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ABW!R ARBEITSBÜCHER WIRTSCHAFTSRECHT

Herausgegeben von
Prof. Dr. Jörg-Dieter Oberrath
Fachhochschule Bielefeld

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4. Auflage, 2015

Print ISBN 978-3-415-05492-9
E-ISBN 978-3-415-05573-5

© 2003 Richard Boorberg Verlag

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

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A. Einleitung

I. Sinn und Zweck

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Das vorliegende Buch soll anhand von Prüfungsschemata die Lösung von Fragestellungen auf dem Gebiet des Europarechts erleichtern. Wesentliche Grundlagen des Europarechts sind nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1.12.2009 der EU-Vertrag (EUV) und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Die Darstellung orientiert sich dabei an verschiedenen Regelungsbereichen des Unionsrechts (bis zum Vertrag von Lissabon als Gemeinschaftsrecht bezeichnet) wie dem Zustandekommen von Primär- und Sekundärrecht, den Grundfreiheiten und sonstigen Rechtsverbürgungen des Europarechts, dem unionsrechtlichen Wettbewerbsrecht sowie dem unionsrechtlichen Rechtsschutzsystem.

Durch die Aufnahme von Fällen, an denen beispielhaft die einzelnen Prüfungsschemata direkt angewendet werden können, und eines Glossars, welches die Möglichkeit bietet, sich die in den Übersichten auftretenden Begriffe kurz vor Augen zu führen, kann das Buch für die Klausurvorbereitung eine große Hilfe sein. Auf die Vermittlung theoretischer Kenntnisse wird dabei bewusst weitgehend verzichtet. Das Buch soll Vorlesungen oder Lehrbücher nicht ersetzen, sondern ergänzen. Es kann dabei zur Nachbearbeitung einzelner Themenkomplexe, zur Wiederholung des gesamten Stoffes im Rahmen der Klausurvorbereitung oder auch – wie eine Fallsammlung – zur praktischen Lösung von Einzelfällen eingesetzt werden.

II. Hinweise zur Benutzung

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Die Konzeption des Buches ermöglicht verschiedene Arten seiner Benutzung. Mit konsequentem Durcharbeiten kann man sich ein umfassendes Wissen über die gängigen Probleme des Europarechts verschaffen. Schwerpunkte sind dabei die Wirkungen des sekundären Unionsrechts, die Grundfreiheiten, das Wettbewerbsrecht und die Klagen zum EuGH und EuG. Der Leser sollte zunächst den Prüfungsablauf durch das Studium der zitierten Normen und der im Glossar erklärten Begriffe nachvollziehen und dann seine Anwendung anhand des anschließenden Übungsfalls erproben. Selbstverständlich sollte dabei die angebotene Lösung zunächst abgedeckt werden, da nur so eine echte Kontrolle gewährleistet ist, ob der Prüfungsablauf richtig auf das konkrete Problem angewandt wird.

Das Buch kann aber auch punktuell eingesetzt werden. Es können gezielt Begriffe nachgeschlagen werden, um damit Sicherheit in der Beherrschung von Definitionen zu erlangen. Es ist zudem möglich, den konkreten Prüfungsablauf von Problemen nachzuvollziehen, die in der Vorlesung oder im Lehrbuch oft nur abstrakt vermittelt werden. Schließlich kann man mit dem Buch auch die Bearbeitung juristischer Fälle an sich üben.

Bei der Anwendung der Schemata ist zu beachten, dass es sich hierbei nur um ein Hilfsmittel zur Prüfung der jeweiligen Rechtsfrage handelt. Ein stereotypes Abarbeiten der einzelnen Prüfungspunkte ist dabei zu vermeiden. Es ist immer der Falltext im Auge zu behalten. Dabei ist zu beachten, dass die in den Sachverhalt eingearbeiteten Informationen den Fallbearbeiter führen und ihm Hinweise geben sollen, welche Punkte besonders problematisch sein können. In diesem Zusammenhang existieren bei den einzelnen Prüfungsabläufen Schlüsselprobleme, die erfahrungsgemäß fast immer eine Rolle spielen. Auf diese ist in den Einleitungen zu den jeweiligen Schemata besonders hingewiesen.

