Zur Autorin

Birte Stährmann, geboren 1967, aufgewachsen in Flensburg, lebt mit ihrem Mann in Stuttgart.

Berufliche Stationen

Krankenschwester, Lehrerin für Pflegeberufe,

Kommunikationswirtin, Fundraiserin.

Arbeitet als Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie Fundraising für eine Non-Profit-Organisation.

Fachbuchautorin zahlreicher Veröffentlichungen

(unter dem Namen Birte Mensdorf).

„Der Duft nach Vanille“ ist ihr erster Roman.

Homepage

www.birte-staehrmann.de

Birte Stährmann

DER DUFT NACH VANILLE

Roman

Für Martin –

weil Leben lieben heißt.

Inhalt

Teil I

Anfänge

Teil II

Entdeckung

Teil III

Aufbruch

Teil IV

Spuren

Teil V

Botschaften

Teil VI

Begegnung

Teil VII

Rückkehr

Teil VIII

Berufung

TEIL I - Anfänge

„Eine Parfumflasche ist zerbrochen, das gute Laken hat einen grünlichen Fleck; ein Geruch steigt auf, und jetzt erinnert sich die Nase. Die hat das beste Gedächtnis von allen! Sie bewahrt Tage auf und ganze Lebenszeiten. Personen, Standbilder, Lieder, Verse, an die du nie mehr gedacht hast, sind auf einmal da.“

Kurt Tucholsky (in „Koffer auspacken“, 1927)

1

Die Neonröhren flackerten und sirrten. Den großen Raum erhellten sie grell und zwangen dazu, wach zu bleiben. Kein Tageslicht fiel hinein. Hohe, fahrbare Bücherregale standen in Reih und Glied. Vor einem Schreibtisch beugte sich ein großer, schlanker Mann über eine stabile Kiste aus Holz. Tief atmete Frank die entströmenden Gerüche ein und war völlig versunken. Es roch nach staubigem, altem Papier und schwach nach einem weiteren, sich gleich wieder verflüchtigenden Duft. Dieser währte lange genug, um auf Franks Gesicht ein Lächeln zu zaubern, und zu kurz, um als Erinnerung in sein Bewusstsein zu dringen. Vorsichtig entfernte er die Holzwolle, zog Schutzhandschuhe an und nahm das ganz oben liegende Buch heraus. Bevor Frank das Objekt seiner Begierde betrachten konnte, musste er mehrere Hüllen Seidenpapier entfernen. Da war er wieder, dieser Duft, der nichts zu suchen hatte an diesem Ort; der nichts mehr zu suchen hatte in seiner Welt. Lange her – aus und vorbei.

Aufmerksam betrachtete Frank das Buch; Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. Seine Narbe am Kinn juckte, wie immer bei schwülem Wetter. Seit über einer Woche war die Klimaanlage im Büchermagazin der Bibliothek kaputt – und das Mitte Juli, im heißesten Monat. Seit einiger Zeit hatte der Erweiterungsbau der Bibliothek Priorität – selbst für dringende Reparaturen schien kein Geld mehr übrig zu sein. Draußen zeigte das Thermometer seit über einer Woche jeden Tag über dreiunddreißig Grad Celsius an, und die Innentemperatur war auf fast dreißig Grad gestiegen. In der Kessellage der Innenstadt Stuttgarts kühlten die Gebäude nachts bei solchen Temperaturen kaum noch ab, die Straßen und Häuser speicherten die Wärme. Frank war es schleierhaft, wie er bei dieser Hitze konzentriert arbeiten sollte.

Vorsichtig legte er das Buch auf die Filzunterlage seines Schreibtisches und wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß aus dem Gesicht. Dann nahm er das Buch erneut in die Hand und vertiefte sich in die Betrachtung des im Jahr 1752 erschienenen Werkes mit dem Titel: „Die kunsthistorischen Schätze von Florenz um 1750“. Es trug einen Ledereinband mit Rückenvergoldung und enthielt neben dem Text mehrere Original–Kupferstiche. Der Einband war weder berieben noch bestoßen. Franks geschulter Blick erkannte gleich, dass es sich um ein sorgsam gefertigtes Buch handelte, bei dem ein wahrer Buchbindermeister am Werk gewesen sein musste. Das Vorsatzpapier wies zwar leichte Stockflecken auf, aber innen war es - bis auf ein paar angestaubte Seiten - frisch. Schon lange hatte Frank kein solch schönes Werk über Italien in den Händen gehalten. Vorsichtig blätterte er die ersten Seiten des Buches um.

