der freche kleine Lauser, dem keiner gram sein konnte und dem ein jeder eine große Zukunft verhieß. Wer nicht den kritischen Blick seiner verzweifelten Eltern hatte, sah auch zwanzig Jahre später nicht, was Erwin sich angetan hatte, und dass morgens seine Hände zitterten.

Erwin und seine Zwillingsschwester Clara waren noch immer eine Einheit, verliebt ineinander wie Romeo und Julia, allergisch gegen Dummheit und noch empfindlicher, wenn einer ihnen zu befehlen versuchte. Bruder und Schwester brauchten sich nur anzuschauen, um zu wissen, was der andere dachte. Ihr Herz und ihr Hirn schlugen im gleichen Takt; sie sahen die gleichen Bilder und suchten nach der gleichen Form des Glücks. Über den Krieg sprachen sie nie, und nur wenn niemand dabei war, vom gefallenen Bruder. Für Politik und die wirtschaftlichen Probleme, die die Menschen bedrängten, interessierten sie sich auf ihre Art. Sie fanden Hindenburg komisch und behaupteten, sie könnten Gustav Stresemann, der Reichsaußenminister war, nicht von Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht unterscheiden. Eifrig nahmen sie jedoch am Geschick des deutschen Theaters Anteil und diskutierten, so sie einen Gleichgesinnten fanden, nächtelang über Ernst Glaeser, der mit seinem Stück »Seele über Bord« einen Theaterskandal in Kassel ausgelöst hatte; sie berichteten so anschaulich von Georg Kaisers Stück »Die Bürger von Calais«, dessen Uraufführung sie in Frankfurt als Siebzehnjährige erlebt hatten, als wären sie gerade aus dem Theater gekommen.

Beide schwärmten für Jazz, Hindemith und Arnold Schönberg, was ihr Vater, der gern Operettenmusik hörte und die Importe aus Amerika als »Negermusik« bezeichnete, zu einer Bemerkung über die »intellektuelle Hochstapelei der Leute« veranlasste, »die sonst nichts im Leben erreicht haben«. Clara kam überhaupt nicht auf die Idee, ihrem Bruder mit Ratschlägen oder Vorhaltungen einen Tort anzutun. Schon gar nicht kratzte sie an der Würde des einzigen Mannes, den sie je in ihrem Leben lieben sollte. Was ihn bewegte, bewegte auch sie. Seine Trauer war die ihre.

Auch Josephas Herz ließ keine Veränderungen zu, wenn es um Erwin ging. Er war immer ihr Liebling gewesen, von ihr schon als mutwilliger Vierjähriger vergöttert, wie ein Königskind im Märchen verwöhnt und so verhätschelt, als könnte ihn der leichteste Windhauch wie eine Pusteblume wegwehen. Josepha ließ sich von Erwins bleichem, spitz gewordenem Gesicht und den Schatten unter seinen geröteten Augen nicht in die Irre führen. Für sie war er immer noch ein Sieger, ein strahlender Engel, dem nun alle Welt unrecht tat. Dem Engel mit den gestutzten Flügeln, der, wenn er nicht weiterwusste, in seinem alten Kinderzimmer Schutz vor dem Chaos suchte, das er sich selbst schuf, kochte Josepha seine sämtlichen Lieblingsspeisen. Wie in den goldenen Zeiten der Überschaubarkeit stellte sie Schlag drei Uhr den Königskuchen mit Zitronat und den griechischen Sultaninen der Klasse I auf den Tisch, daneben das rotweiß gepunktete Schälchen mit Schlagsahne, das er als Kind immer für einen Freund hatte füllen lassen, den außer ihm niemand sah.

Die von allen geachtete Herrschaftsköchin leerte die Aschenbecher, als wäre die niedere Arbeit Teil ihrer täglichen Pflichten. Hauptsache, Frau Betsy merkte nicht, dass ihr Sohn ein Kettenraucher war. Und auch die kleinen Schnapsflaschen räumte Josepha aus Erwins Zimmer, ehe sie die Mutter entdeckte – und genau den richtigen Schluss gezogen hätte. Nächtelang stopfte Josepha die Wäsche »ihres Buben«. In ebenso grauenhaftem Zustand waren seine Schuhe und Winterstiefel. Die Getreue ließ sie heimlich neu besohlen – bei einem Schuster in der Wittelsbacher Allee, wohin Madame Betsy nie kam. Zum Abschied steckte Fräulein Krause, seit sechsundzwanzig Jahren Herrin am sternbergschen Herd, »ihrem Jungen« einen gewaltigen Teil ihres Lohns zu. Er ließ es ohne ein Wort des Protestes geschehen.

