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Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität sind die charakteristischen Formen der Kultur der Digitalität, in der sich immer mehr Menschen auf immer mehr Feldern und mithilfe immer komplexerer Technologien an der Verhandlung von sozialer Bedeutung beteiligen (müssen). Sie reagieren so auf die Herausforderungen einer chaotischen, überbordenden Informationssphäre und tragen zu deren weiterer Ausbreitung bei. Dies bringt alte kulturelle Ordnungen zum Einsturz und neue sind bereits deutlich auszumachen. Felix Stalder beleuchtet die historischen Wurzeln wie auch die politischen Konsequenzen dieser Entwicklung. Die Zukunft, so sein Fazit, ist offen. Unser Handeln bestimmt, ob wir in einer postdemokratischen Welt der Überwachung und der Wissensmonopole oder in einer Kultur der Commons und der Partizipation leben werden.

 

 

Felix Stalder

Kultur der Digitalität

Suhrkamp

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2679.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

edition suhrkamp

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Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

 

eISBN 978-3-518-73617-3

www.suhrkamp.de

Inhalt

Einleitung: Nach dem Ende der Gutenberg-Galaxis

 

1. Wege in die Digitalität

Die Erweiterung der sozialen Basis der Kultur

Die Kulturalisierung der Welt

Die Technologisierung der Kultur

Von den Rändern ins Zentrum der Gesellschaft

 

2. Formen der Digitalität

Referentialität

Gemeinschaftlichkeit

Algorithmizität

 

3. Richtungen des Politischen in der Digitalität

Postdemokratie

Commons

Wider die Alternativlosigkeit

 

Dank

Einleitung: Nach dem Ende der Gutenberg-Galaxis

Die Show dauerte schon länger als drei Stunden, aber das störte niemanden. Im Gegenteil. Die Spannung im Saal näherte sich gerade dem Höhepunkt, die Einschaltquoten waren hoch. 195 Millionen Fernsehzuschauer in ganz Europa verfolgten das Spektakel, und die sozialen Massenmedien kamen nun erst richtig in Schwung. Über den Kurznachrichtendienst Twitter wurden mehr als 47 ‌000 Meldungen pro Minute mit dem Hashtag #Eurovision verschickt.[1] Kurz nach Mitternacht stand es dann fest: Conchita Wurst, die glamouröse Diva mit Bart, war die Gewinnerin des Eurovision Song Contests 2014. Jubel brach aus, das Publikum feierte die Siegerin, aber auch sich selbst. Längst war es nicht mehr darum gegangen, bloß eine weitere Runde des in die Jahre gekommenen Fernsehformats (»This is Ljubljana calling!«) abzuliefern. Vielmehr galt es, ein Zeichen zu setzen: für Toleranz, gegen Homophobie, für Vielfalt und das Recht jedes Einzelnen, sich selbst zu definieren. Und Europa setzte dieses Zeichen, mitten in der Krise, trotz Anfeindungen und düsterem Geraune über Dekadenz, Kulturzerfall und Gayropa. »We are unity. And we are unstoppable!«, verkündigte dann auch die sichtlich bewegte Österreicherin, als sie mit weichen Knien wieder die Bühne betrat, um die Siegestrophäe in Empfang zu nehmen.

