Watt_Musik_eBook

Alan Watt

Die Musik der Wüste

Roman

Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet

Impressum

Copyright der E-Book-Originalausgabe © 2016 bei hey! publishing, München

© der deutschsprachigen Ausgabe 2001 by Bastei Lübbe AG, Köln

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-95607-092-1

www.heypublishing.com

DIENSTAG

16

Mein Vater klopfte auf das Lenkrad und summte zur Melodie von »I Think It’s Going To Rain Today« aus Neil Diamonds MCA-Album Stones von 1971. Er fuhr mich zum Football-Training. Ich hatte ihm noch nicht erzählt, dass ich aus dem Team ausgestiegen war. Ich wusste nicht wie.

Mein Vater bremste ab. Burdens Wagen war am Straßenrand geparkt. Als wir heranfuhren, erkannte ich die Bremsspuren und tiefen Furchen im Schotter, die ich hier zwei Nächte zuvor hinterlassen hatte. Burden schritt in langsamen Kreisen über den Wüstenboden. Er trug ein ausgewaschenes Golf-Shirt, eine khakifarbene Hose und einen dämlich aussehenden Abenteurerhut, den er sich ganz offensichtlich von Mr. Curtis geliehen hatte, damit die Sonne ihn nicht blendete.

»Bleib hier.« Mein Vater stieg aus und ging auf ihn zu. Ich kurbelte das Fenster nach unten. Als sich mein Vater Burden näherte, blickte dieser auf. Er wirkte verärgert – als fiele es ihm schwer, sich zu beherrschen.

»Guten Morgen«, sagte mein Vater.

Burden breitete die Arme aus, als wollte er die ganze Wüste in sich aufnehmen. »Das hier ist ein Tatort«, sagte er. »Die Schüler hatten hier nichts verloren.«

Mein Vater wurde zornig. Ich musste sein Gesicht nicht sehen, um zu wissen, dass die Beule an seiner Stirn rot anschwoll. Burden zeigte auf etwas am Boden. In seiner Hand hielt er eine kleine Kelle und einen Tupperware-Behälter. Er nahm den Deckel ab – drinnen lag ein Stein.

»Das ist Blut.« Er hatte Ians Blut gefunden. »Und schauen Sie sich das an.« Er deutete auf die Bremsspuren und die Furchen im Schotter. »Sie haben hier alles zertrampelt. Wer weiß, wie viele Beweisstücke durch Sie verloren gegangen sind.«

Mein Vater stand nur da und hatte ihm nichts entgegenzusetzen. Er hatte es absichtlich getan. Er hatte es darauf abgesehen, mögliche Indizien zu zerstören. Er hatte die Schüler der Carmen High School als unwissende Komplizen missbraucht.

Burden zeigte auf Fußspuren, die diagonal zu den Spuren der bei der Suche beteiligten Schüler liefen – Fußspuren, die von der Straße kamen.

»Sie stammen vielleicht von der Person, die das hier … was immer es gewesen sein mochte … getötet hat.«

»Das Blut stammt höchstwahrscheinlich von einem Tier.«

Burden wurde sehr still. Er starrte auf etwas in der Ferne, dann wandte er sich meinem Vater zu und sagte: »Wer tötet denn schon ein Tier und steigt dann aus dem Wagen, um es mitzunehmen? Es gibt keine Spuren von einem Tier. Nur das Blut. Und es ist nichts weggeschleift worden.«

»Gut, dann sollten wir es untersuchen lassen.« Mein Vater fasste nach dem Tupperware-Behälter, den Burden in der Hand hielt. Burden wich zurück.

»Ich hab jemanden in Vegas, der das übernimmt«, sagte Burden.

»Ich denke, Sie sollten den Behälter lieber mir geben.« Sie starrten sich eine volle Minute lang an. »Ich rate Ihnen dringend, mir den Behälter zu übergeben, Mr. Burden, oder ich werde Sie wegen Widerstands gegen einen Ermittlungsbeamten anzeigen.« Burden starrte neugierig meinen Vater an. Er war fast einen Kopf kleiner, aber er wich dem Blick meines Vaters nicht aus. Schließlich gab er meinem Vater den Tupperware-Behälter. Mein Vater ging zum Wagen zurück. Burden folgte ihm.

»Diese Stelle sollte abgeriegelt werden.«

Mein Vater fuhr herum und baute sich vor Burden auf – sie standen direkt vor unserem Wagen. »Ich denke, es wäre eine sehr gute Idee, wenn Sie sich aus meinen Angelegenheiten heraushalten würden.«

Burdens Blick fiel auf die Frontpartie des Autos.

