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Bernd Ahrbeck/Stephan Ellinger/ Oliver Hechler/Katja Koch/ Gerhard Schad

Evidenzbasierte Pädagogik

Sonderpädagogische Einwände

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2016

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-030778-0

 

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-030779-7

epub:    ISBN 978-3-17-030780-3

mobi:    ISBN 978-3-17-030781-0

 

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Inhaltsverzeichnis

 

 

  1. Evidenzbasierte Pädagogik? Erziehung geht anders! Zur Einleitung
  2. Ankunft im Alltag – Evidenzbasierte Pädagogik in der Sonderpädagogik
  3. Katja Koch
  4. Evidenzbasierte Pädagogik – Von der verlorenen Kunst des Erziehens
  5. Oliver Hechler
  6. ADHS und Evidenzbasierung
  7. Bernd Ahrbeck
  8. Ökonomisierung + Inklusion = Evidenzbasierte Pädagogik?
  9. Stephan Ellinger
  10. Miniaturen
  11. Gerhard Schad
  12. Autorenspiegel

 

Evidenzbasierte Pädagogik? Erziehung geht anders! Zur Einleitung

 

 

Aktuell wird die pädagogische Disziplin und Profession mit dem konfrontiert, was die betriebswirtschaftlich ausgerichtete Bildungsökonomie, empirische Bildungsforschung und Bildungspolitik als sogenannte »Evidenzbasierung« bezeichnen. Dies gilt gleichermaßen für ihre sonderpädagogischen und sozialpädagogischen Subdisziplinen.

Ganz offenbar liegt für die Pädagogik ein besonderer Reiz in der Vorstellung, man könne, auf gesicherter wissenschaftlicher Basis von spezifischen erzieherischen oder unterrichtlichen Interventionen auf spezielle Effekte schließen. Dadurch wird einem Fach ein Statusgewinn in Aussicht gestellt, das wegen der scheinbaren Unbestimmtheit seiner Aussagen immer häufiger als »weiche«, wissenschaftlich zweitrangige Disziplin gilt. Nunmehr, so scheint es, können in der Theorie Erkenntnisse entstehen, die nahezu unumstößliche Gewissheiten repräsentieren. Gemeinsam mit einer von Irritationen befreiten Praxis, die sich ihres Erfolges gewiss sein kann. Standardisierte Trainings-, Unterrichts- und Förderprogramme ersetzen die Expertise professioneller Praktiker und ignorieren die Komplexität schulischer Handlungsanforderungen bei sonderpädagogischen Zielgruppen. In den Rang einer »best practice« erhoben, wird eine möglichst große Verbreitung beansprucht – geadelt von einem Begriff, der aus der angloamerikanischen Betriebswirtschaftslehre stammt.

Der Preis, der dafür gezahlt werden muss, ist nicht unerheblich, denn eng verbunden mit dem zugrunde liegenden Wissenschaftsverständnis, dem Forschungsdesign und der daraus resultierenden Interventionspraxis ist ein ganz bestimmtes Menschenbild: Kinder, Jugendliche und Erwachsene müssen konsequenterweise als mehr oder weniger triviale Ursache-Wirkungs-Maschine angesehen werden. Der alte Traum von der gradlinigen Steuerung des Menschen gerät, wie es scheint, noch einmal in greifbare Nähe. Unbestimmtheit hat demgegenüber kaum noch einen Platz. Der Mensch wird faktisch nicht mehr als »offene Frage« begriffen, ihm somit auch keine individuelle Bildsamkeit mehr unterstellt. In der Forschung dominiert die Subsumtionslogik nach dem Motto: »Kenne ich einen, kenne ich alle!«. Die Praxis hebt darauf ab, an augenscheinlich objektivierbaren Menschen schulisch und außerschulisch Trainings- und Förderprogramme konsequent zu exekutieren.

Anliegen des vorliegenden Bandes ist die Auseinandersetzung mit dem zunehmenden Einfluss, den die Evidenzbasierung in Theorie und Praxis der Pädagogik und Sonderpädagogik gewinnt. Diese Auseinandersetzung wird in zweifacher Hinsicht geführt. Einerseits geht es darum, dass der Begriff der Evidenzbasierung auf seine Tragfähigkeit bezüglich der pädagogischen Theorie und Erziehungspraxis hinterfragt wird. Zum anderen soll aber nicht nur auf Schwachstellen dieses Paradigmas aufmerksam gemacht werden. Vielmehr ist dem Band auch daran gelegen, einen pädagogisch begründeten Gegenentwurf zu formulieren. Gewagt wird somit die Wiederaneignung der Sache der Pädagogik durch die Pädagogik selbst.

Diesem Vorhaben entsprechend, ist auch das Buch aufgebaut.

Den Anfang bildet der Beitrag von Katja Koch. Sie führt zunächst ein in die (internationale und nationale) Genese der Evidenzbasierten Pädagogik, beschreibt die Konturen des Diskurses und deckt wesentliche Differenzlinien auf. Auf dieser Grundlage beschreibt sie die Auswirkungen, die sich aus den mit der Evidenzbasierten Pädagogik verbundenen vielfältigen Interdependenzen zwischen Forschung, Praxis und (Bildungs-)Politik für die Sonderpädagogik ergeben. Vor dem Hintergrund, dass diese Auswirkungen bis dato ignoriert oder einfach »in Kauf genommen« werden, generiert sie zentrale Anfragen an das Fach Sonderpädagogik und seine Zukunft.

