Olaf Fritsche

Der geheime Tunnel

Band 7

Knappe Landung auf dem Mond

Mit Illustrationen von Barbara Korthues

Ein Fahrzeug für Entdecker

«UUUUAAAAAA …»

Schreiend wirbelte Albert durch die Luft. Dann landete er der Länge nach auf einem Stapel von Matratzen. Staub wirbelte auf und hüllte ihn in eine trübe graue Wolke. Nicht zum ersten Mal. Schon seit dem frühen Morgen experimentierten er und sein Freund Magnus an einem neuen Rollstuhl für Albert herum. Einer selbstgebastelten Spezialanfertigung, wie es sie nirgendwo zu kaufen gab. Keine leichte Aufgabe. Vor allem, wenn man bedachte, dass die beiden erst zehn Jahre alt waren. Doch es gab einen besonderen Grund dafür, dass sie diesen Rollstuhl auf eigene Faust entwickeln wollten. Oder eigentlich sogar zwei Gründe. Erstens schraubte und feilte Magnus für sein Leben gern an allen möglichen Dingen herum. Und zweitens war der Rollstuhl Teil eines Geheimprojekts. Mit ihm wollte Albert nämlich nicht einfach nur durch die Stadt fahren, Basketball spielen oder am Strand durch den Sand rollen. Nein, sein Ziel waren Abenteuer. Abenteuer, wie sie gewöhnliche Menschen in ihrem ganzen Leben nicht bestehen müssen. Albert wollte mit seinem neuen Gefährt direkt in die Vergangenheit reisen. In längst zurückliegende Zeiten voller offener Fragen und Rätsel.

Vorausgesetzt, Magnus und er würden endlich die vielen kleinen Macken in den Griff bekommen, die ihre Entwicklung im Moment noch hatte.

«Ich glaube, die Feder ist zu stramm gespannt», sagte Magnus und kratzte sich mit einem Schraubenzieher hinter dem linken Ohr. Quer über sein Gesicht zogen sich ölige Schmierstreifen. «Der Faltmechanismus ist schon wieder von selbst losgegangen.»

«Das hab ich gemerkt», ächzte Albert. Er drehte sich auf dem Matratzenstapel um und schob sich mit den Händen zurück zum Rollstuhl. Seit einem Verkehrsunfall vor ein paar Jahren konnte er seine Beine nicht mehr bewegen. Mit Hilfe von Magnus zog er sich auf die Sitzfläche. «Also lockern wir die Feder ein bisschen und probieren es nochmal», meinte er verbissen.

«Wollen wir nicht lieber vorher eine Pause machen?», fragte Magnus vorsichtig nach. «Du bist in den letzten Minuten mehr durch die Gegend geflogen als Superman in einem ganzen Monat.»

«Kommt nicht in die Tüte!», wiegelte Albert sofort ab. «Erst, wenn wir diesen verfluchten Spezialrollstuhl gebändigt haben, kann ich mit euch durch den geheimen Tunnel. Also drehen wir so lange an den Einstellungen herum, bis er mich nicht mehr als Wurfgeschoss benutzt!»

Magnus seufzte. Irgendwie konnte er Albert verstehen. Er selbst war zusammen mit ihrer gemeinsamen Freundin Lilly schon mehrfach in der Vergangenheit gewesen. Sie waren mit dem Maler und Erfinder Leonardo da Vinci von einem Steilhang gesegelt, hatten den Schatz von Troja entdeckt, waren mit Kolumbus nach Amerika gefahren, hatten einen schwarzen Ritter kennengelernt und bei den alten Olympischen Spielen zugesehen. Seit kurzem hatte Magnus sogar einen waschechten Indianernamen: Schüttelnde Hand. Den hatte er sich beim Stamm der Lakota verdient, als Lilly und er im Amerika des 19. Jahrhunderts gewesen waren.

Doch bei all diesen Abenteuern war Albert nicht dabei gewesen. Denn der Weg in die Vergangenheit führte durch einen Tunnel, den die drei erst vor einiger Zeit entdeckt hatten. Sein Eingang lag im Keller der alten Villa, in der Albert und sein Vater wohnten. Und blöderweise war dieser Eingang zu eng für Alberts normalen Rollstuhl. Deshalb musste er jedes Mal alleine im Keller zurückbleiben und aufpassen. Kein Wunder also, dass er so fest entschlossen war, endlich auch einmal mitzukommen in das Damals. Und dafür brauchte er eben einen Rollstuhl, der sich auf Knopfdruck ganz schmal machen konnte.

«Es könnte auch an der Verzögerungsschaltung liegen», überlegte Magnus. Er kniete sich hinter den Stuhl, griff einen Schraubenschlüssel und drehte eine Mutter halb herum. «Probier es jetzt mal!»

