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Redaktionelle Bearbeitung und Lektorat: Sandra Schindler

Kapitel 7

Am Wochenende waren Alexandra und Paul alleine in dem großen Haus. Milena hatte seit Freitagabend frei.

Schon der Gedanke bereitete Paul Unbehagen, auch wenn er das Mädchen außer bei den Mahlzeiten kaum zu Gesicht bekam, da sie sich nicht in den Herrschaftsräumen aufhalten durfte.

Alexandra konnte mehr schlecht als recht kochen, aber sie war zumindest in der Lage, die Reste vom Vortag in einem Topf zu erwärmen, nicht ganz ohne etwas anbrennen zu lassen. Sie würzte nach und schnitt ein paar Radieschen in mundgerechte Scheiben.

Zum ersten Mal bekam Paul die Küche im Keller zu Gesicht. Aufgrund der Hanglage des Hauses wurde das Wort Keller dem Raum nicht gerecht, denn zur Rückseite hin war die Küche ebenerdig und bei gutem Wetter sonnendurchflutet. Heute aber blieb es den ganzen Tag dunkel, stürmisch und regnerisch. Paul leistete Alexandra beim „Kochen“ Gesellschaft, deckte den Tisch und sie aßen gemeinsam. Fast so wie jeden Abend, nur heute in der Küche.

Im Erdgeschoss war es zugig und frisch. Deshalb musste Paul sich darum bemühen, nach dem Essen den Kamin anzumachen. Leichter gesagt als getan, denn das Holz, das er fand, war schon etwas feucht. Es qualmte. Einzelne Scheite entzündeten sich kurz, doch dann erlosch das Feuer wieder. Nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang es ihm schließlich, das Holz dauerhaft zum Brennen zu bringen.

„Mir ist kalt“, sagte Alexandra, die für das herbstliche Wetter viel zu dünn angezogen war. Sie holte eine Wolldecke aus einer Truhe unter dem Fenster hervor.

„Brauchst du auch eine Decke?“

„Nein, ich friere nicht.“

Sie ging geradewegs auf das Sofa zu, setzte sich neben Paul und legte sich die Decke über. Ein Teil der Decke lag über seinem linken Bein.

Paul wagte es kaum zu atmen, versuchte möglichst unauffällig zu sein. Ein hoffnungsloses Unterfangen, denn Alexandra hatte den Kopf mittlerweile an seine Schulter angelehnt.

Er musste zugeben, sie war eine attraktive Frau. Doch wenn sie einen Sohn in seinem Alter hatte, musste sie etwa so alt wie seine eigene Mutter sein. Aber sie sah deutlich jünger aus und war so ganz anders als Waltraud. Beim Vergleich der zwei unterschiedlichen Frauen musste er trotz der eigenartigen Situation schmunzeln.

Alexandra blieb das nicht verborgen.

„Warum lächelst du?“, fragte sie neugierig.

„Nur so. Ich musste gerade an etwas denken.“

„An was?“

Sie bohrte weiter und er wusste, dass sie so schnell nicht aufgeben würde.

„An meine Mutter.“

Die Antwort schien sie für den Moment zufriedenzustellen.

„Vermisst du sie?“

„Ja, natürlich vermisse ich sie. Ich vermisse sie alle. Meine Mutter, meine beiden Schwestern, meinen Vater, meine Großeltern, meine Urgroßmutter. Alle.“

„Das Gefühl kenne ich.“

„Und ich weiß nicht, wo sie sind, ob sie noch leben.“

„Glaubst du, es wäre besser zu wissen, wo sie sind oder ob sie schon tot sind?“

„Manchmal denke ich, dass es dann leichter wäre, ja.“

„Aber dann musst du jegliche Hoffnung aufgeben. Und das tut noch mehr weh“, flüsterte sie in sein Ohr.

Sie wandte sich zu ihm, fuhr mit der Hand seinen Hals hinunter.

„Ich habe …“

Sie unterbrach ihn, indem sie ihre flache Hand behutsam auf seinen Mund legte. Paul wusste nicht, wie ihm geschah. In dem Moment, als sie die Hand wieder von seinem Mund nahm, spürte er ihren warmen, feuchten Kuss.

Obwohl sich alles in ihm sträubte, wehrte Paul sich nicht. Reglos saß er da und ließ sich küssen.