Der Performerin war es gelungen, mit einer ästhetisch überzeugenden Inszenierung mächtige Sehnsüchte nach Überwindung verbrauchter Konventionen, nach persönlicher Selbsterfindung und Gemeinschaft zu mobilisieren. Und dies durch eine Figur, die im Mainstream noch vor Kurzem als paradox und abartig gegolten hätte, inzwischen aber auch dort verstanden wurde: attraktiv jenseits der Dichotomie von Mann und Frau, explizit künstlich und doch überaus authentisch. Auch formal war ihr Auftritt scheinbar paradox: äußerst fokussiert und ganz offen. Als einer der wenigen Acts stand sie alleine auf der Bühne, sie bewegte sich kaum und bot dem Publikum dennoch eine Fülle an Möglichkeiten, selbstbestimmt teilzuhaben und das Motto des Contests (»Join Us!«) wirklich zu leben. Der ursprünglich so provokante Bart verwandelte sich noch während der Proben in ein frei schwebendes Symbol, das sich das Publikum in verschiedensten Formen zu eigen machte. Männer und Frauen malten sich Bärte im Stil der Wurst an, Zeitungen druckten Bärte zum Ausschneiden, Fans häkelten Bärte, und nicht nur die Kaiserin Sissi bekam per Photoshop einen Bart verpasst, auch der holländische König Willem-Alexander speiste das offizielle Porträt seiner Gattin, Königin Máxima, mit täuschend echter Gesichtsbehaarung per Twitter in den Strudel der Kommunikation ein. Dieser Abend vermittelte auf der ganz großen Bühne einen Eindruck davon, wie stark sich Kultur in Europa – sowohl in Bezug auf Inhalte wie auch auf die Formen ihrer Verhandlung – in den letzten Jahren verändert hatte. Was lange ausschließlich in subkulturellen Nischen beheimatet war, etwa die Verflüssigung von Geschlechteridentitäten, Appropriation als Kulturtechnik oder das Zusammenfallen von Rezeption und Produktion, zeigte sich jetzt als Teil des Mainstreams. Sogar vor den Fernsehern konstituierte sich dieser Mainstream nicht mehr nur als privates Publikum, sondern als Vielzahl singulärer Produzenten, deren vernetztes Handeln – vor Ort und in den sozialen Massenmedien – dem Ereignis erst die spezifische Bedeutung als Moment der kollektiven Selbstwahrnehmung verlieh.

Bereits vor einem halben Jahrhundert hat Marshall McLuhan das Ende der Moderne als kultureller Epoche ausgerufen, die er, mit Verweis auf die gedruckte Schrift als prägendes Medium, die Gutenberg-Galaxis nannte. Was damals noch abstrakte medienwissenschaftliche Spekulation war, erleben wir heute als konkrete Realität des Alltags. Mehr noch, wir können weit über diesen Befund hinausgehen. Denn es lässt sich nicht nur konstatieren, dass alte kulturelle Formen, Institutionen und Gewissheiten erodieren, sondern auch, dass sich neue herausbilden, deren Konturen schon recht deutlich zu erkennen sind, nicht mehr nur in Nischen, sondern in der Mitte der Gesellschaft. So erweiterte Facebook kurz vor Conchitas Triumph die Optionen für die Wahl der Geschlechtsidentität für seine mehr als eine Milliarde Nutzer – von zwei auf sechzig. Neben »Mann« und »Frau« stehen zum Beispiel den Usern der deutschen Seite jetzt folgende Kategorien zur Verfügung:

 

androgyner Mensch, androgyn, bigender, weiblich, Frau zu Mann (FzM), gender variabel, genderqueer, intersexuell (auch inter*), männlich, Mann zu Frau (MzF), weder noch, geschlechtslos, nicht-binär, weitere, Pangender, Pangeschlecht, trans, transweiblich, transmännlich, Transmann, Transmensch, Transfrau, trans*, trans* weiblich, trans* männlich, Trans* Mann, Trans* Mensch, Trans* Frau, transfeminin, Transgender, transgender weiblich, transgender männlich, Transgender Mann, Transgender Mensch, Transgender Frau, transmaskulin, transsexuell, weiblich-transsexuell, männlich-transsexuell, transsexueller Mann, transsexuelle Person, transsexuelle Frau, Inter*, Inter* weiblich, Inter* männlich, Inter* Mann, Inter* Frau, Inter* Mensch, intergender, intergeschlechtlich, zweigeschlechtlich, Zwitter, Hermaphrodit, Two Spirit, drittes Geschlecht, Viertes Geschlecht, XY-Frau, Butch, Femme, Drag, Transvestit, Cross-Gender.

 

Diese enorme Vervielfältigung der kulturellen Möglichkeiten ist ein Ausdruck dessen, was ich im Folgenden als Kultur der Digitalität bezeichne. Deren immer stärkere Präsenz im Alltag findet nicht überall Anklang, sondern löst auch Wellen der Nostalgie, diffuser Ressentiments und intellektueller Panik aus. Konservative und reaktionäre Bewegungen, die sich gegen den Wandel stemmen und die alten Zustände bewahren oder gar wiederherstellen wollen, verzeichnen Zulauf. So wurde etwa, ebenfalls 2014, in Baden-Württemberg ein heftiger Kulturkampf darüber geführt, welche Formen von Partnerschaft im Sexualkundeunterricht positive Erwähnung finden dürfen. Stein des Anstoßes war ein Ende 2013 vom Kultusministerium des Landes vorgelegtes Arbeitspapier.[2] Es sah unter anderem vor, dass sich Schüler »unter dem Gesichtspunkt der Akzeptanz sexueller Vielfalt« mit der »eigenen geschlechtlichen Identität und Orientierung auseinandersetzen« sollten. In einer wesentlich über die sozialen Massenmedien organisierten Kampagne wurden innerhalb kurzer Zeit knapp 200 ‌000 Unterschriften gegen die Vorschläge gesammelt und dem Petitionsausschuss des Landtags übergeben. Die Landesregierung legte daraufhin das Vorhaben erst mal auf Eis. Doch wenn die in diesem Buch entwickelte Analyse zutrifft, dann wird dieses Eis über kurz oder lang schmelzen.

