Titelbild
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Ctein widmet diesen Roman Paula Butler.
Sandford widmet ihn Ben, Dan und Gabriel Curtis,
seinen Enkelsöhnen.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ingrid Herrmann-Nytko

ISBN 978-3-492-97400-4

März 2016

© 2015 John Sandford, Ctein

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Saturn Run« bei Putnam, Penguin Randomhouse, New York 2015.

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Covermotiv: Phuoc Quan

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Kapitel 1

9. Februar 2066

Draußen im Weltall, aus zehn Kilometern Entfernung, glich das Sky Survey Observatory einer überdimensionalen Bierdose. Gelbweißes Sonnenlicht funkelte auf der nach außen gewandten Seite, während die andere Hälfte wie in einem Spiegelkabinett die sich bewegenden Bilder der blassblauen, von perlweißen Wolkenbändern überzogenen Erde reflektierte, die tausend Kilometer darunterlag.

Die Dose war nicht völlig allein. Ein eiförmiges Service-Modul von der Größe eines Menschen, das mit an Insekten erinnernden Anhängseln, Anschlüssen, Sichtfenstern und Kameras ausgestattet war, näherte sich ihr; Lagerspinde und Kanister umgaben den Sockel des Moduls. Hätte es sich nicht im luftleeren Raum befunden und wäre da draußen etwas gewesen, das Ohren hatte, hätte man hören können, wie die näselnden Töne eines Countrysongs durch die eisweißen Wände drangen: »Oh, my ATV is a hustlin’ on down the line, and them tofu critters are looking mighty fine …«

Der Allrounder machte einen Hausbesuch.

Das Sky Survey Observatory war mit vier Teleskopen bestückt, dem Big Eye, dem Medium Eye, dem Small Eye und Chuck’s Eye, von dem das letzte inoffiziell nach einem Kongressabgeordneten benannt war, der die Finanzierung in eine vetosichere Social Security Bill eingeschmuggelt hatte. Die Teleskope blickten nach draußen ins All, wurden von Partikel- und Strahlungsdetektoren unterstützt und hielten Ausschau nach interessantem Zeug.

Das gesamte SSO ließ sich per Fernsteuerung bedienen. Die Teleskope, die Radarschüsseln und die Partikelsensoren, sämtliche Digitalkameras und Computer sowie alle Speichersysteme und Treibstofftanks und Solarzellen wurden von Astronomen kontrolliert, die bequem in klimatisierten Büros drunten auf der Erde saßen.

Bis etwas am Observatorium kaputtging. Dann musste jemand mit dem metaphorischen Äquivalent eines Schraubenziehers hinfliegen.

Einer der Grounder rief: »Kannst du es sehen?«

Joe Martinez sagte in sein Kinnmikro: »Ja, kann ich. Verdammter Mist! Das Scheißding hat echt was abgekriegt!«

»Was! Was? Joe, was …«

»Ich wollte dich nur verarschen, Bob.«

»Hey, Joe? Gleich drück ich auf den Knopf, der dir die Luft absperrt!«

»Wusste gar nicht, dass es solche Knöpfe gibt.«

»Astronomen verarscht man nicht, Joe. Luftzufuhr wird gesperrt in drei-zwei-eins …«

Martinez war Handwerker. Seine offizielle Dienstbezeichnung lautete »Chief of Station Operations«, was bedeutete, dass er den Laden am Laufen hielt.

Innerhalb der letzten Stunden, während er darauf wartete, das SSO zu erreichen, hatte er nicht viel zu tun gehabt, außer Kaffee zu trinken und sich die gerade gespielten Guitar Riffs anzuhören. Sofern nicht irgendeine bizarre Panne eintrat – und die Chancen dafür standen eins zu einer Million –, war seine Flugbahn festgelegt durch die Gesetze der Physik und den Impuls der Low Velocity-Railgun an der Raumstation. Laut Computer befand er sich auf dem exakten Kurs. Er nuckelte noch ein wenig von dem koffeinfreien Kaffee und trommelte mit den Fingern unbewusst einen kontrapunktierenden Rhythmus zur Musik der Blue Ridge Bitches, seiner derzeitigen Lieblingsband.

Martinez war kein Wissenschaftler. Er war Mechaniker und Elektroniker, erledigte gelegentlich Schweißarbeiten, arbeitete häufig mit Klebstoffen, klempnerte ab und zu und beschäftigte sich dann wieder mit Leimen und Kleben. Er hatte einen Abschluss in elektromechanischem Ingenieurwesen, aber an manchen Tagen dachte er, er hätte Spezialist für Klebstoffe werden sollen. Seine technische und akademische Ausbildung, dazu eine tief sitzende Vorliebe für Maschinenwerkzeuge, sorgten dafür, dass er schnell hinzulernte, aber er hatte kein besonderes Interesse daran, neue Maschinen zu bauen.

Daheim auf der Erde bosselte er mit elektrischen Gitarren, Videospielen, Propellerflugzeugen und hölzernen Schnellbooten herum. Echte Hardware liebte er noch mehr als seinen Computer, und in seinen Computer war er buchstäblich vernarrt. Wenn er ihn aufbauen, reparieren, aufmotzen oder einfach nur daran basteln konnte, war er glücklich.

Aber am glücklichsten fühlte er sich droben am Himmel, wo er von allem etwas machen konnte. Er war einer der am besten bezahlten Handwerker.

Bob Anderson meldete sich wieder: »Wie ist deine Einschätzung?«

»Ich kann überhaupt nichts erkennen«, sagte Martinez. »Ich meine, ich sehe nichts Ungewöhnliches.«

»Gut. Gehst du auf manuell?«

»Auf alle Fälle so weit wie möglich. Und zwar … jetzt.«

Er aktivierte den Joystick für die Schubdüsen. Ein Check des Lasers im Abfang-Lidar ergab, dass seine Restgeschwindigkeit unter 5 m/sec lag – was sehr gut war –, und so betätigte er die Düsen. Die Übung, die er sich in Hunderten von Einsätzen erworben hatte, ließ ihn beinahe unbewusst arbeiten. Die Aktionen liefen so selbstverständlich ab, als würde man Fahrrad fahren. Während er die Instrumentenanzeigen ablas, ließ er die Steuerraketen in kurzen Schüben zünden. Das Ganze war weniger riskant, hatte er seiner dritten Exfrau Amelia erklärt, als mit dem Auto zur Arbeit zu fahren.