»Ihr Blinker ist zersplittert.«

Mein Vater sah zum linken Blinker, der durch Ians Aufprall zerbrochen war. Er starrte ihn an, dann riss er sich davon los, stieg ein und legte mir den Tupperware-Behälter auf den Schoß.

»Halt das.«

Ich spürte Burdens Blick, als wir auf die Straße einscherten und zur Schule fuhren.

Mein Vater bog in den Parkplatz ein. Einige Väter standen vor dem Eingang und unterhielten sich. Dann drehten sich ihre Köpfe in unsere Richtung, als mein Vater und ich ausstiegen.

»Hallo, meine Herren.« Mein Vater gab einigen die Hand. Die Männer blinzelten mich an.

Jericho ergriff schließlich das Wort. »Das ist aber eine Überraschung!«

»Wieso?«, fragte mein Vater.

»Ich dachte, du wolltest nicht mehr spielen.«

Der Kopf meines Vaters schnellte in meine Richtung. In diesem Augenblick trat Ulster aus dem Schulgebäude und kam auf uns zu.

»Wie geht’s, Chester?« Ulster und mein Vater kamen wunderbar miteinander aus.

»Na ja, weiß nicht recht. Ich hab’s soeben erst erfahren.«

Alle Blicke waren jetzt auf mich gerichtet. Ich hatte nichts zu sagen.

»Was für eine Schande – mit Verlaub, Chester, aber ich glaube, Neil war gestern Morgen etwas durch den Wind, wahrscheinlich hatten wir ein Kommunikationsproblem.« Mein Vater musterte mich, als könnte er das alles nicht fassen – er hatte seinen bestürzten und besorgten Blick aufgesetzt. »Wenn Neil weiterhin spielen will, werde ich das Kriegsbeil begraben und die ganze Sache vergessen. Wir haben am Samstag ein wichtiges Spiel und sollten langsam anfangen, wie ein richtiges Team aufzutreten.«

Es war nicht so, dass ich Football nicht mochte. Ich liebte das Spiel. Ein perfekter Pass in die Endzone war ein Traum, mit dem ich abends einschlief. Das gab mir das Gefühl, zu existieren. Vielleicht war es genau das. Ich wollte nicht mehr existieren. Ich wollte nichts mehr spüren, das mich an meine Sünden erinnerte. Football erinnerte mich daran, dass ich Ian Curtis getötet hatte. Ich wollte einfach so sein wie die anderen Schüler. Ich wollte unschuldig sein.

Ich konnte die Männer nicht ansehen. Sie gaben mir eine zweite Chance, und ich stieß sie vor den Kopf. Ich erpresste sie mit meiner Entscheidung, und sie hassten mich deswegen. Vor allem mein Vater. Wenn uns etwas miteinander verband, dann war es Football. Ich weiß nicht warum, aber ich musste an das Geld denken, das er meinetwegen für das Rindfleisch ausgegeben hatte. Football war das, was mich ernährte und kleidete. Ich spielte, um am Leben zu bleiben. Solange ich ein gutes Spiel hinlegte, wusste ich, dass ich wieder ein wenig in Sicherheit war, aber ich hatte keine andere Wahl. Ich konnte nicht anders. Und deswegen sagte ich nein.

Mein Vater stieg in seinen Wagen, ich drehte mich um, und er starrte mich an. Etwas in seinem Blick klarte sich auf, und für eine kurze Sekunde war dieser unbestimmte Blick in die Ferne verschwunden, und alles, was ich sah, war Angst. Zunächst glaubte ich, ich würde es mir nur einbilden, aber es ließ sich nicht leugnen. Er sah ängstlich aus. Als hätte er Angst … wovor? Vor mir? Es ergab keinen Sinn für mich, aber so sah er aus. Als hätte mein Vater Angst vor mir.

Ich ging durch die Eingangshalle. Ich hatte den Kopf gesenkt, als ich den anderen aus der Mannschaft begegnete, die auf dem Weg ins Training waren. Die Schule war leer. Am Ende der Eingangshalle sah ich den Hausmeister, der den Boden wischte. Er war ein alter Mann mit tiefen Falten im Gesicht. Mir wurde bewusst, dass ich ihn noch nie mit jemanden hatte sprechen sehen. Er wischte den Boden oder überstrich die Graffiti, und wir marschierten einfach an ihm vorbei. Ich dachte an die Schäden, die ich angerichtet hatte und die er aufräumen musste – es hatte eine Zeit gegeben, in der ich ständig die Kabinen in den Toiletten mit einem Filz-Marker bekritzelt hatte. Er hatte sich niemals beschwert, er hatte noch nicht einmal etwas gesagt. Er war einfach mit seinem Pinsel gekommen und hatte unsere Sauereien überstrichen. Ich wollte ihm danken und mich für die Mühen entschuldigen, die ich ihm bereitet hatte. Aber je mehr ich mich ihm näherte, umso deutlicher spürte ich, wie unwohl mir war. Vielleicht würde er glauben, ich mache mich über ihn lustig. Plötzlich fühlte ich mich äußerst verlegen wegen der Schmierereien auf der Toilette. Als ich an ihm vorbeiging, blickte er zu mir her; ich sah weg.