Die Entstehung und Ausbreitung der Kultur der Digitalität ist die Folge eines weitreichenden, unumkehrbaren gesellschaftlichen Wandels, dessen Anfänge teilweise bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Seit den sechziger Jahren hat er sich jedoch massiv beschleunigt und immer weitere Kreise der Gesellschaft erfasst. Immer mehr Menschen beteiligen sich an kulturellen Prozessen, immer weitere Dimensionen der Existenz werden zu Feldern kultureller Auseinandersetzungen, und soziales Handeln wird in zunehmend komplexere Technologien eingebettet, ohne die diese Prozesse kaum zu denken und schon gar nicht zu bewerkstelligen wären. Die Anzahl konkurrierender kultureller Projekte, Werke, Referenzpunkte und -systeme steigt rasant an, was wiederum eine sich zuspitzende Krise der etablierten Formen und Institutionen der Kultur ausgelöst hat, die nicht darauf ausgerichtet sind, mit dieser Flut an Bedeutungsansprüchen umzugehen. Ungefähr seit dem Jahr 2000 verbinden sich viele der bis dahin voneinander unabhängigen Entwicklungen, verstärken und verändern sich und bilden nun eine neue kulturelle Konstellation, welche weite Teile der Gesellschaft umfasst – eine neue Galaxis, wie McLuhan vielleicht sagen würde.[3] Heute können wir relativ klar erkennen, welche spezifischen Formen sie als Ganze kennzeichnen und wie diese Formen neue, widersprüchliche und konfliktreiche politische Dynamiken prägen.

Diese These, die nur in Bezug auf die kulturelle Entwicklung des (transatlantischen) Westens Relevanz beansprucht, entfalte ich in drei Kapiteln. Im ersten zeichne ich die historischen Entwicklungen nach, welche diesen quantitativen wie qualitativen Wandel hervorgebracht haben und zur Krise der Institutionen der Gutenberg-Galaxis führten, die das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts bestimmte.[4] Die Verbreiterung der sozialen Basis kultureller Prozesse wird zurückgeführt auf Veränderungen der Arbeitswelt, auf die Selbstermächtigung marginalisierter Gruppen und die Auflösung der kulturellen Geografie von Zentrum und Peripherie. Die Ausweitung der Felder der Kultur wird anhand des Aufstiegs des Designs zur kreativen Generaldisziplin in den Blick genommen. Die wachsende Bedeutung komplexer Technologien als Grundlage des Alltags wird über die Entstehung unabhängiger Medien und die Entwicklung des Internets hin zu einem Massenmedium verfolgt. Diese Prozesse, die zunächst parallel und unabhängig voneinander verliefen und als einzelne möglicherweise reversibel gewesen wären, sind heute miteinander verschränkt und als kohärente Kultur der Digitalität gesellschaftlich dominant. Das zweite Kapitel arbeitet aus einer kultur- und medienwissenschaftlichen Perspektive bereits erkennbare Eigenschaften der neuen Kultur heraus. Im Vordergrund steht dabei die Analyse der Formen, das heißt die Frage nach dem »Wie« der kulturellen Praktiken. Es sind allgemein verbreitete, spezifische Formen der Kultur, des Austauschs und Ausdrucks über viele inhaltliche, soziale und lokale Differenzen hinweg, die es überhaupt ermöglichen, von der Kultur der Digitalität im Singular zu sprechen. Drei solche Formen sind besonders charakteristisch: Referentialität, also die Nutzung bestehenden kulturellen Materials für die eigene Produktion, ist eine zentrale Eigenschaft vieler Verfahren, mit denen sich Menschen in kulturelle Prozesse einschreiben. Im Kontext einer nicht zu überblickenden Masse von instabilen und bedeutungsoffenen Bezugspunkten werden Auswählen und Zusammenführen zu basalen Akten der Bedeutungsproduktion und Selbstkonstitution. Gemeinschaftlichkeit ist die zweite Eigenschaft, die diese Prozesse kennzeichnet. Nur über einen kollektiv getragenen Referenzrahmen können Bedeutungen stabilisiert, Handlungsoptionen generiert und Ressourcen zugänglich gemacht werden. Dabei entstehen gemeinschaftliche Formationen, die selbstbezogene Welten hervorbringen, die unterschiedliche Dimensionen der Existenz – von ästhetischen Präferenzen bis hin zu Methoden der biologischen Reproduktion und den Rhythmen von Raum und Zeit – modulieren. In ihnen wirken Dynamiken der Netzwerkmacht, die Freiwilligkeit und Zwang, Autonomie und Fremdbestimmung in neuer Weise konfigurieren. Die dritte Eigenschaft der neuen kulturellen Landschaft ist ihre Algorithmizität, das heißt, sie ist geprägt durch automatisierte Entscheidungsverfahren, die den Informationsüberfluss reduzieren und formen, so dass sich aus den von Maschinen produzierten Datenmengen Informationen gewinnen lassen, die der menschlichen Wahrnehmung zugänglich sind und zu Grundlagen des singulären und gemeinschaftlichen Handelns werden können. Angesichts der von Menschen und Maschinen generierten riesigen Datenmengen wären wir ohne Algorithmen blind.

