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Rolf Göppel & Bernhard Rauh (Hrsg.)

Inklusion

Idealistische Forderung
Individuelle Förderung
Institutionelle Herausforderung

Verlag W. Kohlhammer

 

 

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1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030284-6

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-030285-3

epub:    ISBN 978-3-17-030286-0

mobi:    ISBN 978-3-17-030287-7

 

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

  1. Psychoanalytisch-pädagogische Perspektiven auf Inklusion
  2. Rolf Göppel und Bernhard Rauh
  3. I Grundlegende Ansprüche und Spannungsfelder
  4. Inklusion, psychoanalytische Pädagogik und der Differenzdiskurs
  5. Dieter Katzenbach
  6. Inklusive Pädagogik und ihre Bedeutung für relationale Prozesse
  7. Annedore Prengel
  8. Inklusion – Ein unerfüllbares Ideal?
  9. Bernd Ahrbeck
  10. Henri und das Menschenrecht auf Bildung – Inklusion im Spannungsfeld von Diversität und allgemeiner Bildung
  11. Karl-Heinz Dammer
  12. »Inklusion« und andere große Worte – oder: das stumpf gewordene Seziermesser der psychoanalytischen Kritik
  13. Günther Bittner
  14. II Schulische Chancen und Herausforderungen
  15. Risiken, Nebenwirkungen und Chancen inklusiver Beschulung
  16. Birgit Herz
  17. Inklusiver Unterricht – eine institutionelle Herausforderung
  18. Erich Otto Graf
  19. Kinder mit ADHS – Paradefall oder Problemfall der Inklusion?
  20. Rolf Göppel
  21. III Pädagogische Strukturen und Prozesse
  22. Professionalisierung als Voraussetzung für Inklusion – Vorschulförderung verhaltensauffälliger Kinder durch psychoanalytisch-pädagogisch ausgebildete Lehrkräfte
  23. Regine Prinz unter Mitarbeit von Barbara Peyrl
  24. Binnendifferenzierung und der Anspruch inklusiver Pädagogik. Zur »Optimalstrukturierung« des schulischen Feldes im Dienst der Förderung von Kindern mit erheblichen emotionalen und sozialen Problemen am Beispiel der Oskar Spiel Schule in Wien
  25. Wilfried Datler und Anita Schedl
  26. Inklusion erleben und verstehen. Work-Discussion als Praxisreflexions-Modell für inklusive Lehr-Lernprozesse
  27. Agnes Turner
  28. IV Haltungen und Forderungen der Professionellen
  29. Wie soll das werden?!« Forderungen, Befürchtungen und Hoffnungen im Kontext von Inklusion
  30. Stefanie Seifried, Frauke Janz und Vera Heyl
  31. Lassen sich Widerstände gegenüber dem Gedanken der schulischen Inklusion bildungsbiografisch verstehen? Eine Problemskizze
  32. Reimer Kornmann
  33. V Entwicklungslinien und Eigentümlichkeiten des Diskurses
  34. Von den integrativen Prozessen zur Inklusion – was bleibt auf der Strecke?
  35. Manfred Gerspach
  36. Melancholische Anmerkungen zu archaischen Zügen des sonderpädagogischen Inklusionsdiskurses
  37. Bernhard Rauh
  38. Zwischen Rechtsanspruch und pädagogischem Wagnis – Wem nützt, wem schadet die Inklusionsdebatte?
  39. Volker Fröhlich
  40. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Psychoanalytisch-pädagogische Perspektiven auf Inklusion

Rolf Göppel und Bernhard Rauh

 

 

Inklusion! Dies ist ein Thema, das derzeit sowohl in der wissenschaftlichen Diskussion als auch in der öffentlichen Debatte mit leidenschaftlichem Engagement, mit hohem moralischem Anspruch und bisweilen auch mit massiven Klagen und Vorwürfen verhandelt wird. Diese besondere emotionale Einfärbung der Diskussion deutet schon darauf hin, dass hier jenseits der nüchtern-sachlich-gelassenen Auseinandersetzung mit Daten und Konzepten auch unterschwellige Motive, verborgene Wünsche und Ängste, Abwehr- und Sicherungstendenzen etc. mit im Spiel sein könnten. Und die Auseinandersetzung mit solchen unbewussten Anteilen ist ein zentrales Anliegen der Psychoanalytischen Pädagogik. Gleichzeitig handelt es sich um ein Thema, bei dem sich Mitglieder aus dem engeren Umfeld der Psychoanalytischen Pädagogik intensiv in die Debatte eingebracht und dabei recht unterschiedlich positioniert haben. Beides sprach dafür, ein Forum zu schaffen, auf dem diese Differenzen ausführlich diskutiert werden können, wie es im vorliegenden Band realisiert wurde.

Inklusion und die Tradition der Psychoanalytischen Pädagogik

Natürlich sind die zentralen Begriffe im Titels dieses Bandes: Inklusion, idealistische Forderung, individuelle Förderung und institutionelle Herausforderung nicht genuine und traditionsreiche psychoanalytische Begriffe wie etwa »das Unbewusste«, »der Ödipuskomplex« oder »die Übertragung«.

Aber mit dem Verhältnis von Inklusion und Exklusion, von Ausschlusstendenzen und Ressentiments der kompakten Mehrheit gegenüber Minderheiten – etwa im akademischen Feld, wenn anstößige Thesen vorgetragen und unkonventionelle Methoden verwendet werden, noch dazu von Forschern jüdischer Herkunft – hat sich natürlich auch schon Sigmund Freud befasst. Und die ganze Geschichte der Tiefenpsychologie ist ihrerseits in hohem Maße geprägt von Abspaltungs- und Ausstoßungstendenzen, von Auseinandersetzungen darüber, wer wirklich dazugehört zum eigenen Lager und wer nicht.

Auch mit der doppelbödigen Rolle von idealistischen Forderungen und hehren Leitbildern hat sich die Psychoanalyse immer wieder kritisch befasst. Es sei nur an Siegfried Bernfeld und seine bissigen Bemerkungen über die »Pädagogiker« erinnert, »die unentwegt den Felsblock der pädagogischen Mittel auf den Gipfel des Idealbergs wälzten« – in seinen Augen eine »sisyphische Überhebung, von boshaften Göttern mit Mühsal und Erfolglosigkeit bestraft« (Bernfeld 1967, S. 39). Janine Chasseguet-Smirgel hat einen »Psychoanalytischen Essay« über die »Krankheit der Idealität« verfasst (1987). Im engeren Umfeld der DGfE-Kommission »Psychoanalytische Pädagogik« wäre an Günther Bittners Habilitationsschrift »Für und wider die Leitbilder« (1964) zu erinnern oder an Burkhard Müllers Buch »Die Last der großen Hoffnungen« (1991).

