Friedrich-Wilhelm Gerstengarbe | Harald Welzer
Zwei Grad mehr in Deutschland
Wie der Klimawandel unseren Alltag verändern wird
Fischer e-books
Entwürfe für eine Welt mit Zukunft
Herausgegeben von Harald Welzer und Klaus Wiegandt
Friedrich-Wilhelm Gerstengarbe, außerplanmäßiger Professor für Allgemeine Klimatologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, gehört seit der Gründung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung als Meteorologe zu dessen festem Wissenschaftlerstamm. Er leitet dort die Forschungsgruppe »Klimaanalyse und -szenarios«, die das Klima statistisch analysiert und künftige Klimaänderungen für verschiedene Regionen berechnet. Siehe auch www.KlimafolgenOnline.com
Harald Welzer, geboren 1958, ist Direktor von Futurzwei – Stiftung Zukunftsfähigkeit und Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg. Daneben lehrt er an der Universität Sankt Gallen. In den S. Fischer Verlagen sind von ihm erschienen: »›Opa war kein Nazi‹. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis« (zus. mit S. Moller und K. Tschuggnall, 2002); »Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden« (2005), »Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird« (2008) und zuletzt »Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben« (zus. mit Sönke Neitzel, 2011). Seine Bücher sind in 21 Ländern erschienen.
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Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Coverabbildung: Hanns-Georg Unger
Originalausgabe
Veröffentlicht als E-Book 2013.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402319-9
Friedrich-Wilhelm Gerstengarbe und Harald Welzer
Der Klimawandel ist ein Thema, das spätestens seit den aufsehenerregenden Berichten des Internationalen Klimarates (IPCC) im Jahr 2007 große Besorgnis auslöst: Unvermindert steigt die globale Durchschnittstemperatur, aber ebenso unvermindert wachsen auch die Emissionen der sogenannten Treibhausgase weiter, die für die Erwärmung ursächlich sind. Die Klimaforschung gibt den Gesellschaften nur noch wenige Jahre Zeit, um ihre Emissionen radikal herunterzufahren. Falls das nicht gelingt, ist es aller Voraussicht nach unmöglich, die globale Erwärmung bei einem Anstieg um durchschnittlich zwei Grad abzubremsen. Das Klimasystem ist träge; der Temperaturanstieg um ca. 0,8 Grad, den wir heute gegenüber den 1950er Jahren verzeichnen, geht auf den enormen Industrialisierungsschub zurück, der vor allem in der Nachkriegszeit in Europa und in den USA Fahrt aufnahm. Heute haben wir es mit einem vergleichbaren Schub im weltweiten Maßstab zu tun, und seine Folgen werden das Klima um die Mitte des 21. Jahrhunderts bestimmen. Das Problem dabei: Ein weiterer Temperaturanstieg um bis zu zwei Grad ist heute schon unvermeidlich, aber wenn diese Marke gerissen wird und sich die Erde um durchschnittlich drei oder vier oder fünf Grad erwärmt, kann man nicht mehr prognostizieren, was das für die Lebensbedingungen auf unserem Planeten bedeutet. Denn die Folgen eines solchen Temperaturanstiegs wirken nicht linear, sie führen zu Wechselwirkungen zwischen abschmelzenden Eisflächen, sinkender Reflexion der Sonneneinstrahlung, Verschwinden des Permafrosts, Freisetzung des Klimagases Methan – kurz: zu gegenseitigen Aufschaukelungen der Ereignisse im Erdsystem, die zu einer Kaskade von Veränderungen führen können, die die Überlebensbedingungen von Individuen, Gesellschaften und Kulturen regional stark einschränken oder sogar zerstören können.
Bislang schlingert die öffentliche Diskussion des Klimawandels zwischen Katastrophismus und Verharmlosung. Entweder stellt man sich die Klimaapokalypse vor wie in »The Day After Tomorrow« von Roland Emmerich: als abrupte, unbeherrschbare Weltkatastrophe, in der buchstäblich alles zu Bruch geht, oder man verlässt sich darauf, dass trotz aller Prophezeiungen bislang die Welt ja noch nie untergegangen ist und geht achselzuckend zur Tagesordnung über. Die Wirklichkeit wird dazwischenliegen, denn die Klimaerwärmung wirkt in unterschiedlichen Regionen der Welt sehr unterschiedlich: global zwei Grad mehr, das kann für die Arktis vier Grad mehr sein und für das subsaharische Afrika weniger als zwei Grad mehr; die Auswirkungen können, je nach den herrschenden Bedingungen, ganz unterschiedlich sein. Im westlichen Sudan beispielsweise können die für Menschen ohnehin kargen Überlebensbedingungen durch fortschreitende Wüstenbildung, Wasser- und Nahrungsnot drastisch verschlechtert werden. Deutschland wird bei einer globalen Erwärmung um zwei Grad voraussichtlich zwischen diesen Temperaturextremen liegen und aufgrund seiner ökonomischen, technischen und politisch-institutionellen Kapazitäten bleiben die Folgen hier vergleichsweise moderat. Es werden in den nächsten zwei, drei Jahrzehnten eine Reihe von Todesfällen durch Stürme und Überschwemmungen, auch durch extreme Hitze zu erwarten sein, aber in einer Größenordnung, die statistisch nicht ins Gewicht fällt. Und es wird nicht einmal nur negative Folgen geben: Der Tourismus an der Nordsee wird möglicherweise von der kommenden Erwärmung profitieren, genauso wie der immer weiter nach Norden voranschreitende Weinanbau. Andererseits geraten die Wälder in einigen Regionen Deutschlands mehr unter Stress: Schädlinge haben leichteres Spiel, unangenehme Insekten wie Zecken und Sandmücken finden hervorragende Bedingungen vor und übertragen in höherem Maße Krankheiten, auch solche, die bislang in unseren Breiten nicht vorkamen.