Das dritte Kapitel rückt politische Dimensionen ins Zentrum. Gemeint sind damit Faktoren, welche die im vorhergehenden Kapitel beschriebenen formalen Dimensionen in konkreten sozialen, politischen und ökonomischen Projekten zur Entfaltung bringen. Während ich im ersten Kapitel langfristige, irreversible historische Prozesse und im zweiten allgemeine kulturelle Formen skizziere, die sich aus diesen Veränderungen mit einer gewissen Zwangsläufigkeit ergeben, geht es hier um offene und beeinflussbare Dynamiken. Zwei bereits weit fortgeschrittene politische Tendenzen der Kultur der Digitalität werden kontrastiert: Postdemokratie und Commons. Beide nehmen die Möglichkeiten, die durch die strukturellen Veränderungen entstanden sind, auf und treiben sie weiter voran, aber in gänzlich unterschiedliche Richtungen. »Postdemokratie« verweist auf Strategien, die der enormen Ausweitung der gesellschaftlichen Kommunikationsfähigkeit mit einer Entkoppelung von Beteiligungs- und Entscheidungsmöglichkeiten entgegentreten: Alle können sich äußern, entschieden wird aber von einigen wenigen. Immer mehr Menschen können und müssen zwar selbstverantwortlich handeln, ohne jedoch auf die Bedingungen, die soziale Textur, unter denen dies geschehen muss, Einfluss nehmen zu können. Die sozialen Massenmedien wie Facebook und Google werden als deutlichste Ausprägung dieser Tendenz in den Blick genommen. Hier wird unter neuen strukturellen Vorgaben eine spezifische Verbindung von Handeln und Denken eingeübt, in der eine Normalisierung des Postdemokratischen stattfindet und die zu dessen ansonsten unerklärlicher Akzeptanz in vielen gesellschaftlichen Bereichen beiträgt. »Commons« meint hingegen Ansätze, neue, umfassende Institutionen zu entwickeln, die nicht nur Beteiligung und Entscheidung direkt miteinander verbinden, sondern die die in der Moderne weitgehend getrennten Sphären des Ökonomischen, Sozialen und Ethischen zusammenführen.

Postdemokratie und Commons lassen sich als zwei politische Entwicklungslinien verstehen, die über die aktuelle Krise liberaler Demokratien hinausweisen und neue politische Projekte darstellen. Das eine kann man als im Kern autoritäres System charakterisieren, das andere als die radikale Erweiterung und Erneuerung der Demokratie von der Repräsentation hin zur Partizipation.