In den Prüfungsschemata sind sämtliche notwendige Prüfungsschritte umfassend enthalten. Die dargestellte Prüfungsreihenfolge ist allerdings nicht zwingend, soweit nicht aus dem Gesetz oder aus der Logik eine bestimmte Abfolge vorgegeben ist. Insoweit handelt es sich lediglich um einen Vorschlag. Andere Möglichkeiten der Prüfungsreihenfolge sind denkbar. Dies gilt auch für die Falllösungen. Hier sind mit schlüssiger, fundierter Argumentation teilweise andere Meinungen vertretbar. Die Autoren haben sich jedoch bemüht, bei Meinungsstreitigkeiten der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu folgen.

III. Allgemeines zur juristischen Fallbearbeitung im Europarecht

1. Aufgabenstellung

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Grundlage eines juristischen Falles ist auch im Europarecht die Darstellung eines tatsächlichen Lebenssachverhalts mit rechtlichen Bezügen. Der Sachverhalt mündet in eine Fallfrage. Diese wird im Europarecht seltener auf die Begutachtung der gesamten Rechtslage („Wie ist die Rechtslage?“), sondern eher auf einen einzelnen Aspekt, z.B. „Ist die Maßnahme des Staates X mit Europarecht vereinbar?“ oder „Verletzt die Maßnahme des Staates Y Art. … AEUV?“ gerichtet sein. Dabei wird es im Regelfall um Rechtsfragen gehen, welche die Beziehung Staat – Bürger betreffen. Staat im Sinne von Hoheitsträgern können dabei nicht nur Organe eines Mitgliedstaates, sondern auch Organe der EU sein. Eine Ausnahme sind im Europarecht Fragestellungen der Beziehung von Bürgern oder Unternehmern untereinander. Hintergrund ist, dass nur wenige Normen des primären und sekundären Unionsrechts sog. Drittwirkung, also Geltung im Verhältnis Bürger – Bürger haben; eine solche besteht z.B. im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit oder bei Art. 157 AEUV.

Im Einzelnen sind vor allem folgende Fragestellungen in europarechtlichen Klausuren denkbar:

Zunächst können Rechtsfragen im Zusammenhang mit sekundärem Unionsrecht auftreten.

Beispiel 1: Der Rat beschließt eine Richtlinie über die Helmtragepflicht von Fußgängern im Straßenverkehr. Diese tritt am … in Kraft.

Als Fallfrage kann hier in Betracht kommen „Ist die Richtlinie ordnungsgemäß zustande gekommen?“ oder aber „Muss Bürger B im Mitgliedstaat M beim Betreten der Straße einen Helm tragen?“ Dabei könnte die erste Frage auch in ein prozessuales Gewand gekleidet werden, z.B. „Hätte B mit einer Nichtigkeitsklage gegen die Richtlinie Aussicht auf Erfolg?“

Häufig sind in Klausuren Fragestellungen im Zusammenhang mit den Grundfreiheiten oder sonstigen Rechtsgarantien, wie den Unionsgrundrechten (Art. 6 Abs. 1 EUV) oder den Diskriminierungsverboten des AEUV.

Beispiel 2: A möchte 1000 Videokassetten von Italien nach Deutschland importieren. An der Grenze wird ihm die Einfuhr von 500 Videokassetten untersagt, da der Import von ausländischen Videokassetten auf 500 Stück pro Importeur begrenzt sei.

Als Fallfrage kann hier in Betracht kommen „Verletzt die Maßnahme der deutschen Behörden Grundfreiheiten des A?“ oder „Verstößt das Handeln der deutschen Behörden gegen Unionsrecht?“

Weiterer häufiger Gegenstand europarechtlicher Klausuren sind Probleme des Wettbewerbsrechts.

Beispiel 3: Unternehmen U, das einen hohen Marktanteil hält, weigert sich, Großhändler G zu beliefern.

Die Fallfrage kann hier lauten „Ist die Maßnahme des U mit Europarecht vereinbar?“ oder „Liegt in der Maßnahme des U eine Verletzung des Art. 102 AEUV?“ Das Wettbewerbsrecht kann aber auch in der Form abgeprüft werden, dass die Europäische Kommission ein Verhalten moniert oder sanktioniert und nach der Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens gefragt wird. Im Beispiel 3 könnte die Fallfrage dann lauten „Ist der von der Kommission erlassene Bußgeldbescheid materiell rechtmäßig?“ Alternativ kann auch hier ein prozessualer Aufhänger gewählt werden, z.B. „Hätte eine Klage des U gegen den Bußgeldbescheid Aussicht auf Erfolg?“

Schließlich gibt es auch im Europarecht rein prozessuale Klausuraufgaben, bei denen die Erfolgsaussichten einer Klage zum EuGH untersucht werden müssen.

