Wilfried Bremermann

 

 

 

Die

Hoffmann-Affäre

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Twilight-Line Verlag GbR

Hauptstrasse 131

D – 63829 Krombach

Deutschland

 

www.twilightline.com

 

2. Auflage, 2008

ISBN 978-3-941122-04-8

 

© 2008 Twilight-Line GbR

Alle Rechte vorbehalten.


 

1

 

 

Das automatische Fenster der Fahrertür fuhr mit lautem Summen nach unten. Der abgestandene Zigarettenqualm entwich in einer schlauchförmigen Wolke nach draußen. Mit der frischen Luft kam auch der Lärm des Feierabendverkehrs herein. Die Geräuschkulisse vermittelte den Eindruck von Leben und Bewegung. Sie half, wach und aufmerksam zu bleiben.

Er schaltete das Radio ein, ein gewöhnliches Blaupunkt-Autoradio, unauffällig, Standardausstattung. Der A 4 hatte keine nachträglich eingebauten Extras. In seinem Gewerbe war es wichtig, so unauffällig wie möglich zu bleiben. Er betätigte den Sendersuchlauf, bis er laute stimulierende Popmusik gefunden hatte. Langsam regelte er die Lautstärke bis die Musik so leise war, dass man sich ungestört unterhalten konnte.

Entspannt lehnte er sich im Sitz zurück. Für Außenstehende mochte es aussehen, als sei er müde und abgespannt. In Wirklichkeit war er hundertprozentige Aufmerksamkeit. Ihm würde nichts entgehen. Nachlässigkeit und Unaufmerksamkeit konnten für ihn das Ende bedeuten. Mit der rechten Hand griff er in seine Jackettasche und holte die Marlboroschachtel hervor. Er nahm eine Zigarette und zündete sie sich an. Gierig sog er den Rauch ein und ließ ihn zwei Sekunden in der Mundhöhle, so wie man ein Stück Schokolade auf der Zunge zergehen lässt, bevor er den Qualm im vergeblichen Bemühen, Ringe zu formen, wieder ausstieß. Es war seine dritte Zigarette innerhalb der letzten halben Stunde. Er war nicht süchtig nach Nikotin, und er war auch kein Kettenraucher. Das Rauchen erleichterte ihm lediglich das Warten. Denn Warten gehörte zu seinem Beruf. Wenn er darüber nachdachte, kam er zu dem Schluss, dass Wartezeit einen Großteil seines Lebens ausmachte. Im Grunde kam das Warten - wenn man den Zeitaufwand betrachtete - gleich nach dem Schlafen auf Platz zwei.

Hans Kaltenbach war ein Killer. Er war vierzig Jahre alt und nie einem bürgerlichen Beruf nachgegangen. Er kannte keine andere Arbeit. Selbst wenn er gewollt hätte, sein Vorleben ließ ein normales gesellschaftliches Leben nicht zu.

Wenn man bedachte, wie lange er erfolgreich auf der falschen Seite des Gesetzes stand, musste man ihm neidvoll anerkennen, dass er gut war. Viele seiner Berufskollegen konnten kein Silberjubiläum feiern, weil der lange Arm des Gesetzes sie vorher eingeholt hatte. Ihn hatte man seit seiner Jugend nicht wieder eingesperrt. Darauf war er stolz.

Seinen ersten Mord hatte er mit fünfzehn Jahren begangen. Die alte Frau hatte nur achtzig Mark im Portemonnaie gehabt. Eine lächerliche Summe, aber damals für einen Knaben wie ihn viel Geld. Das Jugendheim gab ihm nur fünf Mark Taschengeld in der Woche. Davon konnte man gerade Mal ins Kino gehen. Aber ein Fünfzehnjähriger hat auch noch andere Wünsche. Legale Arbeit war ihm verwehrt, weil er erst die Schule zu Ende bringen sollte. Es begann mit kleinen Ladendiebstählen. Als er mutiger wurde, stahl er schwächlich aussehenden Frauen die Handtaschen. Nie wurde er erwischt, bis diese Geschichte mit der widerspenstigen Alten passierte. Wenn diese blöde Kuh doch nur nicht ihre verdammte Handtasche so eisern verteidigt hätte. Nur unter Zuhilfenahme seines Taschenmessers konnte er das Geld schließlich in seinen Besitz bringen. Er hatte die Frau nicht töten wollen. Aber sie wehrte sich mit Händen und Füßen. Und plötzlich war die Pulsader durchschnitten. Die Alte blutete wie ein Schwein. Er hatte sich ihren schnellen Tod angesehen, nach zehn Minuten schon war alles vorbei. Ihr Flehen und ihre Hilferufe hatten ihn kalt gelassen. Als es vorüber war, hatte er das Geld genommen und war seelenruhig fortgegangen. Dummerweise hatte er das Taschenmesser am Tatort verloren.

Als er seine zehnjährige Jugendstrafe verbüßt hatte, versuchte er zunächst, ein normales Leben zu führen. Aber die Welt war nicht interessiert an einem fünfundzwanzigjährigen Raubmörder. Von der Sozialhilfe konnte man zwar einigermaßen leben, aber sie konnte keine Wünsche erfüllen. Über eine Autoknackerbande kam er schließlich zur organisierten Kriminalität. Sein jetziger Boss stieß vor acht Jahren auf ihn, als er sich in der Unterwelt schon einen Namen gemacht hatte. Unbedingte Treue und Gehorsam zeichneten ihn aus, weshalb es auch nicht lange dauerte, bis er mit Auftragsmord in Berührung kam. Er wusste schon nicht mehr, wie viele Menschen er in seiner Karriere liquidiert hatte; nach dem zehnten Auftrag hatte er aufgehört zu zählen.

Seit zwei Jahren befasste er sich mit dem Gedanken, sich selbständig zu machen. Gute Killer konnten gut und gerne eine Million pro Auftrag verdienen. Bei nur einem Mord im Jahr hätte er das Achtfache seiner jetzigen Vergütung. Von einem Auftrag konnte er also acht Jahre leben. Mit nur fünf erfolgreich ausgeführten Liquidierungen wäre der Rest seines Lebens finanziert. Ein verlockender Gedanke, über den weiter nachzudenken sich lohnte. Im Augenblick jedoch war er noch seinem Boss verpflichtet. Sein Ehrgefühl verbot es ihm, sich jetzt zu trennen. Vielleicht später, wenn sein Boss der neue Pate wurde.

Sein Blick wanderte über den Parkplatz und nahm jede Einzelheit mit den Augen eines Adlers in sich auf. Die Autos der Angestellten der Bank nahmen den größten Teil der Parkfläche ein. Es war der Mitarbeiterparkplatz, Kunden durften auf dem Platz an der Straße parken. Ein blauer Mercedes stand neben einem roten Golf, ein grüner BMW wurde von einem weißen Suzuki und einem silbergrauen Astra flankiert. Sogar ein Ferrari im obligatorischen Rot parkte hier. Der dunkelblaue Audi würde nicht auffallen.

Kaltenbachs Augen wanderten über die kahle Hecke, die den Parkplatz als Sichtschutz umgab, weiter zum Bankgebäude. Das dreigeschossige voluminöse Bauwerk stammte aus dem neunzehnten Jahrhundert und war ursprünglich Sitz der Bezirksverwaltung. Nach dem Krieg beherbergte es zunächst eine Koordinierungsstelle der Besatzungsmächte - wie viele andere Gebäude in Berlin - bevor es Anfang der fünfziger Jahre an ein Wirtschaftsunternehmen übergeben wurde. Heute war die Ost-Bank hierin untergebracht.