Auch wenn hier mehrere, sehr breite Perspektiven miteinander verknüpft werden, so können doch einige Themen, die man unter dem Titel Kultur der Digitalität vielleicht erwartet, nicht behandelt werden. Etwa der Themenkomplex Urheberrecht. Das ist leicht zu erklären. In Bezug auf die neuen Formen, die in diesem Buch im Zentrum stehen, benötigt oder rechtfertigt keine der hier ausgeführten Entwicklungen das Urheberrecht in seiner heutigen Form. Meine Überlegungen dazu sind vor Kurzem in einer eigenen Monografie erschienen und sollen hier nicht noch einmal wiederholt werden.[5] Auch ist zum Thema der Privatsphäre wenig zu finden. Nicht weil ich die Auffassung der Vertreter der »Post-Privacy« teilen würde, es sei besser, einfach alle persönliche Informationen für alle zur Verfügung zu stellen. Im Gegenteil, diese Position erscheint mir oberflächlich und naiv. Die politische Funktion der Privatsphäre – die Sicherung einer gewissen Autonomie des Einzelnen gegenüber mächtigen Institutionen – beruht jedoch auf konzeptuellen Grundlagen, die angesichts der im Nachfolgenden beschriebenen Entwicklungen dringend erneuert werden müssen. Dies zu leisten würde den Rahmen dieses Buches eindeutig sprengen.[6] Bevor ich mit dem ersten Kapitel beginne, muss ich noch kurz die möglicherweise unorthodoxe Fassung der zentralen Begriffe – »Kultur« und »Digitalität« – erläutern. Als Kultur werden im Folgenden all jene Prozesse bezeichnet, in denen soziale Bedeutung, also die normative Dimension der Existenz, durch singuläre und kollektive Handlungen explizit oder implizit verhandelt und realisiert wird. Bedeutung manifestiert sich aber nicht nur in Zeichen und Symbolen, sondern die sie hervorbringenden und von ihr inspirierten Praktiken verdichten sich in Artefakten, Institutionen und Lebenswelten. Mit anderen Worten, Kultur ist nicht symbolisches Beiwerk, kein einfacher Überbau, sondern sie ist handlungsleitend und gesellschaftsformend. Durch Materialisierung und Wiederholung wird Bedeutung, als Anspruch wie als Realität, sichtbar, wirksam und verhandelbar. Menschen können sich unterstützend, ablehnend oder indifferent dazu verhalten. Erst dann, im Austausch in größeren oder kleineren Formationen, entsteht soziale – also von mehreren Personen geteilte – Bedeutung. Produktion und Rezeption sind dabei nicht linear, sondern in Schlaufen geordnet und wechselseitig aufeinander bezogen, soweit diese beiden Momente überhaupt sinnvoll unterschieden werden können. In diesen Prozessen legen die Beteiligten mehr oder minder verbindlich fest, wie sie zu sich selbst, zueinander und zur Welt stehen und an welchem Referenzrahmen sich ihr Handeln orientieren soll. Dementsprechend ist Kultur nicht etwas Statisches, etwas, das eine Person oder eine Gruppe besitzt, sondern ein Feld der Auseinandersetzung, umstritten und durch die Handlungen vieler dauernd Veränderungen unterworfen, hier mal schneller, dort mal langsamer. Sie ist gekennzeichnet durch ein Neben-, Mit- und Gegeneinander von Prozessen der Auflösung und der Konstitution. Das Feld der Kultur ist von konkurrierenden Machtansprüchen und Machtdispositiven durchzogen. Dies führt zu Konflikten darüber, welche Referenzrahmen für welche Felder und für welche sozialen Gruppen zu gelten haben. In solchen Konflikten verschränken sich Eigen- und Fremdbestimmung bis zu einem Punkt, an dem sich beide Pole gegenseitig konstituieren. Dabei verändern sich die Bedingungen, unter denen geteilte Bedeutung und persönliche Identität hervorgebracht werden müssen.