Ich ging an den Spinden der neunten Klasse vorbei. Ich erinnerte mich an meinen ersten Tag in der Carmen High School. Ich war damals aufgeregt gewesen, weshalb ich eine Prügelei mit einem anderen Jungen anfing, der mich angerempelt hatte. Ich wollte, dass jeder wusste, wie hart ich war. Keiner sollte glauben, dass er mich verscheißern konnte.

Hinter mir hörte ich Schritte. Ich drehte mich um. Stokely kam auf mich zu; Mrs. Doyle, die Jahrgangsstufenleiterin in der neunten Klasse, und Mr. Curtis begleiteten ihn.

Einen Augenblick lang glaubte ich, sie wüssten es. Mein Vater hatte es ihnen gesagt, und nun waren sie da, um mich zu verhaften. Das war keine Angst, die ich im Blick meines Vaters gesehen hatte, sondern Zorn. Er hatte die Schnauze voll von seinem Sohn, der nicht tat, was man ihm sagte. Er würde sich um alles kümmern, wenn ich ihm nur einen kleinen Gefallen tat: wenn ich Football spielte. Und nun hatte ich ihn verraten, und alles war vorbei.

Erst jetzt bemerkte ich, dass Stokely einen Bolzenschneider dabeihatte.

»Guten Morgen, Neil«, sagte Mrs. Doyle.

»Hallo.«

Sie blieben vor dem Spind rechts neben meinem alten stehen.

»Das ist er«, sagte sie. Stokely setzte den Bolzenschneider an und trennte das Schloss ab.

Mr. Curtis wirkte erschöpft, hielt aber den Kopf hoch. Fast war es, als redete er sich ein, sich aufrecht halten zu müssen, obwohl er am liebsten die nächsten Tage durchgeschlafen hätte. Er sah mir in die Augen und schüttelte bedächtig und missbilligend den Kopf. Er wusste von der Prügelei. Er sagte nichts, sondern sah aus, als fühlte er sich hintergangen. Er hatte mich zu sich nach Hause eingeladen, mir zu essen gegeben und mich anständig behandelt, um dann zu erfahren, dass ich seinen Sohn verprügelt hatte.

Ich drehte mich weg und verschwand in der Eingangshalle. Sie suchten in Ians Spind nach Indizien, irgendwelchen Anhaltspunkten, die darauf hinweisen könnten, wo er sich aufhielt. Ich wusste, sie würden in seinem Spind nichts finden, das auf sein Verschwinden hindeutete. Ich wusste, dass Stokely auf Anweisung meines Vaters handelte.

Ich setzte mich in die Bibliothek, starrte auf die Uhr und wartete auf den Beginn des Unterrichts. Einige Schüler kamen herein, sie lachten, und die Bibliothekarin sagte ihnen, sie sollten leiser sein. Auf einem Tisch lag ein Buch über Oregon aufgeschlagen. Die Bilder waren wunderschön – Wälder, Küsten und weite, offene Flächen. Ich stellte mir vor, einen Bus nach Oregon zu nehmen und mir einen Job in einem Sägewerk zu suchen. Ich würde meinen Namen ändern und untertauchen. Ich dachte daran, welchen neuen Namen ich mir geben sollte, als Lenore mit Jill Menzies die Bibliothek betrat. Ich tat so, als würde ich mein Buch lesen. Ich machte mich darauf gefasst, von ihr zu hören, welches Arschloch ich sei, weil ich aus der Mannschaft ausgestiegen war, und dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben wolle. Oder vielleicht, dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben mochte, weil ich Ian Curtis verprügelt hatte.

»Hallo«, sagte sie. Sie trug ein weißes T-Shirt und einen blauen Rock. Jill war nicht mehr da, daher wusste ich, dass Lenore mir was zu sagen hatte. Sie gehörte nicht zu den Mädchen, die jedes Mal ihre Freundinnen wegschickten, wenn sie ihren Freund erblickten.

»Hallo.«

Es folgte eine unangenehme Pause. »Ich hab lange über letzten Sonntagabend nachgedacht«, sagte sie. »Und ich denke, vielleicht sollten wir … du weißt schon.«

Ich starrte auf ein Bild aus Oregon. Ich starrte auf die Bäume und sah mich selbst auf einem von ihnen, hoch oben in der Krone, weit weg von Carmen.

