Cover

Über dieses Buch:

Bislang hat Viktor es mit seinen Erziehungspflichten nicht so genau genommen. Doch jetzt hat er kaum eine andere Wahl. Auf dem Beifahrersitz schläft seine 16jährige Tochter Philomena, genannt Phil, –  und im Kofferraum liegt die Leiche eines türkischen Dealers. Nun sind die beiden unterwegs nach Italien, um Gras über die Sache wachsen zu lassen. Doch wie die Tochter, so der Vater: Beide ziehen das Verbrechen beinahe magisch an und schon bald ist ihnen die halbe europäische Mafia auf den Fersen …

»Ein Meilenstein. Die letzte Lüge ist Roadstory, Gangsterposse, Gesellschaftsportrait, Entwicklungsroman und Actionstoff zugleich. Thomas Kastura erzählt leidenschaftlich, gewandt und durchdacht; er plottet mitreißend und doch im besten Sinne konzeptuell; seine Charaktere sind bei aller Kunstfertigkeit nah und authentisch.« WDR

Über den Autor:

Thomas Kastura, geboren 1966 in Bamberg, lebt ebendort mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern. Er studierte Germanistik und Geschichte und arbeitet seit 1996 als Autor für den Bayerischen Rundfunk. Zahlreiche Erzählungen, Jugendbücher und Kriminalromane, u. a. Der vierte Mörder (2007: Platz 1 auf der KrimiWelt-Bestenliste). Die letzte Lüge ist sein Debütroman, an den 2004 die Fortsetzung Der rote Punkt anschloss.

Die Website des Autors: http://www.thomaskastura.de

Die Fortsetzung der Geschichte von Phil und Victor erscheint ebenfalls bei dotbooks:

Der rote Punkt

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Überarbeitete Neuausgabe Februar 2016

Copyright © der Originalausgabe 2002 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de

Titelbildabbildung: Thinkstockphoto/francescoch

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-442-9

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Thomas Kastura

Die letzte Lüge

Roman

dotbooks.

Reach out and touch faith

Depeche Mode

Erster Teil

1. Kapitel

Krisen sind nicht so meins. Da komme ich schwer wieder raus. Manchmal habe ich auch Angst, nie wieder rauszukommen. Meine Taktik: Kurz bevor es zu einer Krise kommt, irgendwas tun. Nicht denken, einfach handeln. Das hilft.

Momentan fahre ich einem »Dethleffs Globetrotter« hinterher, der seinen Wohnwagenarsch mit dem kühnen Aufdruck Esprit hinter sich herschlenkert wie eine alte Nutte ihre Zellulite. Ich höre Angels von Robbie Williams, das Beste, was man auf der linken Spur tun kann mit einem geliehenen Jaguar Coupé XKR. Sag jetzt keiner Jaguar und geliehen, beides gehört zu meinem derzeitigen Naturell. Ist das ein Widerspruch, derzeitig und Naturell? Ach Quatsch.

Also ich rase so vor mich hin, mit durchgedrücktem Gaspedal, weil ich einfach nicht daran glaube, dass einen Kilometer vor mir ein Hutträger mit Kadett und Katheter auf die linke Spur einschert, ohne in den Rückspiegel zu sehen. Das machen die nicht, nicht auf der Autobahn, auf der ich fahre.

Zweihundertfünfzig. Es ginge wahrscheinlich noch schneller, aber die Maschine des Jaguar ist abgeregelt. Sagt das nicht alles über unsere Zeit? Ein Jaguar ist abgeregelt – allein das Wort bringt einen dazu, eine Wende hinzulegen und es entgegen der Fahrtrichtung ein für alle Mal wissen zu wollen. Aber das lasse ich mal schön bleiben, nicht jetzt, nicht heute, dafür ist das Jag-Gefühl zu gut, ein Gefühl, das alle anderen noch mal um einige Mikrogramm Adrenalin hochjagt. Zur Erklärung muss ich sagen: Mein hochgekrempeltes zitrusfarbenes Langarmhemd mit Haifisch-Kragen und Vichy-Karos steht offen. Und wen es interessiert: Ich trage dazu eine himmelblaue Badehose mit marineblauen Streifen an den Seiten und hellgraue Slipper aus Lachsleder. Hin und wieder betrachte ich meine annehmbar modellierten Bauchmuskeln, klimpere mit dem durchbrochenen Metallarmband meiner Zenith Port Royal V und singe den Chorus laut mit. And through it all she offers me protection, a lot of love and affection, whether I’m right or wrong.

Ich bin auch deswegen gut gelaunt, weil mir mein Freund Jerzy aus Frankfurt etwas ganz Neues zum Runterschlucken gegeben hat. Angeblich soll es nicht lange vorhalten, aber da kann man nichts machen. Gut, eine Gucci-Sonnenbrille trage ich auch, aber das gehört zur Grundausstattung und zählt bei den Good Vibes nicht mit. Hab sie geklaut, zählt also doppelt nicht.

Mit dieser Gucci-Brille fing alles an. Ich gebe zu, mich ein wenig zu zieren, wenn ich das jetzt alles so offen erzähle, aber ich mache mal weiter. Gehn wir ein Stück zurück.

2. Kapitel

Sill war wunderbar. Sie wusste alles von mir, zumindest alles, was ich ihr bei entsprechenden Gelegenheiten erzählt und in ein paar Träumen vorphantasiert hatte. Treu bis in den Tod. Damit meine ich nicht monogam, sondern ehrlich, zu sich, zu mir, mit einem Wort das genaue Gegenteil meiner hervorstechenden Charaktereigenschaften. Warum sollte ich nicht mal Glück haben?

Na ja, sie hatte auch ihre Fehler. Wurde schwanger. Andererseits: Ist ja auch ein Grund zur Freude. Ich bin kein Mistkerl: habe das Spiel mitgemacht, bis die Kleine laufen konnte. Das reicht doch, oder? Ich meine, soll ich ihr die Hand halten, bis sie einen dreißig Jahre älteren Frühruheständler mit Finca auf Gran Canaria heiratet?

Eben. Die Kinder sind für sich selbst verantwortlich, meine Rede. Machen doch eh, was sie wollen. Da kann man nur da sein, wenn sie erwachsen werden und einen brauchen, zum Beispiel jetzt, mit fünf Kilo Shit im Handschuhfach eines, ich sagte es schon, geliehenen Jaguar inklusive Hecklast.