Am Tag des Abschieds umhalste der dankbare Erwin seine Komplizin und sagte so laut, dass es ein jeder hören konnte, den es anging: »Meine allerbeste, meine geliebte Josepha. Sie war immer die Einzige in dieser feinen Familie, die mich verstanden hat.« Das Lob war noch immer Musik in Josepha Krauses Ohren, und für einen kurzen, trotzigen Moment schaute sie ihre Chefin mit einem Blick an, der den Schluss zuließ, Madame Sternberg wäre an allem schuld.

Sooft sich der ausgehungerte Künstler an den Fleischtöpfen der Familie labte, malte er für seine Halbschwester Anna ein Bild. Das Procedere war stets das gleiche. Anna wurde verlegen wie ein tollpatschiger Backfisch und stammelte zum Erbarmen, wenn Erwin ihr mit einer tiefen Verbeugung das Präsent überreichte. Sie verstand nichts von Kunst und lebte in der ständigen Angst, sie könnte mit einem falschen Wort des Lobes den Künstler kränken. Die Tuschzeichnungen und kleinen Skizzen, Karikaturen mit flottem Strich und beunruhigende Aquarelle in Farben, die das Auge blendeten, wurden von der stolzen Beschenkten in einer mit moosgrünem Samt bezogenen Mappe aufbewahrt. Jedes Blatt schien ihr ein Schlüssel zu einer Welt, die sie nur mit Erwins Hilfe würde entdecken können. Erwin war gerührt, als er bei einem seiner Besuche die Mappe auf ihrem kleinen Jugendstilschreibtisch liegen sah und die in Blockbuchstaben geschriebene Aufschrift »Erwin Sternbergs frühe Werke« las.

»Du bis das absolut Beste, was meinem Vater je widerfahren ist«, sagte er oft.

»Dein Vater ist das Beste, was mir widerfahren ist«, pflegte sie Mal um Mal zu erwidern. »Ohne ihn hätte ich nie an Wunder glauben gelernt.«

»Da hat die Dame Fortuna wenigstens einmal im Leben keinen Bock geschossen!«

Tatsächlich war an dem erschrockenen kleinen Mädchen, dem beim Tod der Mutter eine schadenfrohe Nachbarin ein Leben im Waisenhaus und jeden Tag Bohnensuppe aus dem Blechnapf prophezeit hatte, ein zweifaches Wunder geschehen. Sie war von den Armen eines Vaters aufgefangen worden, dem es ein Himmelsgebot war, für sein Kind zu sorgen und Buße für seine Sünden zu tun. Zum Zweiten hatte dieser Vater eine ebenso außergewöhnliche Frau geheiratet. Betsy Sternberg, die betrogene Gattin, verzieh ihrem gestrauchelten Ehemann nicht nur seine Untreue mit einer Seelengröße, als wäre er ohne eigenes Verschulden vom rechten Wege abgekommen. Sie öffnete einem fremden Kind ihre Arme und ihr Herz, um es wie die eigenen zu lieben.

»Nur weil du aus dir einen Narren gemacht hast«, sagte sie bald nach Annas Ankunft in der Rothschildallee, »werde ich doch nicht die garstige Stiefmutter spielen. Aschenputtel und Schneewittchen sind nicht in einer jüdischen Familie aufgewachsen.«

Die Jugend verdrängte rasch und entschlossen, was der Krieg den Menschen angetan hatte. Für die Jungen lösten sich die Schrecken der Inflation und die Schatten der Depression in einem diffusen Nebel auf. Sie stürzten sich in ein neues Leben. Auch Anna lernte die Leichtigkeit des Seins schätzen – dank einem Vater, der die Wünsche seiner Töchter erfüllte, ohne von ihnen Dankbarkeit zu erwarten oder ihnen vorzuhalten, dass die Sparsamkeit ein Leben lang seine zuverlässige Begleiterin gewesen war. Hatte ihn auch das Alter nicht milde gestimmt, so war ihm ein Ja angenehmer geworden als das barsche Nein seiner frühen Vaterjahre.