»Sag was«, drängte sie. Sie hielt meine Hand. »Neil, was ist denn?«

»Nichts«, sagte ich.

»Ich dachte … das wolltest du doch, oder?«, fragte sie. Wie sollte ich ihr sagen, dass sich alles verändert hatte, dass es mit ihr nicht mehr ging, dass alles nicht mehr stimmte? »Neil, ich liebe dich.« Sie drückte meine Hand. »Es ist mir egal, ob du Football spielst oder nicht. Ich bin deine Freundin, ich liebe dich und werde dich immer lieben. Ich will, dass du das weißt.« Am liebsten hätte ich angefangen zu heulen, als sie das sagte. Aber ich tat es nicht. Ich starrte nur auf den Baum in diesem Buch. »Sag was«, drängte sie.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Jill Menzies beobachtete uns, während sie vorgab, ihr Buch zu lesen. Ich saß hier mit Lenore, sagte nichts und hielt ihr die Hand.

»Alles wird wieder in Ordnung kommen«, sagte sie. Und so, wie sie das sagte, glaubte ich ihr fast. Und dann war ich über mich selbst überrascht. Ich hob meinen Kopf und war kurz davor, ihr zu sagen, dass ich sie auch liebte. Aber als ich ihr in die Augen sah, ging es nicht.

»Was wolltest du sagen?«

Ich wollte weg. Ich wollte oben auf einem Baum sein. Warum tat sie das? Kapierte sie es denn nicht? Ich wollte allein gelassen werden. Sie hatte ihre Hand auf meinem Bein. Sie streichelte mich, und ich spürte es nicht. Ich erinnerte mich an ihren Blick, als sie mit Amy in die Küche gegangen war. Ich hatte ihren Schmerz gesehen, ihre Verletztheit, und nun verzieh sie mir – sie bot sich mir an. Ich dachte an Mary. Ich dachte daran, was ich mit ihr am Abend zuvor getan hatte, und meine Augen begannen zu brennen. Lenore wollte mit mir schlafen, und ich wollte einfach nur davonlaufen. Ich hasste sie dafür, dass sie mir verzieh. Ich hasste die Welt dafür, dass sie mir immer und immer wieder vergeben hatte, bis es zu spät war. Ich machte all jene verantwortlich, die über das, was ich getan hatte, gelacht, mich dazu ermutigt oder darüber hinweggesehen hatten. Ihnen allen gab ich die Schuld an Ian Curtis’ Tod. Seit Jahren, lange bevor die Curtis’ überhaupt in Carmen aufgetaucht waren, war ich mit meinen Morden ungestraft davongekommen.

17

Ich saß im Aufenthaltszimmer. Clyde und Dayton waren wieder da, johlten und machten sich lustig über mich. Mrs. Aemes sagte ihnen, sie sollten den Mund halten, und ich versuchte sie zu ignorieren. Während der morgendlichen Ansprache hatte Ulster ein Gebet für Ian Curtis und seine Familie gesprochen. Einige der Schüler unterhielten sich darüber, wo Ian sich wohl rumtrieb. In der Eingangshalle hatte ich einige Mädchen gesehen, die mit Tränen in den Augen davon gesprochen hatten, wie schrecklich doch alles sei. Aber die Stimmung hatte sich geändert. Wir waren wieder in der Schule. Der Reiz des Neuen war verflogen. Keiner wollte zehn Stunden lang mit starrem, auf den Boden geheftetem Blick durch die Wüste trotten. Keiner kannte Ian wirklich, und jeder konnte sich ausrechnen, dass die Chancen, eine Leiche zu finden und damit zum Helden zu werden, ziemlich gering waren.

Ich hatte Ulsters Gebet bereits gekannt. Im Grunde war es das gleiche, das er vor jedem Spiel sprach. Er redete davon, dass der Herr einen Plan habe und für uns alle nur das Beste wolle. Und manchmal, wenn wir glaubten, es ginge nicht mehr weiter – dann müssten wir nur die Hand nach Jesus ausstrecken und uns von ihm die letzten wenigen Yards vorwärts tragen lassen. Er hatte mit dem Psalm geschlossen, »und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück«. Am Ende seines Gebets weinten viele Schüler. Am meisten weinte Mrs. Aemes. Sie sagte uns, wie sehr sie uns liebe. Sie sagte uns, es sei nicht möglich, Schüler zu unterrichten und jeden Einzelnen von ihnen nicht zu lieben. Sie war eine der wenigen Lehrer, die so etwas sagen konnte und der man es abnahm.