Ausgehend von der Explikation der konstitutionstheoretischen und erkenntnistheoretischen Verortung des Gegenstands der Pädagogik, fragt Oliver Hechler in seinem Beitrag nach den Möglichkeiten, Pädagogik als Profession zu bestimmen. Durch die Darlegung eines belastbaren Verständnisses von Pädagogik als Wissenschaft und Praxis kann abschließend beurteilt werden, ob sich der evidenzbasierte Zugriff auf die Pädagogik als Disziplin und Profession noch durchhalten lässt.

Der Beitrag Bernd Ahrbecks setzt sich mit Hyperaktivitäts-und Aufmerksamkeitsstörungen auseinander, die Lehrerinnen und Lehrer vor besondere Herausforderungen stellen – insbesondere bei schwerer beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen. Die Motive ihres Erlebens und Handelns sind oft kaum nachvollziehbar, gehaltvolle pädagogische Antworten werden dadurch infrage gestellt. Einfache Verursachungs- und Veränderungstheorien wie das »multimodale Modell«, das sich seiner Evidenzbasierung rühmt, bieten sich als Lösung an. Der Preis, der dafür gezahlt werden muss, ist allerdings beträchtlich. Ein hoch komplexes medizinisches, psychologisches und pädagogisches Gefüge wird entdifferenziert und den kindlichen Entwicklungsbedürfnissen dadurch nur unzureichend Rechnung getragen. Das pädagogische Geschehen verflacht.

Stephan Ellinger entwickelt in seinem Beitrag die Kernthese, dass ursprünglich suboptimale Entwicklungen an den Universitäten und in den Schulsystemen Deutschlands zur Ausformulierung der sogenannten »Evidenzbasierten Pädagogik« führten. Diese Lösungsphantasie wird allerdings in einigen Kreisen nicht als diskussionswürdige Folge systemischen Wandels eingestanden, sondern vielmehr als disziplinäre Weiterentwicklung behauptet. Dabei überrascht der z. T. absolute und beinahe aggressive Ton, in dem anders argumentierende Fachvertreter auf das nun geltende Paradigma verwiesen werden. Damit ist allerdings eine umfassende Legitimationskrise vorprogrammiert: Jede inhaltliche und forschungsmethodologische Verengung innerhalb der Sonderpädagogik ist sowohl mit Blick auf die Schülergruppe, deren Anwalt sie sein sollte, als auch hinsichtlich der mittelfristigen Entwicklung der Professionalität kontraindiziert und riskiert den Niedergang einer ganzen Fachkultur.

Abschließend führt Gerhard Schad aus, dass Wissenschaft und Forschung in ihrem Wandel und in ihrer aktuellen Ausformung als Indikator betrachtet werden können für einen dominierenden Zeitgeist, der unsere gesamte Kultur, Bildung, Erziehung und in zunehmendem Maße auch unsere Existenzbedingungen bestimmt. Schad versucht in seinem Beitrag, Diskussion um evidenzbasierte Forschung und evidenzbasierte Praxis in Form von Gedankenminiaturen anzureichern, die weit über die methodologische und wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung hinausweisen und den Blick öffnen können für Zusammenhänge, die für menschliche Praxis überhaupt von Bedeutung sind.

Die Autoren wünschen allen Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre, die ein Nach- und vielleicht auch Umdenken ermöglicht. In diesem Sinne wurde versucht, auf die oftmals umständlich anmutende akademische Ausdrucksweise zu Gunsten einer Schriftsprache zu verzichten, die die Sachverhalte, die uns wichtig erscheinen, möglichst unverstellt zur Darstellung bringen.

 

 

Bernd Ahrbeck
Stephan Ellinger
Oliver Hechler
Katja Koch
Gerhard Schad

Berlin, Rostock und Würzburg im Frühjahr 2016

 

Ankunft im Alltag – Evidenzbasierte Pädagogik in der Sonderpädagogik

Katja Koch

Zur Jahrtausendwende sah sich die wissenschaftliche Pädagogik aufgrund des schlechten Abschneidens des deutschen Bildungssystems in der ersten PISA-Studie harscher Kritik ausgesetzt: Weder gelänge es ihr, relevantes Wissen für die Praxis zu generieren, noch sei sie in der Lage, Antworten auf drängende bildungspolitische Fragen zu geben. Dies führte zu einer umfassenden Neuorientierung auf mehreren Ebenen: Programmatisch für die Bildungspolitik wurde die datengestützte und wirksamkeitsorientierte Steuerung des Bildungssystems (»Neue Steuerung«), erklärte Aufgabe der Bildungsforschung in diesem Kontext wurde, Daten für Praxis und Politik in Form von empirischen Wirksamkeitsnachweisen zu produzieren. Unter der Leitidee »What works?« etablierte sich die empirische Pädagogik in der Folge zu einer sog. evidenzbasierten Bildungsforschung.