Das Buch lag zuoberst, zusammen mit etlichen anderen Werken sorgsam verpackt, in der Holzkiste, die am Vortag aus Italien gekommen war. Eine Schenkung eines wohl schon alten Mannes an die Stuttgarter Landesbibliothek, zu Händen von „Bibliothekar Frank Mühe“ adressiert. „Ich möchte nicht, dass die Bücher in falsche Hände geraten, wenn ich einmal nicht mehr lebe. Ich habe in Ihrer Stadt viele glückliche Jahre verbracht und bin zu Dank verpflichtet“, hieß es in dem mitgeschickten Begleitbrief. Mehr stand nicht darin, die Unterschrift und der Absender waren unleserlich, lediglich der Poststempel „Firenze“ war lesbar. Nachlässe erhielt die Bibliothek viele, doch dass Menschen ihre Bücher schon zu Lebzeiten übereigneten, war selten. Und eine Schenkung aus Italien ungewöhnlich. Frank fragte sich, was es für ein Mensch war, dem diese Bücher gehört hatten und weshalb er sie ausgerechnet seiner Bibliothek überließ. Ihn überraschte zudem, dass die Kiste mit seinem Namen adressiert war. Nochmals las er die mit Tinte auf Büttenpapier geschriebenen Zeilen, die – abgesehen von der Unterschrift – gestochen scharf waren. Er suchte nach einem Hinweis, wer der Absender sein konnte, doch er fand nichts. Eigentlich war es auch nicht wichtig, es gehörte schließlich nicht zu seinen Aufgaben, sich bei Spendern zu bedanken. Frank musste lediglich prüfen, ob die Bücher in den Präsenzbestand überführt werden sollten oder ob sie in die Ausleihe kamen. Schon nach oberflächlicher Begutachtung des ersten Werkes ahnte er, dass er Schätze in der Hand hielt. In die ständige Ausleihe kamen diese Bücher sicherlich nicht, dazu waren sie zu wertvoll. Zur Hilfe nahm er sich eine Lupe und betrachtete den ersten Kupferstich, der eine Stadtansicht von Florenz zeigte. Er war begeistert von der feinen graphischen Arbeit und ganz vertieft – da klingelte das Telefon. Frank wollte nicht gestört werden. Er ließ es klingeln. Das Telefon schellte in Abständen von einigen Minuten noch weitere drei Mal. Frank ignorierte es und vertiefte sich stattdessen in die nähere Betrachtung des Stichs. Unwillkürlich strich er über seine Narbe am Kinn, die ihn für immer an Lorenzo erinnern würde, führte das Buch näher an seine Nase heran, schloss die Augen und ließ sich einhüllen von dem feinen Duft, der ihm entströmte. Wie aus dem Nichts tauchten die Bilder und Erinnerungen aus seiner Vergangenheit auf. Sophia …

2

Die erste Begegnung mit der Welt der Bücher hatte Frank, als er fünf war – ein zurückhaltender, blasser Junge mit blonden Haaren und wachen Augen.

Seine Mutter Käthe, Sekretärin bei einem Rechtsanwalt, gab ihn, während sie arbeitete, meist in die Obhut der Familie Estrano, die nebenan wohnte. Der Vater schüchterte Frank anfangs mit seiner volltönenden Stimme ein. Die Stimme war das Kapital von Lorenzo. Als Bariton war er an der Stuttgarter Oper angestellt; dort feierte er erste große Erfolge. Sein Vertrag war schon mehrmals verlängert worden, und die Estranos wurden langsam in Deutschland heimisch. Sie hatten zwei Töchter; die Mädchenwelt von Sophia und Sara war Frank jedoch fremd.

Bei der Mutter Francesca taute er schnell auf. Sie war eine herzliche, vor Temperament sprühende Italienerin, mit einem wogenden Busen, den Frank bei Umarmungen warm spürte, und die Geborgenheit mit jeder Pore ihres Körpers vermittelte. Francesca war anders als seine Mutter, bei der es immer ordentlich und still zuging, die hager war und Menschen auf Abstand hielt. Ihr war es am liebsten, wenn ihr niemand zu nahe kam, ihren Sohn eingeschlossen. Frank lernte früh, wenig Aufmerksamkeit für sich zu beanspruchen und zog sich in seine eigene Welt zurück. Nur bei Francesca taute er auf. „Egal, ob eine Person mehr oder weniger, kochen muss ich sowieso!“ Das war Francescas Antwort, wenn seine Mutter ein schlechtes Gewissen äußerte, dass Frank so oft bei den Estranos aß. Francesca hatte Frank in ihr Herz geschlossen und freute sich, dass auch er ihre Nähe sichtlich genoss. Sie nahm ihn ernst; so ließ sie ihn manchmal die Gerichte abschmecken und beherzigte seinen Kommentar. „Das schmeckt aber gut!“ Begeistert blickte Frank Francesca an. Wenn er nichts sagte, würzte sie nach, dann war es noch nicht „perfetto“. Frank genoss es, sich von den gut duftenden Essensgerüchen umhüllen zu lassen.

Er lernte eine neue Welt kennen. Bei ihm zu Hause roch es meistens nur nach Putzmitteln. Wenn seine Mutter kochte, schloss sie die Küchentür und öffnete das Fenster weit, damit die Essensgerüche schnell aus der Wohnung zogen. Ihr gemeinsames Essen glich eher einer Pflicht, und es schmeckte selten gut. Seine Mutter würzte das Essen kaum, damit es gesünder war. Zudem wollte sie nicht, dass beim Essen gesprochen wurde. „Das gehört sich nicht, mit vollem Mund zu sprechen; konzentriere dich auf das Essen“, bremste sie Frank, wenn er etwas erzählen wollte. Meist hielt sich Frank an diese Regel, und sie nahmen ihre Mahlzeiten schweigend ein.