Sie ließ uns die Tische zu einem großen Kreis zusammenstellen, damit wir der Reihe nach von unseren persönlichen Verlusterfahrungen sprechen konnten. Als Debra Ives von ihrem Bruder, einem Jockey, zu erzählen begann, entschuldigte ich mich und ging auf die Toilette. Ihr Bruder war auf der Galopprennbahn in Belmont gestorben. In der Startbox war sein Pferd in Panik geraten und hatte versucht, auf ein anderes Pferd zu springen. Debras Bruder war abgeworfen worden und hatte sich den Hals gebrochen; er war sofort tot. Debra erzählte der Klasse, dass sie nicht dem Pferd die Schuld gab. Das war der Augenblick, als ich aufstand und ging. Das Pferd, das ihr Bruder geritten hatte, hieß »Buhmann«. Sie sagte es, als handelte es sich um eine Art nebensächlicher Information. Fast erwartete ich, dass Mrs. Aemes auf die wundervolle Ironie hinwies.

Ich ging zur Toilette und setzte mich auf eine Kloschüssel. In meinem Kopf pochte es, das Atmen fiel mir schwer. Ich versuchte mich zu entspannen. So fühlte ich mich auch, wenn das Spiel auf der Kippe stand und die Uhr gegen uns lief und ich nach einem Weg durch die gegnerische Verteidigung suchte. Aber ich befand mich doch in Sicherheit. Mein Vater war der Sheriff und hatte die Leiche beiseite geschafft. Er war gründlich und vorsichtig. Ich musste nichts mehr tun. Ich musste mich nur in den Unterricht setzen und den anderen zuhören, wie sie von ihren Verlusterfahrungen sprachen. Ich musste nur dasitzen und so tun, als sei ich kein Mörder.

Als ich wieder die Klasse betrat, berichtete Tracey Beckwith von ihrem Hund Justin. Justin war an Altersschwäche gestorben. Alle saßen geduldig da, während Tracey von Justin erzählte. Sie hatte ihn als Welpen von der Wohltätigen Gesellschaft in Carmen bekommen, als sie sechs Jahre alt gewesen war. Tracey Beckwith hatte rotes Haar und war über eins achtzig groß. Sie hatte einen schweren Körperbau und war übersät mit Sommersprossen. Die Mitschüler zogen sie deswegen ständig auf und nannten sie die »Große Rote«. Ich war einer von ihnen. Vergangenen Herbst war es so schlimm geworden, dass sie einen Selbstmordversuch unternommen und sich von den Diätpillen ihrer Mutter eine Überdosis eingeworfen hatte. Während sie im Krankenhaus lag, wurde in der Cafeteria ein Treffen einberufen, bei dem alle Schüler und Lehrer anwesend waren. Es wurde deutlich darauf hingewiesen, dass jeder von der Schule fliegen würde, falls er irgendetwas zu ihr sagte, das negativ ausgelegt werden könnte. Seitdem hielten sich die meisten von Tracey fern, bis auf einige, die meinten, sie müssten sich ihr gegenüber als besonders freundlich erweisen. Es war abscheulich. Vor ihrem Selbstmordversuch wollte niemand, dass sie sich in der Cafeteria am Tisch dazusetzte, und nun wurde sie ständig eingeladen, und ständig wurde ihr ein Stuhl angeboten. Ich denke, es gibt nichts Schlimmeres, als jemanden zu behandeln, als sei er etwas Besonderes. Damit will ich nicht entschuldigen, dass sie die Große Rote genannt worden war. Aber was mich wütend machte, war die Heuchelei der meisten Lehrer. Ihnen war Tracey ebenso gleichgültig wie uns, sie brauchten eben einen Sündenbock, und es war sehr viel leichter, alles auf die Schüler zu schieben, als das wahre Problem anzusprechen. Man hätte sich nur Traceys Familie ansehen müssen, und jeder hätte feststellen können, dass sie bereits sehr labil gewesen war, lange bevor irgendjemand auch nur daran dachte, sie die Große Rote zu nennen. Ich erinnere mich, wie ihr Vater sie geküsst hatte, als er sie zu einer Tanzveranstaltung brachte. Ich erinnere mich, dass ich verstohlen zu ihr geblickt hatte, als wir in der Schule über unsittliche Berührungen aufgeklärt worden waren – sie sah dabei aus, als stünde sie mitten im Londoner Nebel. Nachdem ich gesehen hatte, wie ihr Vater sie küsste, konnte ich ihr nicht mehr verdenken, dass sie eine ganze Schachtel Diätpillen einwerfen wollte.