»Und was passiert«, hatte sie gefragt, »wenn sämtliche Systeme ausfallen? Ich meine, wenn du hier auf der Erde mit dem Auto zur Arbeit fährst und eine Panne hast, landest du in einem Graben. Aber wenn da draußen alles schiefläuft?«

Na ja, in diesem Fall, hatte er gesagt, bekäme er eine Gratistour durch das Universum und wäre immer noch unterwegs, wenn die Sonne in ein paar Milliarden Jahren schließlich sterben würde. Amelia fand das gar nicht komisch. Und auch später hatte sie nicht darüber gelacht.

Martinez hingegen hielt das für einen guten Witz. Wie die Seelenklempner über ihn vermerkt hatten, machte Isolation ihm nichts aus.

»Das Radar zeigt an, dass du da bist«, sagte Anderson.

»Fast. Muss nur noch ein bisschen näher heran.«

Die Fluglage des Eis entsprach der des SSO. Im Weltraum gab es eigentlich kein »senkrecht«, aber als die Dose auf der Erde montiert wurde, war sie vertikal ausgerichtet gewesen, und die Buchstaben an der Seite befanden sich aus Martinez’ Perspektive in der korrekten Richtung. Nur wenige Besucher hatten diese Beschriftung gelesen – in den elf Jahren, seit das Observatorium in Betrieb genommen war, hatte es nur dreißig Besuche erhalten, und zwar von weniger als einem halben Dutzend verschiedener Leute, wobei jeweils immer nur ein einziges Ei hingeflogen war.

Von den dreißig Ausflügen hatte Martinez achtzehn unternommen. Die meisten Instrumente und Teleskope bestanden aus Modulen und waren als voneinander unabhängig funktionierende Einheiten ins All geschossen worden, um dort zusammengesetzt zu werden.

Ein paar Montagearbeiten waren mal wieder erforderlich. Die Instrumente mussten in die Dose installiert, regelmäßig gewartet und nachgerüstet werden, da ständig neue und bessere Kameras, Computer und Datenspeicher auf den Markt kamen. Das SSO war das am höchsten entwickelte astronomische Gerät, das je fabriziert wurde, und die Amerikaner – jedenfalls diejenigen, die sich mit Astronomie befassten – waren dazu verpflichtet, dafür zu sorgen, dass es die beste Ausrüstung erhielt, die sich der Steuerzahler leisten konnte.

Auf diesem Trip bekam Chuck’s Eye einen Sehtest verpasst, zusammen mit einer neuen Kamera. Seit Kurzem litt Chuck an einem nervösen Tic. Die Vibration konnte von einem der Servos in dem Kameragehäuse stammen; vielleicht hatte sich auch aufgrund der Kälte- und Hitzezyklen irgendwo im Innern des Behälters ein Draht gelockert. Eine Anzahl von Ursachen war möglich, doch was auch immer für die Störung verantwortlich war: Das Problem musste behoben werden. Die Kosten für die Reparatur konnten zwischen null und rund einer Million Dollar schwanken. Auf der Erde betete man für »null«, da sich der Kongress wieder einmal in seinen alle fünf Jahre auftretenden Krämpfen wand, bei denen es sich um Kosteneinsparungen drehte.

Martinez’ rechte Hand huschte über die Sensortafel und rief seine Arbeitstools und Assistenten auf. Der Zeigefinger gab den Befehl, die Servos an den Manipulatorarmen mit Energie zu versorgen und die taktilen Handschuhe zu aktivieren. Der Daumen drückte auf einen Schalter, und an der Oberfläche des Eis schalteten sich Dutzende winziger ausgerichteter Punktstrahler ein, welche die Dunkelheit zwischen dem Ei und der Dose verscheuchten. Im Weltraum waren Stablampen genauso überlebenswichtig wie der Sauerstoff zum Atmen.

Sein rechter kleiner Finger schwenkte die Strahler und brachte sie optimal zum Einsatz. In seiner Jugend hatte Martinez Jahre damit vergeudet, sich an Spielekonsolen zu vergnügen, doch dadurch hatte er sich Reflexe und eine Fingerfertigkeit angeeignet, um die ihn wohl so mancher Jazzsaxofonist beneidet hätte. Während er mit der rechten Hand kontinuierlich auf den Instrumenten spielte, bediente er mit der Linken den Joystick und steuerte das Ei langsam näher heran. Er umkreiste einmal die Dose, drehte ein Video und brachte dann das Ei in Relation zum Observatorium zum Stillstand.

Langsam, langsam, nur einen Millimeter pro Sekunde, darauf kam es an. Für das Observatorium bestand keine Gefahr. Dessen eigene Navigationscomputer konnten einen Zusammenprall mühelos ausgleichen, die Schubdüsen des Observatoriums zünden und es mithilfe der Gyroskope wieder exakt ausrichten. Aber warum sollte man den begrenzten Treibstoffvorrat nur wegen eines schlampigen Andockmanövers verschwenden?

Mit einem leisen Klirren hakte sich der Greifarm des Eis in eine der Andockkupplungen ein, die sich überall an der Außenhülle der Dose befanden. Diese spezielle Kupplung lag neben der Instrumentenluke, die zu Chuck’s Eye gehörte. Nach dem Andocken prüfte Martinez zu einer abschließenden Bestätigung noch einmal die Überwachungskameras. Während dieser Hausbesuche wurde alles, was sich innerhalb und außerhalb der Dose tat, aufgezeichnet, weil man nie wusste, ob ein Detail, das man übersah, einen den Job kosten konnte … oder das Leben.

»Wir sehen, dass du angedockt bist«, sagte Bob. »Gute Arbeit. Das Ding hat kaum gewackelt.«

»Deshalb habt ihr ja einen Profi angeheuert«, erwiderte Martinez. »Guckt ihr euch das Video an?«

»Ja, wir vergleichen es mit dem letzten Scan, und bis jetzt können wir keine Veränderungen oder Anomalien entdecken«, erklärte Bob. Drei Sekunden lang herrschte Stille. »Okay, der Scan ist beendet, außen ist rein gar nichts zu sehen.«

»Schön. Dann stell mal den Saft ab.«

»Stelle den Saft ab. Saft abgestellt. Du kannst loslegen.«

Den Strom des SSO abzustellen war eine Vorsichtsmaßnahme, nicht nur wegen Martinez, der gut isoliert und geschützt in seinem Ei saß, sondern auch, um Chuck’s Eye nicht zu gefährden. Ein zufälliger Kurzschluss oder eine Überspannung während des Wartungsvorgangs konnte eine dieser Millionen Dollar teuren Reparaturen zur Folge haben, obwohl man drunten auf der Erde auch dafür betete, dass dieser Fall nie eintreten möge.

