Es geschah in Berlin …

Horst Bosetzky: Kappe und die verkohlte Leiche (1910)

Sybil Volks: Café Größenwahn (1912)

Jan Eik: Der Ehrenmord (1914)

Horst Bosetzky /Jan Eik: Nach Verdun (1916)

Iris Leister: Novembertod (1918)

Horst Bosetzky: Der Lustmörder (1920)

Peter Brock: Das schöne Fräulein Li (1922)

Wolfgang Brenner: Stinnes ist tot (1924)

Petra A. Bauer: Unschuldsengel (1926)

Horst Bosetzky: Bücherwahn (1928)

Petra A. Bauer: Kunstmord (1930)

Jan Eik: Goldmacher (1932)

Horst Bosetzky alias -ky lebt in Berlin und gilt als «Denkmal der deutschen Kriminalliteratur». Mit einer mehrteiligen Familiensaga sowie zeitgeschichtlichen Spannungsromanen avancierte er zu einem der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Zuletzt erschienen im Jaron Verlag von Bosetzky die Werke «Der Lustmörder» («Es geschah in Berlin 1920», 2008), «Schau nicht hin, schau nicht her» (in der Reihe Berliner Mauerkrimis, 2009) und «Kempinski erobert Berlin» (2010).

Originalausgabe

1. Auflage 2010

© 2010 Jaron Verlag GmbH, Berlin

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

ISBN 9783955520090

cover

Horst Bosetzky

Bücherwahn

Kappes 10. Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Impressum

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

NACHTRAG

Es geschah in Berlin …

EINS

EXEMPLARE DER GATTUNG CALLIPHORIDAE, allgemein Schmeißfliegen genannt, konnten Leichen über mehrere Hundert Meter wittern, und so hatten sie die Tote als Erste entdeckt und ihre Eierpakete noch schnell abgelegt, bevor die kalten Tage kamen. Bald waren die weißen Maden geschlüpft und hatten sofort begonnen, mit ihren Mundhaken kleine Gewebestücke zu fressen. Danach hatten sich Aaskäfer und Ratten an der Toten gütlich getan. Die Grünverfärbung hatte eingesetzt, zuerst am Unterbauch, dann am gesamten Körper, die Augäpfel waren eingesunken, Fäulnisblasen hatten sich gebildet, der Leib hatte sich aufgebläht, rötliche Fäulnisflüssigkeit war aus Mund und Nase herausgepresst worden, die Haut hatte sich in Fetzen abgelöst, und das Gesicht war nun derart aufgedunsen, dass auch enge Verwandte die Frau nicht mehr wiedererkannt hätten, zumal Nase und Lippen abgefressen worden waren. Die Fettwachsbildung hatte eingesetzt, die Mumifizierung begonnen.

Karl und Eva Wolz wohnten am südöstlichen Ende der ewig langen Weserstraße, die am Hermannplatz ihren Anfang nahm und bis zur Ringbahn reichte, genauer gesagt bis zur Neuköllner Gasanstalt an der Teupitzer Straße. Bis zu ihrer Laube in der Kolonie «Stolz von Rixdorf» am Dammweg waren es, nahmen sie ein paar Abkürzungen, anderthalb Kilometer, also mit dem Fahrrad ein Klacks und selbst zu Fuß kein Problem. Und so protestierte er auch nicht, als sie vorschlug, zwischen Mittagessen und Kaffee einen kleinen Spaziergang zu machen und nach dem Rechten zu sehen.

«Ich habe so ein komisches Gefühl», sagte Eva Wolz.

«Wieso denn das?»

«Na, dass unsere Laube diesmal wirklich abgebrannt ist.» Diese Angst war nicht ganz unbegründet, denn es gab einige Laubenpieper, die Silvester gern draußen in der Kolonie feierten, weil man dort ungestört lärmen und riesige Feuerwerke veranstalten konnte. Letztes Jahr war dabei das Holzhäuschen eines Nachbarn in Flammen aufgegangen.

«Ich fürchte eher was anderes», sagte Karl Wolz. Dass nämlich einer der Besoffenen irgendwann mal ihre Laube aufbrechen würde, um dort seinen Rausch auszuschlafen.

Da es früh dunkel wurde, machten sie sich gleich nach dem Mittagessen auf den Weg. Auf die beiden Kinder passte inzwischen die Oma auf.

«Wieder ein neues Jahr», sagte Eva Wolz.

«Was soll es schon Gutes bringen?» Karl Wolz war ein zu politischer Mensch, um nicht zu spüren, dass es im Gebälk der jungen Republik mächtig krachte. «Sie werden die NSDAP wieder zulassen - und dann …»

Karl Wolz, Elektriker bei der Gasag und seit fünf Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei, erinnerte sich an die blutige Schlacht, die es im gerade zu Ende gegangenen Jahr, in der Nacht vom 20. zum 21. März, gegeben hatte. Auf dem S-Bahnhof Lichterfelde-Ost hatte es ein kleiner Trupp von Kommunisten mit sechshundert SA-Leuten aufgenommen.

Eva Wolz war nicht so pessimistisch wie er. «Es kann doch alles nur noch besser werden.» Sie hatte zwei Brüder im Krieg verloren und als Kind zwei Winter lang mächtig gehungert und gefroren.