Beispiel 4: Der Rat hat eine Richtlinie beschlossen. Nach Ablauf der Umsetzungsfrist hat Mitgliedstaat M die Richtlinie noch nicht in nationales Recht umgesetzt.

Mögliche Fallfragen können sein „Kann die Kommission/ein anderer Mitgliedstaat den Mitgliedstaat M vor dem EuGH verklagen?“ oder „Hätte die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens Aussicht auf Erfolg?“

Unabhängig von der konkreten Fallfrage ist als Vorfrage (wenigstens gedanklich) in europarechtlichen Klausuren zu prüfen, ob das EU-Recht überhaupt anwendbar ist. Dafür ist regelmäßig ein grenzüberschreitender Bezug erforderlich, da das Unionsrecht reine Inlandssachverhalte nicht erfasst. So wollen z.B. die vier Grundfreiheiten den Austausch von Waren, Erwerbstätigen, Dienstleistungen und Kapital zwischen den Mitgliedstaaten fördern. Aber manchmal können auch Inlandssachverhalte dem EU-Recht unterliegen. Bestimmte Normen des EU-Rechts sind unmittelbar auf reine Inlandsfälle anwendbar, z.B. Art. 157 AEUV (Lohngleichheit von Mann und Frau) und die Kernprinzipien (Vorbeugung, Verursacherprinzip) des Umweltrechts, Art. 191 Abs. 2 AEUV. Zunehmend erstreckt der Gerichtshof die Grundfreiheiten auf Inlandsbeziehungen unter privaten Rechtssubjekten; wegweisend dafür ist das Urteil Angonese aus dem Jahr 2000 zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Hinzu kommt, dass der EuGH häufig eine hypothetische Auslandsberührung annimmt, also die Frage aufwirft, ob ein – im konkreten Verfahren behaupteter – Eingriff in die wirtschaftlichen Freiheiten eines Inländers mit dem AEUV vereinbar gewesen wäre, hätte diese Behauptung ein Bürger aus einem anderen Mitgliedstaat aufgestellt.

2. Vorbereitung der Falllösung

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Die Falllösung muss mit der Aufbereitung der Fallfrage beginnen. Diese bereitet im Europarecht regelmäßig keine besonderen Schwierigkeiten. Zu klären ist, ob nur die materielle Rechtslage gefragt ist oder eine prozessuale Einkleidung vorliegt.

Immer wiederkehrende Vorfragen sind solche, die die Wirkungsweise des Europarechts betreffen. Es ist darauf zu achten, ob ein Unionsrechtsakt vertikal im Staat-Bürger-Verhältnis wirkt oder ob er horizontal das Rechtsverhältnis zweier Bürger untereinander berührt. Davon hängt vielfach ab, ob eine Norm des EU-Rechts (Grundfreiheiten oder Richtlinien) überhaupt anwendbar ist.

Nicht selten sind gerade im Europarecht neben Falllösungen auch Zusatzfragen mit offener Aufgabenstellung (z.B. zu aktuellen Entwicklungen). Diese sind nicht im Gutachtenstil zu behandeln. Dort kann mit dem Ergebnis begonnen werden, dessen Begründung dann entwickelt wird.

3. Falllösung

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Die Falllösung erfolgt in zwei Schritten. Zunächst muss anhand der bei der Vorüberlegung gefundenen Normen eine These aufgestellt werden. Diese lautet z.B.: „Das Handeln des Mitgliedstaates M könnte die Grundfreiheit des Art. … AEUV verletzen“, „Die Klage zum EuGH hätte Aussicht auf Erfolg, wenn …“.

Im obigen Beispiel 2 würde die These wie folgt lauten:

„Die Zurückweisung der Videokassetten durch den Mitgliedstaat Deutschland könnte gegen Art. 34 AEUV verstoßen.“

Dabei ist zu beachten, dass dann, wenn mehrere Maßnahmen eines EG-Organs oder eines Mitgliedstaates vorliegen, für jede eine gesonderte These aufgestellt und abgeprüft werden muss.

Hauptteil der Falllösung ist die Prüfung, ob die aufgestellte These auf den konkreten Fall zutrifft. Man muss dabei untersuchen, ob die Voraussetzungen der in der These enthaltenen Norm erfüllt sind. Diesen Prüfungsschritt bezeichnet man als Subsumtion.