Die Augen kreisten weiter und blieben im Rückspiegel hängen. Ein hageres blasses Gesicht mit eingefallenen Augen grinste ihn an. Die vielen anstrengenden Nachteinsätze forderten ihren Tribut. Nun, für seine Gesundheit konnte er immer noch etwas tun, wenn er erst selbständig war. Wobei er es nicht nötig hatte, auf seine Figur zu achten. Er gehörte zu den beneidenswerten Zeitgenossen, die so viel essen konnten, wie sie wollten und kein Gramm zunahmen.

Unwillkürlich musterte er seinen Partner auf dem Beifahrersitz. Richard Dürkopp gehörte zu der anderen Sorte, die beim bloßen Anblick eines Stückchens Schokolade schon ein Kilo zunahmen. Das Witzige war, dass Dürkopp genauso viel wog wie Kaltenbach. Vor Monaten hatten sie sich spaßeshalber einmal verglichen. Die Waage zeigte bei beiden genau neunzig Kilo. Dürkopps Unglück war es, einen Kopf kleiner zu sein als Kaltenbach, so dass das Gewicht keine Chance hatte, sich auf den ganzen Körper zu verteilen, sondern sich in der Bauchgegend zu einer runden Kugel sammelte. Dennoch war Dürkopp in keiner Weise träge. Er konnte genauso schnell laufen wie Kaltenbach und arbeitete ebenso effizient. Und er teilte sich Kaltenbachs Leidenschaft für Boss-Anzüge. Was er sich nicht mit ihm teilte, war die Angewohnheit, sich Langeweile mit Rauchen zu vertreiben. Dürkopp war Nichtraucher, tolerierte aber Kaltenbachs Hang zur Zigarette. Er selbst bevorzugte Lollies. Augenblicklich kaute er auf einem roten Himbeerlutscher herum. Der weiße Stiel hing in seinem Mundwinkel und hüpfte, den Bewegungen der Zunge im Mund folgend, auf und ab.

Kaltenbach folgte dem Wogen des Lutscherstiels eine Zeitlang, bevor er sein Augenmerk wieder dem Gebäude zuwandte. Der Personaleingang lag seitlich und war von der Position des Audi aus nicht ganz problemlos einzusehen.

Kaltenbach holte das Fernglas aus dem Handschuhfach. Die Dämmerung hatte eingesetzt. Die Konturen der Umgebung verschwammen allmählich. Es wurde Zeit, das Nachtsichtgerät einzusetzen. Er tauschte die beiden Apparate gegeneinander aus und nahm die Beobachtung wieder auf.

Zwölf Zigaretten später hatte sich der Parkplatz geleert. Nur der rote Golf, ein weißer Mercedes und der Ferrari standen nach wie vor an ihrem Platz. Der Aschenbecher quoll über. Wenn die Zielperson nicht langsam erschien, würde das Unternehmen in eine kritische Phase geraten.

Zum achten oder neunten Mal heftete er seinen Blick auf das Bild am Armaturenbrett. Die farbige Plotterkopie eines Fotos aus der Personalakte der Bank war nicht sehr scharf - er bevorzugte echte Fotografien - aber sie erfüllte ihren Zweck. Er würde die Frau einwandfrei identifizieren können. Das Bild zeigte ein hübsches ebenmäßiges Gesicht. Mittellanges blondes Haar umrahmte einen gleichförmigen runden Kopf, in dessen Mitte zwei wache blaue Augen glänzten. Das Gesicht wirkte warm und gütig, sympathisch. Fast tat es ihm leid, dieses junge Leben beenden zu müssen. Aber Auftrag war Auftrag. Dieses Mädchen wusste zu viel. Kaltenbach kannte die Einzelheiten nicht, aber er war soweit informiert, dass ihm bewusst war, im Falle des Weiterlebens der Zielperson auch seine eigene Karriere zu gefährden. Die Kleine wusste etwas über die Organisation. Damit war ihr Schicksal besiegelt. Kaltenbach und Dürkopp würden bei der Ausführung ihres Auftrags keine Gnade zeigen. Die übliche Methode, hatte der Boss gesagt. Nun, er würde zufriedengestellt werden. Das Mädchen würde nicht einmal wissen, warum es starb.

Er verspürte plötzlich starken Durst. Die letzte Mahlzeit lag etliche Stunden zurück. Gerade wollte er sich nach der vor Dürkopps Füßen liegenden Flasche mit Mineralwasser bücken, als sein Partner ihn anstieß und das Radio abstellte. Augenblicklich vergaß er sein Durstgefühl. Er hob das Nachtsichtgerät an die Augen und bekam gerade noch mit, wie das Opfer aus dem Personaleingang der Bank heraustrat. Selbst in den grünschwarzen Bildern, die das Gerät ihm lieferte, konnte er alle Details erkennen: ihren schlanken Körper, ihren runden, wogenden Busen, ihren nervösen Gang. Er beobachtete, wie sie mit hektischen Bewegungen ihre Autoschlüssel aus der Handtasche fingerte. Erst beim dritten Versuch gelang es ihr, die Fahrertür des Golfs zu öffnen. Beim Einsteigen raffte sie ihren Mantel zusammen. Einen kurzen Moment wurden die schlanken grazilen Beine sichtbar. Ein durchaus erfreulicher Anblick. Kaltenbach wusste nicht, ob sie einen Partner hatte. Auf jeden Fall wäre dieser zu beneiden. Sie zog die Tür zu. Kurz danach gingen die Scheinwerfer an und der Wagen setzte sich in Bewegung.

Kaltenbach wartete, bis das Mädchen den Parkplatz verlassen hatte. Dann startete er den Audi. Der Löwe hatte die Witterung aufgenommen und folgte geschickt und unauffällig der Gazelle.

 

 

2

 

Der dichte Strom der Fahrzeuge, bestehend aus PKWs, Lastwagen und Motorrädern, schob sich hastig durch die Straße des 17. Juni. Ab und zu durchdrang ein ärgerliches Hupen die eiskalte Abendluft. Es war ein typischer grauer Februartag gewesen. Tagsüber hatte es leicht geregnet, so dass der kalte Teer im Scheinwerferlicht der Autos unruhig funkelte. Der schnelle Einsatz der Streufahrzeuge des städtischen Winterdienstes und der ständig rollende Verkehr hatten verhindert, dass die Fahrbahn sich in eine gefährliche Eisfläche verwandelte.

Der rote Golf III hatte sich dem Verkehrsfluss angepasst. Obwohl die Stoßzeit längst vorüber war, empfand Heidi Oppermann die lückenlose Kette der Fahrzeuge, in die sie als winziges Glied eingereiht war, als lästig. Normalerweise war das nicht der Fall. Schon vor einiger Zeit hatte sie die Entscheidung getroffen, mit dem Auto zur Arbeit zu fahren. Mit der S-Bahn oder der U-Bahn wäre sie schneller und weniger gestresst am Ziel angekommen. Aber sie hatte gute Gründe, selbst zu fahren. Seit einem Vierteljahr bevorzugte sie diese Unabhängigkeit. Seit dem Zeitpunkt, als ihre Arbeitszeit unregelmäßig und von Überstunden geprägt wurde. Aber vielleicht war diese Sache bald vorbei und es würde wieder ruhiger in ihrem Leben werden.