Sie gingen über die Teupitzer Brücke und dann am Neuköllner Schifffahrtskanal entlang bis zur Dieselstraße, von der aus sich ihre Laubenkolonie sozusagen von hintenherum erreichen ließ. Auf dem Hauptweg wurden sie von Kolonisten empfangen, die mit einigen Sektflaschen angerückt waren, um hier draußen miteinander anzustoßen.

«Prosit Neujahr!»

«Prosit Neujahr! Und Glück und Gesundheit für die nächsten 365 Tage!»

«366 Tage - denn wir haben ’n Schaltjahr.»

«Trinkt ihr was mit?»

«Klar, wir holen uns nur Gläser aus der Laube.» Sie machten noch ein paar Schritte, dann standen sie vor der Parzelle 74. Ihr flaches, selbstgebautes Holzhäuschen leuchtete mit seinem roten Anstrich selbst an einem Tag, der so diesig war, dass alle Farben verschluckt wurden.

«Es ist ja gar nicht abgeschlossen gewesen!» Karl Wolz war verblüfft. Das musste er glattweg vergessen haben, als sie die Laube Ende Oktober winterfest gemacht hatten.

«Und stinken tut’s auch», sagte Eva Wolz, als ihr Mann die Tür nach innen gedrückt hatte. «Hast du den Harzer Käse vergessen?»

Hermann Kappe quälte sich durch den Vormittag. Silvester hatten sie bei Verwandten gefeiert, bei den Börnickes, und dort hatte er so viel getrunken, dass er seinem Kater nicht beikommen konnte. Fünf Rollmöpse hatte er schon gegessen, aber er fühlte sich noch immer hundeelend. Zum Glück spielten die beiden größeren Kinder mit der Oma Mensch-ärgere-dich-nicht, und Klara war dabei, ihre Patience zu legen. Das galt als vornehm. Der kleine Karl-Heinz lag in der Wiege und versuchte unverdrossen, aus seinem Nuckel Muttermilch zu saugen.

Kappe holte sich einen Eisbeutel aus der Küche und legte sich auf die Couch, um seinen Kopf zu kühlen. Die Bilder der letzten Nacht tauchten wieder auf. Beim Bleigießen hatten sie, als er an der Reihe gewesen war, alle aufgeschrien: «Ein Grabkreuz!» Das galt als böses Omen, und sie hatten sich gefragt, wer wohl im neuen Jahr vom Herrn heimgeholt würde in die Ewigkeit. Sein Vater, seine Mutter, er selber? Bei seinem Beruf als Kriminalkommissar … Quatsch! Er hatte gelacht und gesagt: «Das ist nur die Warnung des Himmels, dass ich im Februar vierzig werde. Memento mori!» Carpe diem – das Leben auskosten. Er stöhnte auf. Nein, nicht noch einmal ein solches Theater wie vor sechs Jahren bei seiner Affäre mit der kleinen Chinesin. Bei seinem früheren Chef, Waldemar vom Canow, hatte ein Spruch von Theodor Fontane hinter dem Schreibtisch gehangen: In der Arbeit wohnt der Friede, in der Mühe wohnt die Ruh’, und je älter Kappe wurde, desto mehr flüchtete er sich in die Arbeit, um nicht pausenlos über das Wieso, Weshalb, Warum des Lebens nachdenken zu müssen und darunter zu leiden, dass sich alles im Leeren drehte. So begann er, Feiertage zu fürchten, und ertappte sich öfter bei dem stillen Gebet: Herr, lass wieder einen Mord geschehen, damit ich nicht durchdrehe! Nein, bitte nicht! Als Christenmensch musste er sich schämen, solche Gedanken zu haben.

Das Mittagessen fand heute am Neujahrstag zwei Stunden später als üblich statt, weil ja allen noch die Pfannkuchen schwer im Magen lagen, und er schlief noch einmal ein. Das war ein Segen.

Als seine Mutter ihn dann zum Essen rief, ging es ihm schon wieder besser. Es gab traditionsgemäß gebratenen Karpfen, und die Stücke sahen so knusprig aus, dass sein Appetit zurückkehrte. Doch kaum hatte er den ersten Bissen im Mund, klingelte das Telefon.

«Lass es klingeln», sagte Klara.

Kappe sah seine Frau kopfschüttelnd an. «Das ist ein Diensttelefon, und wenn es klingelt, muss ich rangehen.»

«Das ist doch nur dein Freund Lubosch.»

«Das kann aber auch das Präsidium sein.»

Und er sollte recht haben. In einer Laubenkolonie in Neukölln habe man eine Leiche gefunden, und in einer Viertelstunde würde das Mordauto bei ihm vor der Tür stehen, um ihn abzuholen.

«Du Ärmster!», sagte seine Mutter.

«Wenn ich noch mal die Wahl hätte, würde ich einen Mann heiraten, der nicht immer weg muss», murmelte Klara. So leise, dass es nur ihre Schwiegermutter hörte, nicht aber die Kinder.

Draußen auf dem Flur sagte Kappe zu ihr, dass sie bitte nicht versuchen solle, ihn umzubringen, denn der große Ernst Gennat würde den Mord an einem Kollegen schon aufgeklärt haben, bevor er begangen worden sei. Da Hartmut und Margarete angelaufen kamen, um ihm adieu zu sagen, küssten sie sich formvollendet wie im Film.