Am Ende der Stunde weinte jeder, und ich fühlte mich, als hätte ich persönlich Traceys Hund und Judd Greelys Onkel und Heidi Millers Großmutter und Debra Ives’ Bruder umgebracht. Ich fühlte mich, als wäre ich für alle Tränen verantwortlich. Ich saß mit trockenen Augen da, starrte meine Hände an und hasste sie alle, dass sie ihr Leid zum Besten geben durften. Ich hätte ihnen von wirklichen Verlusten erzählen können. Sie wussten nicht, wie es ist, wenn jemand einfach geht und nicht mehr zurückkommt. Ich hätte ihnen wirklich was von Verlust erzählen können. Ich und die Curtis’ auch.

18

»Ich weiß, Ulster ist ein Arsch, aber siehst du nicht, was du da machst?« Reed hatte mich abgefangen, als ich in die Cafeteria wollte, und darauf bestanden, dass wir miteinander redeten. Er saß hinter dem Steuer seines 75er Plymouth Fury und gestikulierte wild mit den Händen. »In zehn Jahren wirst du dich an ihn nicht mehr erinnern, aber wenn du zurückblickst, dann wird dir das als der größte Fehler …« Er redete von Ulster, als müsste er sich selbst davon überzeugen, dass unser Trainer der Grund war, warum ich die Mannschaft verlassen hatte.

Reeds Vater hatte den Wagen restauriert und ihm zu seinem sechzehnten Geburtstag geschenkt. Es war ein mitternachtsblaues Monster mit acht Zylindern, einer 318er Maschine und einem liebevoll wieder hergerichteten Innenraum. Sein Vater hatte ihm gezeigt, wie er den Wagen zu warten, wie er das Öl nachzufüllen hatte und was alles bei einer großen Inspektion zu tun war. Er war sehr geduldig und achtete darauf, dass Reed jeden einzelnen Schritt verstand. Mein Vater hatte es mit dem Unterrichten weniger. Einmal weckte er mich mitten in der Nacht auf und wollte mir zeigen, wie ich mich zu rasieren hatte. Damals war ich zwölf Jahre alt. Ich bezweifle, dass er sich noch daran erinnert, wie ich ihn stützen musste, während er mir die Rasiercreme ins Gesicht schmierte. Ich sagte ihm, ich wolle schlafen, aber er meinte, er müsse mich auf das Mannsein vorbereiten. Immer sagte er mir, ich könne ihn alles fragen. »Frag mich einfach«, kam es ständig von ihm, als gäbe es etwas, von dem er unbedingt wollte, dass ich es wusste.

»Ich will eben nicht mehr spielen. Ich will nicht mehr.«

Ich konnte Reed nicht in die Augen sehen, deshalb starrte ich auf den Plastik-Schlüsselanhänger der UNLV, der am Rückspiegel hing. Ich hatte ihn Reed vor fünf Jahren geschenkt, nachdem ich ihn in Vegas für 99 Cents nach einem Neil-Diamond-Konzert gekauft hatte. Am Tag, als er von seinem Vater den Wagen bekommen hatte, kam er zu uns gefahren, und da baumelte der Schlüsselanhänger. Ich wusste noch nicht einmal, dass er ihn aufbewahrt hatte. Ich wünschte, er hätte es nicht getan. Im Luftzug der Klimaanlage schwang er wie ein Pendel hin und her; ich spürte, wie ich davon Kopfschmerzen bekam.

»Aber wir haben doch so oft darüber gesprochen. Ich meine, was ist mit …« Ich wusste, was er sagen würde, bevor er es ausgesprochen hatte. »Was ist mit uns, mit dir und mir?«

Es war das erste Mal, dass er es erwähnte. Am liebsten hätte ich so getan, als wüsste ich nicht, wovon er sprach, als bildete er sich alles nur ein. Am liebsten hätte ich ihn angeschrien, weißt du nicht, was ich getan habe? Stattdessen wiederholte ich mich. »Ich will nicht mehr spielen.«

»Wegen Ulster?«

Ich war genervt. Ich wollte ihm mit ja antworten, wusste aber, dass er mich nicht in Ruhe lassen würde, wenn Ulster der einzige Grund für mein Ausscheiden aus der Mannschaft wäre.

»Nein.«

»Warum dann?«

Warum? Das war eine Frage, die ich nicht beantworten konnte. Es gab keinen Grund, zumindest keinen, der Reed zufrieden gestellt hätte. Aber ich gab ihm einen, und wahrscheinlich lag dieser näher an der Wahrheit, als mir bewusst war. »Wegen meines Vaters.« Wir hatten uns nie über meinen Vater unterhalten; Reed wusste, wie still ich wurde, wenn er in meiner Nähe war, wie angespannt ich war, wenn ich mit ihm am Telefon sprach. »Er hat mich mein ganzes Leben lang angetrieben, und ich hab die Schnauze voll. Ich bin es leid, immer nur das zu tun, was er will. Ich will einfach nicht mehr. Ich will in Ruhe gelassen werden.« Ich verstand nicht, warum es hohl und leer klang. Alles davon war wahr, aber als ich die Worte aus meinem Mund hörte, klangen sie dumm. Ich wusste nicht, woran es lag, aber ich wusste, dass er mir nicht glauben würde.