Sie blickte kurz zur Seite, als sie einen Fußgänger auf dem glatten Gehweg ausrutschen sah. Gestern noch hätte sie darüber gelacht und Schadenfreude über die Abwechslung in der langweiligen Fahrt empfunden. Heute aber war sie nicht in der Stimmung zu lachen. Sie war nervös und aggressiv. Sie merkte es an ihrer Fahrweise. Sie fuhr ihrem Vordermann zu dicht auf und hupte wegen Kleinigkeiten, obwohl sie sonst eigentlich nie hupte. Die hellen Scheinwerfer des Gegenverkehrs taten ein Übriges, um ihre Aggression anzuheizen. Ganz besonders hasste sie die BMWs, deren helles blaues Licht schmerzhaft in ihre Augen stach.

Der Mercedes vor ihr bremste plötzlich. Heidi fluchte und trat mit aller Kraft auf das Bremspedal. Sie bereitete sich schon auf das Krachen des Aufpralls vor. Aber es blieb aus. Als der Golf zum Halten kam, wurde sie mit roher Gewalt in den Sicherheitsgurt gepresst. Sie spürte, wie der Gurt schmerzvoll in ihren Oberkörper schnitt. Prima, das würde herrliche Prellungsflecken geben. Sie war überzeugt, dass in den Zwischenraum zwischen ihrer Stoßstange und der des Mercedes gerade noch eine Briefmarke passte.

Sie kurbelte das Seitenfenster herunter und schrie nach vorn. „Arschloch! Hast du deinen Führerschein im Lotto gewonnen?“ Sie hatte keine Reaktion erwartet und es kam auch keine. Die beißende Kälte des Winters kroch in den Innenraum des Golfs. Heidi begann zu frösteln. Schnell kurbelte sie das Fenster wieder hoch. Gottverdammt. Warum hatte der Golf kein ABS? Das Auto war acht Jahre alt, in Kürze war die nächste TÜV-Untersuchung fällig. Sie hatte erste Roststellen an den Türen festgestellt. Würde der Wagen die Plakette bekommen? Sie hoffte es inständig. Ein neues Auto war zum gegenwärtigen Zeitpunkt finanziell nicht drin. Sie wollte den Kredit für die Eigentumswohnung so schnell wie möglich abbezahlen, deshalb war die Monatsrate so hoch, dass keine Reserven vorhanden waren. Fünf Jahre musste sie noch durchhalten, dann wäre sie aus dem Gröbsten heraus.

Ihr Blick fiel auf das Außenthermometer. Minus zehn Grad. Der Nachtfrost würde die Nebenstraßen unbarmherzig in Eisbahnen verwandeln. Herrlich, genau das, was sie brauchte. Sie würde morgen wieder eine halbe Stunde früher aufstehen müssen, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Wie sie das hasste. Vielleicht sollte sie doch wieder die Bahn nehmen.

Die Kolonne setzte ihre Fahrt fort. Gleich kam die Avus. Dann würde es endlich ruhiger werden, keine Unterbrechungen, keine Ampeln. Sie schaute in den Rückspiegel. Hinter ihr fuhr ein dunkles Fahrzeug. Ein Audi? Sie konnte das Fabrikat im Dunkeln nicht genau erkennen. Zwei Personen saßen im Wageninneren, offensichtlich Männer, ein kleiner gedrungener und ein großer schlanker. Die Scheinwerfer waren nicht zu sehen, was bedeutete, dass die Figuren ziemlich dicht an ihrer Stoßstange klebten. So etwas hasste sie wie die Pest. Sie spielte einen Moment mit dem Gedanken, eine plötzliche Vollbremsung durchzuführen. Die Limousine würde ohne Chance zum Abbremsen auffahren und ihr die Aussicht auf einen neuen Wagen eröffnen. Doch andererseits bestand die Möglichkeit, dass der Golf keinen Totalschaden erlitt. Eine Reparatur jedoch würde den Gebrauchswert weiter schmälern. Heidi verabschiedete sich von dem Gedanken.

Ihre schlanken Finger trommelten nervös auf das Lenkrad. Sie konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Ruhe zum Nachdenken war das, was sie jetzt am dringendsten benötigte. Ein heißes Bad würde ihr dazu verhelfen. Dazu eine Tasse Tee, heiß und schwarz. So hatte sie schon als Teenager ihre Probleme gelöst. In all den Jahren seitdem hatte sie dieses Ritual beibehalten. Es hatte sich als effektives Mittel zur Entspannung erwiesen. Heißes Wasser, heißer Tee und „Die Moldau“ von Smetana, die aus dem Kassettenrekorder auf der Waschtischablage erscholl. Sie wusste nicht mehr, wie viele Bänder sie im Laufe der Jahre verschlissen hatte. Mittlerweile war das Kassettendeck durch einen modernen CD-Player ersetzt worden. Aber das Ritual war unverändert geblieben. Als sie einige Jahre in ihrem Beruf gearbeitet und erfahren hatte, was Stress war, hatte sie versucht, das Musikstück im Rekorder ihres Autos zu spielen. Es blieb bei einem Versuch. Die Wirkung tendierte gegen Null. Das ständige Erfordernis, auf den Verkehr zu achten, ließ keine echte Entspannung zu.

Achtzehn Jahre, einschließlich ihrer Lehrzeit, war Heidi Oppermann im Bankgeschäft. Sie hatte alles am eigenen Leib miterlebt: die Einführung der EDV und die Abschaffung der alten Kassenregistriermaschinen; die Installation der ersten Geldautomaten und die damit verbundene Angst des Personals vor Stellenabbau, die sich allerdings als grundlos herausstellte; den Wandel vom Verkäufer- zum Käufermarkt, der neue Anforderungen an die Banker stellte, weil plötzlich nicht mehr Fachwissen, sondern hauptsächlich verkäuferisches Geschick gefragt war. Heidi war das, was man einen alten Hasen nannte. Sie besaß umfangreiche Kenntnisse in allen Sparten ihres Berufs. Diese Voraussetzung trug dazu bei, dass sie vor sechs Jahren die Stelle als Revisionsassistentin bei der Ost-Bank in Berlin bekam. Wenngleich ihr Vorgesetzter zu den seltsameren Vertretern der menschlichen Rasse gehörte, so war die Position an sich recht angenehm. Im Prinzip konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Diese Unabhängigkeit verhalf ihr zu großem Elan. Trotz der Schwierigkeiten im Umgang mit ihrem Chef machte die Arbeit Spaß und Heidi war eifrig bemüht, die Ordnung in der Bank aufrechtzuerhalten. Dies war ihr Verständnis von der Arbeit, die sie verrichtete. Dieses Verständnis übertrug sie auch auf ihre Kollegen, an deren Rechtschaffenheit sie glaubte. Bis zum November letzten Jahres.