Überrascht? Muss der nicht mindestens vierzig sein, wenn der das jetzt erzählt? Gut geraten, aber nur nahe dran. Ich bin fünfunddreißig in meinen Ledersitzen, an denen meine Haut sich so angenehm festsaugt. Und sie ist sechzehn hinten an der Raststätte und spillerdürr. Das heißt, ich war ziemlich jung, als ich Vater geworden bin. Die Zeiten waren halt so, fette achtziger Jahre eben, in denen Kondome etwas spießig waren, weil es Aids noch nicht richtig gab.

Und bevor jemand darauf herumreitet: Ja, ich habe sie an der Raststätte zurückgelassen. Sie hatte noch Blut an den Händen und im Gesicht, als ich sie zuletzt im Rückspiegel sah. Nichts gelernt und nichts begriffen. Das war nicht meine Tochter. Vielleicht hätte ich mich vorhin mehr mit ihr unterhalten sollen. Aber sie war nicht in der Stimmung, beschimpfte mich, was ich nun gar nicht leiden kann, Pubertät hin oder her. Ich meine, ich habe ihr mit der Leiche geholfen, habe den Wagen organisiert, habe Aufträge abgesagt oder zumindest verschoben, habe mein ganzes Scheißleben von einer Minute auf die andere umgestellt auf ein Roadmovie, und wenn nicht Roadmovie, so zumindest auf etwas mehr Mobilität. Da erwartet man ein wenig Dankbarkeit, oder nicht?

Das Jag-Gefühl flaut ab. Ich gebe meinem Beschützerinstinkt nach, gehe vom Gas und nehme die nächste Ausfahrt. Als ich über die Brücke fahre, bin ich versucht, einen notorischen Steineschmeißer zwischen Stoßstange und Geländer kurz zu zermalmen, aber dafür fehlt mir jetzt die Aggression, nicht das Aggressionspotenzial, das ist schon da, immerzu, aber momentan verspüre ich keinen unmittelbaren, heftig in mich hineinfahrenden Tötungsdrang. Muss an Angels liegen, nicht wahr? Schließlich ist es fünf Uhr morgens, jeder fängt irgendwann mal an, ein besserer Mensch zu werden, auch die Steineschmeißer, die eines schönen Tages in ihren fernöstlich angehauchten Ziergärten stehen und sich denken: Nehme ich diesen schweren, kantigen Brocken da, oder doch lieber den leichten, glatt geschliffenen?

Sie steht noch da, wie ich sie zurückgelassen habe, zugekifft bis über beide Ohren und die blutverschmierten Finger gespreizt zu einem Peace- oder Fuck-off-Zeichen – so einfach ist das von weitem nicht zu erkennen. Jeder LKW-Fahrer hielte sie für ein verirrtes Groupie, das er mal kurz zum Frühstück verspeisen würde. Aber die LKW-Fahrer pennen in ihren zugequalmten Trucks noch ihren Rausch aus, oder sie trinken gerade eine ihrer weltraumkapselgroßen Kaffeepullen leer, damit sie auf der A 3 bis acht oder neun Uhr noch ein paar hundert Kilometer machen können, die armen Schweine.

Wenn es heller wird, werde ich mir ein paar Gedanken über die zerstückelte, völlig unkenntlich gemachte Leiche machen müssen, die im Heckteil des Jaguars liegt – es ist ja nun mal kein richtiger Kofferraum, sondern nur eine bessere Ablage. Ich habe die Körperteile in einem luftdichten Gummisack verpackt, aber all zu lange sollten sie da nicht drin bleiben. Leichen, die einmal zu verwesen anfangen, stinken sich unbarmherzig durch alles durch.

Ihre Augen sind glasig. Sie beugt sich vor, erkennt mich. Ein Blick von der anderen Seite des Horizonts. Ich zerre sie auf den Beifahrersitz. Sie lässt es apathisch mit sich geschehen. Ich drücke drauf.

»War’s das mit der großen Freiheit?«

Sie kotzt auf den Boden. Kinder!

3. Kapitel

Musti hatte sie blöd angemacht, nichts weiter. Hatte die falsche Bemerkung zum falschen Zeitpunkt fallen lassen. Brauchst es wohl wieder, etwas in der Art. Sein Fehler. Phil hatte immer ein gut geschliffenes Messer bei sich. Hab ich ihr zum zwölften Geburtstag geschenkt. Vielleicht hatte sie das Gefühl, sie müsse es jetzt endlich mal benutzen. Kann ich ihr nicht verdenken, manchmal treiben es die Türkendealer einfach zu weit. Tun immer ganz kumpelhaft, Alder, aber dann bescheißen sie dich nach Strich und Faden. Und mit Frauen können sie einfach nicht, diese ewigen Machos.

Jetzt liegt Musti hinten im Jaguar, filetiert, wie ich sagen möchte, denn ab und zu schwinge ich ganz gerne den Kochlöffel, wie man so sagt. Meistens bereite ich Seefisch zu, Doraden zum Beispiel, bei denen man sorgfältig an der Hauptgräte entlangschneiden muss, damit das Fleisch nicht verletzt wird. Phil hatte in einer Panikreaktion Mustis ganzen Shit mitgehen lassen. Ich frage sie, ob sie rassistische Gründe hatte, Scheiß-Türke und so, aber sie tippt sich beim Kotzen an den Kopf und denkt wahrscheinlich nur Schlechtes von mir.

Im Fahren drehe ich mir einen Joint. Er schmeckt wie ein Bart voller Essensreste, meine übliche Assoziation bei dieser Altherrendroge, die so schrecklich qualmt und stinkt, als täte sich gleich der Erdboden auf und der Leibhaftige stünde vor einem. Ich reiche Phil eine Flasche Vittel. Mein Mädchen nimmt einen Schluck, stellt die Sitzlehne flacher und legt sich schlafen. So wünsche ich mir das, so soll es sein.

Sie sieht klasse aus, während sie ein Nickerchen macht. Abgesehen von ihrem bauchfreien Top, das sich ihren schon recht ansehnlichen Brüsten entgegenkräuselt und mir etwas zu gewagt erscheint, ist sie ganz eindeutig mein Mädchen. Ein gutes. Manchmal bringt sie mich schwer durcheinander, manchmal macht sie mich richtig wütend, aber dafür ist sie ja noch jung, oder?

Ich gehe ganz professionell vor: verlassener Autobahnparkplatz, ein Stück in den Wald rein, Lebensrettungsplane untergelegt, Musti drauf, Benzin drüber (oh ja, in das Heckteil des Jaguar passt auch noch ein Benzinkanister). Und alles abgefackelt, bis nur noch ein paar ölige Schlieren und Metallteile von Mustis Designer-Jeans-Kopie übrig sind. Zur Sicherheit verbuddle ich das Ganze und pflanze einen Ginsterschössling darauf, den ich im Vorbeigehen ausgerissen habe. Schließlich soll es ja auch schön aussehen.