Da die Auswirkungen so vielfältig und unterschiedlich ausfallen werden, haben »Klimaskeptiker« leichtes Spiel, wenn sie triumphierend erzählen, dass sich die Klimaforschung ja dauernd selber widerspreche. Bislang konnten sie immer ziemlich freihändig argumentieren, weil wir kaum über präzise Szenarios lokaler Auswirkungen des erwartbaren Temperaturanstiegs verfügten. Das wird mit diesem Buch anders: Erstmals können wir ein sehr plausibles Szenario für die Situation in Deutschland im Jahr 2040 vorlegen, und man kann sich ein ungefähres Bild davon machen, wie es dann um die Wälder, die Gewässer, das Lebensgefühl in den Städten bestellt sein wird. Wir legen ein konkretes Wirkungsszenario der angenommenen Erwärmung vor, das Klimawissenschaftler zusammen mit Sozialwissenschaftlern entwickelt haben. Das war lange überfällig, weil es ja in der Öffentlichkeit und in der Politik nicht von vorrangigem Interesse ist, wie viel CO2 im Jahr 2040 die Atmosphäre belasten wird, sondern wie die Jahresdurchschnittstemperatur zum Beispiel in Berlin und Brandenburg dann ausfallen wird und was das für die Landwirtschaft, die Kanalisation, die Versicherungen und nicht zuletzt die Lebensgewohnheiten der Menschen konkret bedeuten wird. Dieses Wissen ist bisher noch nicht in einer solchen Zusammenschau erschienen. Aber man braucht es, um realistisch einschätzen zu können, worauf man sich heute schon vorzubereiten hat, welche Ängste unbegründet sind und welche Fehlsteuerungen man vermeiden sollte.
In verschiedenen Regionen haben sich unter bestimmten klimatischen Bedingungen historisch spezifische Bauweisen, Landwirtschaftstechniken, aber auch Mentalitäten und Lebenspraktiken herausgebildet. Bei einem Aufenthalt in einem Land des südlichen Mittelmeerraums – etwa in Griechenland, Spanien oder Tunesien – wird dies einem nordeuropäischen Besucher unmittelbar deutlich: Traditionelle Gebäude sind aus hellem Gestein gefertigt oder außen weiß gestrichen, um die Lichtabsorption zu reduzieren, und verfügen zum Schutz vor Hitze nur über kleine Fenster und Öffnungen. In den Mittagsstunden, wenn die Hitze am größten ist, kommt während der sogenannten Siesta das öffentliche Leben zur Ruhe, und körperlich anstrengende Tätigkeiten werden eingestellt. Die Mahlzeiten unterscheiden sich im Vergleich zu nordeuropäischen Ländern nicht nur in ihrer Zusammensetzung, sondern werden vor allem auch deutlich später zu sich genommen, die Hauptmahlzeit meist erst nach Einbruch der Dunkelheit. Menschliche Kulturen entwickeln sich, wie schon diese wenigen Beispiele zeigen, in bestimmten natürlichen Umwelten, und die Gesellschaften stehen seit jeher in mehr oder weniger dynamischen Austauschprozessen mit der außermenschlichen Natur. Insofern sind Gesellschaften immer an bestimmte klimatische Verhältnisse bzw. ihre natürliche Umwelt angepasst.
Nun führt die durch die Verbrennung fossiler Energieträger von Menschen verursachte Erderwärmung global – also für die Welt als Ganzes –, aber auch in einzelnen Regionen zu einer vergleichsweise rapiden Veränderung der klimatischen Bedingungen, und das nicht nur in Form eines einmaligen Anstiegs auf ein höheres Temperaturniveau, sondern in Gestalt einer anhaltenden und dynamischen Veränderung des Klimas. Lange Zeit konnten die Wissenschaften mit Recht davon ausgehen, dass der natürliche Wandel im Vergleich zur Gesellschaftsentwicklung auf einer anderen Zeitskala stattfindet und sich nur sehr langsam vollzieht. Mit dem anthropogenen Klimawandel trifft dies nicht mehr zu; die Wandlungsgeschwindigkeiten von Kultur- und Naturverhältnissen beginnen sich anzugleichen (Lever-Tracy 2008: 455f.).