Ungeheuerlich war wahrscheinlich noch der harmloseste Ausdruck, der zutraf auf die Machenschaften, die sie aufgedeckt hatte. Bei der Kreditrevision stieß man manchmal auf Dinge, die einem die Nackenhaare sich sträuben ließen: oberflächlich bearbeitete Engagements, gefährliche Sicherheitenfreigaben, Bewilligung von Krediten, deren Rückzahlung auf den ersten Blick zweifelhaft war. Diese Fehler waren nicht schön, aber sie kamen vor, wenn auch glücklicherweise selten. Immer jedoch waren es Verfehlungen, die nicht auf Vorsatz beruhten. Oft war es so, dass der Berater unter Erfolgsdruck stand und froh war über jeden Kredit, den er herauslegen konnte, auch wenn die Risiken offensichtlich waren. Wie gesagt, das war gängiges Tagesgeschäft und unvermeidlich. Aber die Vorgänge, die Heidi enthüllt hatte, waren einmalig.

Geldwäsche! Darauf lief es im Prinzip hinaus. Seit die Bundesregierung das Geldwäschegesetz verabschiedet hatte, waren alle Bankangestellten, insbesondere auch Innenrevisoren, in der Erkennung von Geldwäschetransaktionen geschult worden. Auch die Ost-Bank hatte ihre Mitarbeiter in etlichen Seminaren unterweisen lassen. Demzufolge konnte man annehmen, dass alle Kollegen entsprechend sensibilisiert waren. Und dennoch war Heidi auf Geschäfte gestoßen, die aller Wahrscheinlichkeit nach unter der Rubrik Geldwäsche liefen, die aber nicht als solche behandelt wurden. Das Ganze gipfelte in der Manipulation von Computerdateien. Im November stieß sie auf erste Ungereimtheiten. In den folgenden Wochen kamen immer mehr Merkwürdigkeiten hinzu. Ihr wurde angst und bange. Sie wusste nicht, wer dahinter steckte. Der Druck, zu wissen, dass etwas Ungesetzliches geschah, aber die Verantwortlichen nicht zu kennen, wurde immer stärker, schwoll täglich an. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie brauchte ein Ventil. Sie wusste, dass sie keine konkreten Beweise hatte und schon gar keine Schuldigen benennen konnte. Aber ein weiteres Abwarten hätte sie in den Wahnsinn getrieben.

Als sie dem Vorstand heute Abend ihre Verdächtigungen vorbrachte - es hatte eine Woche gekostet, um überhaupt einen Besprechungstermin zu bekommen - war die Reaktion genau so wie sie es erwartet hatte. Zunächst reagierten North und Dexheimer ungläubig und schrieben Heidis Mutmaßungen ihrer blühenden Phantasie zu. Als sie deutlicher wurde, verharmlosten die Männer die Angelegenheit.

Das war der Grund für Heidis Gereiztheit. Sie war stocksauer. Eigentlich hätte ihre Ermittlungsarbeit der Polizei für weitergehende Nachforschungen gemeldet werden müssen. Aber alle Vorgesetzten der Welt waren gleich. Man konnte nicht sofort eines kleinen Verdachts wegen zur Polizei gehen. Was, wenn sich dieser Verdacht als unbegründet herausstellte? Unermesslicher Schaden für die Bank konnte entstehen.

Kleiner Verdacht, pah! Es gab in ihren Augen keinen Zweifel am Tatbestand der Geldwäsche. Wenn der Vorstand nicht tätig werden wollte, würde sie eben selbst zur Kripo gehen. Schließlich einigte man sich darauf, dass Heidi ihre Recherchen fortsetzen und einen umfassenden Bericht erstellen sollte. In der Zwischenzeit wollten North und Dexheimer Gespräche mit den mutmaßlich in die Sache verwickelten Mitarbeitern führen.

Auf dem Vorwegweiser erschien der Hinweis auf die Abfahrt Babelsberg. Das blaue Autobahnschild leuchtete im Licht ihrer Scheinwerfer und vermittelte das wohlige Gefühl von Heimat. In wenigen Minuten würde sie zu Hause sein. Sie warf den Blinker heraus und verließ die A 115. Heidi wurde ruhiger, ihre Aggressionen legten sich im gleichen Maße wie der Verkehr dünner und übersichtlicher wurde.

Ihr Magen begann zu knurren. Sie überlegte, wann sie heute zuletzt gegessen hatte, und kam zu dem Schluss, dass die letzte Mahlzeit schon acht Stunden zurücklag. Lediglich ein Kaffee vor dem Gespräch mit dem Vorstand unterbrach ihre Hungerphase. Es war dringend Zeit für ein Sandwich.

Als sie in den kleinen Waldweg einbog, den sie als Abkürzung zu ihrer Wohnung benutzte, spürte sie zum ersten Mal den Hauch von Gefahr. Erst war es nur ein flaues Gefühl in der Magengegend, das unbewusste Wissen, dass etwas nicht so war wie immer. Aber was war nicht so wie sonst? Heidi dachte fieberhaft nach, während der Golf mit vierzig über die eisglatte Fahrbahn schlich. Der Wald wirkte plötzlich düster und drohend. Das Licht ihrer Scheinwerfer bildete unheimliche Schatten. Heidi spürte, wie sich ihr Körper mit einer Gänsehaut überzog. Sie blickte hektisch nach vorne und zur Seite, konnte aber nichts Außergewöhnliches feststellen. Als ihr Blick den Rückspiegel streifte, erstarrte sie...

Sie wurde verfolgt. Für gewöhnlich gab es auf diesem Schleichweg keinen Verkehr und sie hatte die ganze Straße für sich allein. Selbst tagsüber traf man nur selten auf Gegenverkehr, geschweige denn auf Fahrzeuge, die die gleiche Fahrtrichtung einhielten. Das lag daran, dass dieser Weg an und für sich für Durchfahrten gesperrt war und zum anderen nur Eingeweihte von seiner Existenz wussten. Dies machte die Tatsache, dass ein Fahrzeug ihr folgte, umso bedrohlicher.

Die Scheinwerfer waren im Rückspiegel sichtbar, schwach nur, aber deutlich genug um zu sehen, dass ein Auto hinter ihr herfuhr. Das Blut schoss ihr in den Kopf und ihre Augen begannen zu schmerzen. Sie verstellte den Spiegel um zu ergründen, wer in dem fremden Fahrzeug saß. Die vage Hoffnung, es würde sich um einen Anwohner handeln, zerplatzte augenblicklich wie eine Seifenblase. Obwohl die Scheinwerfer sie blendeten, war sie sicher, dass es sich um dasselbe Fahrzeug handelte, das schon in der Stadt an ihrer Stoßstange geklebt hatte. Es war eine dunkle Limousine. Ein Audi? Undeutlich erkannte sie die Insassen, einen großen und einen kleinen Mann. Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Wilde Gedanken schossen ihr durch den Kopf, Gedanken an eine Vergewaltigung, an einen einsamen kalten Tod im Wald.

Sie spürte, wie sie trotz ihrer Gänsehaut zu schwitzen begann. Kalter Angstschweiß durchnässte Wäsche und Bluse. Sie wunderte sich, wie sie jetzt daran denken konnte, unter allen Umständen ihren Mantel anzubehalten. Mit der linken Hand raffte sie ihn enger um ihren Körper, während die rechte verkrampft das Lenkrad hielt.

Und dann brach die Panik in ihr aus. Sie gewahrte im Außenspiegel, wie die Limousine das Tempo steigerte und zum Überholen ansetzte. Ein unsichtbarer Strick schien ihr die Kehle zuzuschnüren. Sie japste nach Luft. Ihr Körper verspannte sich völlig, ein eisiges Prickeln lief über ihre Haut. Ihr einziger Gedanke war, die Verfolger nicht vorbeizulassen. Sie musste vorne bleiben, musste als erste ins Ziel gehen. Dann würde ihr nichts geschehen.