Kurz darauf meldete sich eine auf der Erde stationierte Teleskopspezialistin namens Diana Pike, der Joe niemals persönlich begegnet war, mit der er jedoch des Öfteren zusammengearbeitet hatte, und sagte in ihrem vertrauten Südstaatenakzent: »Alles klar, Joe. Möchtest du dich zuerst um den Tic kümmern?«

»Hey, Di. Ja, ich verteile jetzt ein paar Pucks.« Mithilfe eines spinnenartigen, ferngesteuerten Arms setzte er einige Mikro-Seismometer-Pucks auf die Hülle der Dose und das Außengehäuse von Chuck’s Eye. Die Unterseite der Pucks war mit einem elektrisch leitfähigen Phosphorprotein-Kleber beschichtet, einem Kunststoff auf der Basis des natürlichen Leims, dessen sich Seepocken bedienten. Wenn ein leichter elektrischer Strom durch den Kleber lief, haftete er an nahezu jeder Oberfläche. Schaltete man den Strom ab, verschwand die Haftwirkung. Diese Pucks bezeichnete man als Post-its. Was das mit gelben Pop-up-Gedächtnisstützen auf einem Workslate-Screen zu tun hatte, war jedem schleierhaft.

»Okay, Di, bin damit fertig«, meldete Martinez. »Rüttel das Ding mal durch.«

»Wird gemacht«, erwiderte Pike. »Drei-zwei-eins. Jetzt.«

Zwei entgegengesetzte Schubdüsen an der Dose zündeten, jede nur für eine Zehntelsekunde und so dicht nebeneinander, dass ein menschliches Auge sie nicht hätte unterscheiden können. Die Dose wackelte.

»Okay. Zyklus läuft. Kannst du das sehen?«

»Ja, ja, ich kann es sehen«, sagte Martinez, fast ein bisschen gelangweilt.

Martinez beobachtete seine Monitoranzeigen – auf der Erde sah man dieselben Daten –, welche die Messungen der Mikros wiedergaben und ihm zeigten, aus welcher Richtung die Vibration kam. Sie entstand dicht unter der Oberfläche der Aufbauten, was an sich gut war, aber außerhalb der Seismo-Anordnung. »Ich muss ein paar Pucks umverteilen«, erklärte Martinez. »Warte einen Moment.«

Er bewegte seine Mikros und forderte dann Pike auf: »Nächster Zyklus.«

»Zyklus beginnt bei drei-zwei-eins. Jetzt. Zyklus läuft.«

Martinez blickte auf seinen Monitor und sagte: »Das Problem liegt direkt unter der Oberfläche. Denke, es ist eine Stelle zwischen den Wänden. Ich versetze noch einmal die Pucks und guck mir das Ganze mal aus der Nähe an.«

»Mit dem Isolierschaum stimmt was nicht«, meinte Pike, irgendwie hoffnungsvoll.

»Wahrscheinlich. Ich arrangiere die Pucks neu …«

Noch ein Rütteln, und die Mikros machten eine präzise Ortsangabe mit einer Abweichung von nur einem halben Zentimeter vom Ursprung der Vibration. Durch ein Makro-Objektiv prüfte er die Außenhaut des Observatoriums. »Es gibt keinen externen Defekt«, berichtete er.

»Gut«, sagte Anderson. Wäre ein Mikrometeorit eingeschlagen, hätten die Reparaturarbeiten sich zu einem größeren Problem auswachsen können. Eine Beschädigung beider Wände war noch niemals vorgekommen, aber diese Möglichkeit bestand immer.

»Ich muss ein Loch reinschneiden«, sagte Martinez.

Der Vorgang dauerte eine Stunde. Martinez bohrte ein drei Millimeter breites Loch in die Meteoritenbarriere, dann peilte er mit einem Glasfaserkabel hinein. Wie bereits vermutet, hatte sich an Chuck’s Eye etwas von dem Schaum gelockert, der zwischen den beiden Wänden als Isoliermasse diente. Wahrscheinlich war bei der Konstruktion eine Bruchstelle entstanden, oder als die Dose ins All geschossen wurde. Durch die jahrelange Einwirkung von Hitze und Kälte hatte sich das Zeug dann von den Wänden abgelöst. Martinez spritzte neuen Schaum ein, der speziell für diese Art von Schaden entwickelt worden war – mittlerweile handelte es sich um die vierte Instandsetzung dieser Art –, versiegelte das Loch mit einem Kohlefaserpatch und war fertig.

Das war der knifflige Teil gewesen. Was dann kam, konnte ein dressierter Affe erledigen.

»Ich hole jetzt das Kamerapackage heraus«, sagte Martinez.

»Okay. Du hast grünes Licht für die Kameraextraktion.«

Das neue Package für Chuck’s Eye war kein einzelnes Instrument, sondern ein spinnenköpfiger Komplex aus Primär- und Sekundäraugen, die alle Wellenlängen abdeckten, angefangen vom mittleren Infrarot bis zum fernen Ultraviolett. Chuck’s Eye glich einem dieser Scouts, die früher im Wilden Westen die Vorhut einer Expedition bildeten, sich den großen Überblick verschafften und Ausschau hielten nach ungewöhnlichen Dingen und Ereignissen. Die größeren, aufwendigeren Teleskope würden die wirklich wichtige Forschungsarbeit leisten, aber Chuck’s Eye wäre das erste, das eine neue Supernova oder einen Gammastrahlenausbruch oder was auch immer sich ereignen mochte, entdeckte.

Die Kameras waren nach dem Baukastenprinzip zusammengesetzte, in sich geschlossene Systeme, und das neue Kameramodul sah genauso aus wie das alte. Joe zog das alte mit einem Ruck heraus, schob das neue in das Haltegerüst, ließ die Verschlussklemmen einrasten und pingte Anderson an.