Dies stellt gebaute und technische Infrastrukturen, aber auch gesellschaftliche Institutionen und Mentalitäten, die sich unter den relativ stabilen klimatischen Bedingungen der vergangenen Jahrhunderte entwickelt haben, vor erhebliche Herausforderungen. Dass sich Gebäude, Städte oder Schienen-, Straßen- und Stromnetze nur unter großem Aufwand umbauen lassen, bedarf nicht der weiteren Erläuterung. Aber auch gesellschaftliche Institutionen wie Gesetze oder Verordnungen zeichnen sich durch ein hohes Maß an Stabilität aus und lassen sich nur in festgelegten und häufig zeitaufwendigen Verfahren modifizieren. Und nicht zuletzt sind die Gewohnheiten der Menschen durch eine gewisse Beharrungskraft gekennzeichnet und lassen sich nicht einfach auf Zuruf ändern. So ließe sich eine Siesta in deutschen Großstädten angesichts der Zunahme von Hitzetagen und Extremhitze im Sommer nicht einfach einführen, auch wenn Experten aus Gesundheitsgründen bisweilen dazu raten (BMU 2011a: 23). Darüber hinaus wird die Anpassung an den Klimawandel dadurch erschwert, dass sich eben nicht nur einfach Durchschnittstemperaturen und -niederschläge verschieben, sondern auch mit einer größeren Variabilität des Klimas von Jahr zu Jahr und wahrscheinlich auch mit häufigeren unvorhersehbaren Extremwetterereignissen zu rechnen ist. Ginge es nur um ein etwas wärmeres, aber gleichmäßiges Klima, könnte sich zum Beispiel die Landwirtschaft durch eine Umstellung auf andere Getreidesorten an das veränderte Klima anpassen und gegebenenfalls sogar davon profitieren. Ein unvorhersehbarer Wechsel von warmen und kalten, feuchten und trockenen Jahren aber wird sie immer vor Probleme stellen und Schäden verursachen. So scheuen Landwirte etwa unter anderem deshalb vor der Anschaffung von Bewässerungsanlagen zurück, weil diese ja nur unregelmäßig gebraucht werden (UBA 2005a: 72f., 80). Der Ausbau städtischer Kanalisationssysteme für die Bewältigung von Starkregenereignissen, wie sie früher nicht vorgekommen sind, ist extrem aufwendig und angesichts der Finanzlage vieler Kommunen fast unmöglich. Aber: Erst die unzureichende Entwässerung macht aus einem solchen Extremwetterereignis eine Katastrophe. Auf welch fatale Weise Vorsorge und knappe Mittel negativ zusammenwirken können, zeigte sich im Sommer 2012 in Spanien: Die Ausbreitung der verheerenden Waldbrände konnte unter anderem deshalb nicht gestoppt werden, weil im Zuge der Eurokrise die Mittel für die Feuerwehr drastisch zusammengestrichen worden waren, in Katalonien um mehr als die Hälfte; die Zahl der Feuerwehrleute wurde in zwei Jahren um fast zwei Drittel reduziert (FAZ, 16. 8. 2012, S. 7).
Diese wenigen Beispiele machen bereits deutlich, dass Klimaanpassungsstrategien moderner Gegenwartsgesellschaften aus sozialwissenschaftlicher Perspektive keine leicht zu lösende Aufgabe darstellen, zumal sie sich auf Wirkungen der Klimaerwärmung beziehen, die wir heute antizipieren können, kaum aber auf solche unter den Bedingungen eines Erwärmungsszenarios von drei, vier oder fünf Grad.
Klimawandel und Extremwettereignisse entfalten erst in einer bestimmten sozial-ökologischen Figuration eine Wirkung und zeitigen nicht per se negative oder auch positive Folgen. Während beispielsweise der Betreiber eines Strandbades und seine Badegäste den Anstieg der jährlichen »Sommertage« (25 °Celsius oder mehr) von durchschnittlich 37 im Zeitraum 1991–2010 auf 49 Tage im Zeitraum 2031–2050 und der »heißen Tage« (30 °Celsius oder mehr) von 8 auf 9 im gleichen Zeitraum (siehe Kapitel 3) begrüßen dürften, kann bereits ein minimaler Anstieg der Temperatur und die daraus folgende Wassererwärmung die Züchter von Forellen, die kaltes Wasser brauchen, vor erhebliche Probleme stellen. Und auch diese Beispiele sind noch stark vereinfacht. Sie suggerieren, dass der Klimawandel zu einer Zunahme der jährlichen Sommertage bzw. einem Temperaturanstieg führt, aber ansonsten alles bleibt, wie es ist. Davon ist weder in Ökosystemen noch in hochkomplexen Gesellschaftssystemen auszugehen. So ist die Entwicklung des Küstentourismus nicht allein von den jährlichen Sommertagen abhängig, sondern auch von wirtschaftlichen Trends; beispielsweise könnte sich ein u.a. durch Klimawandel bedingter Einbruch der Wirtschaft negativ auf die Zahl der Strandbadgäste auswirken (siehe Kapitel 5.3), so dass trotz erstklassigen Badewetters die Gäste ausbleiben. Auf Ökosystemebene können gerade bei Sommerwetter giftige Cyanobakterien im Wasser (sogenannte Blaualgen), die sich durch Düngemittel aus der Landwirtschaft und Hitze sprunghaft vermehren, das Baden unmöglich machen, wie es in den vergangenen Jahren schon häufiger vorgekommen ist.
Solche komplexen Interaktionen zwischen Wetterveränderungen und menschlichem Zusammenleben sind auch bei weniger harmlosen Phänomenen wie sogenannten Naturkatastrophen zu berücksichtigen. Auch hier ist nicht die Art und Stärke eines Ereignisses selbst relevant, sondern auf welche gesellschaftlichen Vorsorge- und Bewältigungskapazitäten es trifft – Hochwasserschutz und technisches Hilfswerk lassen selbst ein »Jahrhunderthochwasser« moderater wirken als nur eine einzige der vielen Überschwemmungen beispielsweise in Bangladesh, die die Menschen ohne staatliche Hilfe aushalten und bewältigen müssen. In der Klimafolgenforschung wird diesem Umstand Rechnung getragen, indem die »Vulnerabilität« und »Resilienz« eines ökologischen oder sozialen Systems berücksichtigt wird (siehe Kasten 2 auf Seite 49). Ein Extremwetterereignis – wie Starkniederschlag mit anschließender Überschwemmung – wird erst zur »Naturkatastrophe«, wenn es mit vulnerablen sozialen Bedingungen zusammentrifft und es zu beträchtlichen menschlichen, materiellen oder ökologischen Schäden kommt (IPCC 2011). Ein Sturm hat völlig verschiedene Bedeutungen je nachdem, ob er in menschenleerem Gebiet oder über menschlichen Siedlungen tobt, und noch einmal andere Bedeutung je nachdem, wieweit die betroffenen Gesellschaften über die Ressourcen verfügen, sich zu schützen und angefallene Schäden zu beseitigen. Der Begriff »Naturkatastrophe« ist insofern irreführend, denn eine »Katastrophe« wird eine Sturmflut, ein Hurrikan, ein Tsunami erst in gesellschaftlichem Kontext.