»Deswegen also?«

»Was?«

»Deswegen hörst du auf?«

»Was? Warum?«

»Siehst du nicht, was du tust? Du wirfst dein Leben weg, nur weil du wütend auf deinen Vater bist.«

Ich musste daran denken, wie mein Vater den Kofferraum geschlossen hatte und dann ruhig, überlegen, als wäre nichts geschehen, zu den Curtis’ zurückgeschlendert war. Und dann war die Leiche weg. Es erschreckte mich. Ich wusste nicht, wozu mein Vater in der Lage war. Ich hatte noch im Ohr, wie er mir sagte, ich solle mich vor solchen Leuten in Acht nehmen, und plötzlich wurde mir bewusst, dass sich dies nicht nur auf die Banks bezog. Mit solchen Leuten meinte er alle außer sich selbst. Er wollte mich und mein Leben unter seiner Kontrolle haben. Aber warum? Wovor hatte er Angst?

»Es ist … du hast so viele Geheimnisse, und du erzählst mir nichts. Ich meine, ich weiß noch nicht einmal, ob wir überhaupt noch Freunde sind.« Reed starrte auf den Schlüsselanhänger. »Du warst mal mein bester Freund.« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte; daher ignorierte ich ihn.

»Aber ich hab’s dir doch gesagt.«

»Ich will nur wissen, was hier abläuft. Ich hab das Gefühl, ich hab was falsch gemacht.«

»Du hast nichts falsch gemacht.«

Er zog ein Blatt Papier aus der Tasche und reichte es mir. »Hier.« Ich wollte es auseinanderfalten. »Lies es später.« Ich steckte es in meine Tasche. Reed seufzte. »Ich weiß, dass dir dieser Scout die Jacke gegeben hat.« Ich spürte, wie ich rot wurde. »Ich verstehe nur nicht, wie du das alles wegwerfen kannst. Genau das wolltest du doch immer. Dafür hast du hart gearbeitet. Ich verstehe nicht, warum du es mir nicht erzählt hast.«

»Ich …«

»Neil, ich hab niemandem gesagt, dass ich dich auf der Straße gesehen habe.« Ich wollte schlucken, aber es ging nicht. Mir ging das alles zu schnell. Ich fühlte mich von ihm überrannt. Ich sah aus dem Fenster. Einige Jungs zerrissen ein Schulbuch und warfen die Seiten in die Luft. Ich sah den Blättern nach, die sich über dem Parkplatz verteilten. »Dein Vater und Stokely fragten mich, ob ich Sonntagabend jemanden auf der Straße gesehen habe, und ich sagte ihnen, nein, ich hab niemanden gesehen.« Die Klimaanlage lief auf vollen Touren; Schweiß sammelte sich in meinen Augenbrauen. »Ich hab es niemandem erzählt.« Und dann drehte er sich zu mir und sah mich an. »Niemand weiß es.« Ich starrte ihn an.

»Es ist nicht …« Ich wollte lachen, ich wollte es als etwas völlig Belangloses erscheinen lassen; meine Finger pressten sich jedoch gegen den Türgriff, und plötzlich ging die Tür auf, und ich fiel beinahe aus dem Wagen.

»Alles in Ordnung?«

»Schau, ich hab … ich hab …«

»Ich glaube nicht, dass ich dich da bei irgendwas erwischt habe. Was hast du da getrieben? Ich meine … hast du angehalten, weil du pinkeln musstest oder so was? Ich hab darüber nachgedacht …« Er drehte sich wieder weg. »Was hast du da gemacht?«

Ich wollte es ihm erzählen, einfach die Worte loswerden, und ich hätte gewusst, dass alles in Ordnung wäre. Ich sah ihn an, und plötzlich ging ich zum Schulgebäude. Ich spürte Reeds Blick und fühlte mich sehr unsicher; ein falscher Schritt nur, fürchtete ich, würde mich verraten. In der Seite, dort wo ich den Schlag von Ernie Gates abbekommen hatte, spürte ich einen stechenden Schmerz. Am Eingang standen einige Schüler, sie rauchten und beobachteten mich, als ich auf sie zuschritt. Ihre Gesichter verschwammen. Ich drückte die Metalltür auf und ging in das Schulgebäude zurück.