Annas Ziehmutter war klug genug, nicht nachzuzählen, wie viel Geld in die ausgestreckten Hände ihrer Töchter gelangte – und die mit dem einnehmenden Wesen unterließen es nie, Anna darauf hinzuweisen, dass »bescheidene Mädchen vielleicht in den Himmel kommen, aber auf Erden im Schatten stehen«. Leicht ließ sich Anna nicht verführen. Als Kind hatte es sie nicht nach den Sternen gedrängt, als junge Frau nicht nach Victorias Samtroben und Seidenkleidern und nicht nach der feuerroten Federboa, die diese mit einer Grandezza trug, als wäre sie schon die berühmteste Frankfurter Salondame. Auch Claras freche Auftritte, Futter für Klatschbasen aller Altersstufen, erweckten bei Anna keinen Nachahmungstrieb. Der schöne Schein und der kurze Rausch, Tand und Talmi waren ihr verdächtig. Ihren aparten Schwestern gönnte sie allzeit den Platz an der Sonne. Sie war die Erste, die ihnen Beifall spendete, doch sie selbst gelüstete es nach keinem bewundernden Ach.

Die Sternbergtochter, die aus der Fremde gekommen war, begriff früh, dass im Leben nur die Zufriedenheit von Dauer ist. Mit zehn Jahren schrieb sie in das Poesiealbum einer Klassenkameradin »Es gibt nicht bloß Berge, es müssen auch Täler sein«. In ihrem Schönschreibheft stand »Fleiß und kluger Sinn bringen den sichersten Gewinn«. Victoria bekam einen Lachanfall, als die Mutter ihr Annas Heft mahnend zur Mittagssuppe servierte. Auf den Bildern, die Vicky, der Klassenliebling, damals malte, flanierten feine Damen mit weißen Hündchen und weißen Parapluies an weißen Strandkörben vorbei.

»Anna hat mein Naturell geerbt«, sagte Frau Betsy, als das Jahr 1926 zum Abschied ansetzte. Sie strich, als wäre sie liebliche Siebzehn, eine widerspenstige Locke aus der Stirn. Madame Sternberg hatte Augen, in denen das Licht noch hell war. Sie würde sich noch lange nicht auf die Suche nach der entschwundenen Zeit begeben müssen. Die Uhr in der Diele drohte laut tickend mit der Zukunft. Mit Pflaumenmus gefüllte Kreppel lagen auf Tante Jettchens blauer Kristallschale. Die Kerzen im Silberleuchter flackerten. Claudette gähnte so laut, dass es alle hörten. Erschrocken drückte sie ihre Hand auf den Mund. Es war das erste Mal, dass sie mit den Erwachsenen ein neues Jahr begrüßen durfte.

»Deine Mama hat auch immer gegähnt, als sie so alt war wie du«, tröstete Josepha, »doch keine zehn Pferde hätten sie zu Silvester ins Bett bekommen.« Sie stellte ein rot lackiertes Tablett mit Sektkelchen und einer Flasche Feist, der sie eine gestärkte weiße Serviette um den Hals gebunden hatte, vor den Hausherrn.

»Früher«, seufzte der, »haben wir in der Neujahrsnacht Champagner getrunken, doch die Franzosen haben ja befohlen, dass die Deutschen nur noch Sekt trinken dürfen.« »Französischen Champagner darfst du ja so viel saufen, wie die willst, aber deutschen Sekt darf man nicht mehr Champagner nennen«, korrigierte sein Sohn.

»Ganz schön raffiniert, die verdammte Grande Nation! Aber wenn die Herrschaften in Paris denken, dass wir jetzt alle ihren Champagner kaufen, haben sie sich gründlich geschnitten. Schon aus Stolz trinke ich nur noch deutschen Sekt.«

»Prost, Monsieur«, sagte Erwin, »auf deinen Stolz. Da wissen wir wenigstens, wofür wir gekämpft haben.«

»Unsere Anna ist wahrhaftig die einzige von euch, die das Talent zum Glück hat«, beharrte Betsy. Sie ließ sich nicht von einem Thema abbringen, das sie angeschnitten hatte, und von der Politik schon gar nicht.

»Weh uns«, stöhnte Clara, schloss die Augen und schauderte. Victoria war nicht die einzige schauspielerische Begabung in der Familie.