Albert schloss vorsichtshalber die Augen. Er drückte den Knopf, und – Klack! – nichts passierte.

«Hmm, das war wohl nicht riiIIIIIHHHHH …»

Erneut landete er auf den Matratzen. Nur diesmal um ein paar Sekunden verzögert. Magnus schaute ihm nach.

«Nee, das war es wohl auch nicht», stellte er frustriert fest. «Vielleicht wäre es einfacher, wenn wir versuchen, einen Trank zu brauen, der dir Federn wachsen lässt?»

«Gar nicht komisch!», knurrte Albert, doch er grinste dabei. «Fliegen ist etwas für echte Vögel. Oder was meinst du, Merlin?»

Vom Tunneleingang her kam eine Dohle angeflogen und setzte sich auf Alberts Schulter. Merlin war als Küken aus dem Nest gefallen, und Albert hatte ihn liebevoll aufgepäppelt. Seitdem blieb der Vogel freiwillig bei ihm und seinen Freunden und machte während der Zeitreisen sogar Botenflüge zwischen dem Damals und dem Jetzt. Misstrauisch beäugte er nun den bockenden Rollstuhl.

«Na, funktioniert es inzwischen? Oder spielt ihr immer noch Steinschleuder und lebende Kanonenkugel?», fragte eine Stimme aus dem Tunnel.

Lilly kam in den Keller gehüpft. Sie war wie immer ein wenig zappelig, sodass ihr rotblonder Pferdeschwanz lustig auf und ab wippte. Normalerweise trug sie die Haare offen, doch diese Veränderung war nichts im Vergleich dazu, wie sie angezogen war. Lilly hatte nämlich einen Rock an. Und das war in etwa so ungewöhnlich wie ein Gorilla mit Zahnspange, der in der Fußgängerzone Geige spielte. Lilly hasste Röcke und alle anderen Dinge, die sie vom Herumtoben abhalten konnten. Deshalb gab es nur eine Gelegenheit, zu der sie sich freiwillig in einen Rock oder ein Kleid zwängte, und das war eine Zeitreise. Denn Mädchen und Frauen durften blöderweise fast die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch keine Hosen tragen. Wer dagegen verstieß, konnte ziemlichen Ärger bekommen. Und Ärger war das Letzte, was man sich in einer fremden Zeit einhandeln sollte.

«Oh, schon wieder da?», fragte Magnus überflüssigerweise. «Ihr seid doch gerade erst losgegangen.»

«Na, das kommt, weil die Zeit im Damals schneller vergeht als im Jetzt», erklärte Lilly. «Du weißt doch: Eine Stunde hier ist ein Tag im Früher. Und wir waren gute zwei Stunden drüben. Das sind dann also hier …» Sie legte die Stirn in angestrengte Rechenfalten.

«… fünf Minuten», rettete Albert sie aus der Verlegenheit. Er war der kluge Kopf im Team. Und außerdem hatte er reichlich Erfahrung darin, den Zeitunterschied zwischen Damals und Heute blitzschnell zu berechnen. Schließlich musste er als Wachposten im Keller bislang bei jedem Abenteuer damit zurechtkommen. Auch wenn er keine Ahnung hatte, warum die Zeit im Früher so davonraste. Jedenfalls war das ungeheuer praktisch, denn dadurch konnten Lilly und Magnus beruhigt eine ganze Woche in der Vergangenheit verbringen und trotzdem rechtzeitig zum Abendessen zu Hause sein. Und wenn sie ihren Eltern erzählten, dass sie bei Albert übernachteten, blieb ihnen sogar ein guter Monat Zeit.

«Und Tante Amelie?», wollte Albert wissen. Seine Stimme klang ein wenig besorgt. Merlin, Lilly und seine Tante waren vor wenigen Minuten zu dritt in den Tunnel gegangen, um ihr Ziel für das nächste Abenteuer ein wenig auszukundschaften. Aber bis jetzt waren nur Lilly und die Dohle zurückgekehrt. «Wo ist die denn abgeblieben? Hat sie etwa Schwierigkeiten?»

Lilly zog eine beleidigte Miene, die sagen sollte: «Meinst du, ich hätte sie dann im Stich gelassen und wäre abgehauen?» Sie und Magnus hatten in der Vergangenheit schon so manche knifflige Situation erlebt und immer fest zusammengehalten.

«Tante Amelie ist …», begann sie.

«… nicht mehr ganz so jung wie ihr», japste eine zweite Stimme aus dem Tunnel. Albert und Magnus wandten den Blick zum Eingang und sahen, wie eine hübsche kleine Frau mit wirren Haaren heraustrat und sich die Seiten hielt. «Wir haben einen Wettlauf gemacht», keuchte Tante Amelie. «Und ich fürchte, bei mir hat es nur für den zweiten Platz gereicht.»