Wichtig ist, dass diese Prüfung grundsätzlich im Gutachtenstil erfolgen muss, d.h., es ist auf das Ergebnis hinzuarbeiten und nicht vom Ergebnis auszugehen. Der Gutachtenstil zeichnet sich dadurch aus, dass man zunächst herausarbeitet, welche Voraussetzungen die in Betracht kommende Norm fordert, diese ggf. näher erörtert und dann feststellt, ob sie im konkreten Fall gegeben sind oder nicht. Urteilsstil kann dann verwendet werden, wenn es sich um einfache, nicht weiter erörterungsbedürftige Schlussfolgerungen handelt.

Davon ausgehend würde die Lösung im obigen Beispielsfall wie folgt aussehen:

Die Zurückweisung von 500 Videokassetten an der Grenze könnte gegen Art. 34 AEUV verstoßen. Art. 34 AEUV ist anwendbar, da es keine abschließende unionsrechtliche Vorschrift über den Import von Videokassetten gibt. Ein Verstoß gegen Art. 34 AEUV setzt zunächst voraus, dass der Schutzbereich dieser Norm betroffen ist. Dazu ist erforderlich, dass es sich um Waren handelt, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig in den Verkehr gebracht wurden und in einen anderen Mitgliedstaat eingeführt werden sollen. Die Videokassetten sind bewegliche Sachen, es ist nicht ersichtlich, dass sie in Italien nicht vertrieben werden durften, und es geht um die Einfuhr aus Italien in einen anderen Mitgliedstaat, nämlich Deutschland. Damit ist der Schutzbereich des Art. 34 AEUV betroffen.

Weitere Voraussetzung ist, dass durch die Maßnahmen eines anderen Mitgliedstaates in den Schutzbereich eingegriffen wurde. Hier haben die deutschen Zollbehörden gehandelt, also ein anderer Mitgliedstaat. Ein Eingriff würde voraussetzen, dass es sich bei der Maßnahme der Zollbehörde um eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung oder eine Maßnahme gleicher Wirkung handelt. Nach deutschem Recht darf im Jahr nur eine bestimmte Menge von Videokassetten eingeführt werden, damit liegt eine mengenmäßige Beschränkung i.S.v. Art. 34, 1. Alt. AEUV vor.

Schließlich wäre Art. 34 AEUV aber nur verletzt, wenn es für die betreffende Maßnahme der deutschen Behörden keine Rechtfertigung gibt. Gründe für die mengenmäßige Beschränkung wurden von der Bundesrepublik nicht vorgetragen und sind auch nicht ersichtlich, sodass eine Rechtfertigung ausscheidet.

Damit verstößt das Verbot, alle Videokassetten einzuführen, gegen Art. 34 AEUV.

B. Rechtsquellen des Europarechts

I. Zustandekommen von primärem Unionsrecht

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Quellen des primären Unionsrechts sind

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Herren des geschriebenen primären Unionsrechts sind die Mitgliedstaaten. Sie entscheiden über seine Entstehung und Änderung. Die seit dem Vertrag von Lissabon rechtsfähige Europäische Union (vgl. Art. 47 EUV) selbst verfügt nicht über die Kompetenz, ihre „Verfasstheit“, d.h. die Rechtsgrundlagen ihrer Organisation und ihrer Befugnisse, eigenmächtig zu schaffen oder zu ändern. Ihr fehlt die „Kompetenz-Kompetenz“. Die verfassungsändernde Gewalt liegt letztlich bei den Mitgliedstaaten. Allein dieser Umstand macht deutlich, dass die EU (noch) kein Staat ist, sondern nur ein besonders enger Integrationsverbund souveräner Nationalstaaten.

Völkerrechtliche Abkommen der Europäischen Union und die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts stehen im Rang unter dem Primär-, aber über dem Sekundärrecht der Union.

1. (Änderung der) Gründungsverträge

a) Einführung

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Das Zustandekommen bzw. die Änderung der Gründungsverträge bietet sich zwar nicht für eine Fallbearbeitung an, kann jedoch bisweilen Gegenstand einer Zusatzfrage sein. Deswegen soll das Verfahren hier kurz dargestellt werden.