Alexandra war zweifellos eine sehr weibliche Frau und trotz des gewaltigen Altersunterschiedes konnte Paul ihr eine gewisse sexuelle Anziehungskraft nicht absprechen. Nur kam es ihm nicht richtig vor. Nicht, dass er moralische oder sittliche Bedenken hatte. Er fühlte sich unter Druck gesetzt – und das missfiel ihm.

Alexandra schien Pauls Zurückhaltung als Schüchternheit zu deuten und ließ sich nicht abweisen. Sie drängte ihn immer weiter zurück in Richtung Sitzfläche des Sofas, lag jetzt fast bäuchlings auf ihm und küsste ihn stürmisch. Sein Gesicht, seine Ohren. Sie zerzauste sein volles Haar, bevor sie den Weg unter sein Hemd fand. Die kalte Hand auf seiner Brust ließ ihn schaudern.

Gerade als er sich fragte, wie weit sie gehen würde, begann Alexandra, mit wenigen geschickten Griffen seinen Gürtel und den Hosenschlitz zu öffnen. Sicher war sie eine geübte Liebhaberin. Aber was, wenn die Haushälterin plötzlich das Zimmer betrat? War die Tür geschlossen? Dann erinnerte er sich, dass das Mädchen frei hatte. Milena, sie …

Paul zuckte am ganzen Körper, als Alexandra sein Glied mit festem Griff umschloss. Ihre Berührungen wurden wilder, zügelloser und als sie seine Hoden in ihrer geballten Hand drückte, stöhnte Paul kurz auf. Vor Schmerzen. Er erkannte entsetzt, dass sie sein Stöhnen falsch gedeutet haben musste.

Unter anderen Umständen und mit einer anderen, jüngeren Frau wären ihm die massierenden, fast schon rabiaten Bewegungen vielleicht angenehm gewesen, aber alles in ihm sträubte sich gegen Alexandra. Seine Blicke wanderten ihren inzwischen entblößten Körper entlang. Sie war schlank, mit weiblichen Rundungen an den durchaus richtigen Stellen. Plötzlich fiel ihm auf, wie sich die Haut an ihrem Knie in Falten legte. Obwohl nur der flackernde Kamin und ein paar Kerzen auf dem Tisch den Raum in ein schwaches Licht tauchten, konnte er die Zeichen des Alters deutlich erkennen. Jede Unebenheit in ihrer Haut kam ihm plötzlich so unendlich abstoßend vor. Deshalb musste er an etwas anderes denken und versuchte sich auf die Berührungen zu konzentrieren. Das alles war neu für ihn und seine Unerfahrenheit machte ihn noch nervöser, als er sowieso schon war. Unweigerlich dachte er an sie, deren Namen er nicht einmal kannte. Die schöne Nachbarin. Was sie wohl denken würde, wenn sie ihn so sehen könnte? Der Gedanke quälte ihn regelrecht.

„Nein“, flüsterte er, „es geht nicht.“

„Das merke ich“, antwortete Alexandra, ohne aufzuhören, sein schlaffes Glied zu bearbeiten.

„Ich kann das nicht.“

„Versuch dich zu entspannen und genieß es.“

„Ich kann nicht.“

Endlich ließ sie von ihm ab und schmiegte sich an ihn. Ihre Wangen berührten sich und Alexandra gab ihm einen zärtlichen Kuss. Paul war kalt. Offensichtlich fror sie auch, denn sie holte die Wolldecke und deckte beide zu.

Unter der Decke fand Paul es trotz ihrer Nähe angenehmer. Schweigend lagen sie eine ganze Weile nebeneinander. Immer wieder unternahm sie Versuche, ihn zu streicheln oder zu küssen, aber er reagierte nicht.

„Hast du noch nie mit einer Frau geschlafen?“

Er schwieg und drehte sich zur Seite.

„Das ist doch nicht schlimm. Es ist ganz normal in deinem Alter.“

Dass sie ihn an seine Jugend und Unschuld erinnerte, tat gut, weil er sich nicht mehr verantwortlich für das fühlte, was geschehen war. Trotzdem blieb da etwas Schmutziges. Etwas, das ihn dazu brachte, sich nicht mehr wohlzufühlen in seiner Haut.

„Sei nicht so schüchtern. Ich will nur reden. Hast du schon mit einer Frau geschlafen?“

„Nein.“

Sie lächelte.

„Du kannst noch viel von mir lernen.“

Es klang wie eine Drohung. Das also war der Preis, den er für seine Freiheit zahlen musste!

