Heiko Wolz

Abbildung 3

Mit Bildern von Anke Kuhl

Abbildung 4

Deutscher Taschenbuch Verlag

© 2013 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

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Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital - die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41910-9 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-76071-3

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

1 Gefahr, Gefahr!

2 Der größenwahnsinnige Maulwurf

3 Pauls Plan

4 In der Klemme

5 Der schnellste Mann der Welt

6 Superhelden-Test

7 Das Duell

8 Der menschliche Schatten

9 Rache ist Tomatensalat

10 Ein letzter Wunsch

11 Ein echter Freund

12 Läuse und Bauchschmerzen

13 (K)ein aufregender Tag

14 Eine schreckliche Entdeckung

15 In der Falle!

16 Dr. Schröder schlägt zu

17 Der Absturz!

18 Der Super-Retter

19 Marie!

20 Eine irre Fahrt

21 Highscore!

22 Ein ganz normaler Superheld

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1

Gefahr, Gefahr!

»Mann, Leon. Flieg doch mal, wie wir alle.«

Ich kann nicht fliegen. Und das weiß Laura. Trotzdem muss sie es mir wieder einmal auf die Nase binden. Oder gerade deshalb. Bei großen Schwestern kann man sich da nie sicher sein, und wenn sie ausgerechnet vierzehn Jahre alt sind und sogar an einem sonnigen Tag im August über das strahlende Blau des Himmels motzen, erst recht nicht.

Da bringt es nichts, etwas zu erwidern. Lieber schiebt man sein Rad weiter die Einfahrt hoch, bevor Mama und Papa auf der Matte stehen und einem auch noch einen Kommentar reindrücken. Laura setzt sanft auf und sieht trotz ihrer üblen Laune so frisch aus, als hätte sie einen Mittagsschlaf in einer Kühltruhe gehalten. Es scheint ein Naturgesetz zu sein, dass Superhelden nicht nur über Superkräfte verfügen, sondern auch super aussehen. Immer.

Mir dagegen schwappt der Schweiß aus den Schuhen. Bei jedem Schritt hinterlasse ich einen kleinen Tümpel auf dem Pflaster.

Neidisch bin ich nicht, auf keinen Fall.

Wenn es nach Mama und Papa ginge, müsste ich mich auch in einen hautengen Gummianzug quetschen, damit ich wenigstens so aussähe, als gehörte ich dazu. Aber für einen stinknormalen Zehnjährigen, der die städtische Grundschule besucht, dürfte es nichts Schlimmeres geben, als zur Tafel gerufen zu werden und zu merken, dass sein Kostüm an der entscheidenden Stelle kneift.

Also nein, danke, ich verzichte.

Und stehe mit meiner kurzen Jeans und dem Shirt im Viertel der Superhelden ziemlich allein da. Zum Glück kommt Paul mich nachher besuchen. Meinem besten Freund ist es egal, wie jemand aussieht. Liegt vielleicht auch daran, dass er trotz seiner dicken Brillengläser kaum etwas erkennt und sich öfter mal mit einem Laternenpfahl unterhält statt mit mir.

Über mir zischt es. Papa und Mama landen neben Laura – oder The Ray und IceMadam, wie wir sie nennen sollen. Die beiden halten nichts davon, Privat- und Berufsleben zu trennen.

Gerade war es noch windstill, jetzt flattert Papas Cape in einer leichten Brise. Die Fanfarenmusik erklingt, die selbst dann scheppert, wenn Papa nur das Klo betritt. Er und Mama stemmen die Fäuste in die Hüften und präsentieren ein so strahlendes Lächeln, dass ich auf der Stelle blind werden möchte. Es macht Pling! und über die Schneidezähne der beiden läuft ein Funkeln. Laura verdreht genervt die Augen.

Abbildung 6

Alles wie immer.

Papa Ray wirft Laura einen Blick zu. Keinen Laser- oder Röntgenblick, sondern eine Mischung aus Recht-hast-du und Aber-als-Vater-darf-ich-das-nicht-zugeben.

Spitze, er hat mal wieder von oben gelauscht.

Er nimmt mich zur Seite und baut ein Kraftfeld um uns herum auf. Muss seinen peinlichen Sohn vor den Nachbarn verstecken, was?

»Hör mal, Leon«, sagt er und ich höre. Ich höre, dass er zu einer Rede ansetzt. »Du kannst nichts dafür, dass du so durchschnittlich und unauffällig bist.«

Mama klopft von außen gegen das Kraftfeld. Ihr Gesicht ist in die Breite gezogen, als hockten Papa und ich in einem Goldfischglas.