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Die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) – auch Römische Verträge genannt – traten am 1.1.1958 in Kraft. Endgültig bindend wurden die beiden Verträge erst mit ihrer Ratifizierung (d.h. der innerstaatlichen Zustimmung) durch die nationalen Parlamente; in Deutschland ist dazu ein Zustimmungsgesetz erforderlich, Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG. Einzelheiten über den Abschluss völkerrechtlicher Verträge regelt die Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969 (WVK) in ihren Art. 6–25.

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Der frühere EG-Vertrag in der Fassung des Vertrags von Nizza trat am 1.2.2003 in Kraft. Er beruhte auf dem EWG-Vertrag von 1958, der seitdem viermal grundlegend geändert wurde: 1987 durch die Einheitliche Europäische Akte, 1993 durch den Vertrag von Maastricht (Umbenennung in EG-Vertrag), 1999 durch den Vertrag von Amsterdam und zuletzt zum 1.2.2003 durch den Vertrag von Nizza. Am 1.12.2009 wurde er gemäß dem Lissabon-Vertrag durch den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union abgelöst. Damit wurde die Idee, EG-Vertrag und EU-Vertrag in einem einzigen Europäischen Verfassungsvertrag zu verschmelzen, vorerst aufgegeben. Der europäische Verfassungsvertrag, der am 1.11.2006 in Kraft treten sollte, scheiterte an ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Frühjahr 2005.

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Der EU-Vertrag hingegen wurde erstmals als Teil des Vertragswerks von Maastricht abgeschlossen. Er gründete mit Wirkung ab 1.11.1993 die Europäische Union. Seine Aushandlung und sein Abschluss folgten den gleichen Regeln wie die Entstehung des EWG- und EAG-Vertrags 1957. Der EU-Vertrag wurde zwischenzeitlich dreimal geändert: 1999 durch den Vertrag von Amsterdam, 2003 durch den Vertrag von Nizza und 2009 durch den Vertrag von Lissabon.

Das Verfahren zur Änderung der Grundlagenverträge – also des EU- und des AEUV-Vertrags – regelt Art. 48 EUV. Diese Bestimmung verdrängt die allgemeinen Vorschriften des Völkerrechts. Nicht unumstritten ist daher die Vereinbarung des sog. Fiskalpakts (Vertrag über die Stabilität, Koordinierung und Steuerung der Wirtschafts- und Währungsunion; BGBl. II 2012, 1006) durch einen völkerrechtlichen Vertrag außerhalb des AEUV (allgemein zur Reform der Europäischen Währungsunion und zu Maßnahmen zur Eurorettung Horn, NJW 2011, 1398). In Kraft treten die Änderungen in der Regel am ersten Tag des auf die Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde folgenden Monats.

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Eine „leise“ Vertragsänderung ohne die Zustimmung aller Mitgliedstaaten ist unstatthaft. Für das Verbot stillschweigender Vertragsänderungen durch die EU-Organe selbst sprechen drei Argumente: (1) Art. 48 EUV mit seinen Verfahrensschritten würde umgangen. (2) Die EU besitzt nur begrenzte Einzelkompetenz zur Rechtssetzung (Art. 5 EUV). (3) Art. 352 AEUV, der zur Verwirklichung des Binnenmarktes eine Art „Kompetenzabrundung“ gestattet, verlangt die Einstimmigkeit im Rat.

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Das Verfahren des Art. 48 EUV ist nicht erforderlich bei institutionellen oder haushaltstechnischen Anpassungen, die im EUV oder im AEUV ausdrücklich gestattet sind, wie z.B. die Änderung der Zahl der Mitglieder der Kommission (Art. 17 Abs. 5 EUV). In diesen Fällen werden die Grundlagenverträge (EUV und AEUV) gleichsam nur „aktualisiert“.

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Aufgrund der Änderungen durch den Vertrag von Lissabon wird nunmehr zwischen zwei Verfahren zur Vertragsänderung unterschieden: dem ordentlichen Verfahren nach Art. 48 Abs. 1–5 EUV, bei denen die Änderungen durch eine Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vereinbart werden müssen, und einem vereinfachten Verfahren (Art. 48 Abs. 6 und 7 EUV), bei dem eine solche Konferenz nicht nötig ist. Das vereinfachte Verfahren findet Anwendung nach Art. 48 Abs. 6 EUV bei den sog. Internen Politikbereichen des AEUV und nach Art. 48 Abs. 7 EUV bei der Änderung bestimmter Verfahrensvorschriften des AEUV bzw. des EUV.