Unten im Mordauto hockte Gustav Galgenberg, Urgestein der Berliner Kriminalpolizei, und war am Meckern, kaum dass er Kappe ein gesundes und glückliches neues Jahr gewünscht hatte. «Nicht mal die Feiertage über hat man seine Ruhe! Det hätte doch allet ooch noch bis morjen Zeit gehabt.»

«Was hätte Zeit gehabt?», fragte Kappe.

«Det mit der Toten. Die soll schon ziemlich verwest sein.»

«Ist denn schon klar, dass es sich um einen Mord handelt?» Kappe war so förmlich, dass Galgenberg ihn erstaunt anguckte.

«Der Schupo, der se jesehn hat, meint ja.» Auch Galgenberg hatte ausgiebig gefeiert und rieb sich stöhnend die Schläfen. «Joethe musste sterben, Schiller musste sterben, und ick fühl ma ooch nich wohl.»

«Wo genau in Neukölln müssen wir denn hin?», fragte Kappe den Chauffeur.

«Dammweg, Kolonie ‹Stolz von Rixdorf›.»

«Nie gehört.»

«Und det dir als Neu-Neuköllner!», rief Galgenberg. «Aber wenn allet nich existieren würde, wovon wir nüscht jehört ham, dann wär die Welt ziemlich arm dran.»

Kappe sah ihn staunend an und formulierte seinen Gedanken in einem druckreifen Satz: «Hast du beschlossen, im neuen Jahr ein Philosoph genannt zu werden?»

«Viel Sophie is ma imma recht», erklärte Galgenberg. «Davon kann ick nie jenuch kriegen. Hast du die Sophie mal gesehen, meine neue Nachbarin?»

«Nein, leider nicht.»

«Die hat so ’n Silberblick, det se sich selba in de Pupille kieken kann, aber die Figur …» Er schnalzte mit der Zunge.

Vom Lowise-Reuter-Ring, Kappes neuer Heimat, bis zum Bahnhof Köllnische Heide war es nur ein Katzensprung, denn die Hufeisensiedlung stieß fast an die Rudower Chaussee, und bog man von der rechts ab in die Späthstraße, war man schnell in Baumschulenweg und damit am Beginn der Sonnenallee, wie der Straßenzug hieß, der dann hinter der Ringbahn als Kaiser-Friedrich-Straße ganz Neukölln durchzog. Obwohl an sich gar kein Irrtum möglich war, gelang es dem Chauffeur mühelos, sich zweimal in der Richtung zu irren.

«Hoffentlich is nich allet so verfahren», sagte Galgenberg.

«Wat wolln Se denn, wir sind doch schon da!», rief der Chauffeur, als sie kurz vor dem Bahnhof Köllnische Heide von der Sonnenallee links in den Dammweg einbogen.

«Noch nicht ganz», korrigierte ihn Galgenberg. «Wir müssen noch weiter, fast bis zur Kiefholzstraße.»

Die Dämmerung brach schon herein, als sie ihr Ziel endlich erreicht hatten. Nichts konnte so trist sein wie eine Laubenkolonie an einem trüben Wintertag, und sogar ein so fröhlicher Mensch wie Gustav Galgenberg verfiel in schwermütiges Schweigen.

Kappe dagegen fand den Kontrast zur grellen Silvesternacht eher erholsam. So überdreht wie auf Silvesterfeiern waren die Menschen selten, und Klara war ihm dabei besonders auf die Nerven gegangen. Und umgekehrt. Sie hatte ihn als märkischen Hinterwäldler beschimpft. Dabei kam sie selber aus einer Holzfällerhütte an einem gottverlassenen See südlich von Wendisch Rietz. Sein Vater hatte es immerhin zu einem ansehnlichen Haus gebracht.

Ein Schutzmann winkte sie heran, so dass sie nach der Laubenkolonie «Stolz von Rixdorf» nicht lange suchen mussten. Die Menschenmenge, die sich ansonsten bei einem Kapitalverbrechen immer schnell am Tatort ansammelte, bestand in diesem Falle nur aus einigen Laubenpiepern. Dazu kamen ein paar Kollegen, die scheinbar ziellos herumwuselten.

Galgenberg murmelte, dass sie doch einen schönen Beruf hätten und sang: «Sehen wir ’ne Leiche,/so is et nie die jleiche.»

Der Kollege von der Schutzpolizei nahm sie in Empfang, führte sie durch das Labyrinth der Wege zur richtigen Laube und gab ihnen die ersten Informationen.

«Gefunden hat die Tote das Ehepaar Wolz. In seiner Laube. Die liegt so, dass sie von der Straße her nicht eingesehen werden kann. Auch im Winter nicht, wenn keine Blätter an den Bäumen und Sträuchern sind.»

«Was haben die Leute Neujahr hier draußen zu suchen?», fragte Kappe.

«Die wollten nur sehen, ob alles noch steht. Letztes Jahr hat es hier gebrannt.»

Galgenberg dachte nach. «Die letzte verkohlte Leiche hatten wa 1910 uff ’m Kohlenplatz in Moabit. Wär mal wieda eene fällich jewesen.»

Als Kappe die Tote sah, konnte er den Reflex nicht ganz unterdrücken und hätte beinahe Schleim hervorgewürgt.

Galgenberg war da härter im Nehmen und murmelte, eine verwesende Leiche sei doch etwas ganz Natürliches. «Und wie sagt der jeborene Berliner: Halte dir an die Natur,/sie allein bejlückt dir nur.»