Sie drückte das Gaspedal bis zum Ansatz. Die Räder des Golfs drehten auf der spiegelglatten Fahrbahn durch. Der Wagen geriet ins Schleudern, beruhigte sich aber gleich wieder. Nur langsam gewann er an Tempo. Heidi verschwendete nur einen kurzen Gedanken an das Risiko, das eine Beschleunigung auf eisglatter Straße darstellte. Aber im Vergleich mit einer drohenden Vergewaltigung erschien ihr ein Unfall als die attraktivere Alternative.

Der Golf wurde schneller, sanft wurde Heidi in den Sitz gepresst. Das Tachometer zeigte jetzt sechzig, dann siebzig. Ein Zusammenstoß bei dieser Geschwindigkeit konnte schon tödlich sein. Ein Bild, das ihre nackte Leiche in einer Schublade der Gerichtsmedizin zeigte, blitzte kurz vor ihrem inneren Auge auf...

Das dunkle Fahrzeug holte weiter auf. Wie in Zeitlupe sah Heidi es links an sich vorüberziehen. Der Beifahrer - der kleine Dicke - wandte ihr das Gesicht zu. Sie konnte keine Einzelheiten erkennen, aber er schien schadenfroh zu grinsen. Es war der triumphale Ausdruck des Jägers, der seine Beute gestellt hatte. Kalte Schauer liefen ihr über den Rücken.

Im nächsten Moment war der Wagen vorbei. Dann ging alles sehr schnell. Die gegnerische Karosse zog plötzlich nach rechts und touchierte den linken vorderen Kotflügel des Golfs. Heidi zuckte zusammen, als sie den Stoß verspürte und der Golf zu krängen begann wie ein Schiff bei starkem Wellengang. Automatisch trat sie auf die Bremse. Die Räder blockierten sofort und der Kleinwagen brach aus. Sich im Uhrzeigersinn um die eigene Achse drehend schleuderte der Golf über die Straße. Heidis Magen zog sich zusammen. Es gelang ihr, den Brechreiz zu unterdrücken. Warum, zum Teufel, hatte der V W kein ABS?

Es war wie in einem Karussell. Unfähig, die Drehbewegung zu stoppen, musste sie mitansehen, wie der Straßengraben unaufhaltsam auf sie zuglitt. An den Straßenrändern, im Graben und im Wald konnte sie verharschten Schnee erkennen.

Als der Aufprall erfolgte, waren nur wenige Sekunden vergangen, aber Heidi erschienen sie wie eine halbe Ewigkeit. Der Schnee dämpfte den Stoß. Eine weiße Fontäne spritzte hoch, als sich die Schnauze des Golfs in den Straßengraben bohrte. Heidi wurde hart in den Sicherheitsgurt gedrückt. Die erlittenen Prellungen und Schürfwunden spürte sie im Moment noch nicht. Schreckensbleich saß sie in dem verbeulten Fahrzeug und rührte sich nicht. Dann übergab sie sich...

Langsam kehrten ihre Sinne zurück. Jetzt kamen ihr auch die Schmerzen zu Bewusstsein. Die Brust, der Nacken, der Kopf - alles tat ihr weh. Ihr ganzer Körper bestand nur noch aus Schmerz. Sterne tanzten vor ihren Augen. Sie fühlte sich, als ob eine ganze Fußballmannschaft sie überrannt hätte. Die Kopfschmerzen schienen ihren Schädel zur Explosion bringen zu wollen. Aber sie lebte.

Sie versuchte, sich zu orientieren. Es war dunkel, die Scheinwerfer waren zerbrochen. Die Innenbeleuchtung war ebenfalls ausgefallen. Heidi schnallte sich los und probierte, die Fahrertür zu öffnen. Fehlanzeige. Wahrscheinlich war die gesamte Karosserie durch den Unfall verzogen. Die Windschutzscheibe war gesplittert, ebenso die Fenster der Fahrer- und der Beifahrertür. Das Mosaik des Sicherheitsglases verwehrte ihr die Sicht nach draußen. Durch die Heckscheibe konnte sie schließlich einen Blick hinaus werfen. Die Körperdrehung verursachte eine neue Schmerzwelle. Sie biss die Zähne zusammen und ignorierte ihre Qualen.

Das helle Licht des Halbmondes wurde von der weißen Schneedecke reflektiert. Als Heidis Augen sich an das diffuse Licht gewöhnt hatten, konnte sie ihre Umgebung einigermaßen deutlich erkennen. Sie zog ihren rechten Stiefel aus und schlug damit ein Loch in das Verbundglas der Frontscheibe. Es knisterte und knackte, als die Glassplitter auf die zerstörte Motorhaube fielen. Der Anblick des ruinierten Wagens trieb ihr die Tränen in die Augen. Eindeutig Totalschaden. Da war nichts mehr zu machen. Sie konnte von Glück sagen, dass der Motorblock nicht in die Fahrerkabine gedrungen war und sie zerquetscht hatte.

Erst jetzt wurde Heidi bewusst, dass das Warmluftgebläse ebenfalls ausgefallen war. Gnadenlos kroch die Winterkälte durch das Loch im Fenster zu ihr herein. Sie fror und zog den Stiefel wieder an. Dann erinnerte sie sich daran, wie es zu dem Unfall gekommen war. Und plötzlich stand die Frage im Raum: wo war das andere Auto abgeblieben? Hatte es angehalten oder Fahrerflucht begangen?

Da nahm sie auf der linken Seite eine Bewegung wahr. Sie konnte nicht erkennen, was es war. Aber als sie ihren Blick schweifen ließ, erspähte sie in ungefähr hundert Metern Entfernung das Fahrzeug. Sie war nun sicher, dass es sich um einen Audi handelte. Still und unbeweglich stand er da, stummer Zeuge eines ungeheuerlichen Geschehens. Der Lack glitzerte im Mondlicht. Heidi kniff die Augen zusammen, um deutlicher sehen zu können. Nein, sie hatte sich nicht getäuscht; der Audi war leer. Wo waren seine Insassen?

Erneut legte sich der Schleier der Angst wie ein Mantel um sie. Wenn die Kerle nicht im Auto waren, konnten sie sich nur in der näheren Umgebung aufhalten. Und das wiederum konnte nur eines bedeuten...

Dann sah sie sie. Sie waren kaum vor dem schwarzen Hintergrund des Waldes auszumachen. Dunkle Mäntel hüllten sie ein und boten ihnen die perfekte Tarnung. Nur ihre Bewegungen verrieten ihre Anwesenheit. Zielstrebig und so schnell, wie es bei der dicken Schneedecke möglich war, kamen sie auf sie zu. Es gab keinen Zweifel. Das ungewisse Warten war vorbei. Jetzt würde es jeden Moment passieren.

Heidi unterdrückte die Panik. Sie aktivierte ihre letzten Kräfte. Die Schmerzen waren vergessen. Sie versuchte erneut, die Fahrertür zu öffnen. Beide Hände hielten den Griff gedrückt, während sie sich mit ihrer Schulter gegen die Tür warf. Ohne Ergebnis. Sie ignorierte die Pein, die diese Aktion verursachte, und versuchte es noch einmal. Die verdammte Tür muckte sich nicht.