»Gut durchatmen«, rief Erwin, »und Ohren auf Durchzug.«

Frau Betsys öffentliche Beschäftigung mit einem Kapitel ihres Lebens, das sie nie vollständig durchschauen würde, erforderte nach fast zwanzig Jahren keine Antworten mehr. Für den Rückblick reichten ihr Andeutungen und winzige Nadelstiche, eine Bewegung des Kopfes, die zufällig wirkte und es nicht war, ein Lächeln, das den Delinquenten stumm machte. Der ungewöhnliche Einpersonensketch gehörte ebenso zu Silvester wie das Stutzweck von den Bäckern, die kleinen Schornsteinfeger aus Pappe, die aus vierblättrigem Klee herauslugten, und das Sauerkraut, das in Frankfurt ein gut gefülltes Portemonnaie verspricht. Johann Isidor zündete eine Zigarette an und starrte in den Rauch.

Als ihre Großmutter ihrem Großvater ein Kreppel in den Mund schob und ihm ein wenig vom Pflaumenmus aus dem Mund quoll, kicherte Claudette so, dass sie ihr Glas nicht mehr richtig halten konnte. Der Himbeersaft spritzte auf die teure gestickte Bluse aus Ungarn. Onkel Erwin klatschte und nannte sie ein entzückendes Ferkel. Claudettes elfjährige Tante Alice lächelte weise. Sie kannte sich besser aus im Beziehungsgeflecht zwischen Mann und Frau als in ihrem englischen Grammatikbuch. Der Papagei, die sprachgewandte Erinnerung an das verehrte Tantchen, krächzte seinen Namen. Er hieß Otto.

»Ich finde es schön, dass Anna so viel von mir hat«, sagte Betsy, »ich meine, solche Wunder kommen ja nicht alle Tage vor.«

Annas Wangen brannten. Sie knetete ihre Hände und hatte das Bedürfnis, sich bei allen Anwesenden dafür zu entschuldigen, dass sie mit am Tisch saß. Es machte sie alljährlich aufs Neue verlegen, dass die Zunge ihrer verehrten Ziehmutter ausgerechnet an Silvester zu scherzen beliebte.

»Ich glaube«, nahm Anna Anlauf, doch sie konnte ihre Gedanken nicht lange genug festhalten, um sie auszusprechen, und schaute zu Boden; sie wünschte sich – wie seit ihrer Kindheit – die Eloquenz ihrer Schwestern und Erwins Schlagfertigkeit. Ihr Vater merkte, dass seine besondere Tochter litt; er beugte sich zu ihr hinüber. Seine Hand war nur einen Herzschlag lang auf ihrer Schulter, doch Anna fühlte die Wärme und spürte seinen Atem im Nacken. Sie steckte ihre Rechte in die Tasche ihres Rocks. Auch ihr Vater suchte nach seinem Taschentuch.

Johann Isidor Sternberg hätte gern Anna Maria Haferkorn adoptiert und ihr seinen Namen gegeben, doch wegen seiner vier leiblichen Kinder und um Betsy nicht mehr zu kränken, als er es durch seinen Fehltritt getan hatte, unterließ er den juristischen Schritt. Trotzdem war sie sein Lieblingskind. Alle wussten es, keiner – selbst die geschwätzige kleine Alice nicht – ließ sich je anmerken, dass sie im Bilde waren. Erst am Tag vor ihrem zwölften Geburtstag hatte Anna erfahren, dass der Mann, den sie ihr ganzes Leben »Onkel Johann« genannt hatte, ihr leiblicher Vater war.

Die Stunde der Erkenntnis schlug im Wintergarten. Bis dahin war die kleine Anna mit den dicken Zöpfen sicher gewesen, der gute Onkel Johann wäre von Gott persönlich mit der Anweisung bedacht worden, ein armes Waisenkind nach dem Tod der Mutter mit Samtkleidern, schwarzen Knopfstiefeln, Frankfurter Bethmännchen, einer grünäugigen schwarzen Plüschkatze, einem weiß lackierten Schreibpult und der aufregenden Spielgefährtin Victoria zu versorgen.

In späteren Jahren war es Annas Vater, der träumte. Es gab Nächte, in denen er nichts mehr von den Schmerzen in seinen Gelenken wusste und auch nichts von den Ängsten des Alters. Dann traf er sich mit Annas Mutter – immer noch heimlich und mit klopfendem Herzen und immer noch in seinem Comptor in der Hasengasse. In den Erinnerungen des Kaufmanns Sternberg war das Fräulein Haferkorn mit den blauen Augen und den Grübchen am Kinn immer noch so jung, so schön und so fröhlich wie in der Schicksalsnacht im Mai.