Dieses Buch ist ein in mehrerer Hinsicht spannendes Experiment. In der Klimaforschung ist es sicher das erste Mal, dass sich Natur- und Kulturwissenschaftler zusammengesetzt haben, um ihre Forschungsergebnisse aufeinander abzustimmen. Dass die Skizzierung der Situation eines Landes unter den Bedingungen einer um zwei Grad erhöhten globalen Durchschnittstemperatur ein komplexes und gewagtes Unterfangen ist, war den Autorinnen und Autoren sowie den Herausgebern von Anfang an bewusst. Klima und Gesellschaft sind zwei hochkomplexe Systeme, deren Strukturen und besonders deren Wandlungen, schon einzeln betrachtet, extrem schwer zu fassen sind. Noch schwieriger gestaltet sich die Beschreibung der Wechselwirkungen beider Systeme miteinander. Eine allumfassende Betrachtung gesellschaftlicher Auswirkungen infolge des Auftretens von Klimaänderungen ist einfach unmöglich – wir wissen zu wenig über die künftigen, manchmal ja sehr rapiden Entwicklungen in Kultur und Gesellschaft. Wer hätte die tiefgreifende Veränderung der Kommunikation und damit von Politik und Öffentlichkeit infolge des Internets vor zwanzig Jahren vorausgesehen, wer vor zehn Jahren die Finanzkrise, wer vor fünf die Eurokrise? Es ist also Vorsicht geboten: Wir können die gesellschaftlichen Auswirkungen nur unter der Annahme beschreiben, dass Deutschland auch 2040 noch eine funktionierende Demokratie mit funktionierenden Institutionen und einer funktionierenden Wirtschaft ist, was voraussetzt, dass sich auch auf internationaler Ebene keine so weitreichenden Umbrüche ereignen, dass der Fortbestand Deutschlands, wie wir es kennen, dadurch in Frage gestellt wäre. Das ist, wie ein Blick auf die Veränderungen, die das 20. Jahrhundert geboten hat, sofort zeigt, keineswegs sicher, aber es wäre unfruchtbar, alles Mögliche anzunehmen und das mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über die Folgen des Klimawandels in Beziehung zu setzen. Es galt also sich zu beschränken. Klar war, dass eine Analyse des Istzustandes notwendig war, um von diesem aus einen Blick in die Zukunft zu wagen. Nur, in welche Zukunft? Die in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren, oder die am Ende des Jahrhunderts? Das ist keine einfache Frage. Der Zeitraum durfte einerseits nicht zu lang sein, um die Skizze nicht völlig spekulativ werden zu lassen, andererseits musste eine deutliche klimatische Entwicklung in diesem Zeitraum möglich sein. Wir einigten uns auf einen Blick in die Zeit um 2040, denn für einen Zeitraum von drei Jahrzehnten lässt sich schon eine klimatische Entwicklungstendenz ableiten, und die technische und soziale Entwicklung sollte sich auch nicht zu weit vom heutigen Stand entfernt haben.
Nachdem die Frage des Zeitfensters geklärt war, mussten wir uns überlegen, welche Änderungen in diesem Zeitfenster angenommen werden sollten. Die einfachste Annahme wäre die einer Temperaturerhöhung. Aber um wie viel Grad? Man kann es sich einfach machen, indem man die Klimaänderungen für einen Anstieg um 1°, 2°, 3° usw. für die nächsten dreißig Jahre bestimmt. Nur: Welcher Anstieg ist plausibel? Die Antwort darauf lautet: 1,2 °C. Nimmt man den beobachteten Anstieg der Temperatur um ca. 1 °C in Deutschland von 1951 bis heute dazu, kommt man auf einen Temperaturanstieg um rund 2 °C bis zum Jahr 2040.
Was dieser Temperaturanstieg an klimatischen Auswirkungen regional in Deutschland zur Folge hat, lässt sich gut an der Entwicklung anderer wichtiger meteorologischer Größen, wie zum Beispiel dem Niederschlag, der klimatischen Wasserbilanz oder der Sonnenscheindauer, zeigen. Diese Aussagen sind wichtig, weil sie zu den sogenannten Impaktmodellen überleiten – Modelle, die die klimatischen Auswirkungen auf bestimmte gesellschaftliche Bereiche abbilden. Was wird also von den Natur- und Sozialwissenschaftlern zur Verfügung gestellt? Ergebnisse, die sich aus den Berechnungen einer aufeinander abgestimmten Modellkette ergeben. Sie beschreiben die Entwicklung vom Klima über die Landwirtschaft, Hydrologie und Forstwirtschaft bis hin zur Stadt. Solche Modelle führen schon für nur ein Szenario, nämlich das einer Temperaturerhöhung um rund 2 °C zwischen 1951 und 2050, zu einer enormen Datenflut. Diese muss in für die Gesellschaft wichtige Informationen umgesetzt werden. An dieser Stelle ist der Hinweis wichtig, dass wir im Rahmen dieses Buches hinsichtlich der Klimaentwicklung nur eine mögliche Zukunft skizzieren, unter anderen Annahmen könnte es eine unendliche Reihe von Möglichkeiten für die Zukunft in Deutschland geben. Warum es sich bei unserer einen Zukunft um eine plausible Zukunft handelt, wird in Kapitel 2 ausführlich beschrieben. Am Ende des Buches (Kapitel 8) skizzieren wir der Anschaulichkeit halber zwei verschiedene narrative Szenarios, um zu verdeutlichen, dass gesellschaftliche Entwicklungen niemals determiniert sind, sondern immer unterschiedlichen Pfaden folgen können.