b) Prüfungsablauf

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Übersicht 1

Änderung von primärem Unionsrecht gemäß Art. 48 EUV

Ordentliches Verfahren

  1. Antrag eines Mitgliedstaates, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission auf Änderung des EUV oder des AEUV in der Form eines Entwurfs (Art. 48 Abs. 2 EUV)
  2. Vereinbarung der Änderungen
    1. Vorprüfung der Änderungsvorschläge durch den Europäischen Rat

      aa) Anhörung des Europäischen Parlaments und der Kommission

      bb) Beschluss, die Änderung zu prüfen

      cc) Einberufung eines Konvents von Vertretern der nationalen Parlamente, der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, des europäischen Parlamentes und der Kommission, soweit nicht Einberufung wegen Umfangs der Änderungen nicht gerechtfertigt

    2. Empfehlung zu den Änderungen durch den Konvent
    3. Einberufung der Konferenz aus Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten durch den Präsidenten des Rates (Art. 48 Abs. 4 UA 1 EUV)
    4. Vereinbarung der vorzunehmenden Änderungen (Art. 48 Abs. 4 UA 1 EUV)
  3. Ratifizierung der Vertragsänderungen durch alle Mitgliedstaaten nach ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften (Art 48 Abs. 4 UA 2 EUV)
  4. Inkrafttreten der Vertragsänderungen (vgl. Art. 48 Abs. 4, 54 Abs. 2 EUV und Art. 357 Abs. 2 Satz 1 AEUV)

Vereinfachtes Verfahren nach Art. 48 Abs. 6 EUV

  1. Änderung materieller oder institutioneller Vorschriften im Bereich der internen Politiken der Union (Art. 26–197 AEUV)
  2. Antrag eines Mitgliedstaates, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission (Art. 48 Abs. 2 EUV)
  3. Beschluss der Änderung durch den Europäischen Rat
    1. Anhörung des Europäischen Parlaments und der Kommission
    2. Einstimmigkeit der Beschlussfassung
  4. Zustimmung aller Mitgliedstaaten

Vereinfachtes Verfahren nach Art. 48 Abs. 7 EUV

  1. Änderung der Abstimmungsmehrheit im Rat bzw. Übergang vom besonderen
    Gesetzgebungsverfahren zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren
    (Art. 48 Abs. 7 UA 1 Satz 1 und UA 2 Satz 1 EUV)
  2. Beschluss der Änderung durch den Europäischen Rat
    1. Zustimmung des Europäischen Parlaments
    2. Einstimmigkeit der Beschlussfassung
  3. Kein Veto eines Mitgliedstaates innerhalb von sechs Monaten (Art. 48 Abs. 7 UA 3 Satz 2 EUV)

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Besondere Probleme könnten in einer Klausur in Zusammenhang mit Art. 48 Abs. 3 EUV eingebaut werden. Die Änderungen können erst in Kraft treten, nachdem sie von allen (!) Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert worden sind. Für Deutschland sind dabei Art. 23 und 59 GG zu beachten. Nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG kann der Bund durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte auf die EU und die EG übertragen. Dabei sind die vom BVerfG in seinem Maastricht-Urteil (BVerfGE 89, 155 = NJW 1993, 3047) und im Urteil zum Lissabon-Vertrag (BVerfG NJW 2009, 2267) entwickelten Grundsätze zu beachten. Das BVerfG betont, dass ein unbeschränkter „Ausverkauf“ nationaler Souveränitätsrechte an einen Staatenverbund wie die EU wegen Art. 38, 20 Abs. 1 und 79 Abs. 3 GG mit dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes unvereinbar ist. Die Ausübung von Hoheitsgewalt durch die EU müsse sich stets auf die demokratische Legitimation durch die Staatsvölker der Mitgliedstaaten, z.B. auf deren nationale Parlamente, zurückführen lassen.

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Macht es die Änderung des EUV oder des AEUV nötig, auch das deutsche Grundgesetz zu ändern oder zu ergänzen, so verlangt Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG dafür die verfassungsändernden Mehrheiten des Art. 79 Abs. 2 GG. Wie erwähnt, fordert Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG, dass Bundestag und Bundesrat einer Änderung des EUV oder des AEUV als völkerrechtliches Abkommen zustimmen.

Die genannten innerstaatlichen Ratifikationsvoraussetzungen blieben durch die sog. Föderalismusreform vom 1.9.2006 unverändert.