19

Ich kämpfte mich durch die aus der Cafeteria drängende Menge. Es geschah, bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte. Mary kam mit einer Miene auf mich zu, die ich an ihr nicht kannte – als müsste sie eine grauenvolle Erfahrung durchmachen und ich wäre der Einzige, der sie verstehen könnte. Sie wirkte so verloren und gequält, dass ich meine Arme ausbreitete, und erst als ich sie bereits umarmt hatte, wurde mir bewusst, dass uns alle in der Cafeteria beobachteten – die Football-Mannschaft, Dayton und Clyde, Fred Billing, Amy und Lenore. Und an den Blicken, die sie mir zuwarfen, war abzulesen, dass Mary bereits vom vergangenen Abend erzählt hatte und die ganze Schule nun Bescheid wusste. Jeder wusste, was wir in dem Mietwagen ihres Onkels getrieben hatten.

»Wie geht’s dir?«, fragte ich sie.

»Ich weiß nicht«, sagte sie. Sie unterdrückte ihre Tränen und versuchte stark zu sein. Jeder in der Schule kannte jetzt Mary Curtis, und ihrem Blick entnahm ich, dass ihr das gefiel.

Ich sah, dass die anderen Mädchen Mary beobachteten und sich wünschten, ihre Brüder würden ebenfalls vermisst werden. Sie war das am meisten beneidete Mädchen in der Schule. Das Mitgefühl der Schüler gehörte ihr. Niemand konnte etwas Schlechtes über sie sagen. Sie war jemand, den man unterstützen oder wenigstens bemitleiden musste. Die anderen Mädchen umflatterten sie, reichten ihr Taschentücher, wenn sie den Tränen nahe war, und hielten mit ihr auf den Toiletten vertrauliche Konferenzen ab.

Sie trug einen knallgelben Rock mit dazu passender Jacke. Sie wollte ihren Schmerz würdevoll ausleben. Sie wollte den anderen Mädchen ein Vorbild sein. Ich erinnerte mich an die Dokumentation über die Ermordung von J. F. K., die am Sonntagabend bei ihr zu Hause im Fernsehen gelaufen war, und dann wurde mir bewusst, dass Mary Jackie Kennedy sein wollte. Und hier war sie nun in den Sachen ihrer Mutter und spielte die Rolle der trauernden Schwester.

Ich kam mir vor wie ein Statist – der Kerl, den sie sich auserwählt hatte und an den sie sich wenden konnte, um Unterstützung zu finden. Ich gehörte ihr, und niemand konnte sie eine Schlampe schimpfen oder sagen, sie hätte mich Lenore weggenommen. Sie trauerte, sie konnte für das, was sie tat, nicht verantwortlich gemacht werden. Was sich am Abend zuvor zwischen uns ereignet hatte, war einzig und allein meine Schuld. Ich hatte sie verführt, sie in dem Moment ausgenutzt, in dem sie verletzlich gewesen war. Ich weiß nicht, wie lange ich so dagestanden und sie im Arm gehalten und überlegt hatte, was ich tun sollte. Es war, als hätte sie sich über Nacht verändert. Am Tag zuvor war sie noch ein kindischer, ungelenker Teenager gewesen, und jetzt präsentierte sie sich als eine charmant-erwachsene High-School-Abgängerin, die sehr versiert war, was die Umgangsformen öffentlicher Trauer anbelangte.

»Nimm doch Platz«, sagte sie, als wäre sie die Gastgeberin einer Totenwache.

An ihrem Tisch saßen Paula Bell, Judy Moffitt und Julie Sorge. Paula und Judy hingen immer zusammen. Paula war im Jahr zuvor kurz mit Reed zusammen gewesen. Eines Nachts hatte Paula ihn dabei ertappt, wie er betrunken mit Beth Henderson rummachte. Für Paula war die Sache damit erledigt. Reed sprach noch immer davon, welch großen Fehler er gemacht hatte. Auf Feten ließ er sich meistens voll laufen und fing dann an zu jammern.

»Hallo«, sagte ich zu den Mädchen.

»Hallo, Neil«, sagten alle. Julie Sorge in ihrem glänzenden grünen ärmellosen Oberteil wirkte deplatziert und sah aus, als ginge es ihr nicht besonders gut. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie endgültig kapierte, dass Mary nun andere Freunde hatte.

»Irgendwas Neues?«, fragte ich Mary. Sie schüttelte den Kopf. Sie war sehr zurückhaltend, als wüsste sie nicht, wie sie reagieren sollte. Als spielte sie eine Rolle in einem Theaterstück und wüsste ihren Text nicht ganz.

»Danke für letzten Abend«, sagte sie. Die anderen Mädchen sahen weg, als würden wir Intimitäten austauschen. Ich nickte. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen.

Ich bemerkte, dass sich Lenore mit Amy unterhielt. Mir war klar, worum es dabei ging. Dann erhoben sich beide und verließen die Cafeteria.