Als er die Maden sah, wurde Kappe vollends übel, während Galgenberg nur meinte, man müsste Angler sein. «So ville Köder!» Dr. Kniehase war schon zehn Minuten vor ihnen eingetroffen und konnte mit den ersten Erkenntnissen aufwarten. «Da die junge Frau, die mit ihrem Mann die Tote entdeckt hat, kollabiert ist, hatten wir sehr schnell einen Arzt hier.»

«Sehr praktisch», murmelte Galgenberg.

Dr. Kniehase, in letzter Zeit sehr schnell narzisstisch gekränkt, guckte böse. «Wenn Sie mich bitte nicht unterbrechen würden!»

«Wie würde ich das wagen, Herr Doktor!»

«Also …» Dr. Kniehase musste tief durchatmen, um die Contenance zu wahren. «Wir beide, der Mediziner und ich, wir sind aufgrund des Stadiums von Fäulnis, Verwesung und Madenfraß sowie der beginnenden Fettwachsbildung und Mumifizierung der Meinung, dass der Tod vor etwa acht bis zehn Wochen eingetreten sein muss. Vielerlei Anzeichen deuten darauf hin, dass die Frau erschlagen und erwürgt worden ist.»

«In welcher Reihenfolge?», fragte Galgenberg.

Dr. Kniehase wusste nicht, ob der Kollege ihn vergackeiern wollte, und überhörte die Frage.

Kappe war das zunächst einmal egal, ihn interessierte eher das Alter der Toten.

«Mitte bis Ende dreißig, würde ich schätzen.» Dr. Kniehase war da sehr vorsichtig. «Und nach den Resten ihrer Kleidung und den Goldzähnen zu urteilen, dürfte sie den höheren Ständen angehört haben.»

«Komisch», sagte Kappe. «Wie kommt eine Frau aus den höheren Ständen in diese Laubenkolonie?»

«Sie ist woanders getötet und danach hierher verbracht worden», antwortete Dr. Kniehase. «Kampf- und Blutspuren haben sich hier keine entdecken lassen.»

«Und - ist die Tür zur Laube aufgebrochen worden?», fragte Galgenberg, der für die reine Routine zuständig war.

«Nein, es scheint so, als wäre sie ganz normal aufgeschlossen worden beziehungsweise gar nicht abgeschlossen gewesen, was der Eigentümer aber mit Nachdruck bestreitet.»

«Wer kann denn auf die Idee kommen, sein Mordopfer ausgerechnet an dieser Stelle abzulegen?», fragte Kappe, um sich gleich selber die Antwort zu geben: «Doch nur einer, der sich hier auskennt und weiß, dass die Kolonisten in der Regel erst Anfang März wieder rauskommen, um alles auf Vordermann zu bringen.»

«Wenn wir wenigstens schon wüssten, wie die verweste Dame heißt», sagte Galgenberg.

«Fragen wir doch mal den Pächter, ob er ’ne Ahnung hat.» Kappe machte sich auf, den Eigentümer der Laube zu finden. Ein Kollege von der Schutzpolizei sagte ihm, dass der in der Nachbarlaube säße und warten würde, ein gewisser Karl Wolz aus der Weserstraße.

Kappe ging hinüber, stellte sich vor und fragte, ob Wolz die Tote schon einmal gesehen habe.

«Nein, meines Wissens nicht, aber von ihrem Gesicht ist ja kaum noch was zu erkennen.»

«Ja, leider Gottes.» Kappe überlegte einen Augenblick. Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Zu stark schmerzte sein Kopf. «Sagen Sie … äh … Eine Verwandte von Ihnen könnte das nicht sein? Es kommt ja manchmal vor, dass Frauen ihren Männern davonlaufen und dann froh sind, irgendwo Unterschlupf zu finden.»

Wolz nickte. «Klar, meine Schwester hat das wirklich mal gemacht, aber die lebt jetzt gesund und munter in Stralsund.»

Kappe hatte immer mehr Mühe, sich zu konzentrieren. «Und einen Schlüssel zu Ihrer Laube hatte keiner außer Ihnen?»

«Nicht dass ich wüsste.»

Kappe konnte sich gerade noch zu einer letzten Frage aufraffen: «Wann waren Sie denn zum letzten Mal hier?»

Wolz musste einen Augenblick nachdenken. «Das muss am letzten Sonntag im Oktober gewesen sein.»

Kappe rechnete. «Das ist dann rund zwölf Wochen her.»

«Acht, wenn ich Sie verbessern darf.»

«Acht, ja.» Kappe überlegte, wann und wo er diese Zahl schon einmal gehört hatte. Erst nach ein paar Sekunden fiel es ihm ein: Dr. Kniehase hatte davon gesprochen, dass die Frau vor acht bis zehn Wochen gestorben sein müsse.

Er hätte sich am liebsten in die nächstbeste Ecke gelegt und seinen Mittagsschlaf fortgesetzt. Wenn er etwas hasste, dann waren es Leichen, die man erst Wochen oder gar Jahre nach der Tat entdeckte, denn mit jeder Stunde, die verging, nachdem sie ihr Leben ausgehaucht hatten, sank die Wahrscheinlichkeit, den Täter zu finden, und schnell lag sie bei null Prozent.

Galgenberg, der inzwischen herbeigekommen war, erriet seine trüben Gedanken und versuchte, ihn mit den Kranichen des Ibykus zu trösten. « Doch wehe, wehe, wer verstohlen/Des Mordes schwere Tat vollbracht,/Wir heften uns an seine Sohlen,/Das furchtbare Geschlecht der Nacht!.