Die wissenschaftliche Sonderpädagogik blieb von der Kritik im Gefolge der PISA-Studie weitestgehend »verschont«. Zu klein und zu unbedeutend ihre Zielgruppe, dementsprechend wenig politisch beachtet die Forschungsergebnisse aus ihrem Fach. Spätestens mit der durch die UN-Konvention motivierten, politisch gesteuerten Inklusionsbewegung geraten jedoch die originären Zielgruppen der Sonderpädagogik in den Blick. Immer deutlicher stellen sich auch hier Fragen nach Evidenzen: Zum einen geht es um die Wirksamkeit der Sonderschulen, die bis dato unhinterfragt als Beschulungslösung für die Kinder mit Behinderungen fungierten. Gleichzeitig steigt das Bedürfnis in den allgemeinen Schulen, effektive, d. h. wirksame Fördermethoden und Interventionen »in die Hand« zu bekommen, um die neue Aufgabe erfolgreich bewältigen zu können, nämlich die Unterrichtung und Erziehung von Kindern mit unterschiedlichsten Förderbedarfen. Mit dem bildungspolitischen und praktischen Bedarf nach Wirksamkeitsnachweisen geht ein enormer Bedeutungsanstieg der wissenschaftlichen Sonderpädagogik einher: Die ehemals mehrheitlich kleinen Institute prosperieren, an zahlreichen Universitäten erfolgen Neugründungen. Große Forschungsprojekte werden gefördert, zahlreiche Kolleginnen und Kollegen sind bildungspolitisch beratend tätig. Die durch die politische Relevanz der Zielgruppen gestiegene Sichtbarkeit der Sonderpädagogik, ihre im Kontext der »Neuen Steuerung« entstandene »Salonfähigkeit«, hat zu einem massiven Aufschwung der empirisch-wissenschaftlichen Forschungstätigkeit geführt. Sonderpädagogik heute forscht evidenzbasiert für eine evidenzbasierte Politik und eine ebensolche Praxis! Die Idee der »Evidenzbasierten Pädagogik« ist in der Sonderpädagogik »angekommen«: sowohl im »Alltag« der wissenschaftlichen Disziplin als auch in dem der schulischen Praxis. Und die Sonderpädagogik ihrerseits ist angekommen in der neuen Bildungswissenschaft.

Fast kurios mutet an, wie wenig die in ihren Wurzeln sozialkritisch orientierte wissenschaftliche Sonderpädagogik die intensive und umfassende Wirkung zur Kenntnis nimmt, Welche die Idee der Evidenzbasierten Pädagogik inzwischen auf die eigene Disziplin entfaltet. Die zahlreichen, diesseits wie jenseits des Atlantiks geführten erziehungswissenschaftlichen, soziologischen und politikwissenschaftlichen Diskurse um Evidenzbasierte Pädagogik werden durch die Sonderpädagogik kaum rezipiert. Die Dynamiken, die aus der engen Verschränkung zwischen evidenzbasierter Bildungsforschung, evidenzbasierter Praxis und evidenzbasierter Bildungspolitik als Bestandteile der »Evidenzbasierten Pädagogik« einhergehen, werden für das eigene Fach kaum reflektiert. Stattdessen erfolgt die Neu-Orientierung des Faches relativ unkritisch und stark verkürzt mit dem Fokus auf der Bereitstellung von Wirkungswissen. Mit der Ignoranz gegenüber den zahlreichen Problematiken, die im Zusammenhang mit dem Programm einer »Evidenzbasierten Pädagogik« diskutiert werden, sind jedoch (auch) für die Sonderpädagogik einige Gefahren verbunden.

Die »Ankunft im Alltag« soll in diesem Beitrag zum Anlass genommen werden, Bilanz zu ziehen und zu analysieren, welche Anfragen sich aus den Diskursen um »Evidenzbasierte Pädagogik« an das wissenschaftliche Fach Sonderpädagogik ergeben.1

Im ersten Teil des Beitrages wird zunächst den Spuren der »Evidenz-Bewegung« sowie ihren Effekten auf die Bildungsforschung und deren Methoden nachgegangen, ebenso werden die Konturen des Diskurses sowie die wesentlichen Differenzlinien nachgezeichnet. Im zweiten Teil wird die Perspektive darauf gerichtet, wie sich die Sonderpädagogik in diesen Diskursen verortet (oder auch nicht), welche Gefahren in einer verkürzten und unkritischen Übernahme liegen, welche Anfragen sich für die Sonderpädagogik ergeben und welche Aspekte der Debatte für die Disziplin fruchtbar gemacht werden könnten und sollten.

1           Genese des Programmes einer Evidenzbasierten Pädagogik2

 

Die Idee, die Pädagogik in ein Feld evidenzbasierter Praxis3 zu verwandeln, basiert international auf einer grundsätzlichen Kritik an Qualität und Bedeutung der Bildungsforschung (inkl. Erziehungswissenschaft und Pädagogik). In Großbritannien beklagen exemplarisch Tooley-Report (Tooley/Darby 1998) und Hillage-Report (1998), dass Forschung keine generalisierbaren und reliablen Ergebnisse liefere, dass sie methodisch unzureichend sei und kaum relevantes Wissen kumuliert werde, um die praktische Arbeit zu einer forschungsbasierten professionellen Tätigkeit zu entwickeln. Handlungen und Entscheidungen von Politikern und Praktikern seien demzufolge nur unzureichend durch Forschungsbefunde basiert (Biesta 2011, 96; Schrader 2014, 197). Coe verfasst daraufhin ein vielbeachtetes Plädoyer für evidenzbasierte Bildungsreformen und votiert für experimentelle Feldstudien als Forschungsstandard (Coe 1999).

Ähnlich zeigt sich diese Entwicklung auch für die Vereinigten Staaten: Auf Basis des National Council Report konstatieren Feuer et al. (2002, 28) fehlende oder schwache Theorie, geringe praktische und politische Relevanz, keine empirische Forschung nach anerkannten Konventionen, geringes Maß an Replizierbarkeit der Befunde und Ideologieanfälligkeit. Auch hier werden experimentell gestützte, kausale Erklärungen der Effektivität pädagogischer Programme gefordert.