»Ist das deine Vorstellung von Den-Jungen-ermutigen, Ray?«

»Um auf den Punkt zu kommen.« Papa ballt die Faust, dass sein Handschuh quietscht. »Du musst hart an dir arbeiten. Wir werden trainieren. Dann wirst du eines Tages auch außergewöhnlich sein. Grandios. Unglaublich. Fantastisch.«

Mama schiebt Laura ins Haus und blickt über die Schulter zu uns zurück. »Ihr wollt euch sicher im Hof die Zeit vertreiben, bis es Abendbrot gibt.«

Kein Fragezeichen. Das können nur Mütter: Einen Befehl als Frage tarnen.

Magst du das Vollkornbrot essen und ein Glas Milch dazu trinken?

Habe ich eine Wahl?

Nein.

Mir mit The Ray die Zeit zu vertreiben, hat mir noch gefehlt. Es macht auch unheimlich Spaß, mit jemandem Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst zu spielen, der durch Wände schaut. Oder wollen wir wieder versuchen, mit den Haaren als Antenne einen Radiosender zu empfangen, wie es Marvin Möller kann, der eingebildete Sohn von Captain Froggo, dem Froschmann? Wie soll ausgerechnet diese Superkraft zu was gut sein?

Mehr als Papas Seufzen, wenn er mich heimlich von der Seite aus beobachtet und den Kopf schüttelt, würde sowieso nicht bei mir ankommen.

Papa springt ungeduldig von einem Bein aufs andere. »Was wollen wir machen? Kreisel gegeneinander kämpfen lassen? Wasserbombenschlacht? Federball?«

Alles Spiele, bei denen es nur einen Gewinner geben kann. Und das ist es, was Papa will: gewinnen. Immer. Auch typisch Superheld.

Ich erinnere mich an einen Tag im Mai. Papa hat zwei Stäbe neben den Gartenpavillon in den Rasen gerammt und mich in die Mitte gestellt.

»Du bist der Torwart«, hat er gesagt und mit dem Ball in der Hand elf Meter abgezählt.

Komisch, habe ich gedacht. Normalerweise macht er größere Schritte. Er hat den Ball in einer Entfernung auf den Boden gelegt, aus der ich jede Naht im Leder erkennen konnte.

Mein Gehirn hat gerade verarbeitet, wie Papa zurückgetreten ist, da hat der Ball mich schon getroffen und durch die Luft geschleudert. Zum Glück hat die Garage mich auf null abgebremst, sonst befände ich mich sicher noch immer in der Erdumlaufbahn.

»Eindeutig nicht gehalten«, hat Papa gerufen und die Arme in die Hüften gestemmt.

Fanfarentröten, breites Grinsen, Funkeln auf den Zähnen. Das Übliche nach einer vollbrachten Mission.

»Wir könnten Rad fahren«, schlage ich vor. Den Tipp habe ich von Paul: »Wenn du mit deinem Dad spielen musst, vermeide jeglichen Sport, bei dem ihr gegeneinander antretet. Auf Dauer ist das gesünder für dich, mein Freund.«

»Wieso sollte ich Rad fahren, wenn ich in weniger als zehn Minuten zum Mond fliegen kann?« Papa reckt die Faust, als wolle er losdüsen.

»Kannste wohl nicht, was?«, frage ich. »Das Radfahren.«

Ich kenne seine Antwort, bevor ich die Frage zu Ende gestellt habe. Auch ein Superhelden-Syndrom.

»KANN ICH WOHL!«

Ich hole mein Rad. »Da ist der Sattel. Zum Draufsetzen.«

Papa nickt. »Wusste ich. Weiter.«

Ich zeige ihm so ziemlich alles und er springt auf und fährt. Das Rad ist etliche Nummern zu klein für ihn. Papas Cape schleift auf der Erde und wahrscheinlich erwürgt er sich in der nächsten Kurve selbst, wenn er drüberrollt. Seine Knie stoßen bei jedem Tritt abwechselnd gegen den mächtigen Brustkorb. Eine Runde nach der anderen dreht er und wird immer schneller. Nicht einmal Rad fahren kann er, ohne eine Show daraus zu machen. Er schießt wie ein Schnellzug an mir vorbei:

Achtung, Achtung, auf Gleis eins fährt durch der unaufhaltsame Ray.

Dumm nur, dass er tatsächlich nicht aufzuhalten sein könnte, denn wie mir gerade einfällt, habe ich vergessen, ihm die Sache mit dem Bremsen zu erklären.