2. Die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten

a) Einführung

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Es ist zwar unwahrscheinlich, dass in einer Klausur die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten zum Gegenstand eines Falles gemacht wird. Es ist aber nicht auszuschließen, dass diese Thematik als Zusatzfrage in einer Klausur eingebaut wird. Deswegen soll das Verfahren hier kurz dargestellt werden.

Das Verfahren zur Aufnahme neuer Mitgliedstaaten in die EU normiert Art. 49 EUV. Da jeder Beitritt eines weiteren Mitgliedstaates auch eine Vertragsänderung i.S.v. Art. 48 EUV bedeutet, bildet Art. 49 EUV eine Spezialregelung (lex specialis) zu Art. 48 EUV.

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Art. 49 EUV unterscheidet sich in einem zentralen Punkt von Art. 48 EUV: Der Beitritt eines neuen Mitgliedstaates verlangt die Zustimmung des Europäischen Parlaments (Art. 49 Abs. 1 Satz 2 HS. 3 EUV). Sonstige Vertragsänderungen erfordern nur die Anhörung des Parlaments (Art. 48 Abs. 3 Satz 1 EUV).

Jeder Beitrittsbewerber muss die in Art. 2 EUV niedergelegten Werte der Union achten (Art. 49 Abs. 1 Satz 1 EUV), d.h. Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, und Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.

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Der Europäische Rat von Kopenhagen hat im Juni 1993 über Art. 2 EUV hinaus drei Beitrittsbedingungen festgelegt (sog. Kopenhagener Kriterien):

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Die Beitrittsverhandlungen finden in Form bilateraler Regierungskonferenzen zwischen den Mitgliedstaaten auf der einen und dem Beitrittsaspiranten auf der anderen Seite statt. Sie werden vom Rat der EU organisiert. Auf Arbeitsebene wird die Union von der Europäischen Kommission vertreten; die Kommission berichtet dem Rat in Stellungnahmen ständig über den Stand und die Fortschritte der Verhandlungen (sog. Fortschrittsberichte).

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Die Aufnahmebedingungen regelt ein völkerrechtliches Abkommen zwischen den bisherigen Mitgliedstaaten einerseits und dem Bewerberstaat andererseits (Art. 49 Abs. 2 Satz 1 EUV). Die Beitrittsabkommen mit mehreren Kandidatenstaaten werden üblicherweise in einer Beitrittsakte zusammengefasst; im Falle der Osterweiterung um zehn neue Mitgliedstaaten seit 1.5.2004 benötigte diese Akte immerhin 5.000 Seiten. Die Beitrittsabkommen verpflichten die neuen Mitgliedstaaten, den gesamten rechtlichen Besitzstand der Union (acquis communautaire) sofort und vollständig zu übernehmen. Da die Übernahme dieses Besitzstandes die Beitrittsstaaten häufig überfordert, räumen die Mitgliedstaaten den Bewerberländern in den Beitrittsabkommen Übergangsregelungen und punktuelle, befristete Ausnahmen ein, z.B. im Bereich der Umweltschutzstandards oder des Grunderwerbs durch Ausländer.

Die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten als (qualifizierte) Änderung des EUV und des AEUV bedarf der Ratifikation durch alle Vertragsstaaten der Beitrittsabkommen, d.h. durch die bisherigen und durch die beitretenden Staaten nach ihren innerstaatlichen verfassungsrechtlichen Vorschriften (Art. 49 Abs. 2 Satz 2 EUV).

Bulgarien und Rumänien sind der EU am 1.1.2007 beigetreten. Kroatien ist 2013 gefolgt, während der Beitritt Mazedoniens und der Türkei momentan nicht absehbar ist.

Durch den Lissabon-Vertrag ist jetzt in Art. 50 EUV auch der Austritt aus der EU geregelt.