Sie ließ sich auf eine Kiste plumpsen, von denen mehrere im Kellerraum herumstanden. Außerdem gab es dort jede Menge Regale, die mit Kisten und Kartons vollgestellt waren, einen großen Tisch, auf dem ein Computer, Geschichtsbücher und ein Weltatlas lagen, und ein zusammengefaltetes Klappbett.

«Meine Güte, so erledigt war ich nicht mehr, seit mir ein Affe auf Borneo den Fotoapparat geklaut hat und ich ihm durch den halben Dschungel gefolgt bin», gestand Tante Amelie. Lilly zuckte lächelnd die Schultern. Laufen war sozusagen ihre Spezialität. Selbst einen guttrainierten Indianerjungen hatte sie dabei schon einmal abgehängt.

«Jedenfalls ist auf der anderen Seite des Tunnels alles klar», sagte sie und steckte sich einen Kirschbonbon in den Mund. «Wenn ihr so weit seid, kann es jederzeit losgehen.»

Albert und Magnus tauschten einen kurzen Blick.

«Wir … wir sind noch nicht ganz fertig», grummelte Albert.

«So ein paar kleinere Justierarbeiten sind noch zu machen», gab Magnus zu.

«Sollten wir dann nicht einfach einen Blick in das Labor deines Vaters …», schlug Tante Amelie vor. Aber Albert, Magnus und Lilly fielen ihr augenblicklich ins Wort.

«Auf keinen Fall!», riefen sie im Chor.

Sie hatten bereits ausgiebig Erfahrungen mit den Sachen aus dem Labor von Alberts Vater gemacht. Der war von Beruf Erfinder und demonstrierte den Kindern mit Vorliebe seine allerneuesten Entwicklungen. Manche davon waren ausgesprochen genial. Vor allem der Universalübersetzer, den man sich ins Ohr steckte und dann jede Sprache der Welt sprechen und verstehen konnte. Mit seiner Hilfe konnten sie sich auf ihren Zeitreisen mit allen Menschen unterhalten. Andere Erfindungen dagegen waren eher seltsam oder sogar völlig verrückt. Beispielsweise der radargesteuerte Nasenbohrer für Nashörner. Alberts Vater hatte ihn bisher nicht einmal testen können, weil der Zoodirektor ihm partout nicht die Erlaubnis geben wollte, mit dem ratternden Apparat in das Nashorngehege zu steigen. Oder der solargetriebene Ameisenzähler. Der steckte vermutlich noch irgendwo im Boden des Gartens um die Villa. Anfangs hatte er sich mit großer Begeisterung an einem Ameisenloch in die Erde gegraben, doch dann war ihm die Energie ausgegangen, weil unterirdisch kein Sonnenschein zu sehen war und der Solarantrieb deshalb den Dienst verweigerte. Ob Top oder Flop – einen Nachteil hatten jedenfalls alle Erfindungen von Alberts Vater während ihrer frühen Entwicklungsphasen: Sie explodierten gerne mit lautem Knall und dunklen Rauchwolken.

«Lieber lasse ich mich weiter von unserem Spezialrollstuhl in die Luft werfen, als von einer explodierenden Rakete in eine Erdumlaufbahn gesprengt zu werden», sagte Albert.

«Papperlapapp!» Tante Amelie winkte mit der Hand ab. «Sooo schlimm sind die Erfindungen meines Bruders auch wieder nicht.»

Albert, Lilly und Magnus warfen ihr einen langen, vielsagenden Blick zu.

«Oder etwa doch?», fragte Tante Amelie kleinlaut.

Niemand antwortete ihr. Stattdessen murmelte Magnus ein paar Sätze, in denen die Worte «sicherer», «selbst» und «überleben» verdächtig oft vorkamen.

«Los! Wir machen noch einen Test!», entschied Albert. «Eigentlich müsste es doch funktionieren.»

Magnus presste die Lippen aufeinander. Den ganzen Vormittag hatten sie alles überprüft, verändert und ausprobiert. Und doch weigerte sich der Rollstuhl beharrlich, sich schön sanft und langsam zusammenzufalten, bis er schmal genug war, um durch den Tunnel zu passen. Heimlich bewunderte Magnus Albert für seine Ausdauer.

«Bereit?», fragte er und hielt die Griffe des Rollstuhls fest.

«Ber …», setzte Albert an.

Sein Finger lag schon auf dem Auslöser. Da flatterte Merlin heran, hopste auf die Rückenlehne und stocherte mit dem Schnabel im Faltmechanismus herum. Albert zog seinen Finger zurück.