Gummi auf Metall, denke ich. Gummi auf Metall!

Papas Beine verschwimmen zu einem Kreis. Mir wird schon vom Zusehen schlecht und auch Papas Gehirn scheint das Rumgekurve nicht gutzutun: Ohne Vorwarnung schaltet Papa seinen Laserblick ein.

Zzzssch!, gleitet der Strahl durch den Hof.

Die Pflastersteine verwandeln sich in Lava und schwimmen fort oder explodieren in der plötzlichen Hitze. Papas Laserblick schwenkt zum Blumenbeet und säbelt die Buschrosen ab. Grüne und rote Blätter steigen auf wie ein Schmetterlingsschwarm, bevor sie zu Asche verpuffen.

Abbildung 7

Papas nächste Etappe: der Gartenzaun mitsamt Briefkasten. Zzzssch! Vor sich hin kokelnde Reste der Post segeln vom Himmel.

Papa steuert zielsicher die Garage an. Zzzssch!, haben wir nicht mehr eine, sondern zwei halbe. Das Dach fängt Feuer und Papas Supersinne signalisieren ihm sofort und augenblicklich: Gefahr!

Gefahr.

Ich kann das Wort nicht mehr hören. Ständig verharren The Ray, IceMadam oder die unfassbare Laura vollkommen reglos und flüstern unheilvoll: Gefahr, Gefahr! Nur weil irgendwo einer pupst. Richtig gruselig ist das, wenn Laura mir ihr Gefahr ins Ohr raunt, als käme jeden Moment ein Krokodil um die Ecke gehopst und würde mir in den Hintern beißen.

Papa bläht die Backen. Feuer auspusten mit Superatem. Olle Kamelle. Er denkt allerdings nicht daran, dass er mit zweihundert Stundenkilometern durch den Hof jagt. Er bläst, was das Zeug hält, und trifft den Apfelbaum. Der Baum knickt um und begräbt den Gartenpavillon mitsamt Edelstahlgrill und Rattanmöbeln unter sich.

Papa rast an mir vorbei.

Mama springt aus dem Haus und schnappt das flatternde Cape am äußersten Zipfel. Wurde auch Zeit, dass ihr Supersinn Alarm schlägt. Sie reißt Papa vom Rad. Das holpert über eine knorrige Wurzel des Apfelbaums, steigt steil auf und schießt durch das geschlossene Fenster in Lauras Zimmer.

Plopp!, taucht meine Schwester keinen halben Meter neben mir auf. Irgendwann wird mir noch mal das Herz stehen bleiben. Aber wahrscheinlich legt Laura es sogar darauf an, dass ich eines Tages mausetot umkippe.

IceMadam und die unfassbare Laura schauen Papa Ray an.

Auch das beherrschen Mütter astrein und die Töchter gucken es sich ab. Vielleicht tippt eine dabei immer wieder mit dem Fuß auf, während die andere lieber die Arme verschränkt. Die Hauptsache besteht aber darin, zu schauen und nichts zu sagen. Bis der Angeschaute alles zugibt. Auch wenn er nichts getan hat.

Papa Ray schluckt.

Und zeigt auf mich.

Moment mal. Das gilt nicht!

Jetzt schauen IceMadam und Laura mich an. Und sagen nichts.

Es regnet immer noch verkohlte Briefe. Ein Flyer trudelt vor Mama zu Boden. Auf die Entfernung kann ich die Worte Einladung und Superschu... entziffern.

Mama löscht die letzten Flammen mit einem Fingerzeig. Eine dünne Eisschicht bildet sich auf dem Papier. Mama liest und hebt eine Augenbraue. Sie reicht den Zettel Papa, der ihn zögernd nimmt und ebenfalls liest. Auch er zieht eine Augenbraue hoch und ganz ohne Supersinne weiß ich sofort und augenblicklich, dass zwei gehobene Augenbrauen nur eins für mich bedeuten können: Gefahr, Gefahr!

2

Der größenwahnsinnige Maulwurf

»Keine Panik, mein Freund.« Paul spaziert in mein Zimmer. Die Augen hinter den dicken Brillengläsern blinzeln. »Wo liegt das Problem? Am Telefon klang das ja nach echtem Notfall.«

Während ich die Tür zumache, latscht Paul voraus. Er bleibt beim Spiegel am Kleiderschrank stehen.