»Ich habe das alte Kamerapackage aus dem Rack gezogen und das neue installiert. Macht sich gut. Bob, du kannst jetzt den Strom wieder einschalten. Hier sieht alles tipptopp aus.«

»Hier sieht auch alles gut aus. Ich schalte den Strom wieder
ein.«

Und es war tatsächlich alles in schönster Ordnung. Die Reparaturen fielen in die Null-Kosten-Kategorie. Ein anderer Missionswissenschaftler mischte sich ein und sagte: »Gute Arbeit, Joe. Wir haben fünfzig Zyklen durchlaufen, ohne Vibration, und die neue Kamera ist online. Du kannst wieder nach Hause fliegen.«

»Bin schon unterwegs.«

Auf dem Rückflug nahm Martinez sich einen Trinkbeutel mit richtigem, koffeinhaltigem Kaffee, zog die Lasche, um ihn zu erhitzen, futterte ein paar nicht krümelnde Erdnussbutter-und-Käse-Crackers und freute sich schon auf seine nächste ordentliche Mahlzeit. Er hatte eine Einladung zum Dinner mit der Kommandantin der Raumstation, Captain Naomi Fang-Castro und ihrer Verlobten, Llorena soundso, an deren Namen er sich nicht erinnern konnte. Bevor ich mich noch blamiere, sollte ich ihn lieber nachsehen, dachte er. Von ihrer ersten Ehefrau hatte sich der Captain vor zwei Jahren scheiden lassen. Die Ex und ihre beiden Kids im Collegealter lebten auf der Erde. Für den Weltraum hatte die Ex nie viel übriggehabt. Fang-Castro hingegen war dem Himmel verfallen. Vielleicht kamen er und die Kommandantin deshalb so gut miteinander aus, sinnierte Martinez … und wahrscheinlich waren sie beide deshalb geschieden.

Er nahm einen Anruf von der Raumstation entgegen, wo Elroy Gorey, den die Erdlinge als Farmer bezeichneten, die Pflanzen päppelte oder die Nährstoffzyklen mit dem Biotech-Programm überwachte, je nachdem, wie umständlich man sich ausdrücken wollte.

Gorey hatte einen Doktor in Botanik, arbeitete nebenbei ein bisschen als Klempner und Programmierer und kannte sich mit Schalttafeln aus. »Dieses Schätzchen von Starbucks hat angerufen«, sagte er. »Sie will wissen, ob du deinen Kaffee vergessen hast.«

»Nee, ich hab einen Trinkbeutel hier, aber es wäre schön, wenn sie mir einen frischen Espresso kredenzen würde.«

»Ich werd’s ihr ausrichten«, sagte Gorey. »Ich glaube, sie möchte mich näher kennenlernen.«

»Nichts für ungut, Elroy, aber du bist wohl eher der Wingman-Typ …«

Das Schätzchen arbeitete in Seattle und vernetzte sich über einen Audio/Videolink mit der Station, der es ihr ermöglichte, mit einer automatischen Kaffeemaschine Kaffee für das Stationspersonal zu brauen. Das direkte Gespräch sollte die Stimmung verbessern, was auch meistens gelang. Das Stationspersonal vermutete, dass die Baristas, egal ob weiblich oder männlich, eher wegen ihres guten Aussehens eingestellt worden waren und weniger aufgrund ihres Talents, Kaffee zu kochen.

Hinter Martinez’ Rücken, an der Dose, durchlief Chuck’s Eye seine vorprogrammierte Diagnosesequenz, schoss eine Reihe Weitwinkelfotos und schickte sie an die Bodenstation des Caltech in Pasadena, Kalifornien. Nachdem diese überprüft worden waren, von einem Praktikanten, weil die Arbeit eine langweilige Routine war, würde man Chuck’s Eye wieder den richtigen Astronomen für eine richtige Arbeit überlassen.

Zumindest war das so geplant.

Kapitel 2

Er kam zu spät.

Viel zu spät, doch das machte ihm nicht viel aus. Sein schulterlanges blondes Haar im Jesus-Look verströmte den warmen, süßlichen Duft von Marihuana. Der Van fand einen freien Platz und parkte automatisch ein. Er stieg aus dem Wagen, griff nach seinem Bündel, warf es sich über die Schulter und schlenderte ohne Eile in Richtung Astro.

Er war ein groß gewachsener junger Mann, barfuß, in feuchten, bunt-orangefarbenen Boardshorts und einem tristen, olivfarbenen T-Shirt. Als er von der Zufahrtsrampe ins Freie trat, zuckte er zusammen. Auf dem Dach eines Gebäudes zu seiner Rechten hatte sich etwas bewegt. Einen Sekundenbruchteil später erkannte er, dass es ein Pasadena-Papagei war und kein Heckenschütze. Das war gut. Er ging weiter und vollführte einen Slalom um die für das Caltech typischen ausgedörrten Hundehaufen mitten auf dem Gehweg vor der Astro, stieß einen Seufzer aus und trat durch die Tür.

Er hatte keine Implantate mehr und trug deshalb ein Computerarmband, das ihn ungehindert die Sicherheitstür zur Astro passieren ließ. In der Eingangshalle nahm er die Feuertreppe anstatt den Aufzug.

Im fünften Obergeschoss linste er durch das Fenster der Brandschutztür, um sich davon zu überzeugen, dass Fletcher nicht im Korridor stand. In seinem jungen Leben hatte er schon eine Menge Traumata erlebt, und er glaubte, dass er mit einem Trauma fertigwürde. Er hatte auch geglaubt, Fletchers aufgeblasenes Getue ertragen zu können, doch mittlerweile war er sich dessen nicht mehr so sicher. Manchmal dachte er, Bullshit sei schlimmer als blaue Bohnen.

Fletcher war nirgends zu sehen, gut. Er öffnete die Tür und trottete den Gang hinunter zu seinem Kabuff am hinteren Ende des Gebäudes, das auch als Arschende bezeichnet wurde, wo die Leute mit dem niedrigsten Status arbeiteten.

Das Wesentlichste, was alle über Sanders Heacock Darlington wussten – außer dass er drei Nachnamen, keine Vornamen und einen bemerkenswerten Mangel an Ehrgeiz hatte –, war die Tatsache, dass er in zwei Jahren, wenn er dreißig wurde, ein Vermögen erben würde. Ein riesiges Vermögen. Mehr Geld, als irgendwer in der Caltech Arbeitsgruppe für Astrophysik während seines ganzen Lebens je verdienen konnte.

Und er war ein heißer Typ. Seine Augen strahlten in demselben intensiven Blau wie der Hope-Diamant, er hatte kräftige weiße Zähne und ein Grübchen im Kinn – und das alles von Natur aus. Hinzu kamen die Jesusfrisur, die durchtrainerte Figur eines Surfers und eine ungezwungene Art, mit Frauen umzugehen.