Im Hinblick auf den Begriff individuelle Förderung kommt natürlich die ganze Tradition der psychoanalytischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in den Sinn, bei der es ja stets darum geht, ins Stocken oder in Sackgassen geratene individuelle Entwicklungsprozesse durch ein Verstehen der speziellen intrapsychischen und interpersonellen Konfliktlagen wieder in Gang zu bringen. Primäres Ziel der individuellen Förderung sind dabei in aller Regel die seelische Gesundheit bzw. das emotionale und psychosoziale Wohlbefinden. Wenn im Zusammenhang damit dann auch noch kognitive Lernblockaden aufgelöst werden und es mit dem schulischen Lernen wieder leichter vorangeht – umso besser. Die Psychoanalytische Pädagogik hat sich in vielfältiger Weise mit Kindern und Jugendlichen, die aufgrund ihrer Lebensgeschichte und ihrer Lebenslage besondere Probleme mit den üblichen schulischen Lernformen und Lernanforderungen haben, befasst. Von daher hat sie eine fachlich begründete Nähe zur Heil- und Sonderpädagogik. Viele Vertreter der Psychoanalytischen Pädagogik haben oder hatten ihre Anbindung im akademischen Feld an heil-, sonder- oder sozialpädagogischen Instituten. Manche haben schon vor Jahrzehnten integrationspädagogische Modellprojekte initiiert und wissenschaftlich begleitet oder grundsätzliche Theoriebeiträge zu einer »Pädagogik der Vielfalt« geleistet. Auch in der aktuellen Inklusionsdebatte haben sich Kolleginnen und Kollegen aus dem Umfeld der Psychoanalytischen Pädagogik mit wichtigen Diskussionsbeiträgen zu Wort gemeldet und dabei recht konträre Standpunkte vertreten.

Und auch im Hinblick auf den Umgang von Institutionen mit neuen Herausforderungen und Veränderungszumutungen gibt es durchaus eine Tradition der psychoanalytischen Auseinandersetzung mit den Beharrungs-, Abwehr-, und Entwicklungsprozessen in Institutionen und Organisationen. Wiederum Bernfeld war es, der mit Blick auf die Schule eine »Instituetik« gefordert hat, eine Analyse der internen Funktionslogik und der subtilen Wirkmechanismen der Schule. Von Peter Fürstenau stammt ein vielzitierter Aufsatz mit dem Titel »Zur Psychoanalyse der Schule als Institution« (1979), in dem er die typischen rollenförmigen Verhaltensweisen von Lehrern und Schülern vor dem Hintergrund familiärer Übertragungsprozesse einerseits und dem Organisationszweck der Schule andererseits untersucht. Franz Wellendorfs Buch über die schulische Sozialisation, in dem er schulische Rituale und Zeremonien als typische Szenen analysiert und Probleme der biographischen Organisation von Identität im szenischen Rahmen der Schule beschreibt, trägt den Untertitel »Zur Sozialpsychologie der Schule als Institution« (1974). Weiterhin ist Stavros Mentzos »Interpersonale und institutionalisierte Abwehr« (1976) hier zu nennen.

Diesem Band liegt eine Tagung der DGfE-Kommission »Psychoanalytische Pädagogik« zugrunde, die unter dem gleichen Titel wie der vorliegende Band im Oktober 2014 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg stattgefunden hat. Es ging dabei darum zu prüfen, was die die Psychoanalytische Pädagogik mit ihrem spezifischen Blick auf Subjekte, Gruppendynamiken und Organisationsstrukturen zur Erhellung von Inklusions- und Exklusionsproblematiken beitragen kann. Als Leitfragen hierzu waren im Call for Papers die folgenden vorgegeben:

•  Welches Maß von echter Gemeinschaft, von realer Partizipation kann auf welchen Wegen für welche Kinder ermöglicht werden? Welches Maß der Anerkennung von Verschiedenheit, von Fremdheit, von Grenzen ist im Sinne des »Realitätsprinzips« erforderlich?

•  Welche Settings sind geeignet, gemeinsames Lernen trotz sehr unterschiedlicher Lernvoraussetzungen zu ermöglichen, welches Maß von professioneller Spezialisierung, von diagnostischer Objektivierung und von organisatorischer Differenzierung erscheint im Sinne der Berücksichtigung der Entwicklungsbedürfnisse des einzelnen Kindes notwendig?

•  Welche offenen und unterschwelligen Gefühle, welche Idealisierungen und Problemverleugnungen, welche Ängste und Ambivalenzen, welche Widerstände und Abwehrprozesse, welche Projektionen und Identifikationen sind im Zusammenhang mit den geforderten Veränderungen hin zu einem »inklusiven Bildungssystem« zu beachten?

•  Welche Motive und Überzeugungen, welche Sorgen und Abwehrprozesse treiben die Akteure und Verfechter einer radikalen wie auch einer gemäßigten Inklusionsforderung an? Was sind die Gründe für die oftmals zu beobachtende Schärfe des Inklusionsdiskurses?

»Institutionelle Überforderung« oder »Institutionelle Herausforderung?«

Schon im Vorfeld der Tagung gab es Einwände gegen die Titelformulierung – ursprünglich war auch noch von »institutioneller Überforderung« die Rede – und gegen die in den Leitfragen skizzierte Problemwahrnehmung: Negative Assoziationen wie »Idealisierung« und »Überforderung« würde überwiegen. Kritik an Separation, Ausgrenzung und Normalitätskonstruktionen käme ebenso zu kurz wie die Verweise auf die Beispiele gelingender Praxis.

Der Band, so wie er jetzt vorliegt, hebt in der Tat mehr auf die Schwierigkeiten und Problemseiten im Zusammenhang mit der Inklusion ab als auf die Sammlung von »best-practice-Beispielen«. Aber das ist vielleicht der Psychoanalytischen Pädagogik insgesamt etwas »in die Wolle gefärbt«, dass sie eher »skeptisch-problemorientiert« als »optimistisch-lösungsorientiert« ist, sich mehr auf die Widersprüche, Spannungen, Ambivalenzen, Konflikte und Dunkelstellen der Kommunikation konzentriert als auf die Harmonie- und Gelingensaspekte.

Der Eindruck der Herausgeber – auch aus Gesprächen mit Lehrerinnen und Lehrern, die wir als sehr offen und engagiert einschätzen – ist tatsächlich der, dass es ein beträchtliches Spannungsverhältnis gibt zwischen den »idealistischen Forderungen« (wobei »idealistisch« hier überhaupt nicht negativ gemeint ist, sondern durchaus im ursprünglichen Sinne zu verstehen ist als »von Idealen, von hehren menschenfreundlichen Zielen getragen«) und den Verunsicherungen, Ängsten und Abwehrprozessen, die angesichts der häufig völlig unzureichenden Unterstützung bei vielen Lehrkräften anzutreffen sind. Also doch vielfach Überforderung?