»Raus mit der Sprache«, sagt er zu seinem Spiegelbild. »Ich kann schweigen wie ein Besenstiel. Muss dein Alter einen Superverbrecher schnappen und weiß nicht, wie?« Er zieht ein Blatt mit einer Zeichnung hervor. Ein Strichmännchen mit wehendem Cape steht unter einem krakeligen Kreis. »Natürlich muss ich noch wissen, welche Kräfte Rays Gegner hat, aber ich habe hier schon mal was vorbereitet. Wenn dein Dad einen Felsen von der Größe eines Hochhauses halten und im richtigen Moment zur Seite springen kann, wird das hinhauen.«

Manchmal verstehe ich, warum sie Paul in der Schule einen größenwahnsinnigen Maulwurf nennen.

Paul rückt seine Brille zurecht und wartet, dass sein Spiegelbild antwortet.

Bevor ich ihn auf mich aufmerksam machen kann, um ihm endlich zu erzählen, auf was für eine Katastrophe wir zusteuern, klopft es. Paul schaut mit zusammengekniffenen Augen zur Tür. Mama trägt ein Tablett mit zwei vollen Gläsern herein.

»Eistee, Jungs? Und Kekse?«

Wieder so ein Mütter-Ding: Es könnte ein Meteorit auf die Erde zurasen, und sie würden behaupten, nach einem Getränk und ein paar Keksen sähe die Welt schon anders aus.

Dummerweise sind es Schokokekse. Ich greife zu und auch Paul lässt sich einen in die Hand geben. Er nippt an seinem Eistee und hält Mama das Glas hin.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen ...?«

Abbildung 9

Mama steckt den Finger in Pauls Tee. Das Glas beschlägt, ein Tropfen rinnt außen nach unten und gefriert, bevor er fallen kann. Paul trinkt noch einmal und nickt zufrieden.

»Supercool«, sagt er und lächelt die Jacke an meinem Kleiderhaken dankbar an. Er stiefelt davon und wendet sich der Stehlampe neben dem Schreibtisch zu. »Was meinst du, Leon? Ist dein Alter fit genug? Oder soll ich einen Trainingsplan erstellen?«

Mama runzelt fragend die Stirn. Sie schüttelt den Kopf und schaut mit einem Grinsen zwischen Paul und mir hin und her. Als würden wir in Zeitlupe Pingpong spielen.

Schon wieder etwas, mit dem Mütter einen in den Wahnsinn treiben. Verträumt angucken. Selbst wenn man granatenmäßig sauer auf sie ist, schauen sie so, und wenn es dicke kommt, knuddeln sie dich, weil du ja total drollig aussiehst, wenn du wütend bist.

»Du, Paul?«, fragt Mama. »Hast du schon zu Hause angerufen?«

Paul wohnt nur zwei Haltestellen entfernt. Trotzdem muss Paul seiner Mutter Entwarnung geben, sobald er den kleinen Zeh auf unser Grundstück gesetzt hat. Und das nur, weil Paul schon mal in den falschen Bus gestiegen ist und das erst bemerkt hat, als sie an der Grenze seinen Pass kontrollieren wollten.

Ich finde, Pauls Mutter übertreibt. Das hätte doch jedem passieren können.

Na ja, fast jedem.

Paul nickt, ich schiebe Mama aus dem Zimmer und schließe die Tür. Paul kriegt das schon nicht mehr mit und textet die Lampe zu, wie er meinen Papa in Form bringen will.

Ich schlurfe zum Bett und setze mich.

Soll ich einen Kissenberg bauen wie früher und mich darunter verkriechen? So tief, dass meine Eltern mich bis nächste Woche nicht finden können?

Aber ich bin kein Baby und weiß, dass das nicht funktioniert.

Paul ist meine letzte Hoffnung.

»Ich muss vielleicht auf eine Privatschule«, sage ich.

Paul stößt einen Schrei aus. Seine Beine verknoten sich, weil sie in unterschiedliche Richtungen davonspringen. Er rudert mit den Armen, kriegt die Lampe zu fassen und reißt sie um.

Er rappelt sich auf und tätschelt den Lampenschirm, als glaube er immer noch, das Ding wäre mein Kopf.

Suchend dreht Paul sich in meine Richtung. »Mensch, Leon, seit wann sitzt du da drüben? Ich hab mich total erschrocken.« Er kichert. »Hat sich echt angehört, als hättest du von einer Privatschule gefaselt, in die deine Alten dich abschieben wollen.«

»Stimmt«, sage ich. »Weil irgend so ein Hirni sich einbildet, dass alle Superheldenkinder auf seine Schule gehen sollen. Damit sie was Ordentliches lernen. Voll bescheuert, was?«

Paul sagt nichts.

Steht einfach da.