Im Umfeld der Astro machte ihn das zu einem ausgesprochenen Störfaktor.

Aber er hatte auch, sagten die Frauen, die ihn näher kennenlernten – und in der Astro wuchs ihre Anzahl stetig an – eine absolut dunkle Seite, die er bei der Arbeit niemals zeigte.

Woher das kam, wusste keine. Sie vermuteten, Drogen könnten im Spiel gewesen sein. Es gab Anzeichen für Aggressivität, zum Beispiel dieser leidige Zwischenfall am Santa Monica Pier, und auf seiner Brust, dem Rücken und den Gesäßbacken hatte er ein paar seltsame Narben, trotz seiner ansonsten makellosen Haut. Wenn die Frauen ihn darauf ansprachen, ließ er sie höflich abblitzen. Aber hinter diesen perfekten Zähnen lauerte etwas Düsteres, Werwolfhaftes …

Lieber nicht nachforschen, darin stimmten sie alle überein.

Als er um die letzte Ecke bog, stieß er beinahe mit Sarah McGill zusammen.

Sandy hatte nie versucht, McGill abzuschleppen, obwohl sie immer netter zu ihm gewesen war als die meisten anderen Mitglieder der Arbeitsgruppe. Sie war keine Schönheit – normalerweise bevorzugte er schöne Frauen –, aber sie war ungeheuer schlau und sie behandelte ihn nicht so, als wäre er ein Stück Hundescheiße. In letzter Zeit war ihm eine gewisse Trägheit oder Verträumtheit an ihr aufgefallen, und darauf sprachen seine Hormone an.

McGill wich ihm geschickt aus und sagte mit einer Spur von Sarkasmus: »Pünktlich auf die Minute.« Sie wollte schon weitergehen, doch er rief ihr nach: »Hey, haben Sie mal einen Moment Zeit für mich?«

»Ungefähr zehn Sekunden, Sandy«, sagte sie. Sie besaß einen kompletten Satz Implantate und er sah, wie sich ihre Augen verengten, als sie die Zeit prüfte. »Gruppentreffen in neunzehn.« Sie hatte eine Stupsnase mit Sommersprossen und straßenköterblonde kurze Kräuselhaare. Da sie Samsung als einen Sponsor eingesackt hatte, trug sie ein zehncentstückgroßes Samsung-Logo auf ihrem linken Schlüsselbein, zusammen mit kleineren und ein bisschen weniger auffallenden Abzeichen von ATL und Google, die als unbedeutendere Sponsoren auftraten.

Sandy nickte. »Ich dachte nur … hätten Sie an irgendeinem Abend vielleicht Lust auf ein Steak und einen Salat? Und hinterher ein Video?«

»Hören Sie auf.«

»Hey, ich wollte nur freundlich sein.«

»Klar. Danke, Sandy, aber ich muss jetzt …«

»Hören Sie, Sie sind netter zu mir als die meisten Arschlöcher, die hier arbeiten. Ich finde, ich bin Ihnen was schuldig. Ich habe Karten für Kid Little im Beckman.«

Kid Little. Sie war in Versuchung, das sah er in ihren Augen.

»Sandy …«

»Ich will nur mal rausgehen und mich ein bisschen amüsieren«, log er.

»Ich werd’s mir überlegen«, sagte sie. »Und jetzt muss ich wirklich los.«

»Yeah, das Gruppentreffen. Grüßen Sie die Leute von mir.«

Sie wedelte ihm mit den Fingern zu und verschwand hinten im Korridor. Sandy war zufrieden. Ein erster Schritt, dachte er, während er wieder auf sein Kabäuschen zusteuerte.

Ein Hausmeister mit einem Besen kam ihm im Gang entgegen. Im Vorbeigehen gaben sie sich die Fünf, und der Hausmeister sagte: »Bis morgen früh dann. Bei Sonnenaufgang.«

»Wenn ich es schaffe«, versprach Sandy.

Der Hausmeister war ein Halbprofi-Surfer. Beim Surfen wurde ein Halbprofi meistens mit kostenlosen Burgern und Bier bezahlt.

Mit Hausmeistern und Wartungsleuten kam Sandy ziemlich gut aus. Probleme hatte er nur mit den Akademikern. Und die Tatsache, dass sein Vater ihm den Job gekauft hatte, war seinem Status nicht gerade förderlich gewesen. Darlington senior hatte Caltechs Präsidenten gegenüber angedeutet, dass er sehr dankbar wäre, wenn einer der Professoren aus der Arbeitsgruppe seinen Sohn unter seine Fittiche nehmen würde. Sein Sohn, sagte er taktvoll, sei schwierig, wenn auch nicht auf eine anstößige, Ärgernis erregende Weise. Er sei einfach … arbeitsscheu.

Dr. Edward Fletcher, ein angesehener Astrophysiker in gesicherter Stellung, hatte sich prompt und mit voller Hingabe in dieses Schwert gestürzt. Der alte Darlington hatte Caltech bereits nicht nur ein, sondern zwei Forschungsgebäude gestiftet und unterstützte Chuck, den Kongressabgeordneten, der die Mittel für Chuck’s Eye lockergemacht hatte, mit hohen Geldspenden.

Fletcher konnte ein neues Gebäude gebrauchen. Er gierte förmlich nach einem, vor allen Dingen, wenn es nach ihm benannt würde: Fletcher Hall.

Und ein Idiot war Sandy schließlich nicht. Er hatte einen guten Universitätsabschluss, wie sein Vater mit Nachdruck betonte. In American Arts, von Harvard. Er hatte sogar das nicht obligatorische wissenschaftliche Wahlfach, das von denen, die sich dafür entschieden, Infinitesimalrechnung und Physik für Poeten betitelt wurde, belegt, und mit der Note B abgeschlossen. Bei den Astrophysikern konnte er damit allerdings nicht punkten.

»American Arts« wurde salopp als das »College of Dilettantery« bezeichnet, und wer dort einen Abschluss machte, konnte zuverlässig sowohl einen Masaccio und einen Picasso erkennen, per Hand ein Foto belichten, einen Kurzfilm drehen, über italienische und skandinavische Möbel diskutieren, tanzen, sich auf Französisch, Italienisch und Spanisch unterhalten und Gitarre und Klavier spielen. Hingegen war Orbitalbahnen zu berechnen eher nicht ihre Stärke.