Ganz anders als die Küche seiner Mutter, die klein, sauber und aufgeräumt war und nur zum Kochen und Essen genutzt wurde, bildete die chaotische und dennoch behagliche Küche der Estranos den Lebensmittelpunkt der Familie. In der Mitte stand ein großer Tisch mit Stühlen; dort wurde das Essen zubereitet und gegessen, dort machten die Kinder ihre Hausaufgaben. Bunt getöpfertes Geschirr, Töpfe und Pfannen standen in offenen Regalen griffbereit. An einer Wand stand ein mehrflammiger Gasherd, auf dem häufig etwas vor sich hin kochte. Von der Decke hingen Gewürze. Die Fensterbank bevölkerten wohlriechende Töpfe mit Kräutern. Oft stand Frank vor den Töpfen und zerrieb, wie Francesca es ihm gezeigt hatte, ein Blatt zwischen den Fingern. Den unbekannten Duft Italiens mit Salbei, Basilikum und Zitronenmelisse saugte er tief ein. „Francesca, komm schnell, das riecht aber gut!“ rief Frank begeistert aus und hielt Francesca seine klebrige Kinderhand vor die Nase, als er das erste Mal Blätter von Zitronenmelisse zerrieb. Die Gerüche sorgten für ein warmes Gefühl in seinem Bauch, wie nach einem leckeren Essen, und er fühlte sich nicht mehr so alleine. „Wachst nur! Hier bekomme ich so gute Kräuter nicht. Und wie soll ich kochen, wenn Kräuter aus meiner Heimat fehlen?“ So redete Francesca mit den Pflanzen, während sie sie goss. Das Geheimnisvollste war für Frank die Speisekammer. In ihr hingen von der Decke Schinken und Salami herab, stand Käse unter der Glasglocke und es gab Einmachgläser, mit unergründlichem Inhalt, in den verschiedensten Farben und Formen. Wann immer Frank bei den Estranos war, musste er sich diese Schätze ansehen. Kam Francescas Mann von den Proben heim, fühlte Frank sich überflüssig. Alles drehte sich dann um Lorenzo. Er nutzte die unbeobachtete Zeit, um einen Blick in die Speisekammer zu werfen und ihre verführerischen Gerüche aufzusaugen. Frank fühlte sich in dieser Küche und bei den Estranos geborgen und mehr zu Hause als bei seiner Mutter, auch wenn ihm dies lange nicht bewusst war. Erst als es diesen Rückzugsort eines Tages nicht mehr für ihn gab, konnte er sich dies eingestehen.

Franks Vater starb, als der Junge zwei Jahre alt war. Seitdem musste seine Mutter für ihn und sich alleine sorgen. Sie heiratete nicht noch einmal. Frank wurde der Fixpunkt seiner Mutter. Allerdings konnte sie mit Kindern nicht wirklich etwas anfangen, und auch die Welt ihres Sohnes blieb ihr fremd. Sie war eine Frau, die nie gelernt hatte, Gefühle zu zeigen, und hielt Frank auf Distanz. Zudem geriet sie immer wieder an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Gelegentlich schaffte sie es nicht, die Betreuung ihres Kindes und ihre Arbeit als Sekretärin zu vereinbaren. Eines Mittags musste seine Mutter den zu dieser Zeit fünf Jahre alten Frank alleine lassen, da Francesca keine Zeit hatte. In sein Zimmer brachte sie einige Bilderbücher und einen Becher mit warmer Milch, die er nicht mochte. „Ich bin bald wieder da. Frau Sauer, vom oberen Stock, kommt und schaut nach dir.“ Dann strich sie ihm zum Abschied flüchtig über den Kopf und verließ das Zimmer. Frank hörte nicht zu, denn er hatte unter den Büchern sein Lieblingsbuch entdeckt. An guten Tagen las seine Mutter ihm daraus vor. Nun blätterte Frank die Seiten alleine um und erzählte sich die Erlebnisse von der Maus, die nicht wie die anderen Mäuse große Nahrungsvorräte anlegte, sondern stattdessen Farben, Sonnenstrahlen und Wörter für den Winter sammelte. Immer wieder nahm Frank das Buch hoch und steckte seine Nase tief hinein. Das Buch roch nach Druckerschwärze und leicht verstaubt, aber für Frank duftete es nach warmen Sonnenstrahlen und reifem Obst. Vom Anschauen und Riechen wurde Frank müde. Als Frau Sauer eine halbe Stunde später nach ihm sah, schlief er, das Buch mit beiden Armen fest umschlossen.

Neben der Küche der Estranos wurden fortan Bücher für Frank wichtig. Ihm reichte es jedoch nicht, sich ein Buch anzusehen oder in ihm zu lesen. Immer musste er auch seine Nase in das jeweilige Buch stecken, um die Geruchsbotschaften aufzunehmen. Endlich roch es auch in der Wohnung seiner Mutter nach etwas! Ein Erlebnis wie beim ersten Mal hatte Frank nicht mehr, aber jedes Buch vermittelte ihm seine eigene Duftwelt. Nicht nur der Inhalt, sondern auch der Geruch entschied fortan darüber, ob Frank ein Buch gefiel oder nicht.