b) Prüfungsablauf

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Übersicht 2

Voraussetzungen für die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten

  1. Der Beitrittskandidat gehört geografisch (wenigstens teilweise) zu Europa (Art. 49 Abs. 1 Satz 1 EUV)
  2. Antrag des Beitrittskandidaten an den Rat, Mitglied der Union zu werden (Art. 49 Abs. 1 Satz 1 und 3 EUV)
  3. Der Beitrittsbewerber ist bereit und in der Lage, spätestens zum Zeitpunkt des Beitritts die Werte der Union, wie sie sich aus Art. 2 EUV ergeben, zu achten (Art. 49 Abs. 1 Satz 1 EUV)
  4. Unterrichtung des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente (Art. 49 Abs. 1 Satz 2 EUV)
  5. Der Rat beschließt nach Anhörung der Kommission einstimmig die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
  6. Nach Abschluss dieser Verhandlungen beschließt der Rat nach erneuter Anhörung der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments einstimmig, ob er dem Beitrittsantrag stattgibt (Art. 49 Abs. 1 Satz 3 HS. 2 EUV)
  7. Alle Vertragsstaaten – die alten wie die neuen Mitgliedstaaten – ratifizieren (d.h. billigen) die Beitrittsabkommen/die Beitrittsakte nach ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften.

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Nach Art. 49 Abs. 1 Satz 1 EUV kann jeder „europäische“ Staat die Mitgliedschaft in der Union beantragen. Die territorialen Grenzen Europas sind nicht ausdrücklich festgeschrieben. Art. 52 EUV regelt nur den räumlichen Geltungsbereich des EU-Vertrags. Überwiegend wird angenommen, dass der europäische Kontinent im Osten bis zum Ural reicht; so könnten Weißrussland und die Ukraine der Union beitreten, nicht aber die kaukasischen und zentralasiatischen ehemaligen Sowjet-Republiken wie Georgien und Kasachstan. Die Türkei dagegen liegt – wenn auch nur mit 3% ihres Territoriums – teilweise auf dem europäischen Kontinent.

Die Einhaltung der Voraussetzungen des Art. 2 EUV sowie der Kopenhagener Kriterien prüft die Kommission. Sie berichtet darüber in ihrem Abschlussbericht, den sie dem Rat vor dessen endgültigem Beschluss über den Beitritt vorlegt.

II. Zustandekommen von sekundärem Unionsrecht

1. Einführung

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Als sekundäres Unionsrecht werden die in Art. 288 AEUV genannten Rechtsakte bezeichnet, also Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse (früher als Entscheidungen bezeichnet), Empfehlungen und Stellungnahmen. Auch die im Rahmen der GASP und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit erlassenen Rechtsakte unterfallen jetzt den genannten Kategorien. Neu eingeführt wurden durch den Vertrag von Lissabon die sogenannten delegierten Rechtsakte (Art. 290 AEUV). Dabei handelt es sich um untergesetzliche Rechtsnormen, welche die Kommission auf der Basis von Gesetzgebungsakten des Rates und des Parlaments erlässt.

Die Frage des rechtmäßigen Zustandekommens insbesondere von Verordnungen und Richtlinien des Rates und des Parlaments spielt in der Praxis eine ebenso große Rolle wie in Prüfungen.

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Erste Voraussetzung dafür ist das Vorliegen einer Rechtssetzungskompetenz der EU (Verbandskompetenz). Hier wird seit dem Vertrag von Lissabon unterschieden zwischen ausschließlicher Kompetenz und nicht ausschließlicher Kompetenz. Einen Katalog der Fälle von ausschließlicher Kompetenz enthält Art. 3 Abs. 1 AEUV, die Fälle nicht ausschließlicher Kompetenz (der AEUV spricht von geteilter Kompetenz) finden sich in Art. 4 Abs. 2 AEUV. Zweite Voraussetzung ist die Einhaltung des vorgeschriebenen Rechtssetzungsverfahrens. Rechtsetzungsorgane sind nach dem Vertrag von Lissabon der Rat und das Europäische Parlament gemeinsam (Art. 14 Abs. 1, 16 Abs. 1 EUV). Hinsichtlich der Mitwirkung des Rates kann dessen Beschlussfassung ein Klausurproblem darstellen. Die Abgrenzung von Beschlüssen, die der Einstimmigkeit bedürfen, zu solchen, die mit qualifizierter Mehrheit nach Art. 238 AEUV gefasst werden können, spielt dabei allerdings keine große Rolle mehr, da der Rat nach Art. 16 Abs. 3 EUV nunmehr regelmäßig mit qualifizierter Mehrheit beschließt. Die Aufgabenstellung dürfte sich daher eher auf die Frage verlagern, ob die erforderliche qualifizierte Mehrheit erreicht ist. Seit dem 1.11.2014 gilt nach Art. 16 Abs. 4 EUV als qualifizierte Mehrheit eine Mehrheit von mindestens 55