So sehr sich Paul bemühte, etwas Positives in ihrem Verlangen zu sehen, so sehr wuchs seine Ablehnung. Er empfand die weibliche und sinnliche Frau als abstoßend. Es kostete ihn große Überwindung, sie nur beim Vornamen zu nennen. Aber er gewöhnte sich daran, „Alexandra“ zu sagen. Und er gewöhnte sich an ihre Nähe.

Also bin ich doch ein Ersatz für ihren Ehemann und nicht für ihren Sohn, wurde Paul in den nächsten Tagen bewusst. Es gab nur ein Problem: Er konnte sich und ihr etwas vormachen, aber nicht seiner Libido. Es war unmöglich, eine Erektion herbeizuzaubern und so blieb es bei ein paar kläglichen Versuchen. Wenn Alexandra mit ihm darüber reden wollte, wich Paul aus oder wandte sich ab.

Alexandra war nicht nur eine reife und erfahrene Frau, sie war auch belesen. Wenn Paul etwas an ihr anziehend fand, dann ihre Intelligenz und ihr Selbstbewusstsein. Nie zuvor war ihm eine so starke Frau mit einem so sicheren Auftreten begegnet. Sie versuchte, Paul von seinem kleinen Problem zu heilen. In ihrer Bibliothek gab es einige Bücher des österreichischen Arztes und Psychologen Sigmund Freud, der ein paar Jahre zuvor in London verstorben war. Sie wies Paul auf die Abhandlungen über Psychoanalyse und Sexualität hin. Durch Zufall stieß er auf die Darstellung des Ödipuskomplexes. Etwas irritiert las er die Abhandlung darüber, dass es offenbar zur sexuellen Entwicklung von Kindern gehörte, für die eigenen Eltern ambivalente Liebesgefühle zu empfinden. Entsetzt schlug er das Buch wieder zu.

Einige Tage später suchte er das Buch in der Bibliothek, schlug es aus Neugier erneut auf und fand noch viele weitere Bücher, die ihn interessierten. Alexandra besaß nicht nur Literatur von Freud, sondern viel medizinische Fachlektüre. Paul fand das außergewöhnlich, denn er wusste, dass weder Alexandra noch ihr Mann aus einer Ärztefamilie stammte.

Wenn Alexandra außer Haus war, setzte Paul sein Selbststudium fort, das er mit der bescheidenen Sammlung seines Vaters im heimischen Wohnzimmer begonnen hatte. Zunächst hatte er versucht, sich einen Überblick zu verschaffen. Die Bücher waren weder alphabetisch nach Autoren noch nach Titeln sortiert. Also mussten sie thematisch aufgereiht sein. Allmählich verstand Paul das zugrundeliegende Prinzip. Einem Oberthema, zum Beispiel einem allgemeinen Lexikon zu medizinischen Fachtermini, folgten die einzelnen Unterrubriken, also Psychologie, Chirurgie, Orthopädie und so weiter.

Paul war jung und wissbegierig und konnte sich bei der riesigen Auswahl kaum entscheiden, in welcher Reihenfolge er die Bücher angehen wollte. Nachdem er mit Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ – der Titel erschien ihm passend zu sein – eine Tragödie gelesen hatte, wandte er sich medizinischer Fachliteratur zu. Das konnte nicht schaden. Vielleicht würde er eines Tages doch noch die Apotheke seiner Familie übernehmen können. Er begann mit einer Einführung in die Anatomie des Menschen und widmete sich dann einem Buch über Pharmazie. Nebenbei, vor allem abends, wenn er schon müde war, las er zur Erholung und zum Zeitvertreib klassische Lyrik. Alexandra ließ ihn vorerst in Ruhe.

Es war ein ungemein befriedigendes Gefühl, etwas Neues zu lernen, das Allgemeinwissen zu erweitern. Hatte Paul vorher noch nie von dem Philosophen Immanuel Kant gehört, vertiefte er sich jetzt in seine philosophischen Theorien. Obwohl das Buch „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ über hundertfünfzig Jahre alt war, überraschte ihn die Fortschrittlichkeit der Gedanken. Als er sich mit Kants kategorischem Imperativ beschäftigte, fragte er sich, ob er gerade verbotene Literatur las. „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Bücher über Marxismus, Kommunismus oder Bolschewismus standen auf der Schwarzen Liste. Genau wie pazifistische Bücher und die Werke liberaler Autoren wie Heinrich Mann, Walter Rathenau oder Stefan Zweig. Kant gehörte seines Wissens nicht dazu. Jedenfalls war ihm nie etwas Derartiges zu Ohren gekommen. Außerdem: Freiherr von Wertheim war ein Nazi! Daran bestand kein Zweifel. Er würde sich nicht damit rühmen, verbotene Literatur in seiner privaten Bibliothek auszustellen. Unweigerlich fragte sich Paul, wie Alexandra dem Nationalsozialismus gegenüber eingestellt war.