3

Ein lauer Sommerabend in der Stadt. Das Leben fand seine Bühne draußen. Aus offenstehenden Lokalen drang Musik hinaus und vermischte sich mit dem langsam nachlassenden Verkehrslärm. Auf den Gehwegen flanierten Paare eng umschlungen oder saßen auf den Terrassen der Lokale bei einem Glas Wein. Frank nahm von alledem nicht viel wahr. In Gedanken versunken eilte er die Straßen entlang, bis er die Haltestelle der Straßenbahn erreichte. Frank war auf dem Weg nach Hause. In gut einer Stunde war er mit Anna zum Essen verabredet. In der Bibliothek hatte Frank wieder einmal die Zeit vergessen, so vertieft war er in die Sichtung des Buches mit den Kupferstichen gewesen, so schmerzhaft schön waren die Erinnerungen, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren. Schließlich musste er überstürzt aufbrechen, um nicht zu spät zu kommen. Seine Gedanken kreisten weiterhin um die rätselhafte Büchersendung. Zwar hatte Frank es häufiger mit wertvollen Werken zu tun, aber mit dieser Bücherkiste hatte es etwas Besonderes auf sich, dies spürte er. So hätte er es vorgezogen, seine Studien in Ruhe fortzusetzen, aber sein Pflichtbewusstsein Anna gegenüber gewann schließlich doch die Oberhand.

Nach zehn Minuten Fahrt mit der Straßenbahn und einem kurzen Fußweg war sein Zuhause erreicht, eine Zweizimmerwohnung mit Balkon und Parkett im Westen der Stadt. Die Wohnung war spärlich möbliert. Im Wohnzimmer standen ein durchgesessenes Jugendstilsofa, das er von seinem Vater geerbt hatte, zwei Sessel, ein kleiner Tisch und eine Stereo–Anlage. Zwei Wände waren mit Bücherregalen bestückt, die bis an die Decke reichten. Franks ganzer Stolz war der Bücherschrank seines Vaters, in dem er nun antiquarische Werke aufbewahrte. Seine Mutter war vor einem Jahr gestorben; von ihr mochte er keine Erinnerungsstücke für andere sichtbar aufbewahren.

Den Schwerpunkt seiner Büchersammlung bildeten Kinder– und Jugendbücher. Als Kind hatte Frank kaum eigene Bücher besessen, sondern überwiegend welche aus der Bücherei geliehen. Das Geld war zu knapp gewesen. Als Erwachsener verspürte er daher eine Sehnsucht, seine früheren Lieblingsbücher sein Eigen zu nennen. Eine Zeit lang sammelte er alles, was er in die Finger bekam, durchstöberte die Antiquariate und ließ keine Antiquariatsmesse aus. Seit einigen Jahren sammelte Frank auch Künstlerbücher. Es faszinierte ihn, wenn der Inhalt in die Gestaltung einfloss und das Buch zu einem Gesamtkunstwerk wurde. Eine ansehnliche Sammlung hatte er zusammengetragen, die inzwischen einen beachtlichen materiellen Wert darstellte. Schon oft hatte er mit seinem Sachverstand für Kostbarkeiten Werke weit unter ihrem eigentlichen Wert erstanden.

Über dem Sofa hing ein großformatiges abstraktes Bild, in kühler Farbgebung. Anna hatte es ihm zum letzten Geburtstag geschenkt. „Damit ich mich bei dir heimischer fühle“ – mit diesen Worten hatte sie ihm das Bild überreicht. Frank hatte nicht gewusst, wie er diese Bemerkung verstehen sollte. Da hatte es an der Haustür geklingelt, und danach hatte er es vergessen. Erst jetzt, beim erneuten Betrachten des Bildes, fielen Frank Annas Worte wieder ein. Er fragte sich, was sie damit hatte sagen wollen, verdrängte aber weitere Gedanken daran – aus Angst, dass die Schlussfolgerungen ihm nicht gefallen würden. So ging er in die Küche, um nach der Hitze des Tages seinen Durst zu stillen – ein kleiner Raum, mit einem Küchenschrank aus den fünfziger Jahren, einem Tisch mit zwei Stühlen, auf dem noch die Zeitung vom Morgen lag und ein halbleerer Kaffeebecher stand. Als Frank den Kühlschrank öffnete, blickte ihm enttäuschende Leere entgegen. Er kochte selten und nahm sich wenig Zeit zum Einkaufen. Zum Trinken war nur eine Flasche mit Orangensaft da. Er schenkte sich ein großes Glas ein und stürzte es durstig in gierigen Schlucken hinunter; vom Geschmack nahm er nicht viel wahr.

Danach ging er unter die Dusche. Das Wasser war erfrischend, dennoch ließ Frank sich keine Zeit, den Strahl zu genießen. Er wollte Anna nicht warten lassen. Nachdem Frank sich abgetrocknet hatte, schlüpfte er in eine Jeans und ein Leinenhemd, das Anna letzte Woche für ihn ausgesucht hatte.