Eine Umfrage, die der Bayerische Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) bei 1500 Lehrerinnen und Lehrern 2012 in Bayern durchgeführt hat, macht ein Stück nachdenklich, ob es vielleicht doch richtiger gewesen wäre, den anstößigen Begriff der Überforderung mit einem Fragezeichen versehen im Titel stehen zu lassen.

Bei dieser Befragung des BLLV hielten Dreiviertel der befragten Lehrerinnen und Lehrer die Aussage: »Inklusion ist ein sehr hohes, aber nicht realisierbares Ziel« für zutreffend bzw. eher zutreffend. Etwa die Hälfte der Befragten war der Meinung, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf nicht oder eher nicht von inklusivem Unterricht profitierten. Eine große Mehrheit, nämlich 85% der Lehrkräfte, waren der Meinung, dass die Förderschule der optimale schulische Ort sei, um Kinder mit schulischem Förderbedarf angemessen zu fördern.

Nun könnte man vermuten, diese Antworttendenzen seien primär den Aussagen jener Lehrkräfte geschuldet, die bisher keine oder kaum persönliche Erfahrungen mit inklusivem Unterrichts hatten und die deshalb mit Unsicherheit und Ängstlichkeit auf die Unwägbarkeiten reagieren, die da auf sie zukommen könnten. Das Gegenteil war aber eher der Fall:

»Je mehr Praxiserfahrung, desto größer die Skepsis. Sonderpädagogen, Schulleitungen, aber auch Referendare und generell Lehrkräfte, die keine eigenen Erfahrungen mit dem Unterricht dieser Kindern haben, urteilen in der Tendenz günstiger für Inklusion als Lehrkräfte, die solche Kinder selbst an Grund- oder Mittelschulen unterrichten. Die konkrete Umsetzung von Inklusion führt bei diesen Lehrkräften häufig zu Ernüchterung« (BLLV 2012a).

Freilich hing diese Ernüchterung vor allem mit den massiven Klagen der Lehrkräfte zusammen, nicht genügend theoretisch-konzeptionelle und materielle Ressourcen für diese neuen, herausfordernden Aufgaben zur Verfügung gestellt zu bekommen, gewissermaßen alleine im Regen stehen gelassen worden zu sein. Der BLLV als Verband hat sich in seinem Positionspapier mit dem Titel »Es ist normal, verschieden zu sein« sehr klar zum Ziel der Inklusion bekannt. Er hält dies für »eine wichtige demokratische und gesellschaftliche Forderung« und stellt weiterhin klar, dass Inklusion »ein Weg ohne Alternative« sei. Dennoch warnt er davor, »Inklusion unbedacht und ohne entsprechende Ressourcen einem Schulsystem überzustülpen, das starke segregierende Strukturen aufweist. Inklusion verlangt eine grundlegende Veränderung der Schule. Dazu ist zweierlei nötig: Eine Bereitstellung von ausreichenden Ressourcen für eine erfolgreiche inklusive Schulkultur und die Bereitschaft, das Interesse und die Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, also der Pädagogen« (BLLV 2012b, S. 8).

Wenn die Lehrerinnen und Lehrer sich in dieser Befragung tendenziell so skeptisch äußern, so spricht dies natürlich nicht prinzipiell gegen die Richtigkeit der Inklusionsforderung, sondern dann könnte dies auch kritisch gegen die Lehrerschaft gewendet werden: Diese sei eben in traditionellem pädagogischen Denken verhaftet, habe die neue pädagogische Herausforderung noch nicht wirklich begriffen bzw. angenommen und es müsse nun dringend in der Lehrerbildung dafür gesorgt werden, dass die neuen Kolleginnen und Kollegen sowohl von den inneren Haltungen her als auch von den konkreten unterrichtspraktischen Fähigkeiten her besser gerüstet sind für die neue Aufgabe. Da ist zweifellos etwas dran. Dennoch sollte man die Erfahrungen und Einschätzungen der Lehrkräfte, die vor Ort mit der konkreten Umsetzung der neuen Herausforderungen konfrontiert sind, nicht einfach geringschätzig vom Tisch wischen, weil sie etwas quer stehen zum bisweilen verbreiteten Fortschritts-Pathos und zur Inklusions-Euphorie.

Die grundsätzlichen Ziele des Bandes und die Themen der einzelnen Beiträge

Es waren vor allem drei übergreifende Ziele, die der Konzeption des vorliegenden Bandes zugrunde liegen:

•  Eine wohlbegründete Darlegung, welche Veränderungsprozesse in unserem Schulsystem und in unserer Unterrichtskultur anzustreben sind, damit es den Bildungsansprüchen und Teilhabebedürfnissen möglichst aller Kinder auf möglichst hohem Niveau gerecht werden kann – was sicherlich auch idealistische Leitvorstellungen und Visionen mit einschließt.

•  Eine notwendig kritischen Auseinandersetzung mit einer wohlmeinenden, aber bisweilen etwas blauäugigen, sonntagsredenhaften Inklusionsrhetorik, welche hübsche bunte Mengenlehre-Pünktchenbilder projiziert, die realen Bedenken und Schwierigkeiten und Grenzerfahrungen aber nicht selten weitgehend ausblendet und meint, Lösungsperspektiven durch bloße Umdeutungsappelle befördern zu können (»Heterogenität als Chance«, »Celebrate Diversity«).

•  Und einer differenzierten, anschaulichen und mutmachenden Präsentation von konkreten Beispielen, von pädagogischen Situationen und Konzeptionen, in denen die angemessene individuelle Förderung von Kindern mit sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen in optimierten inklusiven Institutionen tatsächlich auch schon heute gelingt.

Dabei lassen sich die einzelnen Beiträge zu fünf thematischen Schwerpunkten bündeln:

Im ersten Teil werden grundlegende Ansprüche und Spannungsfelder thematisiert. Dieter Katzenbach erörtert zweierlei: zum einen das unaufhebbare Spannungsfeld von egalitärer Differenz und meritokratischem Prinzip, in dem sich alle Inklusionsbestrebungen zwangsläufig bewegen, und zum anderen den aktuellen Umgang mit Differenzkategorien in der psychoanalytisch orientierten Forschung. Annedore Prengel hebt die Bedeutung von relationalen Prozessen, von Beziehungsprozessen für eine Inklusive Pädagogik hervor und diskutiert dies auf verschiedenen Ebenen. Bernd Ahrbeck verweist auf die grundlegende Logik der Inklusionsdebatte, die sich zwischen einer Idealisierung der eigenen Position und einer Entwertung anderer Positionen strukturiert. Karl-Heinz Dammer versucht am Beispiel von Henri, dem Schüler mit Down-Syndrom, der von der Mutter gegen den Widerstand der dortigen Lehrerschaft an ein Gymnasium in Walldorf eingeschult werden sollte, zu klären, inwieweit Inklusion mit der Idee allgemeiner Bildung vereinbar ist bzw. umgekehrt, welche Folgen eine konsequent gedachte und praktizierte Inklusion für die allgemeine Bildung hätte. Günther Bittner setzt sich kritisch mit dem aktuellen Inklusionsdiskurs und den darin enthaltenen »großen Worten« und »emotionalen Vereinnahmungen« wie auch mit der aus seiner Sicht kraftlos gewordenen psychoanalytischen Kultur- und Ideologiekritik auseinander.