Er wohnte nun schon einige Wochen bei den von Wertheims. Besser gesagt: Bei Alexandra. Die Kleidung ihres Sohnes passte ihm gut, wobei er angesichts der guten Verköstigung etwas zugenommen hatte und die Hosen am Bund dadurch etwas enger saßen. Von einem Bauchansatz blieb er aber immer noch weit entfernt – in den letzten Jahren war er eindeutig unterernährt gewesen.

Je mehr er aß, desto größer schien sein Bewegungsdrang zu werden. Immer öfter kam die Sehnsucht nach sportlicher Betätigung auf. Wenn Sommer wäre, könnte ich zumindest im See schwimmen, ging es ihm durch den Kopf.

Doch mittlerweile war es an den meisten Tagen so kalt, dass er sich schon überwinden musste, für einen kurzen Spaziergang an die frische Luft zu gehen. Das Grundstück der Wertheims war groß, doch inzwischen hatte er bereits jeden Winkel des Gartens erkundet. Dem Verlangen, die halbwegs sichere Umgebung zu verlassen und am Chiemsee oder in den Bergen zu wandern, hätte er im Sommer sicher bereits nachgegeben.

Das kalte, feuchte Winterwetter hatte einen weiteren Nachteil: Paul bekam die schöne Nachbarin nicht mehr zu Gesicht. Ob sie überhaupt noch im Haus ihrer Eltern wohnte? Womöglich war sie ausgezogen oder verreist! Er hatte es sich zur Routine gemacht, jeden Tag nach dem Mittagessen einen Verdauungsspaziergang zu machen, weil er die Hoffnung nicht aufgab, zumindest einen Blick auf das Mädchen zu erhaschen. Immer wieder stellte er sich vor, was er sagen würde, wenn er sie wieder im Garten sah, der nunmehr schneebedeckt war.

Nachmittags saß er dann wieder in der Bibliothek und arbeitete. Er beschränkte sich nicht nur auf die Lektüre von Büchern, sondern machte sich akribisch Notizen und sammelte seine Aufzeichnungen, im Großen und Ganzen Zusammenfassungen, in einem Ordner, den er zwischen den medizinischen Büchern versteckte. Auch begann er wieder, sich Karteikärtchen zum Auswendiglernen anzulegen.

Immer dann, wenn die Gerüche aus der Küche auf das Abendessen hindeuteten, räumte er den Ordner weg und widmete sich wieder der Lyrik. Meist kam Alexandra zu dieser Zeit zurück. Wenn sie am Abend keine Termine hatte, aßen sie gemeinsam im Esszimmer, zogen danach in das Kaminzimmer um und tranken Wein. Das Kaminfeuer brannte in der kalten Jahreszeit ununterbrochen. Paul kümmerte sich darum, dass immer genügend Holz da war. Zumindest diese Aufgabe hatte er Milena abgenommen, denn er fühlte sich unwohl, wenn Milena die Räumlichkeiten säuberte, Staub wischte, das Essen abtrug oder die riesigen Fenster im Wintergarten reinigte, während er nur herumsaß und las.

Er haute die Scheite mit einer Axt klein und wurde dabei immer geschickter und schneller. Auch die Technik des Holzstapelns beherrschte er bald. Er lagerte das Holz zum Trocknen in der Garage, wo neben der Limousine der berühmte Silberpfeil stand. Der Mercedes-Benz war das Heiligtum von Friedrich von Wertheim und seit Paul hier wohnte, war der Wagen nie bewegt worden. Immer wieder betrachtete er sehnsüchtig das Wageninnere. Eine Schande, das Auto nicht zu fahren.