Sie rutschte auf den Beifahrersitz. Durch das Loch in der Windschutzscheibe sah sie wieder ihre Verfolger. Sie waren höchstens noch fünfzig Meter entfernt. Wie lange brauchte man bei schwierigem Untergrund für fünfzig Meter? Sie liefen nicht, sondern schritten in zügigem Marschtempo. Zwanzig Sekunden, oder vielleicht dreißig? Nicht daran denken! Auf die Tür konzentrieren!

Sie zog ihre Beine an und stemmte sie gegen die Fahrertür. Herr im Himmel, warum ging das dämliche Ding nicht auf?

Noch vierzig Meter.

Was machte die Beifahrertür? Heidi schickte ein Stoßgebet zum Himmel und drückte den Griff. Die Tür gab nach. Ein winziger Spalt erschien, drei oder vier Zentimeter breit. Dann war wieder Stillstand.

Dreißig Meter.

Heidi verlagerte ihre gesamte Kraft in die Beine und stieß sie gegen die Tür. Mit lautem Knarren gab der Wagenschlag nach und schwang krächzend nach außen. Ein letzter Blick auf die Kerle, die jetzt nur noch zwanzig Meter zu überwinden hatten, dann hechtete sie nach draußen. Sie landete auf dem Bauch. Der kalte Schnee stach in ihre Hände und ihr Gesicht. Ignorieren! Weg hier!

Sie sprang auf und begann zu laufen. Nicht nach hinten sehen! Laufen! Ihre Beine trugen sie schnell und sicher fort. Das Gummiprofil ihrer Stiefel sicherte ihr ein rasches Vorwärtskommen. Das knarzende Geräusch von zusammengepresstem Schnee und ihr heftiger Atem waren die einzigen Laute, die sie im Augenblick vernahm. Es dauerte eine Weile, bis sie die energischen Tritte ihrer Verfolger hörte. Die Frequenz nahm ständig zu. Sie hatten an Tempo zugelegt.

Die Schneedecke bildete ein starkes Handicap. Heidi fühlte, wie ihre Beine schwerer wurden. Es schien ihr, als schleppe sie gewichtige Eisenkugeln - wie eine Strafgefangene in einem amerikanischen Film - mit sich herum. Lange würde sie das nicht durchhalten. Wenn es ihr in den nächsten Minuten nicht gelang, die Sexgangster abzuhängen...

Wie weit war sie gelaufen? Sie wagte nicht, nach hinten zu sehen. Während sie weiterrannte, versuchte sie, sich zu orientieren. Irgendwo musste hier doch der kleine Waldpfad sein, den sie im Sommer zum Joggen nutzte. Verdammt! In diesem widerlichen Mondlicht wirkte die Umgebung völlig fremd. Sie musste sich eingestehen, dass sie nicht wusste, wo sie sich befand.

Die schlurfenden Schritte hinter ihr wurden lauter. Noch einmal intensivierte Heidi ihre Anstrengungen. Aber sie ahnte, dass das Ende unmittelbar bevorstand. Ihr Herzschlag glich dem Auf und Ab eines Presslufthammers; Seitenstiche machten sich bemerkbar. Ihr Körper war nass vor Schweiß; die Kleider klebten ekelhaft auf der Haut und bildeten ein zusätzliches Hindernis. Ihr offener Mund japste nach Luft. Ihr Atem kondensierte in einer sie ständig begleitenden Wolke wie ein Schutzschirm. Nur dass dieser Schirm ihr keinen Schutz bieten würde.

Noch einmal betete sie. In Gedanken flehte sie Gott an, dass sie auf Menschen stieße, die ihr helfen würden. Sie war nie besonders religiös gewesen. Mit der Pubertät schwand der Glaube an Gott. Aber jetzt hoffte sie, dass es ihn gab.

Plötzlich spürte sie einen heftigen Stoß in den Rücken. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Kalter Schnee geriet in ihren Mund. Angewidert spie sie ihn aus und versuchte sich aufzurichten. Es gelang ihr nicht. Etwas hielt sie am Boden fest, etwas Schweres, das sich auf ihren Rücken legte und sie zur Bewegungslosigkeit verurteilte.

Grundgütiger! Es war soweit. Sie hatten sie erwischt. Ihre Atemfrequenz erhöhte sich und das Herz schien ihr aus der Brust springen zu wollen. Sie strampelte mit den Beinen und mühte sich, ihre Last abzuwerfen. Vergebens. Erschöpft sank ihr Kopf in den hart gewordenen Schnee zurück. Sie schloss die Augen und begann zu weinen, ein leises, hilfloses Wimmern. Ihr war klar, was jetzt geschehen würde. Sie hatte keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. Ihre Kräfte waren erlahmt, sie würde ein leichtes Opfer sein.

Als die Kerle sie auf den Rücken drehten und sie zu entkleiden begannen, erinnerte sie sich an verschiedene Artikel in Frauenzeitschriften. Bei einer Vergewaltigung sollte man keine Gegenwehr leisten, Widerstand zog meist den Tod nach sich. Sich in sein Schicksal fügen und beruhigend auf den Täter einreden, ihn auf diese Weise mit einiger Aussicht auf Erfolg von der Tat abhalten. Es war zum Totlachen. Wer konnte in dieser Situation Smalltalk mit dem Täter halten? Heidi jedenfalls war nicht in der Lage, mit ihren Peinigern zu reden. Angst und totale Verausgabung hinderten sie daran. Und im Übrigen, wie sollte man sich verhalten, wenn man es mit zwei Männern zu tun hatte? Alle Magazine gingen von einer Vergewaltigung durch einen aus. Warum nur hatte sie damals diesen Selbstverteidigungskurs für Frauen nicht besucht?

Ihre Gedanken kreisten um die Täter. Würden sie sie am Leben lassen? Die Tat an sich konnte sie nicht verhindern. Aber vielleicht würde sie überleben. Für diesen Fall war es wichtig, soviel wie möglich über die beiden in Erfahrung zu bringen, so dass die Polizei leichtes Spiel hätte. Heidi begann, sich ihr Aussehen einzuprägen. Das unheimliche Zwielicht der Nacht erschwerte diese Aufgabe.

Der erste Täter war groß und schlank, der andere kleiner und untersetzt. Zwangsläufig musste sie an Dick und Doof denken. Beide trugen dunkle, möglicherweise schwarze Kleidung; es war unmöglich, irgendwelche Farben zu erkennen. Ihre Trenchcoats waren geöffnet und flatterten im schwachen Nachtwind leicht um ihre Körper. Sie begegnete Doofs Blick, als er Pulli und Büstenhalter zerfetzte; kalt und grausam, wie bei einem Killer. Dieser Eindruck wurde unterstützt durch das pockennarbige, unrasierte Gesicht. Die Gänsehaut, die sie bekam, war nicht nur auf die Kälte der Nacht zurückzuführen.

Dick hatte mittlerweile ihren Unterkörper freigemacht. Sein Doppelkinn gab ihm beinahe ein sympathisches, kumpelhaftes Aussehen, wenn nicht die gleichen unbarmherzigen Augen wie bei Doof gewesen wären.