Das bezaubernde Fräulein Fritzi Haferkorn, zur Zeit des Sündenfalls ihres hochverehrten Chefs die jüngste Angestellte in seiner Posamenterie und diejenige, die nie ein Korsett und oft sehr transparente Blusen trug, war die einzige Frau gewesen, die Johann Isidor Sternberg je dazu gebracht hatte, Moral und Prinzipien zu vergessen. Den Duft von Fritzis Haut, den Druck ihrer Schenkel, ihre leuchtenden Lippen, das Lachen und ihre Unbekümmertheit auf dem Flug zu den Wolken vergaß er nie. Obwohl er sich auf der Himmelsreise die Flügel versengt hatte, blieb er Fritzi, der Verführerin im zitronengelben Unterrock, ein Leben lang dankbar. Ohne sie hätte er nie die Leidenschaft geschmeckt und nie das alte Menschheitsbedürfnis gehabt, den Augenblick des Glücks für immer festzuhalten.

Liebte er deshalb ihre Tochter Anna mehr als Clara, Victoria und Alice? Johann Isidor stellte sich die Frage oft, doch er wagte sich an keine endgültige Antwort. Er war nun sechsundsechzig, hatte weißes Haar und einen grauen Bart, war morgens trüben Sinnes und hatte an manchen Abenden Angst, er würde am nächsten Tag nicht mehr aufwachen. Sein Gedächtnis sang keine Frühlingslieder, wenn die Apfelbäume blühten, die Nase fing nicht mehr den Duft der Rosen ein. Der Magen war empfindlich, der Kopf rebellierte gegen Licht und Lärm, und der Spiegel war ein hämischer Chronist.

Johann Isidor Sternberg, einst ein Mann von aufrechtem Gang und mit einem in die Zukunft gerichteten Blick, vermochte nur noch mit Anstrengung seine Schultern zu straffen. Für ihn verkündeten die Glocken keine Siege mehr, er betete nicht mehr für das Wohl seines Vaterlands. Er war ein Vater wie die vielen geworden, die am Heldentod ihrer Söhne litten und nach dem Wofür fragten.

Ausgerechnet sein Vaterland, das mit allen Herzfasern geliebte, trieb Johann Isidor zu seinen Anfängen zurück. Wenn er an Heimat dachte, lief er nur noch über Vaters Wiesen in Schotten, und die Mutter flocht den Mohnzopf für den Sabbat. Für ihren Sohn war der schöne jüdische Traum aus der Kaiserzeit für immer dahin. In Deutschland würde kein Jude mehr ein Gleicher unter Gleichen werden. Die Emanzipation war im Weltkrieg hingerichtet worden, das Mittelalter zurückgekehrt.

Den Juden hatte man ihre alten Rollen zugewiesen. Sie waren wieder die Sündenböcke, die sie in Zeiten der Not immer gewesen waren, und sie wurden für das deutsche Schicksal verantwortlich gemacht. Ihnen allein wurden der verlorene Krieg, die Inflation, Hunger und Arbeitslosigkeit angelastet.

In der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre wurden die antisemitischen Attacken im Land immer heftiger. Immer mehr Menschen reihten sich im Chor der Hassenden ein. Sie spien das alte Gift in Richtung der ungeliebten jüdischen Minderheit.

Zunächst hielt sich der deutsche Bürger Sternberg noch an die Strategie, die ihn sein Leben lang vor unangenehmen Wahrheiten geschützt hatte. Er verschloss seine Augen vor der Wirklichkeit und wurde taub, aber schließlich siegte seine Klugheit doch. Er erkannte, dass seine lebenslange Bemühung, sich selbst zu betrügen, endgültig gescheitert war. Deutschland hatte nicht vor, je seine Juden als geachtete, gleichberechtigte Bürger zu akzeptieren. Der Verlust seiner Illusionen nahm Johann Isidor Kraft und Lebensmut. »Meine Zeit ist um«, sagte er einmal zu Betsy, und obgleich er nie gelernt hatte, das Schweigen seiner Frau zu verstehen, fiel ihm dieses eine Mal doch auf, dass sie hatte antworten wollen.