Dann schaufle ich Phils Kotze aus dem Jaguar. In dem Toilettenhäuschen wasche ich die Bodenmatten ab und besprühe sie mit dem Armaturenspray, das ich im Handschuhfach gefunden habe, als ich den Shit hineingequetschte. Phil schläft die ganze Zeit über. Gut so, das Kind soll sich über diese schrecklichen Dinge keine Gedanken mehr machen. Ich säubere ihr Gesicht und ihre Hände mit Erfrischungstüchern, auf deren Verpackung ein kleiner Jaguar gedruckt ist, mitten im Sprung. Sie murmelt etwas, aber ich kann es nicht verstehen. Ein Wunsch? Eine Bitte?

Um den Gestank, der während Mustis Kremierung in mein Leben eingedrungen ist, zu vertreiben, inhaliere ich ein Erfrischungstuch und dann gleich noch eins. Es riecht, wie Phil jetzt riecht, nach Desinfektionsmittel und Zukunft, so wie sie eigentlich immer riechen sollte.

Sobald ich mich wieder halbwegs sauber fühle, steige ich ein und gebe Gas. Keine Joints mehr, was soll mein Mädchen sonst von mir denken? Ich bin auch so gut drauf, weil wir die Leiche reibungslos losgeworden sind. Man muss die Toten nur auslöschen und vergraben, das beflügelt ungemein.

Als Phils Bauchnabel zu vibrieren anfängt, weiß ich, dass die natürliche Ordnung der Dinge wieder hergestellt ist. Vater und Tochter sind auf dem Weg nach Italien. Wie es aussieht, machen sie einen Kurzurlaub, um ihre lange vernachlässigte Beziehung ein wenig aufzufrischen. Als es hinter dem Brenner immer grüner wird – wir haben Anfang Mai – und die ersten Obstplantagen in Sicht kommen, geht mir das Herz auf. Es ist das alte Italien-Gefühl bei der Überquerung der Alpen. Man fährt hinab in eine bessere Welt. Ahn ich die Wege noch nicht, durch die ich immer und immer, zu ihr und von ihr zu gehn, opfre die köstliche Zeit? Und, ganz wichtig: Das Glück, es ist mir geworden. Ich kenne nicht viel von Goethe, und Zitate kann ich schon gar nicht behalten, aber die Römischen Elegien habe ich damals für Sill auswendig gelernt. Hat sie schwer beeindruckt. Und seinen Zweck erfüllt.

Wie Phil so daliegt, einen Streifen Sonne auf den Oberschenkeln, das Gesicht an den Sicherheitsgurt geschmiegt, ihr Mund halb geöffnet, als ob sie mir jeden einzelnen Gedanken übermitteln wollte, den der Schlaf ihr eingibt! Wie Sill in der guten Zeit, als die Kleine noch im Kindersitz an die Rückbank geschnallt war. Wenn Frauen die Augen geschlossen haben und träumen, ist alles, alles Gold.

4. Kapitel

Wir fahren erst bei Pisa raus. Als wir dort mal Ferien gemacht haben, sind wir gar nicht erst in die Innenstadt reingegangen. Wegen der vielen Touristen, weil der Schiefe Turm gesperrt war und weil von dem Dom angeblich eine schwach radioaktive Strahlung ausging. Das hat mir Sill nie verziehen. Na ja, später war sie dann doch da, ohne mich.

Ich gebe den Jaguar bei Hertz ab und kaufe bei einem Händler einen alten Alfa V 6 Turbo für fünf Millionen Lire auf Karte. Bei dieser Gelegenheit rufe ich Jerzy an, weil mir der Shit zum Wegwerfen denn doch zu schade ist und uns Bargeld jetzt wie gerufen käme. Außerdem habe ich noch ein paar finanzielle Verbindlichkeiten bei ihm. Die sollte ich mal wieder auf Null bringen.

Am Handy wirke ich wohl etwas aufgekratzt. Jerzy beruhigt mich, sagt, ich solle mir keine Sorgen machen. Als ich die Mengenangabe wiederhole, überlegt er kurz. Fünf Kilo, das seien unter Freunden höchstens achtzigtausend Mark, was es denn für eine Qualität sei. Ich sage, dass es ungewöhnlich stark nach Gras riecht, wenn man eine der hellbraunen Platten anschneidet. »Könnte Golden Pollum sein«, antwortet er. Nun ja, schnelles Geld sei schnelles Geld. Er werde Gwizdek, die Pfeife, vorbeischicken, der habe sich ein bisschen Sonne verdient. Wir machen für den nächsten Tag einen Treffpunkt aus. Auf Polen ist eben Verlass, wenn sie dich einmal ins Herz geschlossen haben.

Keine Sorge, Phil hat die Aktion wieder verschlafen. Ich wollte sie nicht wecken. Mädchen müssen viel schlafen, sonst ist ihre Schönheit eines Tages – schnipp! – einfach weg. Als Vater muss man darauf ein Auge haben, auch darauf.

Wir steigen im La Luna ab, einem Vier-Sterne-Kasten in der Innenstadt, wo sie uns mit allem Respekt empfangen. Schließlich haben wir ja einiges hinter uns. Phil geht im Pool schwimmen, während ich mich etwas hinlege. Ich biete ihr meine Kreditkarte an, eine Geste, damit sie sich ein paar Sachen kaufen kann. Aber sie winkt ab, hat eine eigene, was auf dasselbe hinausläuft, wird eh alles von meinem Konto abgebucht. Sie ist sparsam, braucht normalerweise nicht viel. Bei größeren Ausgaben fragt sie mich immer vorher. Was will man mehr?

Als wir in dem Hotelrestaurant zu Abend essen, trägt sie ein schwarzglänzendes Seidenkleid. Das Ding hätte ihrer Mutter alle Ehre gemacht. Als ich es ihr sage, schaut sie genervt zur Seite. Sie war auch beim Frisör, hat ihre mahagonifarbenen Locken ganz kurz schneiden lassen und kräftig Gel reingetan. Sie weiß, wie sie mich milde stimmen kann.

»Alles wieder okay?«, frage ich, als der Kellner, ein brünstiger Strizzi mit Stielaugen – denk nicht mal dran! –, wieder abgeschwirrt ist. Wir haben die ganze Fahrt schweigend verbracht, auch nachdem sie kurz nach Verona aufgewacht war. Jeder von uns war mit sich selber beschäftigt. Wir brüteten still vor uns hin, als müssten wir ein paar der letzten Rätsel der Welt lösen – Poebene-Gedanken.