Sowohl für Großbritannien als auch für die USA lassen sich in der Folge diverse Bemühungen nachzeichnen, die das Ziel verfolgen, die konstatierte Kluft zwischen Forschung, Praxis und Politik zu schließen. Insbesondere durch die Gründung von Netzwerken und Informationszentren, welche die Ergebnisse der Bildungsforschung systematisch zusammengefasst zur Verfügung stellen, erhoffte man sich einen optimierten Transfer von Forschungsergebnissen in pädagogische und politische Institutionen (EPPI-Centre). Mit dem US-amerikanischen »No Child left Behind-Gesetz« (NCLB) im Jahr 2002 erhält das Postulat der »Evidenzbasierung« eine neue Dimension: Mit diesem Gesetz wurde, so Tenorth (2014, 8), nicht nur ein bildungspolitisches Programm formuliert, sondern gleichzeitig definiert, was unter wissenschaftlicher Forschung (»Scientifically Based Research«) zu verstehen sei: nämlich eine Forschung, die strenge, systematische und objektive Verfahren anwendet, um reliables und valides Wissen mit sowohl theoretischer als auch praktischer Relevanz zu generieren. Verbunden ist diese Definition mit Erwartungen an das Design wissenschaftlicher Untersuchungen: Gefordert werden experimentelle und quasi-experimentelle Designs, bevorzugt mit randomisierten bzw. parallelisierten Stichproben. Die Studien sollen so klar und detailliert dargestellt werden, dass sie systematische Replikationsstudien ermöglichen und sie sollen vor der Publikation in einem Fachjournal eine strenge, objektive und wissenschaftliche Überprüfung durchlaufen4.

Im Rahmen des NCLB-Programms wurden detaillierte Kriterienkataloge ausgearbeitet, wie Forschungsqualität zu bewerten ist. Mit dem »What Works Clearinghouse« (WWC) schließlich entstand eine Institution mit dem erklärten Ziel »[to] provide educators with the information they need to make evidence-based decisions« (Institute of Education Sciences 2014).

Mittels diesen politisch (!) bestimmten Kriterien von Wissenschaftlichkeit werden zugleich Rahmenbedingungen für die Förderung von Forschung abgesteckt: Nur solche Programme sollen staatliche Fördermittel erhalten, die auf evidenzbasierter Forschung beruhen, ebenso soll die Evaluation solcher Programme diesem Forschungstypus entsprechen.

Als Vorbild der evidenzbasierten Pädagogik gilt übrigens die bereits ältere Tradition der »Evidence-based Medicine« (EbM) (z. B. Jornitz 2009, 70). EbM meint, dass die Versorgung individueller Patienten immer auf der Grundlage der besten wissenschaftlichen Evidenz zu basieren habe. Unter evidenzbasierter Praxis versteht man hier »die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestverfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung« (Sackett et al. 1996, 71). Gleichzeitig werden sowohl einheitliche Standards für Konzeption und Durchführung, als auch klare Kriterien für die Bewertung medizinischer Studien festgelegt. Die Evidenzkriterien der EbM orientieren sich an der Aussagekraft wissenschaftlicher Erkenntnismethoden.5

Das international breit rezipierte und stark propagierte Programm fand auch in Deutschland schnell Aufmerksamkeit. Hier hatten im etwa gleichen Zeitraum die internationalen Schulleistungsuntersuchungen (und das schlechte Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler) breite sowohl wissenschaftsinterne als auch politisch-öffentliche Diskussionen veranlasst. Initiiert und angeleitet durch die OECD wurden, ebenso in diesem Zeitraum, in mehreren Bundesländern erziehungswissenschaftliche Institute evaluiert. Das Ergebnis war relativ einheitlich, die »Mängelliste« liest sich ernüchternd und ähnelt in Wesentlichem den o. g. internationalen Befunden: geringe wissenschaftliche Qualität, wenig internationale Sichtbarkeit, geringes Maß an eingeworbenen Drittmitteln, keine übergreifenden Forschungsprogramme, geringe praktische Relevanz (Tenorth 2005, 28). Dies führte auch in Deutschland im Zeitraum zwischen PISA (2000) und TIMSS (2007) zu einer umfassenden Neuorientierung auf mehreren Ebenen: Auf der politischen zu einer datengestützten und outcomeorientierten Steuerung des Bildungssystems (»Neue Steuerung«), in der Bildungsforschung zum Bemühen um die Produktion der benötigten Daten. Dokumentiert wird diese »empirische Wende« u. a. durch das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung eingerichtete »Rahmenprogramm zur Förderung der empirischen Bildungsforschung« (BMBF 2007). Prominent wird hier die Notwendigkeit konstatiert, »im Zuge der Umsteuerung zu einer evidenzbasierten und am Output orientierten Steuerung in hohem Maße empirisch belastbares Wissen für Reformprozesse zur Verfügung zu stellen« (BMBF 2007, 2). Dieses Programm legt den Grundstein zu einer umfangreichen Förderung der Variante von Bildungsforschung, deren erklärtes Ziel es ist, »systemrelevantes Steuerungswissen bereitzustellen und damit den Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen in Bildungspolitik und -praxis zu verbessern« (Tippelt/Claassen 2010, 22 f.). Zum wesentlichen Ankerpunkt für Qualitätsentwicklung im Bildungssystem werden somit nachweisbare Ergebnisse und Leistungen, zentrale Grundlage dafür ist das Programm der evidenzbasierten Pädagogik mit den drei wesentlichen Bereichen evidenzbasierte Praxis (evidence-based practice), evidenzbasierte Bildungsforschung (evidence-based educational research) und evidenzbasierte Politik (evidence-based policy).