In einem zweiten Teil werden in unterschiedlichen Hinsichten die spezifischen schulische Chancen und Herausforderungen im Zusammenhang mit der Inklusion in den Blick genommen. Birgit Herz analysiert Risiken, Nebenwirkungen und Chancen inklusiver Beschulung, insbesondere im Hinblick auf einen möglichen Trend zum Einsatz von fragwürdigen Disziplinierungsprogrammen. Das wird ergänzt durch Erich Grafs institutions- und kulturanalytisch fundierte Auseinandersetzung mit den Herausforderungen, die sich durch einen gemeinsamen Unterricht für schulische Organisationen ergeben. Rolf Göppel fokussiert Kinder mit ADHS, deren Beschulung sowohl als Paradebeispiel für eine gelingende Inklusion – da die allermeisten von ihnen die Regelschule besuchen – als auch als Problemfall der Inklusion betrachtet werden kann – da das Störpotential, das von ihnen ausgeht, beträchtlich und die entsprechenden Klagen von Lehrkräften, Eltern, Mitschülerinnen und Mitschülern entsprechend heftig sind.

Im dritten Teil rücken konkrete Strukturen und Prozesse der pädagogischen Praxis ins Zentrum der Überlegungen. Agnes Turner zeigt Möglichkeiten einer psychoanalytischen Praxisreflexion (work-discussion-group) auf, wie sie für die Kooperation zwischen Lehrkräften unterschiedlicher Lehrämter und zur Reflexion der Interaktionsdynamik sowie von Ängsten und Widerständen im Dienste einer Erweiterung der Containment-Kapazität in Österreich etabliert wurde. An dem von ihr geschilderten Beispiel wird auch deutlich, wie konfliktträchtig diese Kooperation bisweilen ist und wie groß damit auch die Distanz zwischen geforderter und gelebter Inklusion. Wilfried Datler und Anita Schedl untersuchen das Setting Kleinklasse in einer allgemeinen Schule und arbeiten die Notwendigkeit der »Optimalstrukturierung« im Dienste der inklusiven Beschulung von Kindern mit erheblichen emotionalen und sozialen Problemen heraus, wie sie sich insbesondere an verlässlich eingehaltenen Abläufen und Strukturierungen zeigt. Regine Prinz und Barbara Peyrl greifen die vorschulische Förderung von verhaltensauffälligen Kindern durch psychoanalytisch-pädagogisch gebildete Lehrkräfte als Beispiel einer einschlägigen Professionalisierung und damit als Voraussetzung für das Gelingen von inklusiven Settings auf.

Haltungen und Forderungen der Professionellen im Kontext der Inklusion werden im vierten Teil zum Thema gemacht. Stefanie Seifried, Frauke Janz und Vera Heyl stellen Ergebnisse ihrer Untersuchung zu Einstellungen, Forderungen, Befürchtungen und Hoffnungen von Lehrkräften im Zusammenhang mit der Herausforderung Inklusion vor. Reimer Kornmann wählt einen bildungsbiographischen Zugang zum Verständnis der Loyalität von Lehrkräften zu selektiven schulischen Strukturen und bringt damit ein interessantes Deutungsmuster für die verbreiteten Widerstände gegenüber dem Gedanken der schulischen Inklusion ins Spiel.

In einem fünften Teil werden Entwicklungen und Eigentümlichkeiten des Inklusionsdiskurses selbst zum Gegenstand der Analyse.

Manfred Gerspach fragt nach dem, was im Zusammenhang der Ablösung des Integrationsbegriffs durch den Inklusionsbegriff, also mit dem Wechsel der Bezeichnungen und den damit zusammenhängenden subtilen Verschiebungen des Gegenstandsbereichs und des Verständnishorizonts, verloren gegangen ist. Als »melancholische Anmerkungen« charakterisiert Bernhard Rauh seine Ausführungen zum sonderpädagogischen Inklusionsdiskurs, der in weiten Teilen von Spaltungen und starken Abgrenzungen bestimmt ist und damit fast archaisch anmutet. Volker Fröhlich begibt sich in die Perspektive eines irritierten externen Beobachters, der das unbekannte Terrain der Inklusionsdebatte erforscht und in seiner Annäherung eine grundlegende Strukturlogik von Rechtsanspruch vs. pädagogischem Wagnis herausarbeitet.

Literatur

Bernfeld, S. (1925): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. In: Bernfeld, S.: Werke Bd. V: Theorie und Praxis der Erziehung. Pädagogik und Psychoanalyse, hrsg. und mit einem Nachwort von U. Herrmann, W. Datler und R. Göppel, Gießen 2013, S. 11-130.

Bittner, G. (1964): Für und wider die Leitbilder. Heidelberg.

BLLV (2012a): Inklusion: Gut gemeint aber schlecht umgesetzt. BLLV-Befragung unter Lehrkräften offenbart gravierende Mängel. www.bllv.de/Befragung-Inklusion.8165.0.html (Abruf: 5.3.2015).

BLLV (2012b): Inklusion an Bayerns Schulen – Lehrerbefragung. www.bllv.de/fileadmin/Dateien/Land-PDF/Wissenschaft/Befrag_Inklusion_Bericht.pdf (Abruf 5.3.2015).

Chasseguet-Smirgel, J. (1987): Das Ichideal: Psychoanalytischer Essay über die »Krankheit der Idealität«. Frankfurt/M.

Fürstenau, P. (1979): Zur Psychoanalyse der Schule als Institution. In: Fürstenau, P.: Zur Theorie psychoanalytischer Praxis. Psychoanalytisch-sozialwissenschaftliche Studien. Stuttgart.

Mentzos, S. (1976): Interpersonale und institutionalisierte Abwehr. Frankfurt/M.

Müller, B. (1991): Die Last der großen Hoffnungen. Methodisches Handeln und Selbstkontrolle in sozialen Berufen. Weinheim.

Wellendorf, F. (1974): Schulische Sozialisation und Identität. Zur Sozialpsychologie der Schule als Institution. Weinheim.