»Tut mir Leid, dass ich heute Morgen ausgeflippt bin. Aber als ich mich vorhin beim Frisör im Spiegel gesehen habe, da fühlte ich mich wieder so mies! Deswegen habe ich dem Kerl auch gesagt, er soll sie ganz kurz machen.« Sie bekommt einen verträumten Gesichtsausdruck, ein Mädchen, das von einem Anna Sui-Kleid schwärmt oder dem neuen Habana Club-Roller von Aprilia. Der hat so einen verchromten Lenker, leicht gebogen, richtig schick.

»Als härenes Gewand würde ich dein Kleidchen aber nicht bezeichnen.«

Sie rückt einen Träger zurecht. »Du machst dich lustig über mich. Warum nimmst du mich nicht einmal ernst?«

»Tu ich doch. Oder was meinst du, warum wir jetzt hier sitzen?«

»Du hättest nicht mitzukommen brauchen«, erwidert sie schnippisch.

»Entschuldige, aber das Wort mitkommen würde ich mehr auf deinen Reisezustand beziehen. Warum musstest du so viel von dem Zeug rauchen?«

»Ich stand unter Stress. Außerdem kiffst du ja auch.«

»Hab ich nur gemacht, um die Qualität zu testen. Ist nicht meine Droge, bringt einen zu sehr runter.«

»Sieh mal an! Bin ich jetzt die Tochter von einem Großkriminellen?«

»Kannst dich ja ans Jugendamt wenden.«

Der Kellner dienert uns den Wein an, zu dessen Wahl er Phil ausdrücklich beglückwünscht. Ich stelle mir seine Hormone wie die Finger der Leprakranken im Tiger von Eschnapur vor, diese Szene, wo der Held ganz unten im Palast des Maharadschas eingesperrt ist. Verfaulende Gliedmaßen recken sich ihm entgegen, kommen immer näher, sind kurz davor, ihn anzufassen.

Er schenkt ihr einen Schluck ein. Sie kippt ihn achtlos runter und deutet auf das Glas. Noch während er unsere Gläser befüllt, sagt sie: »Da fällt mir ein: Was hast du eigentlich mit Mustis Leiche gemacht?«

Ich zucke mit den Schultern, warte, bis der Kellner davonstakt. »Entsorgt«, sage ich mit gesenkter Stimme. »Frag bitte nicht wie. Für das, was du nicht weißt, kannst du auch nicht verurteilt werden. Momentan sind wir bei Totschlag im Affekt. Alles andere geht auf meine Kappe.«

Sie verschluckt sich an dem Avignonesi und bekommt einen reizend unbeholfenen Hustenanfall. Sofort eilt der Kellner herbei und sieht die Gelegenheit gekommen, ihr an die Wäsche zu gehen.

»Ja, ja, schon gut!« Ich stehe auf und wedele seine Hand von ihrem Rückenausschnitt. Beleidigt verzieht er sich. Nach ein paar Hustern hat sie sich wieder gefangen.

»Hörst du nicht zu, oder was?« Sie spült mit einem Schluck Weißwein nach. »Als ich dich angerufen habe, sagte ich zu dir: Ich habe eine Leiche, die unbedingt weg muss. Wer sagt denn, dass ich ihn umgebracht habe?«

»Und das Messer, das wir in den Main geschmissen haben? Das war doch deins.«

»Aber Paps. Leiche – Messer – Phil. Als ob das nur einen Schluss zulassen würde. Hab doch ein bisschen Phantasie. Traust du mir ernsthaft zu, einen Menschen zu töten?«

»Wer soll es denn sonst gewesen sein?« Ich zögere, spüre einen Hoffnungsschimmer wie das fluoreszierende Licht eines Weckers, wenn es auf eine müde Hand fällt, die mitten in der Nacht nach der Uhrzeit tastet. So weit bin ich in Gedanken noch gar nicht gekommen, dass sie es gar nicht selber getan haben könnte. Dabei liegt das doch auf der Hand. Meine Phil würde so etwas nie machen. Schließlich ist sie kein durchgedrehter Junkie, das weiß ich doch. Weder Junkie noch durchgedreht, nur die übliche jugendliche Neugier und, ja, manchmal auch Überspanntheit. Phil hat Recht: Ich brauche dringend mehr Phantasie.

Gut, ich strenge mich an. Wer hätte wohl Interesse daran, einen harmlosen kleinen Dealer aufzuschlitzen. Wer ist so blöd? »Antonio!«, dämmert es mir. »War es Antonio, dieser miese kleine Drecksack?«

»Du brauchst ihn nicht zu beleidigen«, sagt sie, als der Kellner unsere gegrillten Tintenfische aufträgt. »Außerdem war es Notwehr.«

»Bist du noch mit ihm zusammen?«

Sie schneidet einen Fangarm ab und betrachtet das violette Fleisch, auf dem der Grillrost schwarze Streifen hinterlassen hat. »Jetzt nicht mehr. Aber ich war ihm was schuldig.«

»Schuldig? Hat er dir Geld geliehen? Du weißt doch, dass du jederzeit –«

»Jetzt hör schon auf? Geld spielt bei dieser Sache überhaupt keine Rolle.« Sie dreht die Augen zur Decke. Ich zwinge mich, ihr weiter ruhig zuzuhören. »Tony steckte in Schwierigkeiten. Also hab ich ihm geholfen.«

»Er hat es mit deinem Messer getan? Da gehört einiges dazu. Das hätte ich diesem Pizzabäcker-Söhnchen gar nicht zugetraut.«

Sie steckt sich ein Stück Tintenfischfleisch in den Mund, kaut konzentriert. »Ja«, sagt sie schließlich. »Mit meinem Messer. Es war nichts anderes zur Hand.«

»Und dann hat er dich mit der Leiche im Stich gelassen.«

Sie stochert in dem Tintenfisch herum, nickt widerstrebend.