Wie einer der Richtigen Wissenschaftler es ausdrückte, »könnte er keinen Scheißreifen wechseln«, was im Caltech-Jargon nicht buchstäblich hieß, dass er keinen Reifen wechseln konnte. Es hieß lediglich, dass er nicht imstande war, exakt den Unterschied zwischen einem Schwarzwald-Radius und Schrödingers Katze zu erklären.

Ein gewisses Interesse regte sich, als die Astro-Gruppe erfuhr, wie viel Geld in Gestalt eines Praktikanten bei ihnen eintreffen würde. Doch ein paar Minuten Recherche im Internet enthüllten, dass Sandy seit seinem Abgang von Harvard ziemlich häufig die Stelle gewechselt hatte, und keiner dieser Jobs hätte jemanden in der Astro gereizt.

Eine Zeit lang hatte er für Federal Mail gearbeitet, war aber anscheinend nicht imstande gewesen, das Zeug zu liefern, also hatte man ihn gefeuert. Er war Videoreporter bei einem halbwegs respektablen unabhängigen Nachrichten-und-Porno-Blog gewesen, doch seine Karriere nahm ein jähes Ende, als er einen unbekleideten Produzenten vom Santa Monica Pier warf, und das bei Ebbe.

Neuerdings vergammelte er seine Zeit mit Surfen und spielte Rhythmusgitarre in einer hauptsächlich aus Mädchen bestehenden Band, den L. A. Dicks. Als ein führender Junger Astro-Star ihn fragte, was er machen wolle, wenn er mal erwachsen würde, antwortete Sandy, nachdem er Großpapas Geld geerbt hätte, wolle er ein Philanthrop, oder ein Philatelist, oder ein Phillumenist oder vielleicht auch ein Flötist werden?

»Irgendwas davon«, sagte er mit einem breiten Grinsen. »Schwierige Wörter konnte ich mir noch nie merken, wissen Sie.« Der Junge Star verdrückte sich mit dem Gefühl, dass Sandy sich über ihn lustig gemacht hatte, und so was machte man nicht mit Stars. Den Begriff »Philatelist« musste er nachschlagen.

Nach sechs Monaten in dem Job fand Fletcher Sandys Gleichgültigkeit zunehmend irritierend, und Sandy ging Fletchers Hochnäsigkeit auf die Nerven. Sandy konnte man nicht feuern – das ganze Darlington-Geld stand auf dem Spiel. Fletcher tat das Nächstbeste und hielt ihn mit lächerlichen Arbeiten beschäftigt.

Sandy durchschaute die Masche und ging lieber surfen.

Wenn er nicht surfte – und teils um sich an den Richtigen Wissenschaftlern für die miese Behandlung zu rächen, mit der sie ihm begegneten –, vögelte er sich durch die Abteilung. Bis jetzt hatte er mit sieben der siebzehn alleinstehenden Frauen in der Forschungsgruppe flüchtige Beziehungen gehabt. (Eine der Jungen Astro-Stars, die in der Cafeteria Hof hielt, wies darauf hin, dass sowohl sieben als auch siebzehn Primzahlen waren, und wenn Sanders so weitermachen und trotzdem diese arithmetische Symmetrie beibehalten wolle, müsse er noch vier weitere Frauen bumsen, denn acht, neun und zehn waren ja keine Primzahlen. Eine Frau, die zufällig den Kommentar hörte, sagte, der erratische Sinn für Humor des Stars sei mit ein Grund dafür, dass Sandy mit sieben von siebzehn Frauen geschlafen hatte, den Star aber überging. Bevor sie mit ihrem Lunchtablett verschwand, fügte sie noch hinzu: »Sie sind voll ätzend!«)

Und die Frauen, die mit dem jungen Sanders geschlafen hatten, steckten gelegentlich bei einem Lunch die Köpfe zusammen und tuschelten einander zu, dass Sandy im Hinblick auf höhere Physik und Astronomie vielleicht wirklich nicht mit ihnen Schritt halten konnte, aber wenn es um Sex ging, wusste der junge Darlington definitiv, wie man einen Reifen wechselt. Mitunter sogar mehrere Reifen.

Praktisch alle seiner männlichen Kollegen und eine beträchtliche (wenn auch sinkende) Anzahl der Frauen konnten ihn nicht ausstehen. Nicht, dass ihre Antipathie drastische Formen annahm, sie äußerte sich zumeist in Ablehnung. Man schloss ihn aus den Besprechungen aus, an denen Studenten im Aufbaustudium teilnahmen.

Deshalb war das, was dann passierte, umso schlimmer.

Der Arbeitsbereich der Praktikanten war ein fensterloser Raum, ein nahezu perfekter Kubus aus gelbem Kalkstein, der wiederum in sechzehn winzige Kabäuschen eingeteilt war. Früher hatte er Lagerzwecken gedient.

Vier Praktikanten waren anwesend, als Sandy durch die Tür schlenderte. Drei von ihnen starrten auf Computerschirme, die vierte Person, eine Frau, hatte den Kopf auf ihren Schreibtisch gelegt. Sie schnarchte.

»Mann, du stinkst wie Pachuca-Gras«, sagte einer der Praktikanten, Ravi Chandrakar, als Sandy an ihm vorbeiging.

»Yeah, und du stinkst wie ein Chili-Cheese-Würstchen. Ich rieche lieber nach Dope«, sagte Sandy.

»Da hat er gottverdammt recht«, mischte sich ein anderer Praktikant ein. »Wenn du nicht aufhörst, diese verdammten Chili-Cheese-Würstchen zu fressen, schleppe ich dich an ein Fenster und schmeiß dich raus, verdammt noch mal!«

»Yeah, nur zu, aber wo findest du hier ein Fenster?«

Die schlafende Frau rührte sich, wurde aber nicht wach. Die vermeintliche Feindseligkeit war aber nur gespielt.

Sandy setzte sich an seinen Schreibtisch, berührte das ID-Pad mit dem Zeigefinger, und der Bildschirm fuhr hoch.

Man hatte ihm die Aufgabe zugeteilt, Chuck’s Eye zu überwachen. Die Arbeit war nicht schwer. Oder vielleicht war sie es doch, nur dass halt die Computer sie verrichteten. Sandy war das menschliche Auge, das die Resultate noch einmal gegencheckte, um sicher zu sein, dass die Computer nicht etwas übergangen hatten, das wegen irgendeiner Irregularität durch das Raster ihrer Analyseparameter gefallen war. Und wenn dieser Fall eintrat, würden die Computer es ihm melden, damit er einen Richtigen Wissenschaftler alarmieren konnte.