Anna und Frank. Sie kannten sich aus Studientagen, hatten zusammen die Hochschule für Bibliothekswesen besucht und gemeinsam für das Abschlussexamen gelernt. Elf Jahre war das her. Seitdem waren sie Freunde und seit ein paar Monaten ein Paar. Beide hatten sich gerade von ihren Partnern getrennt und unternahmen häufig etwas zusammen, um sich abzulenken. Irgendwann trösteten sie sich dann gegenseitig. Der alte Song „Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert …“ wurde zur Realität und es erschien Frank und Anna naheliegend, nach dieser Nacht zusammen zu bleiben. Dennoch fühlte sich ihre veränderte Beziehung für Frank immer noch fremd an. Viele Jahre hatte er gedacht, dass Anna ebenfalls in Bücher vernarrt war, doch seit sie ein Paar waren, war er sich nicht mehr sicher. Sein Eindruck verstärkte sich, dass von ihrer ursprünglichen Leidenschaft für dieses Medium nur noch nüchternes Kalkül übrig geblieben war – der Gedanke an die monatliche Gehaltsüberweisung und den erhofften Karrieresprung.

Anna arbeitete als Bibliothekarin am Mailänder Platz in der neu erbauten Stadtbücherei. Der Volksmund nannte sie wegen der gefängnisartig anmutenden Architektur „Stammheim zwei“ oder „Bücherknast“. Frank hatte eine Stelle in der Landesbibliothek, mit einem Präsenzbestand von fast sechs Millionen Werken, die in einem Gebäude aufbewahrt wurden, das in vielen Räumen noch den Charme der siebziger Jahre verströmte, dringend saniert werden musste und gerade erweitert wurde.

Wann immer es ging, gestalteten Frank und Anna die Abende und Wochenenden gemeinsam. Seit einigen Wochen wünschte sich Frank verstärkt, wieder mehr Zeit alleine verbringen zu können. Anna und ihm schien die gemeinsame Basis abhandengekommen zu sein. Wenn er ihr ein neu erworbenes Buch aus seiner Sammlung zeigte, spürte er deutlich, dass ihr Interesse nur gespielt war. Immer mehr fragte er sich, was sie eigentlich verband.

Mit fünfminütiger Verspätung kam er am vereinbarten Treffpunkt an. Von weitem sah Frank Anna an einem der Tische sitzen. Groß, schlank – fast ein wenig mager, blonde halblang geschnittene Haare, gleichmäßige Gesichtszüge, mit einem wachen Blick. Sie trug ein braunes, schmal geschnittenes Leinenkleid, das ihre spitzen Schultern hervortreten ließ. Warum fühlt es sich so normal an, wenn ich sie sehe, fragte Frank sich, während er ihr zur Begrüßung einen Kuss gab. Außer freundschaftlicher Vertrautheit spürte er nichts. Frank vermisste, dass sein Herz schneller klopfte oder sich sonst etwas in ihm regte. Vielleicht waren sie einfach zu lange Freunde gewesen? Anna unterbrach Frank in seinen Gedanken. „Wo warst du denn heute Mittag? Ich habe dich öfters angerufen, aber dich nie erreicht.“ Vorwürfe statt einer freundlichen Begrüßung. „Was für ein netter Empfang von dir …!“ Frank setzte sich zu Anna an den Tisch. Der Kellner trat an den Tisch mit der Speisekarte: „Guten Abend! Darf ich Ihnen schon etwas zu trinken bringen?“ „Da sind Sie wohl etwas zu schnell. Haben Sie nicht bemerkt, dass mein Partner gerade erst gekommen ist?“ erwiderte Anna spitz. Freundlich sagte Frank: „Ich weiß bereits, was ich möchte. Bringen Sie mir bitte ein großes Radler. Darauf freue ich mich schon die ganze Zeit.“ Anna warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Trotz des Kerzenlichts auf dem Tisch und der lauen Sommerluft gestaltete sich das Gespräch zwischen ihnen zäh und blieb an der Oberfläche. Früher hatten sie sich viel zu sagen gehabt.

Frank erzählte Anna begeistert von der Schenkung, doch sie unterbrach ihn: „Natürlich ist es schön, dass eure Bibliothek so wertvolle Bücher bekommen hat. Aber nun ist Feierabend, schalte doch einfach mal ab. Genieße den Sommer.“ Für Frank wieder ein Hinweis darauf, dass die Arbeit für Anna nur noch dem Broterwerb diente, für ihn aber eine nie enden wollende Leidenschaft war.