 

 

 

 

 

I          Grundlegende Ansprüche und Spannungsfelder

Inklusion, psychoanalytische Pädagogik und der Differenzdiskurs

Dieter Katzenbach

1          Integration, Inklusion, Differenz

Je länger über Inklusion diskutiert wird, desto unklarer scheint zu werden, was mit Inklusion überhaupt gemeint ist. Häufig wird betont, dass Inklusion etwas anderes sei als Integration, aber worin dieses Andere nun genau besteht, bleibt dann häufig im Dunkeln. An einer Stelle scheint aber im Fachdiskurs hinsichtlich der theoretischen Differenzierung zwischen Integration und Inklusion ein Konsens zu bestehen. Integration nimmt ihren Ausgangspunkt an der Unterscheidung behindert/nicht-behindert. Ihre Programmatik trägt diese Unterscheidung ja explizit im Titel: Gemeinsamer Unterricht behinderter und nicht-behinderter Kinder, so heißt es bezogen auf Schule. Inklusion hingegen orientiert sich konzeptuell am Begriff der Vielfalt beziehungsweise der Diversität. Ausgangspunkt ist hier die Überlegung, dass sich Menschen hinsichtlich vieler Merkmale unterscheiden und eine inklusive Pädagogik mahnt einen gerechten Umgang mit dieser menschlichen Vielfalt an. Daher bezieht sie sich auch nicht nur auf die Kategorie Behinderung, eine Auffassung, die sich weltweit durchzusetzen scheint.

»In several countries, inclusion is still thought of simply as an approach to serving children with disabilities within general education settings. Internationally, however, it is increasingly seen more broadly as a reform that supports and welcomes diversity amongst all learners. It presumes that the aim of inclusive education is to eliminate social exclusion resulting from attitudes and responses to diversity in race, social class, ethnicity, religion, gender and ability« (UNESCO 2008, S. 5).

Der Inklusionsdiskurs ist mithin in einen größeren Kontext eingebettet, nämlich in die Frage nach dem Umgang mit Differenz. Und es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass der Umgang mit Differenz eines der zentralen Themen der Sozial- und Erziehungswissenschaften des angehenden 21. Jahrhunderts darstellt (Ricken/Reh 2014, Prengel 2015).

Die Psychoanalyse hat sich besonders in der als Ethnopsychoanalyse bezeichneten Forschungsrichtung mit der Frage des Umgangs mit Differenz befasst, hier vor allem unter dem Aspekt des Umgangs mit dem Fremden. Ein kürzlich erschienener Beitrag Haubls zu Behindertenfeindlichkeit lässt sich in die Theorietradition der psychoanalytischen Betrachtung des gesellschaftlichen Umgangs mit Differenz einordnen. Haubl argumentiert sinngemäß, dass die Konfrontation mit Behinderung für nichtbehinderter Menschen eine Bedrohung ihres narzisstischen Gleichgewichts darstelle. Denn, so Haubl:

»Unsere narzisstische Integrität beruht auf drei positiven Illusionen, die unsere Handlungsfähigkeit sichern […]:

1.    Ich bin unverletzlich. Mir kann nie etwas passieren. […]

2.    Die Welt ist geordnet. Folglich sind die Ereignisse in ihr vorhersehbar. Und was ich vorhersehen kann, das kann ich auch kontrollieren. […]

3.    Guten Menschen passiert Gutes, schlechten Menschen passiert Schlechtes.« (Haubl 2015, S. 110 f.)

Die Begegnung mit Menschen mit Behinderung bedrohe die Aufrechterhaltung dieser Illusionen und mobilisiere daher archaische Ängste. Die Separierung behinderter Menschen in spezialisierten Einrichtungen erspare der Mehrheitsgesellschaft die Konfrontation mit Behinderung und schütze damit vor der Auseinandersetzung mit der Angst um die eigene leibliche Unversehrtheit, mit der Angst vor Kontrollverlust und der Angst vor der Infragestellung der moralischen Ordnung. Die weitverbreiteten Vorbehalte gegen Inklusion lassen sich aus dieser Perspektive auch als Rationalisierungen, als Abwehr dieser Ur-Ängste lesen. Letztlich sei dem nur entgegenzuwirken, so Haubl, in dem es eben doch zu Begegnungen von Menschen mit und ohne Behinderung komme. Freilich gibt Haubl zu bedenken, dass die Schaffung von Begegnungsmöglichkeiten allein nicht ausreiche, denn diese sagten noch nichts über die »soziale Gestaltung dieser Begegnung« (ebd., S. 114) aus. Es komme vielmehr darauf an, sich seinen Ängsten zu stellen (ebd.).

Auch Ahrbeck greift in seiner Kritik der Inklusion aus einer psychoanalytischen Perspektive den Differenz-Topos auf, gibt ihm allerdings eine andere Konnotation: Für Ahrbeck werden im Inklusionsdiskurs völlig überzogene Heilsvorstellungen transportiert, die ihren Ausgangspunkt in der Verleugnung von als bedrohlich wahrgenommenen Differenzen nehmen (2014, S. 79 ff.). In der Debatte um den Verzicht auf die Klassifizierung nach sonderpädagogischen Förderschwerpunkten sieht er den untauglichen Versuch, eine offensichtliche, aber eben nur schwer erträgliche Realität dadurch verändern zu wollen, in dem man ihr die Begriffe entzieht. Ahrbeck sieht in den populären Redeweisen wie: »Es ist normal, verschieden zu sein« letztlich nur Verlegenheitsformeln, die nur einem Zweck dienen würden, »nämlich zu überdecken, dass der Integrationssemantik ein positiver Begriff von Ungleichheit fehlt« (2014, S. 83). Interessant im vorliegenden Kontext ist dabei sein Verständnis von Differenz:

»Um Differenzen zu markieren bedarf es zweier ungleicher Pole: einen positiven und einen negativen. Gute Leistungen sind besser als schlechte, auch dann, wen man ein unterschiedliches Bemühen und ungleiche Ausgangslagen in Rechnung stellt. Begabte Menschen unterscheiden sich von Unbegabten, ohne Wertung macht diese Unterscheidung keinen Sinn« (2014, S. 81).

Für Ahrbeck scheint es unumgänglich, dass der Wahrnehmung und Benennung einer Differenz auch ein wertendes Beurteilen im Sinne von Besser–Schlechter innewohnt. Dies werde von weiten Teilen des Inklusionsdiskurses systematisch ausgeblendet – um den Preis einer gewaltigen Realitätsverleugnung. Diese Realitätsverleugnung erfordere aber eine Abwehrleistung, die auf Dauer nicht stabil zu erbringen sei, so Ahrbeck an anderer Stelle (2011, S. 79). Die verdrängten Inhalte würden dann, so die psychodynamische Grunderkenntnis, in verkleideter Form wieder ihren Weg ins Denken und Handeln finden, dann aber nicht mehr diskursiv zugänglich sein.