Die Auswirkungen des globalen Klimawandels sind heute schon in Deutschland zu spüren. Bis jetzt bewegt sich die damit verbundene Schadensentwicklung noch in einem volkswirtschaftlich vertretbaren Rahmen. Das bietet die Chance, sich der kommenden Entwicklung so gut wie möglich anzupassen. Anpassung ist aber nur die eine Seite der Medaille. Wo Anpassung nicht oder nur begrenzt möglich ist, muss man eventuellen Schäden vorbeugen. An dieser Stelle kommen die Entscheidungsträger aus Politik und Verwaltung ins Spiel. Der Konflikt, in den sie geraten werden, ist absehbar: Sie sind mit der Lösung von Aufgaben konfrontiert, die häufig im Widerspruch zu den Interessen einzelner Bevölkerungsgruppen stehen. Ein weiteres Konfliktpotential stellt die Knappheit der Mittel dar: Wie viel kostet die optimale Erhöhung eines Deiches aufgrund der gestiegenen Hochwassergefährdung, und wie kann man diesen Aufwand begründen, wenn man zugleich auch gern Kindertagesstätten ausbauen würde? Um überhaupt sinnvoll Geld für vorsorgende Maßnahmen ausgeben zu können, deren Ertrag sich erst in der Zukunft erweisen wird, muss man die optimale Lösung aus einer Reihe wechselwirkender Faktoren – den vorhandenen Mitteln, der Gefährdung von Leben, möglichen materiellen Schäden usw. – suchen. Diese Faktoren lassen sich beliebig erweitern. Das alles ist, wie leicht zu erkennen ist, schwieriges Terrain für Entscheidungsträger jeglicher Couleur. Deshalb soll dieses Buch auch dazu beitragen, das Verständnis für deren Probleme zu erhöhen, um sie bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen und nicht im Starkregen stehen zu lassen.
Potsdam im August 2012
Sebastian Wessels
Die Fähigkeit zur Anpassung an verschiedenste ökologische und soziale Lebensbedingungen ist ein herausragendes Merkmal der menschlichen Natur. Während Tiere und Pflanzen immer zum Überleben in einer ganz bestimmten Umwelt ausgestattet sind – ihrer sogenannten ökologischen Nische –, fehlt eine solche spezielle Ausstattung und Festgelegtheit beim Menschen. Menschen leben in tropischen Wäldern, in Eis und Schnee, in der Wüste, am Meer und auf Bergen. Überall haben sie im Lauf der Entwicklung ihrer Gesellschaften spezielle Kulturtechniken entwickelt, die es ihnen ermöglichen, den ökologischen Bedingungen, in denen sie sich befinden, ein Leben abzutrotzen. Während Tiere und Pflanzen biologisch auf das Leben in bestimmten Umweltbedingungen abgestimmt sind, bringt die menschliche Biologie eine Flexibilität und Erfahrungsoffenheit mit sich, die unter anderen Lebensformen ohne Beispiel ist. Auf bestimmte Umweltbedingungen spezialisiert und mehr oder weniger festgelegt sind Menschen letztlich auch, doch bei ihnen erfolgt die Festlegung nicht biologisch durch genetische Vererbung, sondern sozial durch Erfahrung, Lernen und Tradition. Ihre ökologische Nische ist, wenn man so will, vor allem die Gesellschaft, weil es die besondere Sozialität der Menschen ist, die ihre herausragende Anpassungsflexibilität ermöglicht.
Vor diesem Hintergrund ist auffällig, dass im Zusammenhang mit dem Klimawandel erst in jüngster Vergangenheit das Thema Anpassung als praktisches und politisches Problem breit diskutiert wird. Wenn doch Menschen sich schon immer dadurch auszeichnen, dass sie sich höchst flexibel an verschiedenste Umweltbedingungen anpassen können, wieso wird dann heute Anpassung zum Thema und Problem? Was genau ist eigentlich unter »Anpassung« zu verstehen?
Schaut man sich die gesellschaftliche Entwicklung vom Zusammenleben in relativ einfach strukturierten, kleinen Sippen und Stämmen bis zu den komplexen, hochtechnisierten Millionengesellschaften der Gegenwart an, dann wird deutlich, dass Menschen sich nicht nur an die ökologischen Bedingungen anpassen, die sie vorfinden, sondern auch umgekehrt ihre Umgebung an sich anpassen. Wenn Menschen etwa anfangen, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben, sind sie nicht mehr wie Jäger und Sammler davon abhängig, verwertbare Pflanzen und Tiere zu suchen und zu finden, sondern sie kontrollieren nun das Vorkommen von bestimmten Pflanzen und Tieren an bestimmten Orten für ihre eigenen Zwecke. Acker und Viehherden sind ein Stück Natur, das von Menschen so geformt wurde, dass es der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dient. Indem sie Häuser bauen und Tierfelle oder Kleidung tragen, machen sich Menschen unabhängiger vom Wetter. Heute ermöglichen uns Kühl- und Gefrierschränke sowie Konservierungsstoffe, Lebensmittel länger zu lagern, was die Taktung unseres Verbrauchs unabhängiger von ökologisch bedingten Produktionszyklen macht. Wasserversorgungssysteme machen uns unabhängiger von Niederschlag und Flussverläufen; die Techniken der Energiegewinnung und -verteilung machen uns unabhängiger von den Jahreszeiten (oder der Verfügbarkeit von Brennholz); moderne Verkehrsmittel machen uns unabhängiger von den Orten, an denen wir uns befinden.