«Lass das, Merlin!», schimpfte Magnus. «Das ist gefährlich. Wenn du da mit den Flügeln reingerätst, wirst du gerupft und langgezogen wie ein Gummibärchen auf der Folterbank.»

So leicht ließ Merlin sich jedoch nicht von seinem Vorhaben abbringen. Mit aller Vogelgewalt zerrte er an irgendetwas herum, das tief im Motor steckte. Die Kinder und Tante Amelie beobachteten verwundert, wie er immer wieder den Schnabel hineinstieß. Schließlich zog die Dohle einen kurzen Kupferdraht heraus und flog triumphierend damit auf das oberste Regalbrett. Albert schimpfte ihm wütend hinterher.

«Nun hat Merlin euer Werk wohl vollkommen kaputt gemacht», seufzte Tante Amelie mitfühlend.

Lilly klopfte Magnus tröstend auf die Schulter. Aber der achtete gar nicht darauf. Er sah mit großen Augen auf den Mechanismus.

«Da hätte gar kein Draht sein dürfen», flüsterte er. «Der muss da von selbst reingerutscht sein. Ob er vielleicht … einen Kurzschluss? Könnte das der Grund für …?» Er blickte auf, vom einen Ohr zum anderen strahlend. «Mensch, Albert! Drück mal schnell den Knopf!», forderte er.

Albert schaute ihn wenig überzeugt an, aber er gehorchte. Wagemutig presste er seinen Finger auf den Knopf, der so oft an diesem Tag statt des erhofften Faltens ein unbeabsichtigtes Schleudern ausgelöst hatte. Gebannt starrten Magnus, Lilly und Tante Amelie auf ihn. Und zu ihrer aller Überraschung surrte der Rollstuhl kaum hörbar leise vor sich hin und … wurde schmaler. Exakt, wie Albert und Magnus es sich gewünscht hatten.

«Es funktioniert!», jubelten alle vier.

Und wirklich – der Stuhl wurde nach und nach so schmal, dass er durch den engen Eingang des Tunnels passen würde. Und vor allem warf er Albert nicht mehr schwungvoll heraus. Er brauchte sich nur ganz klein zu machen und die Luft anzuhalten, solange sein Gefährt auf den Durchfahrmodus gestellt war. Mit einem Klick auf einen zweiten Knopf ließ er den Stuhl wieder breiter werden.

«Magnus, du bist ein Bastelmeister!», rief Albert freudig aus, und Lilly johlte dazu.

«Na ja, aber mindestens die Hälfte des Ruhms gebührt dem vorwitzigen Merlin», gestand Magnus ein. «Ohne dessen diebische Ader hätten wir den Fehler nie gefunden.»

Merlin blickte bei der Erwähnung seines Namens vorsichtig vom Regal herab. Im Schnabel hielt er immer noch den schicksalsschweren Draht. Und er hatte nicht die Absicht, ihn freiwillig wieder herzugeben.

«Den kannst du behalten», lachte Albert. «Aber versteck ihn gut. Denn jetzt, wo der Rollstuhl endlich fertig ist, geht es ab in die Vergangenheit. Und zwar alle gemeinsam!»

«Einen Moment noch!» Tante Amelie hob die Hände abwehrend in die Höhe. «Mir ist klar, dass du ungeduldig deiner ersten Zeitreise entgegenfieberst. Aber ein paar Minuten muss das noch warten.»

Albert und Magnus sahen sie verständnislos an. Lilly kicherte.

«Ihr beide seid nämlich so mit Schmiere und Dreck verkleistert, dass man glauben könnte, ihr hättet einen Ölwechsel bei einem Ozeandampfer gemacht», erklärte Tante Amelie. «Und glaubt mir, in der Zeit, in die wir reisen wollen, haben die Menschen ziemlich viel Wert auf Sauberkeit gelegt.»

Lilly grinste. «Ich schlage vor, ihr beeilt euch mit dem Duschen und Umziehen», sagte sie. «Sonst gehen wir am Ende noch vor euch los. Ich habe nämlich den Verdacht, dass wir diesmal wieder ein ziemlich cooles Abenteuer erleben werden. Und ich kann es kaum erwarten, endlich damit anzufangen.»

«Wir auch nicht!», riefen Albert und Magnus gleichzeitig. Sie sausten los. Durch die Kellertür, die Treppe hinauf, an welcher Alberts Vater einen Zugmechanismus für den Rollstuhl angebaut hatte, und in Richtung Badezimmer. Keine Minute später brausten sie sich den Dreck der Gegenwart herunter. Und machten sich bereit für einen sauberen Start in das Damals.