In der Weihnachtszeit gingen sie dazu über, den Wein durch heißen Tee zu ersetzen. Alexandra genoss ihn mit einem Schuss Rum. Weder Wein noch Darjeeling war leicht erhältlich, es sei denn, man hatte viel Geld oder kaufte auf dem Schwarzmarkt ein. Doch Alexandra ging mit solchen Lebensmitteln geradezu verschwenderisch um. Sie trank nie aus und legte Wert darauf, dass ihre Vorratskammer immer gefüllt war. Paul hatte anfangs noch ein schlechtes Gewissen, doch bald fing auch er an, den Luxus zu genießen. Ein Vollbad in Milch und Honig, reichhaltiges Essen und alkoholische Getränke im Überfluss. So ließ sich vergessen, dass um sie herum der Krieg tobte. Beinahe auf der ganzen Welt.

Es war Freitagabend. Das Feuer loderte nur noch leicht, als Alexandra sich neben ihn auf die barocke Chaiselongue aus der Zeit des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. setzte.

Fast zeitgleich stand Paul auf. „Ich hole noch etwas Holz, bevor das Feuer ganz erlischt.“

Nachdem er eine paar Scheite nachgelegt hatte, deutete Alexandra ihm unmissverständlich, sich neben sie auf die Chaiselongue zu setzen.

Paul setzte sich und Alexandra kuschelte sich an ihn. Ihr Kopf lag auf seiner linken Brusthälfte, seinem Herzen, das wie wild schlug.

„Ich will nur, dass du mich in deinen starken Armen hältst.“

Den Wunsch erfüllte er ihr gerne. Doch aufgrund der Bücher, die sie ihm gezeigt hatte, ahnte er, dass sie noch mehr von ihm erwartete. Irgendwann jedenfalls.

Sie saßen einfach so da, eng umschlungen, und redeten noch eine ganze Weile. Paul unterhielt sich immer noch gerne mit Alexandra. Sie war eine äußerst gebildete und interessante Person mit immer wieder überraschenden Ansichten. Nicht immer waren sie einer Meinung, aber genau deshalb mochte er ihre Gespräche und glaubte, davon zu profitieren. Hinzu kam, dass es ihm schmeichelte, dass eine so kluge Frau ihn, einen nicht studierten Juden, als Gesprächspartner zu schätzen wusste und mit ihm über den Sinn des Lebens, die Existenz Gottes oder physikalische Gesetze philosophierte.

Außerdem: Während sie sich unterhielten, konnte Alexandra ihm nicht zu nahe kommen. Unter der Woche war Alexandra aber ohnehin meist zu müde, um ihm Avancen zu machen. Dafür blieb nur das Wochenende. So körperlich nah wie an diesem Abend waren sie sich schon lange nicht mehr gewesen.

Als Alexandra sich aus seinen Armen löste und aufstand, um etwas zu trinken zu holen, fiel ihr ein Buch ins Auge. „Du liest Immanuel Kant?“, fragte sie plötzlich und er fühlte sich ertappt.

„Woher weißt du das?“

„Das Buch. Du hast es nicht zurückgestellt.“

„Ja. Ich habe darin geblättert, aber nicht viel verstanden.“

„Niemand versteht alles, was Kant schreibt.“

„Du hast das Buch gelesen?“

„Nicht direkt. Ich habe Bücher über Kant gelesen. Also Bücher über seine Bücher. Sozusagen Sekundärliteratur.“

Damit hatte er nicht gerechnet. Auch war er positiv überrascht darüber, dass sie ihn regelrecht ermutigte, zu lesen und zu lernen.

Kapitel 8

Rosenheim, Dezember 1942.

Der Transporter war seit Stunden überfällig. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit hätte der Wagen ankommen sollen. Sie warteten vergeblich noch ein paar Stunden in der bitteren Kälte, bis der Pfarrer, ein Angestellter der Kirche sowie ein weiterer Helfer schließlich enttäuscht aufgaben.

Nur Olga Peters nicht.

„Wir können nicht gehen. Lasst uns noch ein bisschen warten.“

Pfarrer Bernheim schüttelte den Kopf.

„Der Wagen wird nicht mehr kommen. Das wars.“

„Das wars? Was soll das heißen: Das wars?“

„Der Wagen wird nie wieder kommen. Es ist zu riskant geworden.“

Er sprach nur aus, was sie alle dachten.

„Und nun? Was machen wir jetzt? Hier ist eine ganze Familie, die unsere Hilfe braucht. Wir können doch nicht einfach zusehen …“

„Ich habe mir schon meine Gedanken gemacht“, sagte der Pfarrer.