Diese im weitesten Sinne poststrukturalistische Perspektive dient im Folgenden dazu, Ursachen und Entstehungsbedingungen kultureller Ordnungen und deren Praktiken in den Blick zu nehmen. Hierbei wird Kultur als heterogen und hybrid konzipiert, sie speist sich aus vielen Quellen, wird vorangetrieben von unterschiedlichsten Begehren, Wünschen und Zwängen, und sie mobilisiert die verschiedensten Ressourcen in der Konstituierung von Bedeutung. Die Betonung der Materialität der Kultur kommt auch im Begriff der Digitalität zum Ausdruck. Medien sind Technologien der Relationalität, das heißt, sie erleichtern es, bestimmte Arten von Verbindungen zwischen Menschen und zu Objekten zu schaffen.[7] »Digitalität« bezeichnet damit jenes Set von Relationen, das heute auf Basis der Infrastruktur digitaler Netzwerke in Produktion, Nutzung und Transformation materieller und immaterieller Güter sowie in der Konstitution und Koordination persönlichen und kollektiven Handelns realisiert wird. Damit soll weniger die Dominanz einer bestimmten Klasse technologischer Artefakte, etwa Computer, ins Zentrum gerückt werden, und noch viel weniger soll das »Digitale« vom »Analogen«, das »Immaterielle« vom »Materiellen« abgegrenzt werden. Auch unter den Bedingungen der Digitalität verschwindet das Analoge nicht, sondern wird neu be- und teilweise sogar aufgewertet. Und das Immaterielle ist nie ohne Materialität, im Gegenteil, die flüchtigen Impulse digitaler Kommunikation beruhen auf globalen, durch und durch materiellen Infrastrukturen, die von den Minen tief unter der Erdoberfläche, in denen Metalle der Seltenen Erden abgebaut werden, bis ins Weltall, wo Satelliten die Erde umkreisen, reichen. Diese sind in der Alltagserfahrung jedoch kaum sichtbar und werden daher oft ignoriert, ohne dass sie deswegen verschwinden oder an Bedeutung verlieren. »Digitalität« verweist also auf historisch neue Möglichkeiten der Konstitution und der Verknüpfung der unterschiedlichsten menschlichen und nichtmenschlichen Akteure. Der Begriff ist mithin nicht auf digitale Medien begrenzt, sondern taucht als relationales Muster überall auf und verändert den Raum der Möglichkeiten vieler Materialien und Akteure. Damit rückt meine Konzeption der Digitalität in die Nähe des Begriffs des »Post-Digitalen«, wie er in kritischen Medienkulturen seit einigen Jahren vermehrt verwendet wird. Auch hier wird die Unterscheidung zwischen »neuen« und »alten« Medien und der ganze mit ihr verbundene ideologische Ballast, etwa dass das Neue die Zukunft und das Alte die Vergangenheit repräsentiere, abgelehnt. Die ästhetischen Projektionen – Immaterialität, Perfektion und Virtualität –, die nach wie vor das Bild des »Digitalen« bestimmen, werden ebenso verworfen.[8] Vor allem im Hinblick auf diese techno-utopische Ästhetik und die mit ihr verbundenen ökonomischen sowie politischen Perspektiven positioniert sich »post-digital« kritisch. Der Begriff, so der Kulturtheoretiker Florian Cramer, verweist darauf, dass »neue ethische und kulturelle Konventionen, die in Internet-Communities und Open-Source-Kulturen zum Mainstream wurden, nun auch in der Herstellung von nichtdigitalen Medienprodukten ebenfalls Anwendung finden«.[9] Cramer benennt damit die Tendenz, dass prozessuale und auf offene Interaktion ausgerichtete Praktiken, die sich zunächst innerhalb der digitalen Medien entwickelten, mittlerweile in immer mehr Kontexten und in immer mehr Materialien auftauchen.[10]

Für die im Folgenden entwickelte Perspektive auf historische, kulturwissenschaftliche und politische Dimensionen ist der Begriff des Post-Digitalen jedoch problematisch, denn er braucht den engen Kontext der Medienkunst und deren Technikfixierung, um als Gegenposition lesbar zu werden. Ohne diesen Kontext sind Missverständnisse nicht zu vermeiden, das Präfix »post-« wird oft in dem Sinne gelesen, dass etwas vorbei sei oder dass man zumindest verstanden habe, worum es geht und sich Neuerem zuwenden könne. Das Gegenteil trifft zu. Die meisten langfristig relevanten Entwicklungen nehmen erst jetzt konkrete Form an, nachdem sich digitale Infrastrukturen und die durch sie in den Mainstream gebrachten Praktiken im Alltag breitgemacht haben. Oder wie es der Kommunikationswissenschaftler und Berater Clay Shirky ausdrückt: »Kommunikationsmittel werden erst dann sozial interessant, wenn sie technisch langweilig werden.«[11] Denn erst heute, da die Faszination für die Technologie abgeflaut ist und ihre Versprechungen hohl klingen, werden Kultur und Gesellschaft in einem umfassenden Sinne durch Digitalität geprägt. Vorher galt dies nur für bestimmte, abgrenzbare Bereiche. Diese Hybridisierung und Verfestigung des Digitalen, die Präsenz der Digitalität jenseits der digitalen Medien, verleiht der Kultur der Digitalität ihre Dominanz. In welchen konkreten Realitäten sich diese materialisieren, vollzieht sich in einem offenen Prozess, zu dessen besserem Verständnis dieses Buch beitragen will.