»Wie konntest du dich nur auf ihn einlassen? Wie oft habe ich dir gesagt, dass der nichts drauf hat? Der Kerl ist ein Erbe. E-R-B-E. Der denkt, dass er eines Tages die Pizzakette seines Mafia-Vaters überschrieben kriegt und bis dahin ein bisschen in der Unterwelt mitmischen darf. Der ist ein wandelndes B-Movie. Ich frage mich nur, warum er keine Waffe mit sich herumschleppt.«

»Die hat ihm Musti aus der Hand geschlagen. Es war sein erster Deal.«

»Nicht zu fassen.« Ich knalle mein Besteck auf die Tischplatte. »Nehmen wir mal an, ich würde versuchen, in diesem Geschäft Fuß zu fassen. Meinst du, ich würde mich so dumm anstellen?«

»Ich glaube, diese Unterhaltung führt zu nichts.«

»Hat dieser Tony keine Reflexe? Gibt es keine Kurse für so was?«

»Paps, bitte!«

»Wie du meinst. Ich schlage vor, wir vergessen jetzt einfach mal, dass wir Mittäter auf der Flucht sind, und denken darüber nach, was wir jetzt anfangen.«

»Okay«, sagt sie, lehnt sich zurück und zündet sich eine Zigarette an. Der Kellner räumt ihren Teller ab und stellt ihr einen Aschenbecher hin, während ich noch esse. Phil bedankt sich auf Italienisch. Sie lobt den Tintenfisch, wie ich vermute. Dann deutet sie auf mich, erzählt etwas von »padre«. Anscheinend stellt sie klar, dass ich ihr Vater sei, denn der Kellner setzt ein schmieriges Lächeln auf, als ob ich schon am Stock ginge. Hau bloß ab. Den Blick versteht er.

»Ich glaube kaum, dass sich die Polizei für einen verschwundenen Drogendealer interessiert«, fange ich an. »Trotzdem ist es besser, sich eine Weile nicht in Deutschland blicken zu lassen, schon gar nicht in Frankfurt.«

»Und warum Pisa?«

»Ich hab mir gedacht, wir könnten uns mal den Friedhof ansehen.«

Ihr Gesicht wird hart. »Den Camposanto?«, fragt sie, obwohl sie genau weiß, worauf ich hinauswill. Im Gegensatz zu mir kennt sie sich bestens in Pisa aus. Sie hat hier eine Weile mit Sill gelebt, und dann, nach Sills Unfall, ein paar Jahre in Lucca, bei meiner Mutter Edith, also direkt um die Ecke.

»Nein, natürlich nicht. Ich meine den, der etwas außerhalb liegt, im Norden.«

»Warst du überhaupt schon mal an ihrem Grab?«

Ich zögere. Sill wurde vor zehn Jahren beigesetzt. Damals waren wir schon auseinander. Ich wollte ja kommen, ganz sicher, schon wegen Phil, aber dann stellte ich mir die Blicke vor, diesen griechischen Chor, angeführt von meiner Mutter, die vermutlich noch während der Begräbniszeremonie begonnen hätte, mich öffentlich hinzurichten. Es war ja ganz klar, dass ich an Sills Tod schuld war, wer sonst? Ich hatte sie zwei Jahre nach Phils Geburt verlassen, gerade, als sie mit ihrem Studium fertig war. Ich hatte sie dadurch von einer Affäre in die andere getrieben. Und ich hatte sogar den Peugeot Kombi gekauft, mit dem sie auf dem Weg zu ihrem damaligen Manager-Lover von der Straße abgekommen und gegen einen Strommast geprallt war. Vor diesem Schauprozess hatte ich Angst. Und ich wollte ihn Phil ersparen. Ach was, ich wollte da einfach nicht hin, Ende, aus, basta. Sill war tot, und um Phil konnte ich mich damals nicht kümmern. Ich meine, ich war fünfundzwanzig, musste erst noch was auf die Beine stellen, was erleben da draußen. Das klappt nicht, wenn am Morgen statt Workout Pausenbrote schmieren auf dem Programm steht und man einen Rave sausen lassen muss, weil die Kleine Windpocken hat. Na ja, den Workout habe ich nach ihrem Tod dann erstmal für eine gewisse Zeit weggelassen. Um ehrlich zu sein, hat mich die Sache ziemlich aus der Kurve getragen. Richtig auf den Hund gekommen bin ich damals, ein ganzes Jahr lang voller Spritzen und Pillen und Kotze und schrecklich intensiver Visionen, gegen die From Dusk Till Dawn die reinste Sonntagnachmittagsunterhaltung ist. Aber darüber spreche ich nicht so gern, muss jetzt nicht sein.

»Dein schlechtes Gewissen treibt dich hin, wie?«

»Stimmt, ich war noch nie da«, gebe ich zu. »Aber jetzt kann ich’s ändern. Ich möchte einiges ändern, Phil. Ich möchte, dass wir öfter zusammen sind. Ich möchte wissen, wer du jetzt bist. Ich möchte mehr für dich tun, mehr, als eine Leiche beiseite schaffen. Ich möchte, dass du das Internat verlässt und wieder bei mir lebst.«

»Langsam, eins nach dem anderen.«

»Aber da gefällt’s dir doch sowieso nicht.«

»Wir haben das schon mal probiert, weißt du noch?«

Ich hebe Hilfe suchend die Hände. Sie meint die Zeit, als meine Mutter wieder geheiratet hat. Neun war Phil damals. Ediths neuer Partner Werner wollte sie aus dem Haus haben. Passte wohl nicht in seinen Toskana-Entwurf von Wein-Sonne-Liegestuhl. Und Edith hatte es satt, die Ziehmutter zu spielen, Edith, die nach Sills Tod so große Töne gespuckt hatte. Also blieb Phil zwei Jahre bei mir. Dann habe ich sie – auf ihren ausdrücklichen Wunsch! – in einem Internat im Taunus eingeschrieben. Damals flammten die Unruhen in Nordirland wieder auf. Die IRA brach die Waffenruhe, worauf die RUC kräftig gegenhielt. Ich hatte Exklusivverträge mit mehreren Zeitungen, eine einmalige Gelegenheit für einen Fotoreporter. Und Nordirland war damals definitiv ungeeignet für ein Mädchen wie Phil. Ich dachte, unsere Zeit wird schon noch kommen. Das dachte ich wirklich, ungelogen. Ich hatte es immer vor mir, wie das Hintergrundbild auf meinem Powerbook, eine Landschaft von van Gogh, leuchtende Weizenfelder, die von einem ziegelroten Weg durchschnitten werden und sich auf der gesamten Breite dem Horizont entgegenwölben. Oder war es aus dem Film von Kurosawa?

»Die Lage hat sich jetzt beruhigt. Ich muss kaum mehr weg, arbeite meistens von zu Hause aus. Studiokram, Fotostrecken für die Industrie.«

»Und das soll gut gehen?«

»Wenn du möchtest, nehme ich mir einen Atelierraum«, schlage ich vor.

»Das entscheiden wir, wenn es so weit ist«, sagt sie bestimmt und schnippt die Asche ihrer Zigarette auf die Terrakotta-Fliesen. Was für eine Bewegung! Die Bacall wäre vor Neid erblasst.