Olga Peters verlor allmählich die Ruhe und Souveränität, die sie sonst so auszeichnete. Sie wirkte plötzlich vollkommen überfordert und hilflos. Sie war nervös. Angespannt. Beinahe panisch.

Die junge Romy versuchte sie zu beruhigen. Sie hatten ihre Rollen vertauscht. Denn sonst war es Olga Peters gewesen, die Romy gut zureden musste.

Schon vor Ausbruch des Krieges hatte Olga Peters mit Hilfe von befreundeten Helfern und Beziehungen zur Kirche begonnen, Juden außer Landes zu bringen. Anfangs mit der Bahn quer durch Deutschland an die Küste. Später über die Alpen ans Mittelmeer.

In den 30er-Jahren hatte sich viel verändert. Aus einer Bedrohung war eine Vernichtungsmaschinerie geworden. Millionen Juden, Regimegegner und Homosexuelle wurden vergast. Hinzu kamen die unzähligen Soldaten auf allen Seiten, die im Krieg fielen.

Mitte der letzten Dekade hatte Olga Peters noch Überzeugungsarbeit geleistet, wenn sie Juden zur Flucht riet. Viele sahen keine Notwendigkeit, hatten Angst oder wollten ihr Hab und Gut nicht aufgeben. Zehn Jahre später – mitten im Krieg – war es fast unmöglich geworden zu fliehen.

An diesem Abend musste das auch sie einsehen. Am Sonntag zuvor war wohl das letzte Automobil in Richtung italienische Grenze aufgebrochen.

Jetzt gab es nur noch eine Möglichkeit: Sie mussten die Juden verstecken, so gut es eben ging, und hoffen, dass der Irrsinn bald ein Ende haben würde. Denn je länger und je mehr Menschen sie versteckten, desto größer war das Risiko erwischt zu werden. Die Gestapo lauerte überall.

Seit Juli 1933 war Fritz Todt Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen und hatte seitdem fast viertausend Kilometer Reichsautobahnstrecke bauen lassen. Weitere zweitausendfünfhundert Kilometer sollten folgen. Doch der Autobahnbau kam 1942 aufgrund des Krieges zum Stillstand. Die Autobahn zwischen München und Salzburg war 1939 fertiggestellt worden und führte mit Panoramablick an Chiemsee und Alpenvorland vorbei. Diese wichtige Straße in Oberbayern wurde so gut kontrolliert, dass es ein Ding der Unmöglichkeit war, auf diesem Weg zu schmuggeln, geschweige denn zu fliehen. Seit dem Jahr 1941 galt der vollständige Auswanderungsstopp. Die noch im Reich befindlichen Juden wurden in Konzentrationslager deportiert.

Zwischenzeitlich hatte es weniger prominente Strecken und Schleichwege abseits der großen Straßen gegeben. Doch seit 1942 konnte man überall und jederzeit kontrolliert werden. Wer auf holprigen Feldwegen fuhr, machte sich erst recht verdächtig.

„Ich habe gehört, dass Fluchthelfer auf der Stelle erschossen werden. Ohne Prozess. Ohne Erbarmen. Wir können von den Fahrern nicht erwarten, sich diesem Risiko auszusetzen“, erklärte Bernheim.

„Sie haben gesagt, dass Sie einen Plan haben“, erinnerte Olga Peters ihn ungeduldig.

„Das habe ich so nicht gesagt. Ich habe gesagt, dass ich mir Gedanken gemacht habe.“

„Also ohne Ergebnis?“

„Nun, das würde ich so auch nicht sagen.“

„Herr Bernheim, lassen Sie sich doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!“

Romy hörte neugierig zu.

„Ich weiß, es klingt etwas seltsam. Aber es ist das einzig sichere Versteck, das die Kirche bieten kann …“, erklärte Bernheim nachdenklich.

„Kirche hört sich schon mal gut an“, pflichtete Romy ihm bei, obwohl sie der Kirche generell eher skeptisch gegenüberstand. Dass sie dennoch mit ihm zusammenarbeitete, lag an seiner Person. Schon seit Kindertagen kannte und bewunderte sie ihn und wünschte sich von allen Pfarrern so viel Rückgrat und Widerstand wie von dem alten Bernheim.

„Nicht direkt in der Kirche. Aber auf dem Friedhof hinter der Kapelle Ost.“

„Wenn das ein Scherz ist, kann ich Ihren Humor wirklich nicht teilen“, fiel Olga Peters ihm ins Wort.