2           Konturen und Differenzlinien des Diskurses

Das Programm der Evidenzbasierten Pädagogik wurde im englischsprachigen Raum von Anfang an, später auch in Deutschland von zahlreichen kritischen Diskursen begleitet. Im Folgenden werden zentrale Debatten und wesentliche Differenzlinien nachgezeichnet.

Was ist Evidenzbasierte Bildungsforschung?

Die o. g. beschriebene Kritik trifft die Bildungsforschung mitten in ihrem Selbstverständnis: So dreht sich der Diskurs 1.) um die Frage, was genau evidenzbasierte Bildungsforschung sein soll und welche Forschungsstrategien/Methoden sich an dieses Verständnis anschließen. Zum anderen geht es 2.) um die grundsätzliche disziplinäre Identität der Pädagogik.

1.) Die Forderung nach empirischer Evidenz ist fachwissenschaftlich im Prinzip nicht neu. Bereits 1962 hatte Roth eine »realistische Wendung« der Pädagogik und mit ihr die Orientierung von Pädagogik und Praxis an empirischer Gewissheit anstelle pädagogischer Normativität gefordert. Neu hingegen, so Tenorth (2014, 6), ist zum einen die Idee der konsequenten Grundlegung empirischer Evidenz für praktische und politische Entscheidungen (und Handlungen), zum anderen die strenge Fokussierung auf Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge und die damit einhergehende Präferenz eines bestimmten methodischen Vorgehens in Verbindung mit der Präferenz für pädagogisch-psychologische Theorieprogramme.

Auf die Methodik der Produktion von Wirksamkeitswissen bezogen lassen sich zwei grundlegende Standpunkte unterscheiden: a) Ausgehend davon, dass in jeglicher Art von empirischer (Bildungs-)Forschung theoretische Aussagen systematisch und intersubjektiv nachvollziehbar mit empirischen Verfahren geprüft bzw. begründet werden, gibt es unterschiedliche methodische/methodologische Forschungszugänge. Diese Auslegung von Evidenz plädiert für die Pluralität von Methoden. Dem gegenüber steht b) ein enges Verständnis von Evidenz, bei dem unter evidenzbasierter Pädagogik ein Ansatz verstanden wird, der nicht mit dem unter a) genannten weiten Verständnis empirischer Bildungsforschung gleichgesetzt werden kann (Bellmann/Müller 2011a, 14). Wissen darüber, »What works«, rekurriert immer auf den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. Evidenz ist demzufolge stets Wissen über kausale Zusammenhänge und nicht jedwedes wissenschaftliche, auch nicht empirisch gewonnene Wissen. Wissen über kausale Zusammenhänge wiederum könne ausschließlich durch experimentelle, randomisierte kontrollierte Studien6 generiert werden. In diesem Verständnis verbindet sich empirische Bildungsforschung mit einer Allein- oder zumindest deutlichen Vorrangstellung experimenteller Studiendesigns. Obwohl der »Goldene Standard« experimenteller, randomisierter Studien im pädagogischen Feld nicht immer zu realisieren ist7, so die (rein) forschungspragmatisch (nicht erkenntnistheoretisch) motivierte Relativierung, misst sich die Qualität einer Evidenzaussage immer an der höchsten Qualität, mithin am »Goldstandard«. Qualitätsmessung erfolgt, orientiert am medizinischen Paradigma, in sog. Stufen (oder Graden) von Evidenz, welche durch die jeweils eingesetzten empirischen Methoden bestimmt sind. Verbreitet ist eine Einteilung, auf deren oberster Stufe Befunde stehen, deren Evidenz durch mehrere randomisierte Feldstudien oder wenigstens eine Metaanalyse nachgewiesen wurde. Auf der zweiten Stufe folgen Befunde aus mindestens einer randomisierten Feldstudie, auf Stufe drei Befunde aus gut designten quasi-experimentellen Studien, Stufe vier bilden Befunde aus vergleichenden und korrelativen Fallstudien und auf Stufe 5 befinden sich Befunde aus Einzelfallstudien (vgl. Fußnote 5).

Auffällig ist, dass sich in Deutschland auch Forschungsansätze mit dem Begriff Evidenzbasierung identifizieren, die den strengen Kriterien des originären Paradigmas kaum genügen. Während Coe postuliert, »evidence must come from experiments in real contexts. ›Evidence‹ from surveys or correlational research is not a basis for action« (Coe 1999), gelten indikatorengestützte Bildungsberichterstattung (surveys) und Korrelationsanalysen (correlational research) in Deutschland als Formen evidenzbasierter Forschung (vgl. Bellmann/Müller 2011a, 22). Ebenso nehmen (in der jüngeren Diskussion) die Plädoyers für Mixed Methods Strategien zu (vgl. z. B. Prenzel 2012; Helsper/Klieme 2013).