An dieser Reihe von Beispielen, die sich beliebig fortsetzen ließe, wird bereits deutlich, dass »Anpassung« im ökologischen Sinn nie eine Einbahnstraße ist. Alle Organismen, und besonders die Menschen, verändern nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Umgebung, und müssen sich immer gleichzeitig wieder mit der veränderten Umgebung arrangieren (Lewontin 2002: 53ff.). Die Wechselseitigkeit von ökologischen und sozialen Anpassungsvorgängen wird oft übersehen, lässt sich aber an vielen Beispielen leicht verdeutlichen. So ließe sich etwa das Tragen von Kleidung als Anpassung an ein kälteres Klima beschreiben, denn das Klima selbst wird davon nicht beeinflusst. Die Herstellung dieser Kleidung ist jedoch ein Vorgang, in dem natürliche Rohstoffe so verformt werden, dass sie bestimmte menschliche Bedürfnisse befriedigen, indem etwa Jagd-, Zucht- und Verarbeitungspraktiken entwickelt und etabliert werden, durch die sich Menschen auf vielfältige Weise zur Natur ins Verhältnis setzen und Aspekte davon für ihre Zwecke umformen und kontrollieren. Auch Werkzeuge machen die Wechselseitigkeit von Anpassung anschaulich. Indem man ein Werkzeug so formt, wie man es braucht, passt man dieses Stück Natur – sei es aus Holz, Stein oder Metall – an sich an; zum Beispiel an die Form und Motorik der Hände. Indem man aber den Umgang mit diesem Werkzeug lernt, passt man sich an das Werkzeug an. Man bildet Gehirnstrukturen und Muskeln aus, die mit der Benutzung dieses Werkzeugs korrespondieren. Das Werkzeug ist seinerseits an die ökologischen Bedingungen angepasst, in denen es funktionieren soll – etwa an die Beschaffenheit eines Baumes, wenn es sich um eine Axt handelt. Ob man nun sagt, mit unseren modernen Wohnanlagen passen wir uns an die Natur oder die Natur an uns an, hängt einfach davon ab, wo man jeweils die Grenze zwischen Natur und Gesellschaft zieht. Fasst man nur Regen und Witterung als Natur auf, passen wir uns durch den Bau von Häusern an die Natur an; zieht man jedoch in Betracht, dass dieser Bau umfangreiche Bearbeitungen von Naturressourcen einschließt und das Haus aus solchen besteht, kann man den Vorgang ebenso als Anpassung der Natur an unsere Bedürfnisse beschreiben.
Man kann diese letztlich nicht auflösbaren Definitionsprobleme vermeiden, indem man sich den Gesamtzusammenhang von Menschen und ökologischen Bedingungen als komplexes und mehr oder weniger stabiles Gesamtsystem von Kreisläufen vorstellt. »Komplexität« kann man definieren als Vielfalt an Systemelementen und Beziehungen zwischen ihnen. Der Begriff »Anpassung« bezieht sich dann auf den Grad, zu dem die Systemelemente aufeinander abgestimmt sind und eine Reproduktion des Systems ermöglichen.
Hiermit eng verbunden ist die Vorstellung eines Gleichgewichts zwischen gegensätzlichen Kräften und Funktionen, die sich gegenseitig die Waage halten. Für ein solches Gleichgewicht wird zuweilen der Begriff der »Homöostase« verwendet, der ursprünglich die Aufrechterhaltung von bestimmten Sollwerten innerhalb von Organismen bezeichnet. Eine klassische Illustration dafür ist der Thermostat, den wir von unseren Zentralheizungen kennen. Wenn der Thermostat eine Abweichung vom eingestellten Sollwert registriert, sorgt er dafür, dass die Heizung anspringt oder ausgeht, um die Raumtemperatur wieder diesem Sollwert anzunähern. Vergleichbare Mechanismen bei Lebewesen sind zum Beispiel Durst- und Hungergefühle, wenn Flüssigkeit fehlt oder der Blutzuckerspiegel sinkt, oder das Schwitzen, das bei Hitze dazu dient, die Körpertemperatur zu senken. Auf der Ebene von Ökosystemen kann die Nahrungspyramide als Beispiel für homöostatische Kreisläufe dienen. Pflanzen erzeugen mit Hilfe der Photosynthese organisches Material, von dem sich direkt oder indirekt alle tierischen Organismen des Systems ernähren. Der Kreislauf schließt sich durch die Nährstoffe, die in den Ausscheidungen und sterblichen Überresten der Organismen enthalten sind, welche in den Boden übergehen und damit weiteres Pflanzenwachstum ermöglichen.