Heidi war jetzt völlig nackt. Sie schnappte ein paar Mal krampfartig nach Luft - wie man es tut, wenn man im Schwimmbad ohne kalte Dusche in das Wasser steigt. Sie fühlte sich hilflos wie nie zuvor in ihrem Leben. Der eisige Hauch des Nachtwindes lähmte sie. Selbst wenn sie gewollt hätte, sie konnte sich nicht mehr bewegen. Sie spürte die Gänsehaut, die sich über ihren vor Kälte zitternden Körper gelegt hatte. Unter ihrem Rücken nahm sie ihren Mantel wahr. Er war vom Schnee durchnässt und eiskalt. Dennoch war sie dankbar, dass sie nicht auf dem nackten Boden lag. Es war paradox, sie war vor Angst und Kälte wie gelähmt, aber ihr Körper bibberte in wahnwitziger Frequenz.

Im Wald herrschte Totenstille, kein Geräusch war zu vernehmen. Heidi hörte nur ihr eigenes heftiges Atmen. Von weither drang der klagende Schrei einer Eule an ihr Ohr. Sonst gab es keine Anzeichen von Leben. Es schien, als hielte die Natur einen Augenblick inne, weil sie die Gefahr realisierte, die in den Forst eingedrungen war.

„Du zuerst.“ Doofs Worte hallten wie eine Explosion durch die Stille.

Heidi schloss die Augen. Es reichte, wenn sie den Gewaltakt in ihrem Bauch fühlte, sie musste ihn nicht auch noch sehen. Es war gar nicht mal so schmerzhaft. Die eisige Kälte, die unbarmherzig an ihrem nackten Körper fraß, bereitete ihr viel größere Qualen. Die Furcht vor möglichen Erfrierungen war inzwischen größer als die Angst vor der Vergewaltigung. Und auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie ihre Füße nicht mehr spüren konnte. An der Stelle ihrer Beine, wo sie eigentlich sein sollten, war nur ein grausamer, nicht enden wollender Schmerz. Die Füße hatten die ganze Zeit im eiskalten Schnee gelegen. O Gott, sie waren erfroren! Tränen der Bitterkeit und der Qualen rannen über Heidis Wangen. In der Hoffnung, ihre Füße doch noch retten zu können, stellte sie die Beine auf den Mantel. Aber die Schmerzen blieben.

Als sie nichts Warmes mehr in ihrer Scheide spürte, schlug sie die Augen auf. Doof zog gerade den Reißverschluss seiner Hose zu. Das mahlende Geräusch deutete das Ende ihres Martyriums an. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass er Dick abgelöst hatte. Immerhin, es war jetzt vorbei. Gott sei Dank.

Heidi richtete sich. Und fiel gleich wieder zu Boden. Ihre abgestorbenen Füße trugen sie nicht mehr. Weinend kroch sie auf allen vieren umher, um ihre verstreuten Kleidungsstücke einzusammeln. Jede Bewegung verursachte rasende Schmerzen. Unbarmherzig attackierte die Kälte des Schnees ihre Knie und Hände. Warum wurde ihr das angetan? Wenn sie nicht ganz erfror, würde sie wahrscheinlich auf immer ein Krüppel bleiben und den Rest ihres Lebens im Rollstuhl verbringen. Sie konnte an nichts anderes mehr denken...

Der Angriff kam völlig überraschend. Dick stürmte auf sie zu und stieß sie zu Boden. Es ging so schnell, dass sie keine Möglichkeit zur Gegenwehr hatte. Bevor sie überhaupt reagieren konnte, lag sie erneut auf dem Rücken, Dick rittlings auf ihrem Bauch. Sein Gewicht drückte sie nieder. In der rechten Hand hielt er plötzlich ein zusammengerolltes Taschentuch.

Heidi begriff. Aber ehe sie ihre Arme zur Verteidigung einsetzen konnte, war Doof heran. Er bog die Arme über ihren Kopf und setzte sich auf ihre Hände. Dick hatte in der Zwischenzeit den Knebel in ihren Mund gestopft. Soeben zauberte er Paketklebeband aus seiner Manteltasche und heftete es in drei Lagen über ihren Mund, wobei er es ganz um den Kopf herumführte. Heidis Schluchzen erstarb, nur mehr ein dumpfes Jammern durchdrang den Knebel. Niemand würde sie jetzt noch hören können. Und dann begann das Grauen.

Doof hockte noch immer über ihr. Plötzlich ergriff er ihren linken Arm und schmetterte ihn mit beiden Händen in einer kraftvollen Bewegung auf seinen Oberschenkel. Ein grausiges Knacken lief wie ein Pistolenschuss durch den Wald, als der Knochen brach.

Heidis Augen verdrehten sich. Ihr Schrei erstickte im Knebel. Der Schmerz war unbeschreiblich. Die Kälte war in diesem Moment vergessen. Unentwegt schickten die Nervenbahnen Schmerzimpulse zum Hirn. Heidi glaubte, den Verstand zu verlieren.

Als sie meinte, die Schmerzen nicht mehr aushalten zu können und sich eine Ohnmacht herbeisehnte, zerschmetterte Doof den anderen Arm. Wieder jagte eine Welle unglaublichen Schmerzes durch ihren Körper. Ihr wurde schwarz vor Augen, aber nur für Sekunden. Die Bewusstlosigkeit, die gnädig die unmenschliche Tortur eliminieren würde, wollte sich nicht einstellen. Gnadenlos tobten die Schmerzen in ihrem geschundenen Körper und raubten ihr beinahe den Verstand. Und es ging weiter.

Dick setzte sich auf ihren linken Oberschenkel, fasste den Unterschenkel mit hartem eisernem Griff und bog ihn zu sich hoch. Doof unterstützte ihn. Er hob sein linkes Bein an, zielte auf Heidis Kniescheibe und trat jählings mit aller Kraft zu. Wieder gab es ein lautes Krachen.

Die Schmerzen brachten sie an den Rand des Wahnsinns. Kein Mensch konnte das aushalten. Wild warf sie ihren Kopf hin und her. Das Taschentuch verhinderte, dass sie sich die Zunge abbiss. Wo blieb die Bewusstlosigkeit? Oder besser noch der Tod. Alles war besser als diese Folter zu ertragen.

Den Bruch des zweiten Beines nahm sie kaum noch bewusst wahr. Es gab nichts mehr außer Schmerz, wahnsinnigen, unaufhörlichen Schmerz.

Noch einmal drang ihr Verstand an die Oberfläche des Bewusstseins - wie ein Ertrinkender, der ein letztes Mal den Kopf aus dem Meer erhebt, bevor die Kräfte ihn verlassen und er für immer untertaucht. Sie sah Dick und Doof neben sich stehen. Sie ahnte nicht, dass ihr Gesicht zu einer von furchtbaren Qualen entstellten Fratze geworden war. Ihre tränenerfüllten sterbenden Augen formulierten die stumme Frage. Warum?

Doof zündete sich eine Zigarette an, nahm einen Zug und blickte dann auf Heidi herab. „Zu schade. Dieser Körper hätte etwas Besseres verdient.“ Er tat einen zweiten Zug, dann drehte er sich um und ging. Dick folgte ihm.

Heidi war jetzt allein. In der Ferne startete der Audi und fuhr davon. Sie hörte es nicht mehr. Sie verspürte eine große Müdigkeit. Ihr Körper war ein Wrack, bewegungslos durch zerschmetterte Glieder und lebensgefährliche Erfrierungen. Sie machte sich nichts vor, sie würde sterben, es war nur noch eine Frage von Minuten. Doch seltsamerweise machte es ihr nichts aus. Sie würde ohnehin nichts davon spüren. Sie fühlte auch die grausame Kälte nicht mehr, den eiskalten Hauch des Nachtwindes und die eisige Kühle des Schnees. Ihr Blick verklärte sich. Auf einmal war alles gar nicht mehr so schlimm.