4

Es war Franks sechzehnter Geburtstag. Freunde hatte er nicht wirklich. In den Pausen las er meist Bücher, statt sich mit Klassenkameraden zu unterhalten. Frank galt in seiner Klasse als Streber, denn er hatte eine sehr rasche Auffassungsgabe und dementsprechend gute Noten. In der Grundschule hatte er sich noch nicht so ausgegrenzt gefühlt. In den ersten beiden Schuljahren war da noch Sophia, die Tochter der Estranos, zwei Jahre älter als er. Sie verstanden sich mittlerweile richtig gut. Wenn er nach der Schule bei den Estranos war, spielten sie miteinander oder er las ihr Geschichten aus seinen Büchern vor. Was Frank betraf, entwickelte sie einen siebten Sinn. Immer wenn er in Schwierigkeiten steckte, war Sophia an seiner Seite. Sie schreckte nicht davor zurück, sich den hänselnden Jungen in den Weg zu stellen. Nur einmal war sie nicht rechtzeitig zur Stelle. Frank wurde an diesem Tag von drei Jungen besonders geärgert: „Seht mal, unsere Brillenschlange. Ja, wo ist denn deine Beschützerin? Gleich fängt er an zu weinen.“ So stichelten sie und kamen immer näher. Frank war klar, dass er es nicht mit ihnen aufnehmen konnte. In sich spürte er aber eine solche Wut, dass er sich nicht beherrschen konnte. Wütend stand er auf und baute sich vor den anderen auf. Zwar war er schmächtiger, dafür aber größer als die anderen Jungen. „Was wollt ihr von mir? Wirklich mutig, zu dritt gegen …“ Weiter kam Frank nicht. Schon boxte ein Junge ihn in den Bauch, ein anderer stieß ihn an der Schulter, der Dritte verpasste ihm einen Kinnhaken. Bevor Frank wusste, wie ihm geschah, fiel er. In diesem Augenblick tauchte ein Lehrer auf, trennte die Raufenden und gab ihnen eine Strafarbeit.

Ab diesem Tag wurde es leichter für Frank. Zwar war Frank weiter im Visier der Bande, doch er ließ sich nicht mehr provozieren, blickte durch die anderen hindurch, wenn sie über ihn lästerten. In ihm drin sah es natürlich nicht so beherrscht aus. Doch sein Innenleben ging niemanden etwas an. Den Jungen wurde er daraufhin zu langweilig – sie suchten sich ein neues Opfer.

Als Frank auf das Gymnasium kam, ließ man ihn ganz in Ruhe. Es gab noch mehr gute Schüler wie ihn, er war nicht mehr interessant genug. Zu zwei Jungen aus seiner Klasse hatte er etwas Kontakt, Thomas und Christian, beide lang, schlaksig und ebenso Brillenträger wie Frank. Sie lasen genauso gerne wie er – und so tauschten sie sich in den Pausen oft über die Geschichten aus, die sie in ihren Büchern erlebten. Allerdings wohnten Thomas und Christian auf dem Land, waren auf den Schulbus angewiesen, und so trafen sie sich nur selten nach der Schule.

Nach Schulschluss war Frank meist auf sich gestellt. Er vertiefte sich in seine Bücher und erlebte wahre Abenteuer. Aus Geldmangel besaß er nur wenige eigene Bücher, dafür eine Leihkarte der Bibliothek. Diese wurde neben der Küche der Estranos mit den einhüllenden Düften zu seiner zweiten Heimat. Einen für ihn unermesslichen Reichtum an Büchern fand er dort. Frank hatte den Eindruck, dass die Bücher dort nur darauf warteten, von ihm entdeckt zu werden. Fast immer kehrte er mit einem großen Bücherstapel nach Hause zurück, denn Frank war ein Schnellleser. Eine Zeit lang bevorzugte er Abenteuerromane, dann die alten Klassiker von Goethe oder Schiller, immer wieder auch Geschichtsbücher.

Die Bücher wählte er schon seit längerer Zeit nicht nur nach dem Inhalt aus. Immer nahm er auch ein Buch mit, dessen Geruch ihm besonders zusagte. Frank wusste nicht mehr, wann es begonnen hatte, aber eines Tages wurde er erneut von dem unbändigen Drang erfüllt, seine Nase in das Buch zu stecken, das er gerade las. Dies gab ihm das Gefühl, das Buch sei nur für ihn geschrieben und gebunden worden. Er hatte den Eindruck, das jeweilige Buch enthülle ihm über die Geruchsbotschaften all seine Geheimnisse – auch die zwischen den Zeilen und Seiten, sozusagen in die Buchdeckel gepressten. Angetan hatten es ihm vor allem die Bücher aus früheren Jahrhunderten, die zum Präsenzbestand gehörten und eigentlich nicht zu entleihen waren. Doch die Bibliothekarin hatte Frank in ihr Herz geschlossen und drückte ein Auge zu. „Nimm es ruhig mit, aber bring es morgen wieder; ich weiß ja, dass du gut mit den Büchern umgehst“, sagte sie zu Frank, wenn keine anderen Leser in der Nähe waren.