„Lassen Sie ihn ausreden!“, bat Romy.

„Ich habe heute in den frühen Morgenstunden die Gruft der von Wertheims inspiziert.“

Allein bei dem Gedanken lief es Romy eiskalt den Rücken hinunter.

Die Kapelle Ost lag etwa einen Kilometer Luftlinie vom eigentlichen Kirchengebäude entfernt unweit vom Ufer des Chiemsees. Die Gräber hinter der Kapelle waren zwar malerisch gelegen, aber es blieb ein Friedhof und Romy fand Friedhöfe unheimlich. Als Kind hatte ihr Vater ihr gruselige Vampirgeschichten erzählt. Natürlich glaubte sie nicht an Vampire, ebenso wenig an Teufel, Drachen oder andere Ungeheuer, zumindest nicht mehr, aber auf Friedhöfen überkam sie stets ein seltsames Gefühl.

Die Familiengruft der von Wertheims, die seit vier Generationen hier beigesetzt wurden, lag unterirdisch. Nur der Eingang lag in einem steinernen oberirdischen Raum, der so von Efeu umrankt war, dass man ihn kaum erkennen konnte. Wer den Zugang fand und ein paar Stufen hinunterging, traf auf die Tür, die zur eigentlichen Krypta führte. Die Gruft fiel vor allem deshalb kaum ins Auge, weil unmittelbar daneben ein überdimensionales INRI-Kreuz die Aufmerksamkeit auf sich zog. Diese Aufschrift fand man besonders in Bayern auf unzähligen Kreuzen in Kirchen und an Wegesrändern. Die Initialen standen für „Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum – Jesus von Nazareth, König der Juden“. Offenbar waren die Nazis des Lateinischen nicht mächtig.

„Ich weiß, es klingt verrückt. Aber die Gruft ist ein sicherer Ort“, beharrte Bernheim.

„Das stimmt: Es klingt verrückt.“

„Romy hat Recht. Sie können nicht erwarten, dass wir die Menschen lebendig in einer Gruft begraben“, wandte Olga ein.

„Ich bete darum, dass es nicht für lange ist. Aber mir fällt beim besten Willen kein besseres Versteck ein. Niemand wird eine Gruft durchsuchen.“

Nur langsam konnten sich die Frauen mit dem Gedanken anfreunden.

„Die Gruft ist mindestens zehn Quadratmeter groß. Hinzu kommt ein winziger Nebenraum, in dem die Notdurft zu verrichten ist. Die Holztür am Eingang ist stark und dick, aber an den Seiten kommt genügend Luft zum Atmen durch“, fuhr Bernheim fort.

Die Vorstellung missfiel Olga und Romy immer noch, aber sie hatten keine Alternative und keine Zeit zu verlieren.

Mitten in der Nacht brachten sie die kleine Familie aus Traunstein zur Gruft. Die Familie hatte weniger Bedenken als die beiden Frauen zuvor und war für jede Hilfe dankbar. Von dieser Nacht an wohnten die Eltern mit ihrem achtjährigen Sohn und der Großmutter in der Gruft an der zugeschneiten Kapelle Ost.

„Hat denn keiner der von Wertheims einen Schlüssel zur Gruft?“, erkundigte sich Olga Peters, während sie ihre Spuren im Schnee mit einem Reisigbesen verwischten.

„Nein. Nur die Kirche hat Zutritt“, versicherte Pfarrer Bernheim, konnte Olga jedoch nicht überzeugen.

Sie zog die Brauen hoch und sah ihn verwundert an: „Friedrich von Wertheim war ein hoher SS-Offizier. Die ganze Familie besteht nur aus Nazis. Wenn irgendjemand …“

Jetzt wurde der Pfarrer ungeduldig: „Selbst wenn jemand aus der Familie einen Schlüssel hätte, was für einen Grund gäbe es, diesen zu benutzen und die Gruft zu besuchen?“

„Die von Wertheims sind meine Nachbarn. Vielleicht kann ich etwas herausbekommen“, schlug Romy vor.

„Besser nicht“, warf Olga ein, „wir wollen ja keine schlafenden Hunde wecken. Wenn Sie jemanden auf die Gruft ansprechen, könnte das auffällig sein.“

Das klang einleuchtend. Nachdenklich machten sich Romy und die anderen auf den Heimweg, während der Mond langsam im Morgennebel verschwand.