Der Wald war nun nicht mehr bedrohlich. Friedlich standen die Bäume im Mondlicht und begleiteten sie auf ihrer letzten Reise. Ihre Augen richteten sich gen Himmel. Sanft und ruhig funkelten die Sterne. Täuschte sie sich oder waren da tatsächlich Engel am Firmament? Deutlich sah sie die hellen Gestalten mit ihren wallenden Gewändern. Mit schlagenden Flügeln schwebten sie am Mond vorüber. Was für ein herrlicher Anblick. Gleich würde sie bei ihnen sein. Müde schloss sie die Augen, ein verzücktes Lächeln auf den Lippen.

Eine halbe Stunde später war Heidi Oppermann tot.

 

 

3

 

 

Der Boss würde zufrieden sein. Sie hatten gute Arbeit geleistet. Er wollte die übliche Vorgehensweise, er hatte sie bekommen. Das Mädchen war tot, daran konnte gar kein Zweifel bestehen. Sie brauchten sich nicht von seinem Ende zu überzeugen. Bisher war noch jeder, den sie auf diese Weise bearbeitet hatten, in die Kiste gestiegen.

Bedauerlich war es schon, dass Heidi Oppermann sterben musste. Wie er schon am Tatort gesagt hatte, sie hatte einen wunderbaren Körper, mit dem man noch interessante Sachen hätte machen können. Im Mädchenhandelsgeschäft hätte sie sicherlich einen guten Preis erbracht. Mädchen ihres Alters - reifer und erfahrener als Teenager - hielten gut und gerne zwei bis drei Jahre durch, bevor sie ausgebrannt waren und entsorgt werden mussten. Nun ja, der Boss hatte entschieden. Sie wusste Dinge, die sie nicht wissen durfte. Das bedeutete das Todesurteil. Es war besser, kein Risiko einzugehen.

Die Polizei würde von einem Sexualdelikt ausgehen. Es gab genug Perverse, die Frauen folterten und regelrecht abschlachteten. Er verachtete diese Primitivlinge, die nicht in der Lage waren, ihre abartigen Gelüste unter Kontrolle zu halten. Das Syndikat tötete nur, wenn es nicht anders ging. Bei Heidi Oppermann war die Todesstrafe unausweichlich gewesen; ihr Wissen gefährdete die Erreichung des Ziels. Zugegeben, der Geschlechtsakt hatte Spaß gemacht. Selten genug gab es Abwechslung. Die meisten Frauen, mit denen er Verkehr hatte, stellte der Boss - Professionelle, die dafür bezahlt wurden. Es war immer das gleiche: Hose auf, Schwanz 'rein, Höhepunkt, Schwanz 'raus. Es fehlte der Kick, das gewisse Etwas. Heute Abend war es da. Sex mit einem sich in Todesangst windenden Opfer war immer etwas Besonderes. Der Höhepunkt kam schneller und gewaltiger als beim gewöhnlichen Akt. Und das ganz ohne Vorspiel. Das Nützliche daran war, dass die Vergewaltigung die Polizei auf eine falsche Spur führte und von der Hinrichtung ablenkte.

Hans Kaltenbach steckte sich eine weitere Marlboro an. Richard Dürkopp döste auf dem Beifahrersitz. Leise Schnarchgeräusche übertönten das Summen des Motors. Auf ORB lief Kuschelmusik. Er drehte das Radio etwas lauter. Der A4 jagte durch die Nacht, dem nächsten Auftrag entgegen. Heidi Oppermann war vergessen.

 

 

4

 

 

Um zehn Uhr morgens betrat Roger Harmen den langen weiß getünchten Korridor im ersten Stock des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden. Auf dem Weg zu seinem Büro vernahm er die Geräusche hinter den Türen seiner Kollegen, die bereits emsig bei der Arbeit waren. Schreibmaschinengeklapper, undeutliches Gemurmel, das durch die geschlossenen Türen drang, das Rattern von Computerdruckern. Roger lächelte. Die vertraute Umgebung hatte etwas Familiäres an sich. Ein Mann brauchte Wurzeln. Seit der Scheidung waren die Kollegen seine Familie.

Am Getränkeautomaten in der Nische gegenüber seinem Büro verhielt er kurz, um sich einen Kaffee zu ziehen. Er genoss den anregenden Duft des schwarzen Getränks. Er ergriff die Plastiktasse und begab sich in sein Büro.

Auf dem Schreibtisch erwartete ihn bereits ein dicker Aktenstapel. Roger verzog das Gesicht. Er hasste Montage. Es war jedes Mal das Gleiche. Jeder Tag der Woche produzierte ein bestimmtes Kontingent an Arbeit, aber aus unerfindlichen Gründen wurde er jeden Montag von der dreifachen Papiermenge eines normalen Arbeitstages erschlagen. Als ob er nicht schon genug Überstunden hätte.

Roger seufzte, stellte Aktenkoffer und Kaffee auf den Schreibtisch und entledigte sich seines Mantels. Dann lümmelte er sich in seinen Sessel, lehnte sich entspannt zurück und genoss den Kaffee. Er fragte sich immer wieder, wie es den Leuten gelang, mit Hilfe eines Automaten so guten Kaffee zu kochen. Nicht, dass damit Preise gewonnen würden, aber das Ergebnis war ganz passabel, auf jeden Fall besser als das Gebräu, das er zu Hause zusammenbrodelte.

Unwillkürlich wanderten seine Gedanken wieder zu Anna. Sie kochte den besten Kaffee der Welt. Wie hatte er es ausgekostet, den Tag mit ihr gemeinsam zu beginnen. Dauerlauf gleich nach dem Aufstehen, Duschen, Frühstücken zusammen mit Lena. Es waren die schönsten Jahre seines Lebens gewesen. Immer noch trauerte er ihnen nach. Warum musste alles einmal zu Ende gehen?

Sein Blick wanderte zu dem Foto auf seinem Schreibtisch. Umrahmt von einem Geviert aus gewirktem Glas lächelte ihn kokett ein kleines Fräulein an. Kurzes blondes Haar, ein hübsches schmales Gesicht mit einer niedlichen Stupsnase, leuchtende blaue Augen. Roger war stolz auf seine Tochter. Lena war das Beste, was er in seinem Leben zustande gebracht hatte. Mittlerweile war sie schon dreizehn. Als Anna ihn verließ, war sie noch ein kleines Mädchen von acht gewesen.

Roger bedauerte Annas Entscheidung außerordentlich. Auch Anna hatte immer wieder betont, dass sie ihn noch immer liebe. Aber gerade deswegen war dieser Schritt aus ihrer Sicht notwendig gewesen. Frauen hatten eine merkwürdige Logik. Nun, er konnte mit der Trennung leben, wenngleich die Umgewöhnungsphase etliche Monate - nein, er musste ehrlich sein, es waren zwei Jahre - gedauert hatte. Heute wusste er das Leben eines Junggesellen wieder zu schätzen. Es hatte schon seine Vorteile, Länderspiele ungestört sehen zu können oder Whisky bis zum Abwinken ohne Strafpredigt zu trinken.