2.) Eine weitere Debatte fokussiert die Identität der Disziplin Pädagogik. Konstatiert wird eine (qua Evidenzforderung und Forschungsförderung) politisch gesteuerte Transformation der Erziehungswissenschaft in eine stark psychologisch geprägte »Bildungswissenschaft«8. Pädagogik, so die OECD (2002, 9), sei keine eigenständige Disziplin, sie brauche zwingend Hilfe aus anderen Disziplinen. Noch immer in einem primitiven Stadium der Entwicklung, sei sie eine Kunst, keine Wissenschaft. Dass die Frage nach der Formung und Entwicklung des Menschen im gesellschaftlichen Kontext rein psychologisch beantwortet werden kann, wird nicht angezweifelt.

Ebenso grundsätzlich diskutiert werden der Stellenwert und die Bedeutung der Empirie in der Bildungsforschung. Kritisiert wird die Engführung auf ein »technologisches und utilitaristisches Verständnis von Wissenschaft, das die Evidenz von Forschung nur nach ihrer praktischen und bildungspolitischen Verwertbarkeit beurteilt« (Schüßler 2012, 63). Laut Biesta (2011, 117) konzentriere sich die Diskussion über evidenzbasierte Pädagogik übermäßig auf »technische Fragen«, es ginge insgesamt um eine rein technologische Erwartung an die Forschung, nämlich um die Antwort auf die Frage »Was wirkt?«. Bildungsforschung darf sich aber nicht darauf beschränken, die Effektivität pädagogischer Mittel zu untersuchen, sondern muss ebenso die Erwünschtheit pädagogischer Ziele untersuchen. Die Identifizierung von Bedingungen für wünschenswerte Effekte kann nicht ohne eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage stattfinden, was wünschenswerte Effekte für wen bedeuten. Daher muss immer auch eine bildungstheoretische Analyse hinzutreten. Evidenzbezug als steuerungspolitische Strategie setzt allerdings erst jenseits von Interessen-, Norm- oder Wertekonflikten ein, ein Wertbezug wird, so Emmerich (2014, 100), zwar nicht geleugnet, aber aus dem Zweckbezug ausgeschlossen.

Die Bereitstellung instrumentellen Wissens ist nur eine Variante, wie Bildungsforschung pädagogische Praxis aufklären und entwickeln, wie sie praktisch tätige Pädagogen unterstützen kann, ihre Praxis zu sehen oder eben auch anders zu sehen (Biesta 2011, 114). Die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit normativen und politischen Fragen darüber, was pädagogisch wünschenswert ist, bleibt im Evidenzparadigma vollkommen unbeachtet. Biesta argumentiert, dass pädagogische Praxis ihrem Wesen nach nicht-kausal und normativ sei und dass Pädagogen demzufolge immer auch Urteile darüber fällen müssen, was pädagogisch wünschenswert ist. Die Erforschung dessen, was wirkt, könne solche normativen Urteile nicht ersetzen. Zudem schränke sie das Recht der Pädagogen ein, von ihrer Urteilskraft darüber, was in einer bestimmten Situation pädagogisch wünschenswert ist, Gebrauch zu machen, obwohl es der empirischen Befundlage möglicherweise nicht entspricht.9

Zum Verhältnis zwischen Forschung, Praxis und Politik10

Jenseits methodischer bzw. methodologischer Fragen ist Evidenz auch Gegenstand eines intensiven forschungs- und bildungspolitischen Diskurses, rege diskutiert wird das Verhältnis der drei Bereiche Evidenzbasierter Pädagogik: das Verhältnis mithin zwischen evidenzbasierter Praxis, evidenzbasierter Bildungsforschung und evidenzbasierter Politik.

Konsens (im Spektrum der Kritiker) besteht darüber, dass sich dieses Verhältnis nur als »Dreiecksverhältnis« in dem Sinne denken lässt, dass jeder Bereich eine je spezifische Beziehung zu jedem anderen Bereich hat. Die Vielfalt und Komplexität möglicher Verhältnisbestimmungen zwischen Forschung als Produzent von Wissen sowie Politik und Praxis als Abnehmern dieses Wissens demonstriert sich bereits im Spektrum der verwendeten Ausdrücke, welches von »evidenzinformiert« (evidence-informed) über »evidenzbeeinflusst« (evidence-influenced) bis hin zu »evidenzbasiert« (evidence-based) reicht, um nur einige Varianten zu zitieren.

Zur Analyse der jeweiligen Beziehungen werden aus dem »Beziehungsdreieck« zunächst einzelne Paar-Konstellationen analysiert, wobei gleichzeitig darauf eingegangen wird, wie sich Dynamiken auch über die jeweilige Paar-Konstellation hinaus auswirken können.

Grundsätzlich geht es bei den nachfolgenden Ausführungen um die Frage: Wer informiert, beeinflusst bzw. basiert da wen, in welcher Weise, mit welcher Absicht und welche Folgen hat dies auf weitere Beziehungen innerhalb des »Dreiecks«?

Verhältnis Forschung & Politik

Grundidee einer evidenzbasierten politischen Steuerung des Bildungswesens ist die Kontrolle über die Kausalitätsbedingungen innerhalb des Erziehungssystems und damit der Gewinn von Einfluss auf operative Strukturen. Die Bildungswissenschaften sollen dafür Handlungs-, Entscheidungs- und Steuerungswissen zur Verfügung stellen. Der Diskurs fokussiert insbesondere die enge Verknüpfung zwischen Forschung und Steuerung, die dem Begriff Evidenz eine gesellschaftliche Funktion gibt.