»Natürlich. Tut mir Leid, wenn ich dich überrumpelt habe.« Ich bin gar nicht zufrieden mit mir. Wie komme ich überhaupt dazu, ihr all diese Pläne an den Kopf zu werfen? Ich sollte besser an das Nächstliegende denken. Wohin jetzt? In Europa bleiben? Was gibt es hier für Phil? Und für mich? Warum nicht dorthin, wo die Post abgeht? Kalifornien, Hongkong, Sydney? Aber dafür müssten wir durch die Sicherheitschecks an den Flughäfen, und das könnte momentan etwas gefährlich werden. Also Europa, die alte Schachtel. Wir könnten ans Meer fahren, das liegt ja ganz in der Nähe. Aber es ist nur das Mittelmeer, wo die Leute schon seit hunderten, ach was, tausenden von Jahren ihren Müll reinleiten, von der Schwerindustrie bei Livorno ganz zu schweigen. Und an jedem Punkt der Küste gibt es eine Säule, einen Tempel, verbunden mit einem Mythos über irgendwelche hinterfotzigen Götter oder einem historischen Ereignis aus der Zeit der Römer, das kann man ja nicht mehr auseinander halten, weil die Namen alle ganz ähnlich klingen. Das Mittelmeer ist so wie die Adriaküste in der Gegend von Cattolica. Auf der Landkarte liegen da die Badeorte eng nebeneinander, einer wie der andere, wie Einschusslöcher auf der Papierzielscheibe einer Kirmesschießbude. Und zu gewinnen gibt’s – nichts, weil man eh nicht genau die 12 in der Mitte trifft wegen der ungenauen, absichtlich verstellten Luftgewehre, die sie da haben. Überall in Europa ist das so, das sollten sich die Amis mal leisten, verstellte Luftgewehre, da wäre aber der Teufel los, und als Preis haben sie dort drüben kein hässliches Plüschtier, sondern einen Palm Pilot, was letztlich genauso nutzlos ist, aber was rede ich: Luftgewehre, die gibt’s doch bald nicht mehr. Entweder man hat ein echtes oder eines, das Farbkapseln verschießt.

»Wie wär’s, wenn wir erstmal ein bisschen in der Gegend rumstreunen? Ich rufe im Internat an und erzähle denen irgendwas.«

»Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Das Schuljahr ist fast zu Ende. Die müssten mich die Klasse eigentlich bestehen lassen.«

»Wie? Einfach so? Hast du keine Prüfungen mehr?«

»Ich bin in diesem Hochbegabtenprogramm. Da nehmen sie’s nicht so genau. Hauptsache, ich bin zur Sommerakademie wieder da.«

»Was bist du?«

»Hast du schon wieder vergessen, wie? Die halten mich für ’ne kleine Streberin.« Sie grinst, aber nur mit dem Mund. »Ist wohl in einer deiner Gedächtnislücken verschwunden.«

Verzweifelt versuche ich mich zu erinnern. Richtig, letztes Jahr – oder war es das Jahr davor? – erzählte sie mal was von einem Einstufungstest, für den sie sich angemeldet hatte, ja, das fällt mir jetzt wieder ein. Nur von dem Ergebnis weiß ich nichts mehr. Ist mir entglitten, wie so vieles.

»Komm gar nicht erst auf den Gedanken, dass ich das für dich tun würde, Paps. Ich merke doch, dass dir nichts daran liegt.«

»Das siehst du falsch, Phil. Es ist nur –«

»Ich mache es, weil es sich so ergeben hat. Würdest du mich kurz entschuldigen?«, sagt sie betont höflich, richtet sich auf –sie ist schon einen halben Kopf größer als ich – und klappert mit ihren Reptillederpantoletten Richtung Damentoiletten davon. Ihr Gang ist erstaunlich sicher, überhaupt nicht teenagerhaft. Sie muss gar nicht überlegen, wo ihre Füße als Nächstes den Boden berühren. Jeder ihrer Schritte vollzieht sich wie lange einstudiert, und wenn man bestimmte Bewegungen oder Äußerungen lange übt, wirken sie irgendwann mal so selbstverständlich, dass man gar nicht mehr sieht, was alles dahintersteckt an Disziplin und Kontrolle.

So geht das nicht weiter. Ich muss mir eine Strategie zurechtlegen, mit deren Hilfe ich möglichst viel über Phil erfahre, ohne dabei zu verraten, dass ich eigentlich überhaupt keine Ahnung von ihrem Leben habe. Na ja, ein paar Eckdaten kenne ich, wie bei der Biografie von Politikern oder Künstlern, die ich für die Zeitung abgelichtet habe. Das Problem ist nur, dass meine Tochter mich viel besser zu kennen scheint als ich sie. Je mehr ich über sie wissen werde, je mehr ich aufklaube, was ich auf dem Weg verloren habe, desto mehr werde ich über mich selbst erfahren. Denke ich.

Ich nehme ein paar Gabeln Tintenfisch und spüre förmlich, wie die Schwermetalle in meinen Körper eindringen, ihn Faser für Faser durchhärten, Kreuzbänder, so biegsam wie Kupfer, Muskeln, so fest wie Antimon, und ein Herz aus Quecksilber, silbrig schimmernd tief in mir drin, unablässig in Bewegung, geschmeidig, nachgiebig und deshalb vollkommen unzerstörbar. Das wäre einmal eine Geschäftsidee: ein Verfahren entwickeln, das dem menschlichen Körper alle über die Jahre abgelagerten Schwermetalle entzieht, und sie daraufhin zu einem Kubus gießen, den man sich an den Autospiegel hängen kann. Damit es einen richtigen Würfel ergibt, bräuchte man noch etwas für die Augen von eins bis sechs. Vielleicht Nierensteine? Oder Amalgamfüllungen?

Die Tischplatte kribbelt und gibt dabei rhythmische Töne von sich. Es ist der Vibrationsalarm des Handys, das Phil auf dem Tisch liegen gelassen hat. Ich hebe ab. Am anderen Ende der Leitung meldet sich Antonio. Er redet sehr schnell.

5. Kapitel

»Phil will nicht mir dir sprechen«, lüge ich. »Es hat keinen Zweck, noch mal anzurufen.«

»Warte! Leg nicht auf!« Er klingt ziemlich verzweifelt. Gut so.

»Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, sie in so eine Lage zu bringen? Hast wohl Schiss gehabt, dass dir dein Vater draufkommt.«

»Lass meinen Vater aus dem Spiel, Vito.«

»Viktor, du Scheißhaufen. Quatsch mich nicht noch mal an wie einen deiner Makkaronis.« Hey, meine Roadmovie-Stimme funktioniert ja schon wie geölt. Obwohl, Makkaronis nähme ich gerne zurück, das ist kein Wort für die Gegenwart. Mafiaschwuchtel wäre besser. Oder Mafiawracks? Nein, zu schwer auszusprechen.

Er überlegt. »Wo seid ihr?«

»Nicht in deiner Nähe. Reicht das?«

»Komm schon, lass die Heimlichtuerei. Keine Angst, du kannst frei sprechen. Das Handy ist sauber. Was ist mit der Leiche passiert?«

Das würde er wohl gern wissen. Ich stelle mir vor, wie kleine Schweißtröpfchen aus der Haut über seiner Oberlippe austreten. Er fährt mit der Zunge darüber, prüft den salzigen Geschmack, wartet.

»Nichts«, antworte ich.

»Was heißt das?«

»Sie ist an einem sicheren Ort, mehr brauchst du nicht zu wissen. Hast dich ja fein aus der Sache rausgehalten.«

»Das war ’ne Kurzschlussreaktion. Ich hab den Kopf verloren. Sag mir, wo ihr jetzt seid, und ich kümmere mich um alles.«

»Wenn du dich um etwas kümmerst, könnte ich ja gleich eine Annonce aufgeben: Fragmentarisch erhaltener Drogendealer aus dem Raum Frankfurt sucht letzte Ruhestätte. Nee, Tony, bisher sind wir ganz gut alleine klargekommen. Und das kann ruhig so bleiben.«

»Jetzt hör mal zu. Ich glaube, du übernimmst dich bei dieser Geschichte. Du hast doch keine Ahnung, wie man bei so etwas ... vorgeht. Du bist ’n Knipser, das ist nicht dein Ressort. Warum hältst du dich nicht einfach raus? Überlass mir die Drecksarbeit, ich weiß, was zu tun ist.«

Dem geht der Arsch ja richtig auf Grundeis. Ich bin sicher, dass an Musti noch jede Menge Tony-DNS dran war, als er in Flammen aufging. Bestimmt besitzt die Polizei ein hübsches DNS-Profil des gesamten Remo-Clans, aus dem sie einwandfrei schließen kann, dass Tony zu La Famiglia gehört. Genetik ist klasse. Dadurch stirbt die Erbsünde nicht aus.

Jetzt eine Robert de Niro-Stimme. Wenn er Vito haben will, soll er ihn kriegen. »Du hast Phil hängen lassen. So etwas macht man nicht, Junge.«

»Ich versprech dir, dass ich sie ab sofort in Ruhe lasse. Sie hat sowieso Schluss gemacht wegen dieser Aktion. Ich wollte sie da nicht mit reinziehen.«

»Und das wirst du auch nicht. Das Gespräch ist beendet. Geh wieder spielen, Tony.«

Ich breche die Verbindung ab, lege das Handy zurück auf den Tisch und notiere mir Tonys Nummer, die noch auf dem Display angezeigt wird. Gerade rechtzeitig, denn Phil kommt zurück. Hat sie gesehen, wie ich telefoniert habe? Besser, ich sage ihr gleich die Wahrheit. Sonst kommt sie noch auf den Gedanken, diesen Verlierer zurückzurufen.

»Tony hat sich gemeldet.« Ich deute auf das Handy.

Sie schaut mich misstrauisch an, lässt das Telefon in ihrer winzigen Handtasche verschwinden und hängt sie zurück an ihre Stuhllehne. »Und? Was wollte er?«, fragt sie so beiläufig, als ob sie das gar nicht interessieren würde.

»Er macht sich Sorgen wegen Musti. Ich hab ihn zappeln lassen.«

Sie lächelt, zum ersten Mal richtig, seit wir zusammen unterwegs sind. »Weiß er, dass du ...«

Ich schüttle langsam den Kopf. »Gar nichts weiß er, nicht einmal, wo wir sind. Und wenn es nach mir geht, bleibt es auch dabei. Der würde uns hier gerade noch fehlen.«

»Danke, Paps.« Sie lehnt sich vor und tätschelt meine Hand. In einer Art Science-Fiction-Transfer überträgt sich eine Ladung ihrer Jugend auf mich. Deine Kraft zu meiner Kraft. Sie könnte das ruhig öfter machen. Dann fügt sie hinzu, mehr für sich: »Ich will Tony nie wieder sehen, niemals. Das war das Letzte, was ich für ihn getan habe.«

»Vergiss das Ganze so schnell wie möglich. Wir haben die Situation unter Kontrolle, das ist das Wichtigste. In ein paar Jahren lachen wir drüber.«

»Als ob es so einfach wäre.«

»Es ist so einfach. Nur Tony macht es kompliziert.«

Jetzt meldet sich mein Handy. Ich mache eine entschuldigende Geste und gehe ran. Eine raue Stimme meldet sich, direkt aus der Osteuropa-Sektion der Hölle, von der ich annehme, dass sie da unten den halben Laden einnimmt. Es ist Gwizdek. Er sagt, dass er auf dem Weg sei. Ob der Termin morgen in Ordnung gehe.

Ich bejahe. »Warum nennt man dich eigentlich die Pfeife?«, frage ich ihn. »Hast du mal was vermasselt?«

Er legt auf.

Phil zieht die Augenbrauen hoch.

»Morgen treffen wir ... eine Kontaktperson, um den Shit zu verkaufen«, erkläre ich ihr. »12 Uhr, auf der Piazza dei Miracoli. Das heißt, ich treffe ihn. Du hast nichts damit zu tun.«

»Du willst das Zeug verkaufen?«, fragt sie ungläubig.

»Warum nicht? Von dem Geld machen wir uns eine schöne Zeit. Etwas Luxus täte uns beiden ganz gut.« Von meinen Schulden bei Jerzy erzähle ich ihr lieber nichts.

»Du meinst, dir täte er gut. Dir und deinem Selbstwertgefühl. Am besten wäre es, den Shit einfach wegzuwerfen. Bringt nur Unglück.«

»Warum hast du ihn dann mitgenommen?«

»Schon mal was von Corpus Delicti gehört, Paps? Verbrenn den Kram, oder schmeiß ihn in den Fluss, da gehört er hin.«

»Glaub mir, es ist keine große Sache. Mein Abnehmer ist absolut vertrauenswürdig. Es geht ganz schnell: Du steigst den Schiefen Turm hoch, genießt die Aussicht, und bis du wieder unten bist, ist alles längst über die Bühne gegangen. Das macht uns finanziell unabhängig.«

»Drogengeld macht uns unabhängig?«, fragt sie zweifelnd.