«Wenn wir das furchtbare Geschlecht der Nacht sein sollen, dann ist das Beamtenbeleidigung», sagte Dr. Kniehase. «Sie sollten das lassen!»

«Mir ist nicht gut, ich gehe nach Hause», sagte Kappe in Richtung Dr. Kniehase und Galgenberg. «Sie bleiben ja noch hier, bis alle Spuren gesichert sind und alles photografriert worden ist.»

Er hatte tatsächlich photografriert gesagt, halb erfroren, wie er war. Das neue Jahr fing ja wunderbar an - höchstwahrscheinlich mit einer Lungenentzündung!

ZWEI

HANNS-MARTIN TOMUSCHAT gönnte seinem Chauffeur eine etwas längere Mittagspause und setzte sich selber ans Steuer seines Opel «Laubfrosch», um zum Mittagessen nach Hause zu fahren. Vier Zylinder und zwölf PS waren nicht gerade standesgemäß, aber er liebte diesen Wagen. Von der Firma in der Seesener Straße bis zu seiner Wohnung in der Johann-Georg-Straße, die in etwa zwischen Kurfürstendamm und Hochmeisterplatz gelegen war, mochten es nur neunhundert Meter sein, aber für einen Autohändler war es irgendwie unschicklich, zu Fuß zu gehen.

Die Seinen saßen schon am Tisch, und er begrüßte in der protokollarisch richtigen Reihenfolge zuerst seine Mutter, dann seine Gattin und schließlich die beiden Kinder. Auf die Sekunde genau um zwölf Uhr dreißig wurde serviert.

«Bitte sehr, Herr Direktor», sagte das Mädchen und machte artig seinen Knicks.

Tomuschat war eine imposante Erscheinung. Hoch aufgeschossen war er und so schlank, dass die Leute ihn für noch größer als 1,90 Meter hielten. Dabei trug er den Kopf stets ein wenig zur Seite geneigt, was daran lag, dass er auf dem rechten Ohr infolge einer Kriegsverletzung taub geworden war und das gesunde Ohr der Welt entgegenstreckte, um besser hören zu können. Man konnte ihn, zumal er stets elegant gekleidet war, für einen englischen Konservativen halten, aber auch für einen preußischen Junker oder den Aufsichtsratsvorsitzenden einer machtvollen AG. In Restaurants, in denen man ihn kannte, wurde er voller Hochachtung mit «Herr Direktor» begrüßt, obwohl er nur Eigentümer einer mittelständichen Firma war, die den Handel mit Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen betrieb.

Er war am 14. Dezember 1886 in Groß-Lichterfelde auf die Welt gekommen. Der Vater verdiente mit seinem Fahrzeughandel so viel, dass es zu einer ansehnlichen Villa mit Köchin, Kindermädchen und Hausdiener reichte, und seine Mutter war nicht nur eine resolute Frau, sondern verfügte auch über eine umfassende Bildung.

Da gleich hinter ihrem Garten die große preußische Kadettenanstalt gelegen war, hatte Tomuschat keinen anderen Wunsch gehabt als den, Offizier zu werden. Mit allen Faktoren, die dazugehören - Fachwissen, Intelligenz, Chuzpe, Beziehungen und Glück –, hatte er es bis zum Hauptmann gebracht, ehe er 1917 an der Somme schwer verwundet wurde. Insbesondere die Kopfverletzungen hatten ihm zu schaffen gemacht. Nach mehreren Kuraufenthalten war er erst 1920 wieder nach Berlin zurückgekommen, und da hatte man als Folge des Kapp-Putsches seine Einheit gerade aufgelöst. Nun hatte es einige Turbulenzen in seinem Leben gegeben. Er war abgetaucht in die Welt der Boheme, hatte zu trinken und zu spielen begonnen und eine Karriere als Hochstapler und Heiratsschwindler ins Auge gefasst. Immer wieder quälten ihn die schrecklichen Bilder, wie liebe Kameraden neben ihm von Granaten zerfetzt wurden, und gegen seine Kopfschmerzen halfen keine Tabletten.

Nach einem Selbstmordversuch hatte er einige Zeit in der Charité gelegen und sich dort in die Krankenschwester Martha Hagen verliebt. Aber an Heirat war nicht zu denken gewesen - wie hätte er denn eine Familie ernähren können? Da war ganz überraschend sein Vater gestorben, und seine Mutter hatte ihn gedrängt, die Firma zu übernehmen. Derart ins kalte Wasser geworfen, bewährte er sich wider Erwarten, und im Sommer 1922 hatte man heiraten können. Es hatte auch gedrängt, denn Marthas Schwangerschaft war nicht mehr zu übersehen gewesen. Der Tochter Lieselotte war zwei Jahre später der Sohn Ottomar gefolgt.

Lilo und Ottomar standen auch bei der heutigen Mahlzeit im Mittelpunkt.

«Lieselotte, würdest du bitte nicht so schlürfen!», mahnte Louise Tomuschat.

«Ja, Oma.»

«Das heißt nicht: Ja, Oma - sondern: Jawohl, Großmutti. Wir sind hier nicht bei Besuffskis im Wedding, wo …» Sie konnte ihren Satz nicht zu Ende bringen, weil ihr Enkel in diesem Moment den Löffel Suppe, den er im Mund hatte, wieder ausspuckte.