Intensiv problematisiert wird in diesem Zusammenhang die Gefahr, dass die staatliche Förderpolitik selbst nur noch solche Projekte fördert, die a) entsprechendes Steuerungswissen produzieren oder b) über Forschung ermittelte Effizienzkriterien in die pädagogische Praxis implementieren wollen (Schüßler 2012, 54; Tenorth 2014, 8). Gespeist wird diese Befürchtung durch die Tatsache, dass mit dem Evidenzparadigma gleichzeitig Kriterien von Wissenschaftlichkeit (NCLB-Gesetz) bzw. ein bestimmtes methodologisches Vorgehen postuliert werden. Dies verhindert nicht nur die Unabhängigkeit von Wissenschaft und Forschung, es greift auch massiv in die interne Struktur der (Erziehungs-)wissenschaft ein. »Hebel« dafür ist die großzügige Finanzierung einer »empirischen Bildungsforschung« (bis hin zur Schaffung außeruniversitärer Strukturen, wie z. B. DIPF), die im direkten politischen Auftrag agieren (Radtke 2013, 13).

Die empirische Bildungsforschung wird so zum Dienstleister der Bildungspolitik (Buchhaas-Birkholz 2009, 27), zum »zuverlässige[n] Lieferanten administrativ verwertbaren Wissens« (Radtke 2013, 13). Von Forschung im Rahmen der Evidenzbasierten Pädagogik wird lediglich die Erfüllung einer technischen Aufgabe verlangt.

Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang zudem auf die Gefahren, die sich aus der Vermarktung »evidenzbasierter Produkte« qua Gütesiegel einer Prüfstelle, wie sie bspw. das »What Works Clearinghouse« darstellt, ergeben. Wenn die »Produktion von Evidenz« »von einer entsprechend lancierten staatlichen Forschungsförderung […] oder von renditeorientierten privaten Forschungsinvestitionen« abhängig wird, könnte dies zu einer »politisch gewollten (Um-)Gestaltung der Forschungslandschaft« führen (Bellmann/Müller 2011, 17 f.; Schüßler 2012, 55).

Auch die Metaanalysen, die als hohe Stufe der Qualität von Forschung gelten, werden kritisch hinterfragt. So sieht Jornitz (2009) Metaanalysen als Instrument, machtpolitisch einen Herrschaftsanspruch durchzusetzen: Indem methodisch nicht kompatible Forschung aus den Reviews herausfällt, wird jene auch nicht mehr in die Destillierung von Evidenz eingeschlossen (73 f.). Ein wissenschaftlicher Diskurs darüber, welche Methode zu welchem Ergebnis führt, werde nicht mehr geführt, ein Teil von Wissenschaft werde damit gleichsam »exkommuniziert« (70). Konsequent weitergedacht bedeutet dies: Indem sie sich auf diese Weise ihre Deutungshoheit über »Evidenz« erhalten, kann für einzelne Forschungsrichtungen ein wesentlicher Gewinn an Reputation und finanzieller Förderung resultieren.

Schlussendlich muss auch gefragt werden, inwieweit Politik als Akteur überhaupt beeinflussbar ist. In diesem Zusammenhang wird konstatiert, dass »die vielfältigen Interaktionen zwischen wissenschaftlichen, staatlichen, professionellen und zivilgesellschaftlichen Akteuren (Stiftungen, Verbände, Medien usw.) und deren Wirkungen […] für den Bildungsbereich […] noch kaum hinreichend erforscht« sind (Schrader 2014, 212). Die Bereitschaft und Fähigkeit der Politik zu forschungsbasierten Reformen ist insgesamt wohl eher skeptisch zu sehen, vielfach ist der Umgang mit Forschungsbefunden eher von machtpolitischen Interessen geleitet (Dedering et al. 2003).