Kaum war Frank mit seinen Schätzen zu Hause angekommen, ging er in sein karg eingerichtetes Zimmer, in dem nur ein Tisch, ein Bett, ein Stuhl, ein Schrank und ein halbleeres Bücherregal standen. Die Wände waren kahl, aber auf der Fensterbank standen Blumentöpfe mit Zitronenmelisse und Salbei, die er als Ableger von Francesca bekommen hatte und nun hegte und pflegte. Frank hatte keine hohen Ansprüche, wenn er nur seine Bücher um sich haben konnte. Seine Schätze stellte er in das Bücherregal. Nun hatte Frank – wie immer – die Qual der Wahl. Lange Zeit fragte er sich unschlüssig, mit welchem Buch er beginnen sollte. Schließlich interessierten ihn alle, sonst hätte er sie nicht ausgeliehen. Seit einiger Zeit hatte er dieses Problem gelöst. Frank nahm jedes Buch behutsam in seine Hände, schlug es auf und führte seine Nase nahe an die Buchseiten heran. Dann schloss er die Augen, um mit jedem Atemzug die Düfte des Buches mehr in sich aufzunehmen, bis sich der ganz individuelle Duft des Buches entfaltete. So machte Frank es bei allen neu entliehenen Büchern. Schnell traf er dann die Entscheidung, welches Buch als nächstes von ihm gelesen werden wollte. Bevorzugt wählte er Bücher aus, die den Geruch eines langen Lebens und damit einen individuellen Staubduft trugen. Nie überwand er sich, Bücher zu lesen, die einen säuerlichen Geruch hatten. Wenn ein Geruch ihn zu sehr abstieß, das Buch nach Rauch oder Essen roch, kam es vor, dass er es in eine Tüte wickelte und angewidert in den Flur legte, um es am nächsten Tag wieder abzugeben. So sehr ihn der Inhalt auch reizte, Frank hätte es nicht ertragen, diesem Geruch ausgesetzt zu sein.

Seine Mutter bekam von diesem sonderbaren Verhalten nichts mit. Sie war froh, dass Frank ein stiller und belesener Junge war, der in der Schule gut mitkam, gesund war und sich ansonsten mit sich selbst zu beschäftigen wusste. Da die Mutter selbst keine Freundinnen hatte, störte es sie nicht, dass Frank ebenfalls ein Einzelgänger war. So musste sie sich keine Sorgen machen, dass er unter schlechten Einfluss geriet. Seine Mutter war erleichtert, dass Frank so wenig Aufmerksamkeit beanspruchte und zufrieden war, wenn er in Ruhe lesen konnte.

Auch an seinem 16. Geburtstag war Frank gleich nach der Schule in die Bücherei gegangen. Nun saß er auf seinem Bett, hielt das ausgewählte Buch in den Händen, um mit dem Lesen zu beginnen. In der Wohnung war es ruhig, seine Mutter musste noch einige Stunden arbeiten. Auch die Nachbarn schienen nicht da zu sein. Frank war ein wenig traurig, dass sie seinen Geburtstag vergessen hatten. Seit einigen Monaten war Frank nur noch selten zu Besuch bei den Estranos. Zwar spürte er eine starke Sehnsucht nach den vertrauten Gerüchen, der Wärme und Behaglichkeit des Familienlebens, doch er traute sich nicht mehr unbefangen in diese Welt. Sophia, die noch bis vor kurzem seine Freundin gewesen war und die es sogar schaffte, dass er seine Bücher weglegte, um etwas mit ihr zusammen zu unternehmen, hatte sich verändert – sie lebte in einer fremden Welt, zu der Frank keinen Zugang mehr hatte. Hin und wieder begegnete sie ihm auf der Straße, eng umschlungen mit wechselnden Freunden. Lange Zeit war ihm dies gleichgültig, doch seit einigen Wochen war dies anders. So sehr er auch versuchte, nicht an sie zu denken – sie beschäftigte ihn mehr, als Frank sich eingestehen wollte.

Denn nicht nur die Küchendüfte oder der Geruch der Bücher, auch Sophias Duft übte eine magische Anziehungskraft auf ihn aus. Sie strömte einen Duft nach Vanille aus, der bei Frank ganz unbekannte Gefühle hervorrief. In ihrer Nähe fühlte er sich so wohl wie als kleiner Junge beim Trinken einer heißen Schokolade, seinem Lieblingsgetränk. Je seltener Frank Sophia sah, umso häufiger musste er an sie denken. Tagsüber lenkten ihn seine Bücher ab, aber abends im Bett ging sie ihm nicht aus dem Kopf. Seit einigen Wochen träumte er oft wirres Zeug, in dem sie und er vorkamen. Die Träume ließen ihn erregt aufwachen, und seine Schlafanzughose war dann ganz feucht. Frank wusste natürlich, was mit ihm los war. Der Sexualkundeunterricht in der Schule hatte ihn schon vor Jahren aufgeklärt. Dennoch war er verwirrt.

Frank wünschte sich, ein paar Jahre älter zu sein und besser auszusehen, damit Sophia sich für ihn interessierte. Plötzlich wurde er in seinen grüblerischen Gedanken unterbrochen, es klingelte an der Wohnungstür. Widerwillig erhob Frank sich von seinem Bett. „Wer ist da?“ fragte er entnervt. „Ich bin es, Sophia.“ Das hatte ihm gerade noch gefehlt, hoffentlich sah sie ihm nicht an, woran er gerade gedacht hatte, dachte Frank, während er die Tür öffnete. Sophia stand vor ihm mit ihren offenen, schwarzen, lockigen

Haaren, rot geschminkten Lippen, Jeans und einem eng anliegendem Top. Aber das Äußere war es nicht alleine, was Frank den Atem stocken ließ. Es war der intensive Duft nach Vanille, der seinen Herzschlag beschleunigte. Frank verfluchte sich, dass er aus Bequemlichkeit seine alte Trainingshose und nicht die neue Jeans angezogen hatte.