«Pfui, da is ’ne Fliege drin geschwimmt!»

«… drin geschwommen, Ottomar, und das Ausspucken überlassen wir bitte den Proleten.»

Tomuschat stöhnte leise auf. «Bitte, Mutter, denk an deine Gesundheit!»

«Und du an die angemessene Erziehung deiner Kinder!» Louise Tomuschat, gerade 63 Jahre alt geworden, hatte in jungen Jahren ihr Geld als Gouvernante verdient und die Attitüden, die dieser Beruf mit sich brachte, nie ablegen wollen und können. Sich very british zu geben war ihr stetes Bemühen. Dies hatte sie auch im Krieg durchzuhalten versucht, obwohl man sie einmal der Spionage für den Feind verdächtigt und kurzzeitig inhaftiert hatte. Glücklicherweise hatte ihr Mann gute Freunde im Generalstab gehabt.

Zu ihrem Sohn hatte sie ein etwas angespanntes Verhältnis, denn recht eigentlich hielt sie ihn für einen Versager. Dass er es nicht zum General gebracht hatte, mochte dem Untergang des Kaiserreiches geschuldet sein, aber dass er nicht ins Ausland gegangen war, um sich dort seine Sporen zu verdienen, war ihm vorzuwerfen. Ein richtiger Mann versuchte sich in Indien, Kanada, Japan oder Chile. Wer immer nur in Berlin hocken blieb, konnte nichts taugen. Verwerflich fand sie auch, dass er nichts selber auf die Beine gestellt, sondern sich nur ins gemachte Nest, sprich die väterliche Firma, gesetzt hatte. Wenn sie dennoch des Öfteren zu Besuch kam, lag das an ihrem ausgeprägten Pflichtgefühl, denn wenn sie sich nicht um die Erziehung ihrer Enkelkinder kümmerte, wer sollte es tun? Ihre Schwiegertochter war zu ungebildet dazu und ihr Sohn zu sehr mit sich selbst, seinen Büchern und seiner Firma beschäftigt.

Das Hauptgericht wurde aufgetragen, und zwar der Karpfen, der Silvester übrig geblieben war, nun nicht blau, sondern gebraten.

«Ich esse keinen toten Fisch!», rief Lilo.

«Willst du lieber lebendigen?», fragte Tomuschat. «Komm, dann fahren wir zum Lietzensee und angeln welchen.»

Seine Tochter begann zu argumentieren: «Im Fisch sind Gräten, und wenn die einem im Hals stecken bleiben, dann stirbt man.»

«Au ja!», rief Ottomar.

«Ich muss doch bitten!», rief Louise Tomuschat und warf einen vernichtenden Blick auf ihre Schwiegertochter. «Martha, hast du den Kindern wieder von deinen schrecklichen Krankenhauserlebnissen berichtet?»

«Nein, Schwiegermama, das müssen sie in der Küche bei Johanna aufgeschnappt haben. Es gibt Schlimmeres.»

Martha Tomuschat, geborene Hagen, war nach der Geburt ihres ersten Kindes etwas rundlich geworden, was sie noch gutmütiger erscheinen ließ, als sie eigentlich war. Bekannte, die sie aber ebenso anerkennend wie spöttisch eine Glucke nannten, hatten sicher recht. Übersehen wurde oft, dass sie, schließlich war sie von Hause aus Krankenschwester, sehr energisch und zupackend sein konnte. Sprach sie ihren Freundinnen gegenüber von Tomuschat zuweilen als von «meinem großen Jungen», dann war das ein Indiz dafür, dass sie ihn auch geheiratet hatte, um jemanden zu haben, dem sie helfen konnte. Das brauchte sie, weil sie gläubig war und die Bergpredigt tief verinnerlicht hatte: Selig sind die Barmherzigen. Schon bei ihrer ersten Begegnung im Krankenhaus, als sie ihn nach einem Alkoholexzess gepflegt hatte, war ihr klargeworden, dass er jemand war, der darauf wartete, gerettet zu werden. Sie wusste viel über ihn, wenn auch wohl nicht alles, aber sie verzieh ihm alle seine Eskapaden, denn sie führte diese auf seine Kriegsverletzungen zurück. «Der Kopfschuss damals, er kann doch nichts dafür.»

Tomuschat war glücklich, sie gefunden zu haben, obwohl sie seine sexuellen Wünsche nicht im Entferntesten befriedigen konnte.

Das war früher anders gewesen, aber seit die Kinder da waren, lag sie nur noch leblos unter ihm und ließ alles über sich ergehen.

Seine Mutter litt darunter, dass in der Johann-Georg-Straße bei Tische selten eine gehobene Unterhaltung in Gang kam, und glaubte, nun endlich ein Thema gefunden zu haben. «Ende Februar will der afghanische König Aman Ulla nach Berlin kommen.» Tomuschat winkte ab. «Der wird keinen Maybach bei mir kaufen, der wird nur Hochbahn fahren. Irgendwer hat mir erzählt, dass sie ihm sogar einen eigenen Wagen bauen.»