Nun könnte das Gleichgewicht eines Ökosystems etwa dadurch gestört sein, dass ein Raubtier ausstirbt, das sich bislang von kleineren Pflanzenfressern ernährt hat. Ohne seinen Fressfeind könnte sich dieser Pflanzenfresser nun verstärkt vermehren, wodurch die Pflanzen, von denen er sich ernährt, vergleichsweise dezimiert würden. Nun kann es sein, dass in der Folge die Zahl dieser Pflanzenfresser durch den von ihnen selbst geschaffenen Nahrungsmangel wieder abnimmt, die Vegetation sich erholt und sich ein neuer Gleichgewichtszustand etabliert. Die Komplexität solcher Kreisläufe kommt aber immer wieder darin zum Ausdruck, dass sich dies nicht mit Gewissheit vorhersagen lässt. Durch das verstärkte Grasen könnte es – etwa durch starken Wind und Niederschlag im betreffenden Jahr – auch zu einer Bodenerosion kommen, so dass dann selbst im Fall eines völligen Verschwindens der Pflanzenfresser die Vegetation nicht mehr in dem Maß nachwachsen könnte, wie sie zuvor bestanden hatte. Ebenso könnte der Pflanzenfresser in seinem Blütejahr andere Tiere verdrängen, die mit ihm um Nahrung konkurrieren. Das intensive Grasen könnte außerdem dazu führen, dass schnell nachwachsende Pflanzenarten sowie diejenigen, die unser Pflanzenfresser meidet, begünstigt würden, was das Spektrum vorhandener und vorherrschender Pflanzen in diesem Ökosystem verschieben würde. Das könnte sich wiederum negativ auf die Lebenschancen des Tieres auswirken. Dieses Phänomen, dass Veränderungen von Teilsystemen (Ausbreitung der Pflanzenfresser) zu Reaktionen in anderen Teilsystemen führen (gemindertes Nahrungsangebot für diese Pflanzenfresser), die das System zu einem neuen Gleichgewicht hinstreben lassen (weniger Pflanzenfresser infolge des Nahrungsmangels), ist der Grund dafür, dass man auch von selbstorganisierenden Systemen spricht. Was Selbstorganisation auf elementarer Ebene ermöglicht, sind die Reaktionen, die auf die ursprüngliche Veränderung folgen und in der Kybernetik als »Feedback« oder »Rückkopplung« bezeichnet werden. Ein anschauliches Beispiel für eine homöostatische Reaktion in gesellschaftlichem Zusammenhang stammt von Gregory Bateson:
»Unter dem Einfluss der Prohibition reagierte das amerikanische Sozialsystem homöostatisch, um die Konstanz der Alkoholversorgung aufrechtzuerhalten. Es entstand ein neuer Beruf, nämlich der des Alkoholschmugglers. Zur Kontrolle dieses Berufs ergaben sich Veränderungen im Polizeisystem. Als die Frage der Aufhebung ins Gespräch kam, war zu erwarten, dass mit Sicherheit die Alkoholschmuggler und vielleicht auch die Polizei für die Beibehaltung der Prohibition sein würden« (Bateson 1985: 568).
Genaugenommen sind dies sogar zwei homöostatische Reaktionen: Die Herausbildung des Schmuggels, um die Alkoholversorgung aufrechtzuerhalten, und die Veränderungen im Polizeisystem, um die Kriminalität unter Kontrolle zu behalten. Dass nun beide Parteien es bei dem neuen Gleichgewichtszustand belassen wollen, liegt daran, dass sie sich damit arrangiert haben und möglicherweise gut davon leben.
Die Anwendung des Konzepts der Homöostase auf gesellschaftliche Zusammenhänge ist gelegentlich dafür kritisiert worden, dass sie Wandel und Konflikt als Ausnahmeerscheinungen darstelle und den Eindruck erwecke, eine Gesellschaft befinde sich normalerweise in einem Zustand der Harmonie und Wandellosigkeit (vgl. Elias 1997a: 22f.). Schon auf biologischer Ebene ist ein statisches Modell irreführend, denn auch ein Organismus befindet sich im ständigen Wandel und durchläuft verschiedenste Zyklen und Phasen, in denen seine »Sollwerte« unterschiedlich sind. Der Biologe Steven Rose legte deshalb nahe, den Begriff der »Homöodynamik« vorzuziehen (Rose 2000: 174f.). Diese Kritik ist berechtigt, und wenn man von »Homöostase« oder »Gleichgewicht« spricht, muss man im Hinterkopf behalten, dass Ökosysteme wie Gesellschaften dynamisch sind und sich nicht nur im Fall von »Störungen«, sondern permanent wandeln (vgl. auch Rappaport 1978: 50). Gleichzeitig aber lassen sich in solchen Systemen erstens zahlreiche homöostatische Reaktionen im beschriebenen Sinn beobachten, und diese Beobachtung ist durchaus relevant, da sich aus diesen Reaktionen eine gewisse Veränderungsresistenz des Systems ergibt. Radikal neue Ideen, so einleuchtend sie manchen auch erscheinen mögen, stoßen regelmäßig bei anderen auf ebenso radikale Ablehnung. Der Komplexität und Dynamik sozialer Systeme ist wiederum der Umstand geschuldet, dass auch und gerade die angestrengtesten Versuche, einen Status quo aufrechtzuerhalten, Teil einer Dynamik sind und unbeabsichtigt weitreichende gesellschaftliche Veränderungen bewirken können. Und zweitens hat der Begriff der Homöostase darin eine gewisse Berechtigung, dass man in Ökosystemen wie einer Gesellschaft durchaus zwischen graduellem Wandel und fundamentalen Umbrüchen unterscheiden kann. Auch wenn sich die Grenze zwischen einem bloß gewandelten und einem völlig neuen System, das aus einem Kollaps des alten hervorging, nicht genau ziehen lässt, ist die Unterscheidung sinnvoll.