Er spricht in diesem Zusammenhang von einer »übertriebene[n] Sorge, durch Diagnosestellungen zu schädigen, eine überzogene Angst, durch einen fachlich geschulten Blick zu behindern, zu pathologisieren, zu diskriminieren« (2011, S. 73). Vor diesem Hintergrund stellt er die folgenden Fragen:

»Was ist eigentlich so schlimm daran, wenn in eine Fachsprache gefasst wird, dass eine konkrete Person blind ist oder eine starke Sehbehinderung aufweist? Was ist so unerträglich an einem besonders langsam und wenig erfolgreich lernenden Kind, dass es sich verbietet, seine Schwierigkeit kategorial zu benennen? Warum dürfen gravierende psychische und soziale Probleme, die Kinder zu massiven Verhaltensstörungen führen, nicht als solche in einer klarifizierenden Fachsprache begrifflich gefasst werden? Warum soll man nicht anerkennen und entsprechend benennen, dass Menschen durch eine massive Beeinträchtigung ihrer sprachlichen oder intellektuellen Fähigkeiten im Leben ernsthaft behindert sind? Oder auch deshalb, weil sie kaum noch etwas oder (fast) gar nichts mehr hören?« (Ahrbeck 2011, S. 73).

Interessanterweise ist dies der gleiche Typus Fragen, die in den Debatten der Erziehungs- und Sozialwissenschaften im Umgang insbesondere mit den Differenzlinien Kultur und Geschlecht einen breiten Raum einnehmen und wie sie auch von den Disability Studies gestellt werden. Was kommt darin zum Ausdruck und welche Folgen hat es, individuell wie gesellschaftlich, wenn Menschen bzw. Gruppen von Menschen mit bestimmten Begriffen oder kategorialen Zuordnungen belegt werden?

In der Migrationspädagogik wird hier im Anschluss an Said von »Othering« gesprochen: »Das Konzept des Othering erläutert, wie die ›Fremden‹ zu ›Fremden‹ gemacht werden und dabei gleichzeitig ein ›Wir‹ konstruiert wird, welches anders als das fremde ›Nicht-Wir‹ beruhigend unambivalent, ohne grundlegende Spannungen erscheint und darin eine sichere Gemeinschaft symbolisiert« (Varela/Mecheril 2010, S. 42). Ahrbeck hingegen geht seinen Fragen in der Folge nicht mehr systematisch nach, offensichtlich weil sie rhetorisch gemeint sind. Damit appelliert er an eine vermeintliche Selbstverständlichkeit und nimmt meines Erachtens genau jene Form von Essentialisierung der Differenzkategorie Behinderung vor, wie sie von den zuvor genannten Theoriesträngen nachdrücklich problematisiert wird.

Dies ist folgenreich für eine Positionierung der Psychoanalytischen Pädagogik im Inklusionsdiskurs. Denn wenn sich herausstellt, dass man an dieser zentralen Stelle, nämlich der Konzeptualisierung von Differenz, von diametral unterschiedlichen Prämissen ausgeht, dann ist zu befürchten, dass der Dialog zwischen Psychoanalytischer Pädagogik und Inklusionspädagogik nicht sonderlich befruchtend wirkt, sondern von wechselseitigen Missverständnissen und Vorwürfen überlagert wird.

Es scheint mir daher lohnend, sich mit dem Differenzbegriff noch einmal etwas grundlegender auseinanderzusetzen. Ich möchte dies in drei Schritten tun: Zunächst werde ich den in der Inklusionspädagogik diskutierten Differenzbegriff darstellen. Danach werde ich auf die umfassender geführte Debatte des Differenzbegriffs in den Sozial-, Kultur- und Erziehungswissenschaften eingehen. Und schließlich möchte ich ein exemplarisches Schlaglicht darauf werfen, inwieweit diese Diskurse von der Psychoanalyse rezipiert wurden. Schlussendlich geht es um die Folgen, die sich hieraus für das Verhältnis von Psychoanalytischer Pädagogik und Inklusionspädagogik ergeben.

2          Der Differenzbegriff der Inklusionspädagogik

In der Diskussion um den Begriff von Behinderung wird üblicherweise unterschieden zwischen einem medizinisch geprägten individuumszentrierten Behinderungsmodell, das Behinderung primär als Merkmal der Person fasst, und einem sozialen Behinderungsmodell, das die Wechselwirkung zwischen Person und Umwelt fokussiert.

2.1        Vom Krankheitsfolgenmodell zum bio-psycho-sozialen Behinderungsbegriff

Schon in der im Jahr 1980 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorgelegten International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH) wurde ein soziales Modell von Behinderung angelegt. Man unterschied hier in einem Dreischritt zwischen (1) der körperlichen oder geistigen Schädigung, (2) den dadurch bedingten Funktionseinbußen und (3) den sich hieraus ergebenden Einschränkungen der sozialen Teilhabe. In diesem als Krankheitsfolgenmodell bezeichneten Konzept ist der soziale Bezug von Behinderung bereits hergestellt, allerdings wurde die Teilhabeeinschränkung hier noch als individuell bedingte, kausale Folge der Schädigung aufgefasst. 2001 wurde die ICIDH von der International Classification of Functioning, Disabality and Health (ICF) abgelöst, in der sich die WHO explizit zu einem bio-psycho-sozialen Modell von Behinderung bekennt: »Die ICF verwendet den Begriff ›Behinderung‹, um das mehrdimensionale Phänomen zu bezeichnen, das aus der Interaktion zwischen Menschen und ihrer materialen und sozialen Umwelt resultiert« (WHO 2001, S. 310). Die anschließende Passage verdeutlicht, dass hier ein grundlegender Perspektivwechsel zumindest angestrebt wird:

»An dieser Stelle ist es noch einmal wichtig zu betonen, dass die ICF keine Klassifikation von Menschen ist. Sie ist eine Klassifikation der Gesundheitscharakteristiken von Menschen im Kontext ihrer individuellen Lebenssituation und den Einflüssen der Umwelt. Die Interaktion zwischen Gesundheitscharakteristiken und Kontextfaktoren resultiert in Behinderungen« (ebd.).

Für Schuntermann wird, »die alte Streitfrage, ob eine Person im Sinne der ICF behindert ist oder behindert wird, […] mit dem bio-psycho-sozialen Modell dialektisch gelöst, da ›Behinderung‹ als negative Wechselwirkung zwischen dem Gesundheitsproblem […] und den Kontextfaktoren […] einer Person betrachtet wird« (2005, 37; Herv. im Orig.). Die veränderte Denkweise wird in diesen Zitaten deutlich: Auch aus der medizinisch-rehabilitativen Perspektive der Weltgesundheitsorganisation wird Behinderung nicht mehr allein als Personenmerkmal, sondern als Wechselwirkungsgeschehen zwischen Person und Umwelt gesehen. Hier gewinnt der Begriff der Barriere eine besondere Bedeutung, wie es in der Präambel der UN-Behindertenrechtskonvention deutlich zum Ausdruck kommt:

»(e) in der Erkenntnis, dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern« (UN-BRK Präambel).