Seine Mutter kam nun auf ihr Lieblingsthema zu sprechen, auf Edgar Wallace. Dessen Kriminalromane hatte sie schon lange gelesen, in der englischen Urfassung natürlich, und seit Der Hexer im Deutschen Theater aufgeführt wurde, war ihre Begeisterung zur Schwärmerei geworden. Bei der Premiere am 27. Mai 1927 hatte sie ganz vorn im Parkett gesessen, und was Alfred Kerr damals geschrieben hatte, kannte sie auswendig: Erstens: Gänsehaut plus Komik. Zweitens: fesselnder Blick in die dramatische Zukunft.

«Jede Zukunft ist dramatisch», sagte Tomuschat und erhob sich, um wieder in die Firma zu fahren. «Und irgendwann in dieser Zukunft wird sich in jedem Haushalt ein Kraftwagen finden.»

«Schrecklich!», rief seine Mutter. «Krethi und Plethi am Lenkrad.»

Tomuschat lachte. «Mir soll’s recht sein, dann werde ich mir endlich Pferde zulegen können, mit denen man auch mal die Chance hat, ein Derby zu gewinnen.»

Die Firma Anton Tomuschat hatte sich auf die Automobile der Fahrzeugfabrik Eisenach spezialisiert und machte ihren Umsatz in der Hauptsache mit deren Flaggschiff, dem Dixi-Automobil. Seit der Vierzylindertyp U 35 mit 7320 Kubikzentimetern Hubraum, einer Stärke von 65 PS und einer Höchstgeschwindigkeit von 85 km /h auf den Markt gekommen war, hatte er bald zu den renommiertesten Wagen gehört, gerühmt wegen seiner Fahrleistung und seiner Zuverlässigkeit. Als man sich mit der Gothaer Waggonfabrik AG zusammengeschlossen hatte, war es zu einer Änderung der Modellpolitik gekommen, und der Dixi wurde nun als Kleinwagen angeboten. Der Typ 3 /15 DA wies aber immerhin einen Vierzylindermotor auf und sah wie ein richtiges Auto aus.

Gelegentlich verkaufte man auch andere Wagen wie etwa den Audi Typ E 21 /78 PS von 1923, den Opel «Laubfrosch» von 1924, den Maybach W 5 Typ 27 /120 PS von 1926 und den Wanderer W 8 Typ 5 /20, entwickelt in den Jahren 1926/27. Ausländische Wagen wurden selten an den Mann gebracht, am ehesten ließ sich noch der Bugatti Type 35 mit 90 PS verkaufen. Um Kunden anzulocken, hatte Tomuschat einen um 1910 gebauten Horch 12 /28 PS Phaeton im Schaufenster stehen.

Als er auf den Firmenhof rollte, kam ihm Bruno Paparty entgegen, trotz der Kälte ohne Jackett oder Mantel. Seine Krawatte flatterte im Wind, und die Schneeflocken rieselten auf seine nackten Unterarme, um dort zu schmelzen.

«Sie haben ja Hitze!», rief Tomuschat beim Aussteigen. «Dass Sie mir keine Lungenentzündung bekommen!»

Das wäre eine Katastrophe gewesen, denn ohne Paparty hätte er den Laden schließen können. Paparty war nicht nur sein Geschäftsführer, sondern auch sein Privatsekretär und Psychotherapeut. Ein Freund im engeren Sinne war er nicht, dazu war er mit seinen 33 Jahren zu jung, vor allem aber war Tomuschat so oft von seinen Freunden enttäuscht worden, dass er keine mehr haben wollte, und kam allen mit dem Spruch: «Gott beschütze mich vor meinen Freunden; mit meinen Feinden will ich schon selber fertig werden.»

«Was gibt es Neues?», fragte er Paparty.

«Der Maybach W 5 soll ein Schnellgang-Getriebe erhalten und dann als W 5 SG vertrieben werden.»

«Schön, das wird uns helfen, die Herren zu überzeugen, die keinen Chauffeur mehr haben wollen oder keinen mehr bezahlen können.»

Noch immer überwogen die Käufer, die einen eigenen Chauffeur zur Verfügung hatten, doch langsam wuchs die Zahl der «Herrenfahrer», die sich selber ans Lenkrad setzten - und dies am liebsten in einem Cabriolet.

«Man munkelt, dass Audi in finanzielle Schwierigkeiten geraten sei», sagte Paparty, während er Tomuschat die Tür aufhielt und die Wärme des Bureaugebäudes beide umschloss. «Irgendwann, da wette ich drauf, werden sich Audi, DKW, Horch und Wanderer sowieso zu einer Firma zusammenschließen. Und BMW soll kurz davor stehen, die Eisenacher zu übernehmen.»

Bruno Paparty kam aus Hamburg. Dorthin hatte es seinen Vater, einen gebürtigen Ostpreußen, nach dem Krieg von 1870/71 verschlagen. Beruflich wie der Liebe wegen. Er war Schiffsbauingenieur auf einer der großen Werften, sie eine kleine Schauspielerin, eigentlich nur Statistin, am Thalia-Theater. Beide Welten hatten den Jungen in ihren Bann geschlagen, und er hatte sich nicht entscheiden können. Für einen Schauspieler war er zu nüchtern und vom Kopfe her gesteuert, für einen Ingenieur zu laut und exaltiert. Also hatte er Jura studiert und dabei gedacht, dass auch der Gerichtssaal eine Bühne sein konnte. Da er aber das Pauken der Paragraphen und die endlosen Sitzungen beim Repetitor verabscheut hatte, waren seine Examensnoten zu schlecht gewesen, um auf eine Karriere als Staatsanwalt oder Richter hoffen zu können, und auch die großen Anwaltskanzleien hatten ihn nicht haben wollen.