Das gerade laufende Programm bot nicht einmal die Möglichkeit, ein astronomisch interessantes Ereignis zu entdecken. Es handelte sich um einen Kalibrierungsdurchlauf für ein neues Kameramodul. Von einem gut bekannten und deshalb uninteressanten Teil des Himmels wurden simultane Aufnahmen mit den in unterschiedlichen Wellenlängen arbeitenden Kameras gemacht. Dann blendete man sie übereinander und vergewisserte sich, dass all die kleinen Lichtpunkte korrekt ausgerichtet waren und die Spektren mehr oder weniger normal aussahen.

Diesen Vorgang wiederholte man noch dreimal in halbstündlichen Intervallen und achtete darauf, dass die später angefertigten Bilder den ersten entsprachen. War dies der Fall, wusste man, dass das Tracking gut war. Nichts im tiefen Weltall veränderte sich schnell, es sei denn, man hätte das unwahrscheinliche Glück, eine Supernova oder einen Gammastrahlenburst zu erfassen, und derlei Dinge würden die Computer erkennen. Mit Ausnahme eines derart seltenen Phänomens mussten die vier Sets von Aufnahmen Pixel für Pixel übereinstimmen.

Es war ein Job für einen Computer. Aber Chuck’s Eye war eine wirklich kostbare Ressource, und für genauso wertvoll hielten die Richtigen Wissenschaftler ihre Zeit. Deshalb hatte man Sandy zum Babysitten abgestellt. Es schien genau die passende Tätigkeit für einen Typen zu sein, der eine Abschlussarbeit über das Thema »Kunstbewegung als Planetengetriebe« geschrieben hatte.

Sandys Arbeit bestand darin, drei Tasten auf einem Computerkeyboard zu drücken, um eine Reihe von zusammengehörigen Fotos aufzurufen. Dann musste er seinen Finger auf den Bildschirm legen und sie übereinanderziehen. Der Computer würde die Bilder miteinander vergleichen, um festzustellen, ob sich irgendetwas Auffälliges ergab.

Und das alles nur, weil man ihm übel nahm, dass er ein reicher, gut aussehender, arbeitsunfähiger Bursche war, der als Hauptfach Kunst studiert hatte. Hinzu kam natürlich noch diese Geschichte, dass er reihenweise die Frauen flachlegte … ganz zu schweigen von seinem losen Mundwerk …

Während er also seinen Computer hochfuhr, legte er die Füße auf den Schreibtisch, zog eine Schublade auf und klappte einen Übungsgitarrenhals auf. Dann fing er an, Akkorde zu spielen. Diese geistlose Beschäftigung erlaubte es ihm, die Schwielen an seiner linken Hand zu stärken, während er überlegte, wie er McGill das nächste Mal ansprechen sollte. Gerade mal zwölf Sekunden war er dabei, als der Computer ein Ping von sich gab und auf dem Schirm eine Meldung erschien.

KRITISCHE ANOMALIE.

Das war noch nie zuvor passiert. Sandy vergaß die Dating-Rituale, legte den Gitarrenhals zur Seite und runzelte die Stirn. »Hi-ho, Watson, das Spiel hat begonnen.« Er tippte auf ein Menü, das an der Seite des Schirms aufgetaucht war und wählte das Wort »Beschreiben« aus.

Der Computer sagte:

OBJEKT VERRINGERT GESCHWINDIGKEIT.

Sandy stellte seine bloßen Füße auf den Boden und sagte zu dem Computer: »Es ist nicht nur ein Spiel, Holmes, das hier ist verdammt ernst!«

»Was ist?«, fragte Chandrakar über eine Trennwand.

»Ich führe Selbstgespräche. Das kommt vom Pachuca-Gras.«

»Sag ich doch.«

Himmelskörper wurden nicht langsamer, nicht einmal für Harvardabsolventen.

Sandy tippte auf ein anderes Menüfeld – Bericht – und der Computer erstellte eine kurze Zusammenfassung. Der Computer sagte:

DAS OBJEKT IST REAL ~ 99%.

DAS OBJEKT IST ZWISCHEN EINEM UND ZEHN KM LANG.

DAS OBJEKT IST ZWISCHEN EINEM UND VIER KM BREIT.

DAS OBJEKT EMITTIERT EINE HOHE STRAHLUNG IM TIEFEN ULTRAVIOLETTBEREICH.

DAS OBJEKT EMITTIERT HYDROGENGAS MIT EINEM UNBEKANNTEN VOLUMEN.

DAS OBJEKT VERRINGERT SEINE GESCHWINDIGKEIT.

Was zum Henker hatte das zu bedeuten? Wann waren diese Reihen von Testbildern aufgenommen worden? Er prüfte es nach. Okay, am Vormittag, vor rund drei Stunden. Ungefähr um die Zeit, als er zum Dienst hätte erscheinen sollen. Sandy tippte auf ein paar weitere Tasten, und der Computer ließ seine virtuelle Uhr bis zur aktuellen Zeit vorlaufen. Und er extrapolierte, wo sich das Objekt befinden würde, wenn es sein Verhalten beibehielt.

Er checkte die Statustafel für sämtliche SSO-Teleskope und sah, dass keines von ihnen im Moment benutzt wurde. Die einzelnen Forscher hatten keinen Zeitplan für Beobachtungen festgelegt, für den Fall, dass die Wartung des SSO länger dauerte als erwartet. Gut. Er marschierte durch den Korridor und warf einen Blick in Fletchers Büro, das leer war, wie die meisten anderen.

Aha, dachte er. Das Gruppentreffen, zu dem man ihn nicht eingeladen hatte. Okay, keine Zeugen.

Sandy gab Fletchers Autorisierungscode ein – er schenkte der Benutzung von Computern mehr Aufmerksamkeit, als seine Mitarbeiter ahnten – und befahl Chuck’s Eye, einen weiteren Satz Phasenbilder für den Vergleich abzurufen. Die Anomalie beruhte wahrscheinlich auf der Fehlfunktion einer Kamera in dem neuen Modul, sagte er sich. Etwas anderes konnte es ja nicht sein.