An die Stelle der Aufzählung negativ bewerteter Merkmale wird also das neutralere Konstrukt eines – erschwerten – Passungsverhältnisses gesetzt. Das wiederum eröffnet den Anschluss an die Theoriefigur der egalitären Differenz, die von Prengel (1993, 2001) in die Inklusionsdebatte eingeführt wurde.

2.2        Inklusion, egalitäre Differenz, soziale Ungleichheit, Meritokratie

Mit dem von Honneth (1992) geprägten Begriff der egalitären Differenz ist die Idee gemeint, Unterschiede zwischen Menschen wahr- und ernstzunehmen, ohne diese Unterschiede in ein hierarchisches Verhältnis von besser und schlechter beziehungsweise normal versus abweichend zu setzen. Nach Honneth sei die Neigung, Unterschiede unmittelbar in eine hierarchische Ordnung zu bringen, in unserem Denken tief verwurzelt. Die oben zitierte Bemerkung Ahrbecks, wonach es zweier ungleicher Pole bedürfe: eines positiven und eines negativen, um Differenzen zu markieren, folgt genau dieser Denkfigur. Unterschiede zu benennen scheint hier unmittelbar zu implizieren, sie auf einer Skala von gut bis schlecht zu ordnen.

Genau das wird mit der Idee der egalitären Differenz bestritten, was sich wahrscheinlich am einfachsten an der Geschlechterdifferenz plausibilisieren lässt: Wie sollte man die Geschlechter den »ungleichen Polen« zuordnen, beziehungsweise welches Geschlecht soll dem positiven und welches dem negativen Pol zugerechnet werden? Die Denkfigur der egalitären Differenz betont die Gleichwertigkeit in der Unterschiedlichkeit und ist damit natürlich in hohem Maße anschlussfähig an die Grundintention der Inklusion: In Abkehr von der traditionellen Defizitperspektive auf Behinderung ist ein Leben mit einer Beeinträchtigung zwar als anders, aber eben nicht als schlechter als ein Leben ohne Beeinträchtigung anzusehen.

So einleuchtend die Idee der egalitären Differenz auch sein mag, so liegt ihre Problematik in der Gefahr ihrer Übergeneralisierung. Denn wenn alle Unterschiede zwischen Menschen und menschlichen Lebenslagen bloß als anders, aber nicht mehr als besser oder schlechter bezeichnet werden dürften, wie sollte man dann noch Erfahrungen subjektiven Leidens ausdrücken können. Wenn alle Unterschiede zwischen Menschen und ihren Lebensverhältnissen nur noch als anders, aber nicht mehr als besser oder schlechter angesehen werden dürfen¸ würde man sich selbst die Grundlage der Kritik gesellschaftlicher Missstände und sozialer Ungerechtigkeit entziehen.

In der soziologischen Differenzdebatte hat sich daher die Unterscheidung zwischen horizontaler und vertikaler Differenz eingebürgert (Lutz/Wenning 2001). Horizontale Differenz bezieht sich auf die Unterschiede zwischen Menschen oder sozialen Gruppen unter der prinzipiellen Maßgabe ihrer Gleichwertigkeit, während es bei vertikaler Differenz im Gegensatz dazu gerade um die Untersuchung gesellschaftlicher Hierarchien geht. Walgenbach (2014, S. 26 f.) konstatiert, dass im bildungspolitischen Diskurs um Heterogenität diese beiden Dimensionen häufig unzulässig miteinander vermischt würden.

Die Unterscheidung zwischen horizontaler und vertikaler Differenz ist für die Inklusionsdebatte insofern von zentraler Bedeutung, als marktwirtschaftlich organisierte Gesellschaften nicht darauf angelegt sind, vertikale Differenz zum Verschwinden zu bringen. Im Gegenteil: Die Verteilung knapper Güter wie Geld, Macht und Ansehen ist wettbewerbsförmig angelegt, und aus diesem Wettbewerb ziehen marktwirtschaftliche Gesellschaften ihre Dynamik. Die Wettbewerbsform soll die motivationale Basis individueller Leistungserbringung sichern und gilt nach der dominierenden Lesart als Garant für individuellen und gesamtgesellschaftlichen Wohlstand und Fortschritt. Anders als in der feudalen soll in der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr der Stand bei der Geburt, sondern die individuelle Leistung über die soziale Position und das Einkommen entscheiden. Soziale Ungleichheit wird legitimiert durch das meritokratische Prinzip, also die Besten-Auslese, auch wenn dieses bekanntlich nirgendwo vollständig realisiert ist. Die in den letzten Jahren wieder intensiv geführte Debatte um milieubedingte Ungleichheiten im Bildungserfolg stellt das Prinzip ja nicht in Frage, sondern kritisiert im Gegenteil seine permanente Verletzung.

Nun stehen die Figur der egalitären Differenz, also die unbedingte Wertschätzung des Einzelnen ungeachtet seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten, und das meritokratische Prinzip, also die Vergabe knapper Güter über eine Bestenauswahl, ganz offensichtlich in einem Spannungsverhältnis. Und ebenso offensichtlich ist es, dass die Schule einer der gesellschaftlichen Orte ist, an denen dieses Spannungsverhältnis ausgetragen werden muss. Fend (2006) hat in seiner Theorie der Schule deutlich gemacht, dass der Schule neben ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag auch eine Allokations- und Legitimationsfunktion zukommt. Mit der Allokationsfunktion ist gemeint, dass die Schule eine Institution der sozialen Platzzuweisung ist, indem sie, spätestens durch die Vergabe von Abschlusszeugnissen und das daran geknüpfte Berechtigungswesen, biographische Möglichkeiten eröffnet, oder eben auch verschließt. Die Allokationsfunktion der Schule wird durch das meritokratische Prinzip begründet und die Legitimationsfunktion von Schule besteht darin, den Schülerinnen und Schüler zu vermitteln, dass die so hergestellte soziale Ordnung auch gerechtfertigt ist.