»Wenn man es richtig anpackt. Und sag nicht Drogen, das klingt so spießig.«

»Oh Gott, weißt du, wie du dich anhörst? Wie Edith, wenn sie zu viel getrunken hat.«

»Jetzt halt mal die Luft an.« Ich lasse mir ja einiges von Phil bieten, aber mit meiner Mutter verglichen zu werden, geht entschieden zu weit. Bin ich Prince Fucking Charles?

»Mach doch, was du willst.« Sie steht abrupt auf. »Ich gehe jetzt in die Stadt.«

»Aber ich dachte –«

»Wir sehen uns morgen.« Damit verlässt sie das Restaurant. Als sie an dem Kellner vorbeikommt, verbeugt er sich vor ihr. Sieht irgendwie japanisch aus, gar nicht europäisch, eine Ehrbezeugung. So sollten wir alle miteinander umgehen, alles eine Frage des Respekts, egal, was wir innendrin denken. Sie wirft ihm ein paar Worte zu und lässt ihn dann stehen. Er wirkt verdutzt, setzt aber sofort wieder eine undurchdringliche Miene auf wie die Models in den Parfum-Anzeigen.

Kein idealer Anfang, denke ich, aber das wird schon. War alles ein bisschen viel für sie. Für wen wäre es das nicht? Wenn mir mit sechzehn das passiert wäre, was Phil in den letzten vierundzwanzig Stunden durchgemacht hat, wären meine lebenserhaltenden Systeme ab einem gewissen Punkt vermutlich einfach vom Netz gegangen. Motorik, Atmung, Gehirntätigkeit – alles hätte selbsttätig auf Stand-by geschaltet und gewartet, bis einer die Maus bewegt und der Prozessor wieder hochfährt. Dagegen wirkt Phil, als ob sie völlig klar im Kopf wäre, Herrin all ihrer Sinne. Warum war ich das nicht früher? Warum habe ich unablässig den Eindruck, erst jetzt, nach bald vier Jahrzehnten, das Wichtigste von dieser Welt kapiert zu haben? Hätte das, bitte schön, nicht schneller gehen können?

So wie es aussieht, habe ich ein paar Tage, vielleicht sogar ein paar Wochen Zeit, um Phil davon zu überzeugen, wieder zu mir zu ziehen. Ich glaube, dass es genau das ist, was sie sich wünscht. Deswegen hat sie sich auch mit Tony eingelassen. Er taugt zwar nichts, aber er hat eine Familie, mit allem, was dazugehört. Sie feiern gemeinsam Festtage, halten zusammen, umarmen sich andauernd, nicht auf diese unverbindliche Hallöchen-Art, sondern richtig. Das ist es: Verbeugen und umarmen, mehr will man doch gar nicht, das reicht schon, um einigermaßen aufrecht durchs Leben zu gehen. Na ja, vielleicht braucht es noch ein paar Übungen für die Rückenmuskulatur: Auf einem Bein stehend werden die Hände nach vorne und das andere Bein nach hinten weggestreckt. Arm, Rumpf und Bein bilden eine diagonale Linie. Hände einige Zentimeter anheben und den Po kräftig anspannen. Spannung halten und gleichmäßig weiter atmen. Nach ca. zehn Sekunden die Seite wechseln. Der Erfolg wird sich schneller einstellen, als Sie erwarten.

Ich nehme mein Weinglas und gehe an die Bar. Offenbar bin ich der letzte Gast des Restaurants. Nachdem der Kellner unseren Tisch abgeräumt hat, löscht er das Licht und folgt mir in den Barbereich. Dort sitzen bereits einzelne Leute, jeder für sich. Einige haben ihren Laptop aufgeklappt, können nicht lassen von den bunten Internet-Bildchen, die mit Verzögerung aufpoppen, je nach Datenmenge und Ladezeit. Zuerst erscheinen unzählige Werbebanners und Das-musst-du-unbedingt-auch-noch-anklicken-Animationen. Das ist, als ob man mit jemandem sprechen würde, der vor jedem Satz erst mal weitschweifig ausholt, dabei die Brille zurechtrückt, den Sitz des Jacketts checkt und einen nicht eher zu Wort kommen lässt, bis er alles losgeworden ist, was ihm auf einer Verkäufer-Schulung eingebläut wurde. Und es wiederholt sich vor jedem neuen Satz, auf eine uneffektive, selbstverliebte, zwanghafte Weise, wahrscheinlich, damit die Auftraggeber der Website sehen, dass sie etwas kriegen für ihr Geld. Nach einiger Zeit nimmt man diesen Dialog zwischen den Dienstleistern gar nicht mehr wahr. Tomorrow wirbt für Amazon wirbt für Shell. Die plustern sich da auf, werfen sich in Pose, während man selber in diesem Limbus zwischen analoger und digitaler Welt festhängt, unfähig, etwas anderes anzufangen als höchstens einmal vom Glas zu nippen oder die Glieder zu recken, Internetgymnastik eben.

Der Kellner heißt Francesco. Er ist doch nicht so übel, wie ich gedacht habe, jetzt, wo Phil ihn nicht mehr nervös macht und ich ihm einen Aperol Sun ausgebe, das Gleiche, was ich trinke. Natürlich ist er jünger als ich, vielleicht 25, so alt, wie ich war, als Sill – aber lassen wir das für den Augenblick. Durch Francescos auf Figur geschnittenes weißes Hemd erkenne ich, dass sein Oberkörper auftrainierter ist als meiner. Doch wenn er schnell mal ein paar Flaschen aus den oberen Barregalen holen muss, verrät mir das rasche Heben und Senken seines Brustkorbs, dass es mit seiner Kondition nicht zum Besten steht. Wahrscheinlich braucht er für einen Kilometer eine Zeit, die ich für meine Regenerationsläufe ansetze. Auf seinen Body Mass Index wirken sich die vielen Muskeln sicher nicht gut aus. Außerdem trägt er lächerlich weite Hosen. Giorgio Armani? Das kann doch nicht mehr Mode sein, Francesco. Oder hast du am Ende dicke Beine?

Wir stoßen mit unseren Drinks an, reine Fitnesspower mit hübsch Alkohol. Aperol Sun oder Caipirinha oder Mojito, das sind ganz andere Drinks, als früher schick waren. Martini Dry, von dem Mies van der Rohe angeblich 52 am Tag geschluckt hat, gehört zum Beispiel in Kriegszeiten – hart, bitter, schnell wegzukippen. Brandy Alexander –