Wenn man nun beurteilen will, ob die Veränderungen, die in einem System vor sich gehen, »gut« oder »schlecht« sind, braucht man einen äußeren Maßstab. Wenn bestimmte Tier- oder Pflanzenarten verschwinden und sich dafür andere ausbreiten, aber auch, wenn weniger Arten oder insgesamt weniger Individuen dieser Arten vorhanden sind, dann hat man es zunächst einmal mit einem veränderten bzw. einem anderen Ökosystem zu tun, das an sich weder »besser« noch »schlechter« ist. Wenn die Zahl der Arten und Individuen eines Systems abnimmt, kann man allenfalls sagen, dass es an Komplexität verloren hat, und auch das stellt sich nur dann als »schlecht« dar, wenn man voraussetzt, dass Komplexität oder Vielfalt »gut« sei. Wenn heute etwa der Verlust biologischer Vielfalt beklagt wird, dann vor allem aus dem Grund, dass die biologische Vielfalt ein reichhaltiges Reservoir an für Menschen nutzbaren Rohstoffen bereitstellt. Andere Gründe können sein, dass ein vielfältiges Ökosystem im Allgemeinen resilienter, also widerstandsfähiger ist, oder auch, dass man der Vielfalt einen religiösen, ästhetischen oder sonstigen immateriellen Wert zuschreibt. Und obwohl man durchaus auch von einer radikalen biozentrischen Position aus argumentieren kann, die außermenschliche Natur sei als Selbstzweck vor menschlichen Eingriffen zu schützen, sind mit »Schäden« oder »Belastungen« für die Natur in der Regel eher solche Veränderungen in Ökosystemen gemeint, von denen wir über kurz oder lang ungünstige Auswirkungen auf Leben und Lebensqualität von Menschen befürchten.
So oder so ist der bloße Fortbestand von homöostatischen Systemen nicht das, worauf es uns Menschen ankommt. Auch ein minimales, aus menschlicher Sicht karges Ökosystem kann sich über lange Zeit homöostatisch reproduzieren – und ebenso eine Gesellschaft mit korrupter Führung im Bürgerkrieg. Bei inner- und zwischenstaatlichen Konflikten ist sogar die Stabilität der konflikthaften Beziehungen häufig gerade das Problem. Genau betrachtet ist also weder Wandel zwangsläufig schlecht noch Stabilität zwangsläufig gut. Spricht man von »Schäden«, die einem Ökosystem oder einer Gesellschaft drohen, steckt darin also erstens eine Tatsachenbehauptung – das System verändert sich in bestimmter Weise –, und zweitens eine Wertung: Diese Veränderung ist schlecht, womit meistens gemeint ist, schlecht für Menschen. Dies drückt sich im Begriff der »Ökosystemleistungen« (»ecosystem services«) aus, der sich ausdrücklich auf diejenigen Funktionen von Ökosystemen bezieht, die für Menschen von Nutzen sind (vgl. etwa Lucas 2011: 7).
Wenn also heute die »Anpassung« von Menschen oder Gesellschaften an den Klimawandel gefordert wird, so ist damit gemeint, es soll ein sozial-ökologischer Systemzustand herbeigeführt werden, in dem Menschen Lebensbedingungen vorfinden, die möglichst nicht schlechter sind als die gegenwärtigen. Was man dabei unter »schlechter« zu verstehen hat, ist letztlich immer politische und gesellschaftliche Verhandlungssache. In Begriffen der Homöostase geht es bei solchen Verhandlungen darum, welche »Sollwerte« es sind, die konstant gehalten oder erreicht werden sollen. Die Lebensqualität möglichst vieler Menschen wäre ein möglicher Sollwert, an dem man sich orientieren kann, aber in der Praxis werden auch viele andere immer wieder vorgeschlagen, zum Beispiel das Wirtschaftswachstum, die Exportquote, die Inflation, die Geburtenrate, die Renten und viele andere mehr. In allen diesen Fällen will man planmäßig einige Aspekte der inneren Konfiguration des Systems verändern – z.B. die Steuern senken –, um andere Aspekte konstant zu halten oder auf einen Sollwert hin zu verändern – z.B. das Wirtschaftswachstum erhöhen. Was geändert werden darf und muss, welche Aspekte konstant zu halten und welche Sollwerte zu erreichen sind, ist für Gesellschaften ein zentraler Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Nicht nur deshalb, weil verschiedene Akteure verschiedene Interessen und Werte vertreten, sondern auch, weil in den meisten Fällen ungewiss ist, ob vorgeschlagene Änderungen überhaupt die gewünschten Folgen zeitigen werden und welche unerwarteten Nebenfolgen dabei auftreten können.
Darum also wird trotz der großen, biologisch bedingten Anpassungsfähigkeit der Menschen »Anpassung« im Zusammenhang mit dem Klimawandel zum Problem. Wir können zwar grundsätzlich davon ausgehen, dass Menschen auch unter radikal veränderten ökologischen und sozialen Bedingungen noch leben können und leben werden, aber die Aussicht, dass es »wahrscheinlich irgendwie weitergehen« wird, genügt uns nicht, oder anders ausgedrückt: Wir wollen keine radikale Veränderung der ökologischen und sozialen Bedingungen. »Anpassung« könnte vieles bedeuten, aber wir wollen nicht deindustrialisieren oder Küstenregionen evakuieren, wir wollen nicht auf Mobilität, Lebensmittelvielfalt, Unterhaltungselektronik und zahlreiche andere Annehmlichkeiten unseres Alltags verzichten, und können es zum Teil auch gar nicht. Das heißt, in vielerlei Hinsicht wollen wir uns gerade nicht anpassen, sondern Bestehendes trotz sich unweigerlich ändernder ökologischer und sozialer Bedingungen bewahren. »Anpassung an den Klimawandel« als politisches und gesellschaftliches Programm bedeutet also, ausgewählte Systemfunktionen – seien es Infrastrukturen, Institutionen oder Verhaltensweisen – gezielt zu verändern, damit andere, denen wir einen hohen Wert zuschreiben, unverändert bleiben können.