Das alles gilt auch ohne Inklusion. Aber Inklusion verschärft das Spannungsverhältnis ungemein. Im Inklusionsdiskurs wird meines Erachtens systematisch vernachlässigt, wie tief die Allokationsfunktion in das schulische Geschehen eingelagert ist (vgl. hierzu Katzenbach 2012). Dieses Spannungsverhältnis wird nicht aufzuheben sein, aber es gilt intelligent damit umzugehen. Es ist übrigens auch in die UN-BRK eingelassen. So enthält der Artikel 24: Bildung in Absatz (2) die vielzitierte Passage, dass »Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden« dürfen. Hier wird ein Recht auf Teilhabe formuliert, dessen Begründung auf die Idee egalitärer Differenz zurückzuführen ist. Der gleiche Artikel 24 (2) enthält ebenfalls die Formulierung, wonach »angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen getroffen werden« müssen. Diese angemessenen Vorkehrungen für den Einzelnen rekurrieren nun auf eine Form des Nachteilsausgleichs, die gerade nicht mit der Idee der egalitären Differenz begründet werden kann. Denn ein Nachteil kann nicht in den Begriffen von anders, sondern nur in den Kategorien von besser/schlechter ausgedrückt werden und insofern wird hier nicht an egalitäre Differenz appelliert, sondern vielmehr an ein Recht zum Ausgleich einer ansonsten als unfair empfundenen vertikalen Differenz.

Inklusion verschärft damit ein Spannungsfeld, das letztlich im Wertesystem moderner Gesellschaften angelegt ist. Insofern sind hier keine einfachen Lösungen zu erwarten, es braucht aber auch keine überbordenden Zuspitzungen wie sie etwa der Kultusminister des Landes Brandenburg formuliert hat, Inklusion sei Kommunismus für die Schule (Brodkorb 2012, S. 21 ff.). Zumindest haben Länder wie Kanada, Italien oder Norwegen gezeigt, dass ein Verzicht auf Sonderschulen möglich ist, auch unter Beibehaltung einer marktwirtschaftlichen Grundordnung.

3          Über das soziale Modell von Behinderung hinaus

Nun gehen die gegenwärtigen Debatten in der Sozialphilosophie, den Sozial- und Kulturwissenschaften, insbesondere in den Disability Studies und auch in der Erziehungswissenschaft noch deutlich über diese Unterscheidung zwischen horizontaler und vertikaler Differenz hinaus. Hier wird um das Begriffspaar relativer und radikaler Differenz gerungen. Ich möchte dies zunächst am Beispiel der Disability Studies zeigen.

3.1        Zwischen Natur und Kultur: Der Behinderungsbegriff der Disability Studies

Im Fachdiskurs hat sich das bio-psycho-soziale Modell von Behinderung durchgesetzt, auch wenn seine praktischen und theoretischen Implikationen noch längst nicht vollständig ausgelotet zu sein scheinen. Aus der Perspektive der Disability Studies gehen diese Überlegungen allerdings immer noch nicht weit genug.

»Während das soziale Modell Behinderung auf der Ebene von Gesellschaft und damit gesellschaftlicher Verantwortung zurechnet, gilt die gesundheitliche Beeinträchtigung als biologisch-medizinisch begründet und insofern als nicht weiter problematisierbar« (Waldschmidt 2005, S. 21).

Schon in der WHO-Definition von 1980 ist die Unterscheidung zwischen Beeinträchtigung und Behinderung angelegt. Diese basiere auf einer Gegenüberstellung von Natur und Kultur, die ausblende, dass nicht nur die Behinderung als soziale Konstruktion zu verstehen sei, sondern »dass auch Schädigungen und Beeinträchtigungen […] ebenfalls als historisch und kulturell kontingente Phänomene begriffen werden müssen«, so Waldschmidt (2009, S. 131). Damit wird nach meinem Verständnis nicht bestritten, dass es Phänomene bzw. Phänomenbereiche gibt, die vor- oder außersprachlich existieren. Aber sobald ich diese benenne, ja im Akt der Benennung selbst, fließen zwangsläufig kulturell geprägte Muster und Vorannahmen mit ein.

»Allen Vertretern und Vertreterinnen der Disability Studies geht es um den Versuch, Behinderung als soziale Konstruktion zu konzeptualisieren, d.h. gesundheitsrelevante Differenz wird nicht als (natur-)gegeben verstanden, im Sinne einer vermeintlich objektiv vorhandenen, medizinisch-biologisch definierbaren Schädigung oder Beeinträchtigung, sondern als historisches, kulturelles und gesellschaftliches Differenzierungsmerkmal« (ebd., S. 130).

Der Verzicht auf die Kategorie Behinderung stellt dabei für die Disability Studies keine ernsthafte Option dar, weder in theoretischer noch in praktischer Hinsicht (Köbsell 2015, S. 125 ff.). Behinderung bleibt die erkenntnisleitende Kategorie, aber das Erkenntnisinteresse geht über die Analyse der Lebenslage der so bezeichneten Menschen deutlich hinaus:

»Gezeigt werden soll, dass Identität kulturell geprägt und von Deutungsmustern des Eigenen und Fremden bestimmt wird. Folglich nehmen die am kulturellen Modell orientierten Arbeiten die Erfahrungen aller Gesellschaftsmitglieder als Ausgangspunkt: Sie benutzen Behinderung als erkenntnisleitende Kategorie, deren Untersuchung kulturelle Praktiken und gesellschaftliche Strukturen vom Vorschein bringt, die sonst unerkannt geblieben wären. Mit diesem kulturwissenschaftlichen Ansatz wird die Perspektive umgedreht und zugleich erweitert: Nicht behinderte Menschen als Randgruppe, sondern die Mehrheitsgesellschaft wird zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand« (Waldschmidt 2009, S. 32; Herv. DK).

Die oben zitierten Fragen, wie sie von Ahrbeck aufgeworfen wurden, sind Gegenstand einer eigenständigen Forschungsrichtung geworden, und es scheint offenbar keine einfachen Antworten zu geben. Auf jeden Fall lässt der entwickelte Kenntnisstand es nicht mehr zu, diese Fragen auf alltagstheoretischem Niveau zu behandeln. Die im Folgenden diskutierte Unterscheidung zwischen relativer und radikaler Differenz mag dazu dienen, den Blick auf diese Problematik weiter zu schärfen.

3.2        Relative und radikale Differenz

Angeregt durch die Arbeiten von Derrida und Levinas, aber auch unter Rückgriff auf Adornos Figur des »Nichtidentischen« wird in der Sozialphilosophie die Unterscheidung zwischen relativer und radikaler Differenz diskutiert. Relative Differenz beziehe sich immer auf empirisch vorfindbare Merkmale. Damit sei sie zwingend auf ein übergreifendes Kriterium angewiesen, auf das bezogen der Vergleich überhaupt erst Sinn ergebe:

»Die Verschiedenheit zwischen Individuen ist insofern relativ, als sie auf eine übergreifende, die Vergleichs- und Unterscheidungsmerkmale liefernde Totalität (etwa: die Herkunft, die Sprache oder die Kultur) bezogen bleibt« (Dederich 2013, S. 42).