[1] Biddle, Dan (2014), »Five million tweets for #Eurovision 2014«, blog.twitter.com, 11. ‌05. (online). Ich verzichte bei Onlinequellen auf die Nennung der vollständigen URL. Das Internet ist keine Bibliothek, und Adressen (und die Dokumente, zu denen diese Adressen führen) sind strukturell instabil. Anstatt lange Adressen abzutippen, ist es oftmals zielführender, den Titel eines Dokuments in eine Suchmaschine einzugeben.

[2] Das Arbeitspapier »Bildungsplanreform 2015 / 16 – Verankerung von Leitprinzipien« ist online auf dem Kultusportal des Landes Baden-Württemberg verfügbar.

[3] Wolfgang Coy schlug bereits 1995 als Fortführung der McLuhan'schen Metapher den Begriff der »Turing Galaxis« vor. Dieser hat sich aber nicht durchgesetzt (Coy, Wolfgang [1995], »Von der Gutenbergschen zur Turingschen Galaxis: Jenseits von Buchdruck und Fernsehen«, Einleitung zu: McLuhan, Marshall, Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Köln: Addison-Wesley).

[4] Folgt man der Analyse des spanischen Soziologen Manuel Castells, dann trat diese Krise in den hochentwickelten kapitalistischen und realsozialistischen Gesellschaften ungefähr gleichzeitig und aus einem vergleichbaren Grund auf: Das Paradigma des »Industrialismus« hatte die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit erreicht. Im Gegensatz zu den kapitalistischen Gesellschaften, die flexibel genug waren, um die Krise zu meistern und ihre Wirtschaft neu auszurichten, versank der Realsozialismus in den siebziger und achtziger Jahren in Stagnation, bis er schließlich beim verspäteten Versuch, sich doch noch zu reformieren, zusammenbrach (Castells, Manuel [2003], Das Informationszeitalter, Bd. 3, Jahrtausendwende, Opladen: Leske + Budrich, Kap. 1).

[5] Stalder, Felix (2014), Der Autor am Ende der Gutenberg Galaxis, Zürich: Buch & Netz.

[6] Als Vorüberlegungen zu diesem Themenkomplex dienten meine Arbeiten »Autonomy and control in the era of post-privacy«, in: Open 19 (2010): Beyond Privacy. New Perspectives on the Private and Public Domains, S. 78-86 (online), und »Privacy is not the antidote to surveillance«, in: Surveillance & Society, September 2002 (online). Zur Diskussion dieser Ansätze siehe van der Velden, Maja (2011), »Personal autonomy in a post-privacy world: A feminist technoscience perspective« (working paper) (online).

[7] Entsprechend sind die neuen sozialen Medien auch Massenmedien, und zwar in dem Sinn, dass sie massenhaft verbreitete Muster sozialer Relationen prägen, die ähnlich gesellschaftsformend wirken, wie es die traditionellen Massenmedien vor ihnen getan haben.

[8] Cascone, Kim (2002), »The aesthetics of failure. ›Post-digital‹ tendencies in contemporary computer music«, in: Computer Music Journal 24 / 2 (online).

[9] Cramer, Florian (2014), »Post-digital media«, in: Andersen, Christian Ulrik, Geoff Cox und Georgios Papadopoulos (Hg.), Post-Digital Research, APRJA – A Peer-Reviewed Journal About_, 3 / 1 (online). Alle Zitate aus englischsprachigen Quellen wurden, wenn keine deutschen Übersetzungen vorlagen, vom Autor übersetzt.

[10] Im Feld der bildenden Kunst werden ähnliche Überlegungen unter dem Titel »Post-Internet Art« angestellt. Vierkant, Aarnie (2010), »The image object post-internet«, jstchillin.org (Dezember) (online), und Wallace, Ian (2014): »What is post-internet art? Understanding the revolutionary new art movement«, artspace.com, 18. ‌03. (online).

[11] Shirky, Clay (2008), Here Comes Everybody: The Power of Organizing Without Organizations, New York: Penguin Press, S. 105.