Einen Moment lang dachte er darüber nach, blickte zur Vorsicht noch einmal in den Gang und richtete dann das Medium Eye, das bis jetzt immer einwandfrei funktioniert hatte, auf die extrapolierten Koordinaten. Er wies das Medium Eye an, drei Kurzzeitaufnahmen in Fünf-Minuten-Intervallen zu machen und sie herunterzuschicken. Dann hätte er die Bestätigung, dass am Zielort alles in Ordnung war. Beide Kameras konnten sich nicht täuschen, jedenfalls nicht in derselben Weise.

Aber was hatte es damit auf sich, wenn der Computer übermittelte: »Das Objekt ist real ~ 99%?«

Real? Und es verringerte seine Geschwindigkeit?

Er musste noch zehn Minuten totschlagen, deshalb ging er und machte frischen Kaffee, was ohnehin zu seinen Pflichten gehörte. Wieso starrte er bloß dauernd auf die Uhr? Es musste sich um einen Glitch handeln. Einen ernsthaften Glitch. Denn andernfalls wäre er auf etwas gestoßen, das schlichtweg unmöglich war. »Das Objekt verringert seine Geschwindigkeit?«

Die Zeit war um.

Sandy lud die Dateien herunter und ließ sie durch den Komparator laufen. Die neuen Aufnahmen von Chuck’s Eye zeigten dieselbe Anomalie, dasselbe unheimliche Spektrum, nicht ganz an der Stelle, die der Computer vorhergesagt hatte, aber immerhin so nahe dran, dass das Medium Eye sie einfangen konnte. Er rief diese Phasenbilder auf, überlagerte sie, zoomte die Anomalie mit maximaler Vergrößerung heran und:

Da war es! Scheiße aber auch!

Drei kleine Pünktchen in einer Reihe. Wenn das an einer Fehlfunktion der Instrumente lag, dann litten beide Teleskope an exakt denselben Halluzinationen.

Sandy tippte eine neue Folge von Befehlen ein: Berechne den aktuellen Grad der Geschwindigkeitsverminderung und die Position, kombiniere die Angaben mit den vor drei Stunden erhaltenen Daten und extrapoliere einen Orbit.

EXTRAPOLATION: DAS OBJEKT WIRD DEN SATURNORBIT IN 13 STUNDEN ERREICHEN.

Die Arbeitsgruppe, die den Himmel beobachtete, traf sich zu einer Besprechung, um über Zielprioritäten zu diskutieren, als Sandy an die Tür klopfte und den Kopf ins Zimmer steckte. McGill stand am Whiteboard und schrieb Reihen aus mathematischen Symbolen auf. Er kriegte was von »Synchrotronstrahlung« und »anomalen Jets« mit, was immer das zu bedeuten hatte. Aber die Arbeitsgruppe schien beeindruckt zu sein. Als die Leute sich umdrehten und Sandy ansahen, verdrehte Fletcher die Augen. Dann, mit Mühe, fand er seine Beherrschung wieder und fragte mit schlecht verhohlener Ungeduld: »Was gibt’s, Sandy?«

Sandy, der ganz genau wusste, wie sehr er Fletcher mittlerweile auf die Nerven ging, setzte ein breites Grinsen auf und erwiderte: »Wie läuft’s hier, Big Guy?«

Fletcher knirschte mit den Zähnen. »Wie Sie sehen, Sanders, bin ich mitten in einer Besprechung. Wenn Sie in einer Stunde wiederkommen könnten oder vielleicht morgen …«

»Der Computer hat in Aufnahmen von Chuck’s Eye und dem Medium Eye eine kritische Anomalie entdeckt«, sagte Sandy. »Ich dachte mir, bevor ich die L.A. Times anrufe, sollte ich Sie informieren.«

In die eingetretene Stille hinein meinte einer der Post-Doktoranden zu Fletcher: »Er sieht sich die Testbilder von der letzten Reparatur an.«

Fletcher grummelte etwas in seinen Bart, das verdächtig nach »Arschloch« klang, und fragte Sandy: »Nun, Sanders … haben Sie einen Bericht?«

Sandy peilte auf das Blatt Papier in seiner Hand, als hätte er Mühe, den Text zu lesen, und sagte: »Der Computer meldet eine kritische Anomalie. Hier steht, dass sich ein Objekt dem Saturn annähert, dass es real ist, dass es mehrere Kilometer lang und breit ist, dass sein Spektrum im tiefen UV-Bereich liegt und dass es Wasserstoff ausstößt.«

Des Effektes wegen legte er eine kleine Pause ein. Sandy wusste, dass er jetzt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, und war nicht darüber erhaben, die Situation noch ein Weilchen in die Länge zu ziehen.

»Oh, yeah, das Objekt wird langsamer und wird den Saturnorbit in dreizehn Stunden erreichen.«

Die Richtigen Wissenschaftler blickten einander an, und dann sagte Fletcher: »Geben Sie mir den Ausdruck.«

Eine Minute später sagte er: »Um das zu bestätigen, müssen wir eine Reihe Fotos machen.«

»Ist bereits geschehen«, sagte Sandy und hielt ein zweites Blatt in die Höhe.

Fletcher blickte noch irritierter drein, setzte zu einer scharfen Bemerkung an, hielt sich dann aber zurück. Er holte tief Luft. »Okay, und mit welchem Resultat?«

Sandy reichte ihm den zweiten Ausdruck.

Die Arbeitsgruppe flitzte los und drängte sich hinter Fletchers vorgebeugten Rücken, damit alle gemeinsam den Bericht lesen konnten. Nach einer Minute sagte jemand: »Heilige Maria Mutter Gottes!«

Fünfzehn Stunden später kratzte sich Fletcher, erschöpft von Hyperaktivität und Schlafmangel, seine Stirnglatze mit den Fingernägeln, blickte die anderen im Raum Anwesenden an – die Arbeitsgruppe plus ein paar Astro-Ultra-Stars, plus ein schmächtiger, dunkeläugiger Mann aus Washington, dem es gelungen war, jedem in der Astro eine Höllenangst einzujagen – und sagte: »Läuft es also darauf hinaus, dass … Sanders Heacock Darlington die wichtigste wissenschaftliche Entdeckung in der Geschichte der Menschheit gemacht hat? Ausgerechnet dieses Arschloch?«

»Der kann doch nicht mal einen Scheißreifen wechseln«, sagte jemand.

»Das mag ja sein«, räumte der Mann aus Washington, der ihnen allen Angst machte, ein. »Aber er hat ein außerirdisches Sternenschiff entdeckt.«