Im Bann von Sigismund Freud hatte er sich in den folgenden Jahren der Psychoanalyse verschrieben, war aber bald nicht mehr in der Lage gewesen, dem Meister zu folgen. Einige Zeit arbeitslos, hatte er sich als Wunderheiler versucht und war schließlich froh gewesen, dass ihn Tomuschat eingestellt hatte. Begegnet waren sie sich in Hoppegarten auf der Rennbahn.

Paparty hatte seine Rolle in der Firma Tomuschat als Mischung aus Butler und Consigliere angelegt, konnte aber nicht verhindern, vielen eher als Dandy zu erscheinen. Im Kreise seiner Kollegen wurde kolportiert, er sei dem eigenen Geschlecht zugetan und würde in höheren Kreisen «verkehrt verkehren», wie man das nannte, doch Genaueres wusste man nicht. Jedenfalls lebte er allein in einer kleinen Wohnung in der Ansbacher Straße, und es gab in Berlin keine Vernissage oder Theaterpremiere, auf der man ihn nicht gesehen hätte, denn in allen Künstlerkreisen hatte er eine Reihe lieber Freunde.

Am meisten aber bedeutete ihm Hanns-Martin Tomuschat, für den wäre er sogar in den Tod gegangen, wie er hin und wieder behauptete. Es sei die berühmte Seelenverwandtschaft. Alles, was er an Tomuschat beobachtete und mit ihm erlebte, hielt er in einem Tagebuch fest, um daraus einmal eine wissenschaftliche Arbeit oder einen Roman zu machen.

Tomuschat setzte sich an seinen Schreibtisch, um die Post durchzugehen, die mit der letzten Zustellung gekommen war. Es waren vor allem bergeweise Postkarten mit Schornsteinfegern, rosigen Schweinchen, Kleeblättern, goldenen Hufeisen und Würfeln, die eine Sechs zeigten. Prosit Neujahr! Ein glückliches neues Jahr wünscht die Firma Gebrüder Ludewig & Co. Der Papierkorb quoll schnell über.

Eins, zwei, drei, im Sauseschritt/läuft die Zeit, wir laufen mit. Die letzte Karte, die er las, hielt es mit Wilhelm Busch. Tomuschat dachte mit Schrecken daran, dass er in diesem Jahr schon 42 wurde und damit wohl die Hälfte seines Lebens hinter sich hatte.

Hoffen wir, dass die Goldenen Zwanziger uns weiterhin erhalten bleiben, schrieb ein Geschäftsfreund aus Hamburg. Tomuschat blieb da skeptisch. Zwar war es seit 1924, seit Einführung der Reichsmark und dem Dawes-Plan, mit der Konjunktur bergauf gegangen, und die Wirtschaft blühte geradezu, aber die Stimmen häuften sich, dass alles bald ein böses Ende nehmen würde. Bis dahin war mitzunehmen, was man mitnehmen konnte.

Für ihn selbst begann das neue Jahr nicht schlecht, denn gleich am ersten Arbeitstag gab es eine Versteigerung in einem Pfandhaus in der Turmstraße, bei der auch alte Bücher auf der Liste standen.

«Ich mache mich mal auf die Jagd nach Inkunabeln», sagte er zu Paparty.

«Viel Glück dabei! Ich wünsche Ihnen, dass sie endlich zu Ihrem Benedictus kommen und die Lücke in Ihrer Sammlung schließen können, die Sie am meisten schmerzt.» Paparty meinte ein Buch, das man im Jahre 1664 in Augsburg gedruckt hatte: Benedictus van Haeften, Hertzen Schuel Oder des von Gott abgefüerten Herzens widerbringung zu Gott und underweisung.

Natürlich wurde Tomuschat des Öfteren gefragt, wie er denn zum Bibliomanen geworden war, und die Antwort darauf war immer dieselbe: «Ganz einfach, als ich gerade achtzehn Jahre alt geworden war, bin ich zu einer Faschingsfeier eingeladen worden und habe mich unsterblich in eine junge Dame namens Friederike verliebt - und die ist als Buch gegangen. Ich war furchtbar wild auf sie, es ist mir aber nicht gelungen, sie zu erobern - und seitdem bin ich auf Bücher fixiert.»

Paparty hatte zu viel Psychologie studiert, um sich mit dieser Antwort zufriedenzugeben, und machte Tomuschat zum Forschungsobjekt. Zuerst einmal mochte Tomuschats Affinität zum Buch ganz objektive Gründe haben, denn vor seiner Karriere als Autohändler hatte sein Vater in Steglitz eine kleine Druckerei betrieben. Der Junge hatte oft in der Maschinenhalle gespielt und war mit dem Geruch von Druckerschwärze aufgewachsen. Zudem hatte seine Mutter Bücher über alles geliebt und jede freie Minute lesend verbracht. Sogar beim Stillen hatte sie gelesen, ihn in der einen, ihren Roman in der anderen Hand. Das, sagte sich Paparty, musste bei Tomuschat noch heute wohlige Gefühle auslösen. Es wurde aber auch von einem höchst attraktiven Dienstmädchen berichtet, das Tomuschat intensiv beobachtet hatte, wenn es hoch oben auf der Leiter stand und mit einem riesigen Wedel Bücher abstaubte.

Außerdem, schrieb Paparty einmal in sein Tagebuch,