5

In seinem Leinenhemd wurde es Frank langsam kühl. Warum hatte er kein Sakko mitgenommen, fragte er sich, während Anna eine Jacke über ihr Kleid zog. Das Essen war längst abgetragen, in den Gläsern nur noch wenig Wein. „Ich möchte noch etwas Wichtiges mit dir besprechen“, sagte Anna, betont sachlich. „Kommt ganz darauf an, worum es sich handelt, ich bin gerade ziemlich erledigt“, erwiderte Frank. Er wusste nicht, ob er an diesem Abend noch bereit für etwas vermeintlich Wichtiges war. „Du schaust so ernst. Gab es Ärger bei der Arbeit? Bist du immer noch beleidigt, weil du die Leitungsstelle nicht bekommen hast? Aber du hättest dich vielleicht noch mehr dafür engagieren müssen, allzu ehrgeizig bist du ja nicht.“ Anna strich mit ihrer Hand beiläufig über Franks Kopf und kraulte seinen Nacken. Frank überlegte, ob sie so ähnlich nicht auch einen Hund streicheln würde, und wandte sich ab. Obwohl Anna nicht den eigentlichen Grund erraten hatte, traf sie mit ihren Bemerkungen dennoch einen wunden Punkt. Vor einigen Monaten hatte Frank sich um die Stelle der Fachbereichsleitung beworben, doch ausgewählt wurde eine dreißigjährige Frau – fünf Jahre jünger als er. Diese hatte zuvor in der Bibliothek der Berliner Humboldt–Universität gearbeitet. „Wir müssen die Gleichstellung beachten, da haben Sie doch sicherlich Verständnis“, sagte sein oberster Chef, als er ihm die Ablehnung mitteilte.

„Ja, das frustriert mich tatsächlich. Ich wäre für die Stelle der Bessere gewesen, und …“ entgegnete Frank Anna, doch sie fiel ihm ins Wort. „Jetzt schließe das Kapitel endlich ab und wärme es nicht immer wieder auf. Das führt doch zu nichts. Wer weiß schon, wofür das gut ist? Meistens ergibt alles im Nachhinein doch noch einen Sinn. Und ob die Verantwortung für Mitarbeiter für dich wirklich etwas ist? So kannst du wenigstens ungestört arbeiten, bis sich etwas Neues ergibt.“ Anna sprach betont mitfühlend. Frank spürte dennoch, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war und ihn vermutlich nur milde stimmen wollte, damit er bereit war für ihre Neuigkeit. Er hatte sowieso keine Lust, länger mit ihr über dieses Thema zu reden. „Nun mache es nicht länger spannend, was hast du mir Wichtiges zu erzählen?“ „Nun, ich habe dir doch erzählt, dass mein Vermieter Eigenbedarf angemeldet hat und ich spätestens zum Jahresende aus meiner Wohnung ausziehen muss. Vor einigen Wochen, da habe ich mit einer langjährigen, sehr netten Leserin darüber gesprochen, wie schwer es ist, in Stuttgart eine Wohnung zu finden. Ja, und stell dir vor – heute kam sie vorbei und hat mir eine 110–Quadratmeter–Wohnung mit Parkettboden, Stuck, Balkon und Einbauküche angeboten. Für mich alleine ist die Miete natürlich zu hoch und da dachte ich mir …“ Frank unterbrach sie in ihrem Redefluss: „Was dachtest du dir da?“ Er ahnte, was jetzt kam, dennoch musste er diese Frage stellen. Sie verschaffte ihm eine kurze Pause, in der er die Kontrolle wiedergewinnen konnte. Denn was Anna von ihm wollte, erschreckte Frank bereits, bevor sie es aussprach. „Ich dachte mir, wir könnten zusammenziehen. Oft übernachtest du ja sowieso bei mir. Da ist es doch viel günstiger, wenn wir nur eine Wohnung haben. Und bei vier Zimmern ist Platz, um sich auch einmal aus dem Weg zu gehen. Was hältst du davon?“ Mit erwartungsvollem Lächeln sah Anna ihn an. Frank musste sich beherrschen, damit Anna nicht die in ihm aufsteigende Panik an seinem Gesicht ablesen konnte. „Das kommt jetzt sehr überraschend für mich. Meinst du nicht, wir sollten uns damit noch etwas mehr Zeit lassen?“ warf er vorsichtig ein. „Wir kennen uns doch schon über elf Jahre!“ entgegnete Anna, verletzt und enttäuscht. „Das klappt sicher gut mit uns!“ Ein fragender Blick blieb an Frank hängen.

6

Sophia schaute Frank aus dunklen Augen an. Jeder ihrer Blicke hatte in den letzten Wochen in ihm für Aufruhr gesorgt. Meistens hatte sie ihn aber gar nicht beachtet, und sie war nur in seinen Träumen aufgetaucht. Nun jedoch stand sie leibhaftig vor ihm, und Frank wäre mit seiner Trainingshose am liebsten im Erdboden versunken.