Verhältnis Forschung & Praxis

Zentral für die im Programm der evidenzbasierten Pädagogik postulierte praktische Relevanz gewonnener Evidenzen ist die Übertragbarkeit der Studien in die Praxis pädagogischer Felder. Ein Evidenzverständnis, das sich lediglich am Postulat von Wirksamkeitsnachweisen orientiert, muss für den pädagogischen Bereich als wenig praxisrelevant angezweifelt werden. Während die Überprüfung der Wirksamkeit (efficacy) unter den kontrollierten und standardisierten Bedingungen des Experiments erfolgt, zeigt sich die Wirkung (effectiveness) erst unter den Bedingungen der realen Alltagspraxis. Eine Übernahme des medizinischen Konzepts der Evidenzbasierung wird nach Berliner (2002, 20), auf den die Debatte in der Regel verweist, insbesondere durch drei grundsätzliche Charakteristika des Bildungsbereichs erschwert: die Macht des komplexen Kontextes und seiner Einflüsse, die Allgegenwart von Interaktionen und die geringe »Halbwertszeit« der Befunde empirischer Bildungsforschung. Die ersten beiden Aspekte beschreiben das »unentwirrbare und experimentell unkontrollierbare Mehrebenengefüge von Wirkfaktoren und Interaktionen in institutionellen Lehr-Lern-Kontexten wie z. B. dem Klassenzimmer« (Pant 2014, 81). Geringe »Halbwertszeit« meint, dass selbst solide gewonnene Befunde über empirische Evidenz aufgrund des sozialen Charakters pädagogischer Phänomene sowie der historischen Relativität schnell veralten können. Insbesondere die Komplexität des Kontexts und der kontextbezogenen Interaktionen macht es nahezu unmöglich, einzelne Faktoren zu isolieren und ihren Effekt, geschweige denn die Effekte für konkrete Kontextkonstellationen, abzuschätzen. Obgleich Berliner hiermit sowohl die interne, als auch die externe Validität von Experimenten bedroht sieht, empfiehlt er nicht, vom Anliegen der Kausalforschung Abstand zu nehmen, denn problematisch sei nicht das Experiment als Methode, sondern die Interpretation bzgl. Praxisrelevanz und -übertragbarkeit seiner Befunde. Die einschlägige Diskussion thematisiert, neben der internen11, vor allem die externe Validität experimenteller Studien, mithin also die Wirkungen unter Realbedingungen.12 Gerade der Kernbereich des Berufsfeldes von Lehrerinnen und Lehrern, nämlich der Unterricht, ist hochkomplex, schwer durchschaubar, kaum kontrollierbar und nur bedingt planbar. Experimente aber basieren immer auf der Reduktion von Komplexität: Kontexte werden fragmentiert, indem sie in einzelne Faktoren zerlegt werden. Der Praktiker jedoch muss mit Bedingungen rechnen, die im Experiment per Design ausgeschlossen werden: Multikausalität, Interaktionen zwischen bedingenden Faktoren, nichtlineare Beziehungen, Feedbackschlaufen, dynamische Prozesse, die das Kausalgefüge laufend verändern. Während der Forscher ein komplexes Phänomen analysieren und fragmentieren kann, kann dies der Praktiker nicht. Er muss, oft unter Zeitdruck, auf unvorhersehbare Ereignisse, die zudem niemals gleich sind, reagieren. Das heißt, selbst wenn die Bildungsforschung ausschließlich experimentell forschen würde, wäre der Anspruch der Evidenzbasierten Pädagogik, Wissen bereitzustellen, das die Bedingungen, unter denen pädagogische Zielzustände per Intervention erreicht werden, exakt beschreibt, nicht einlösbar (Herzog 2011, 136). Das Bild, das die Bildungsforschung von der pädagogischen Wirklichkeit zeichnen kann, beruht auf Annäherungen und Vereinfachungen, es ist kaum zu erforschen, welche Ursachen mit welchen Wirkungen in welcher Beziehung stehen.

Obwohl die Übertragbarkeit ins praktische Feld gerade in der deutschen Diskussion verstärkt betont wird, bleibt die in den Evidenz-Stufen-Modellen angelegte klare Hierarchisierung der Methoden und damit eine Dominanz experimenteller, randomisierter Studien und Metaanalysen unwidersprochen.

Wenn, so der erklärte Anspruch, Evidenzforschung veränderungsrelevantes Wissen generieren soll, welches der Praxis eine solide Basis für professionelles Handeln bietet, stellt sich die Frage, was die Praxis überhaupt mit diesem Wissen anfängt. Diese Frage wird ausführlich als die Frage nach dem Wissenstransfer in die Praxis problematisiert. Hier wird insbesondere auf die Eigenlogik professioneller Akteure als Hürde sowie auf zahlreiche »Implementationsbrüche« bei der Umsetzung empirischer Erkenntnisse in alltägliches Handeln hingewiesen (z. B. van Ackeren et al. 2011; Zlatkin-Troischanskaja et al. 2012). Inzwischen gibt es zahlreiche Befunde über Bedingungen, von denen ein gelungener Transfer abhängig ist. Insbesondere wird darauf verwiesen, dass die breite Nutzung von Forschungsevidenz durch Praktiker von der »Übersetzung der Forschungsbefunde« in praktisch nutzbare Produkte (z. B. Lehrmaterialien u. ä.) abhänge (Radcliffe et al. 2005). Als zentral erweisen sich ebenso die angebotenen Kooperationsstrukturen für Lehrkräfte sowie deren Motivation (Gräsel 2008, 203).

Kritisiert wird in diesem Zusammenhang insbesondere die sog. Top-Down-Logik evidenzbasierter Reformstrategien, die allein die Wissenschaft als Produzenten von Wirksamkeitswissen zulassen, welches alsdann in der Praxis umgesetzt werden soll. Eine seitens der Praxis vollzogene Weiterentwicklung oder Veränderung von Innovationen wird »eher als unerwünschte Entwicklung betrachtet« (Gräsel 2010, 15). Gräsel plädiert für partizipative Transferstrategien, die Akteure mit unterschiedlicher Expertise einbeziehen. Hier erfährt die Dissemination von evidenzbasiertem Wissen mithilfe von Informationsstellen (wie es das »What Works Clearinghouse« darstellt) eine deutliche Weiterentwicklung.

Auch machtpolitische Aspekte spielen im Diskurs eine wesentliche Rolle: Mittels des forschungsgestützten »Evidenzprogramms« kann bildungspolitisch direkt auf die Gestaltung der Praxis eingewirkt werden. Dies weckt, so auch Herzog (2011, 123), den Verdacht, dass es sich bei der Evidenzbasierten Pädagogik »nicht um ein pädagogisches, sondern um ein politisches Programm« handele, »dessen Zweck in der besseren Kontrolle der pädagogischen Praxis liegt«. Via Forschung sollen »Top Down« politische Interessen durchgesetzt werden, Forschung bekommt damit eine systemerhaltende Funktion. In diesem Zusammenhang muss auch beachtet werden, dass die Faszination administrativer und politischer Entscheidungsträger für die Evidenzbasierung auch in ihren potenziell kostendämmenden Effekten begründet liegen könnte. Cholewa (2010, 53) verweist hierzu auf die rechtliche Verankerung des Leitgedankens im Sozialgesetzbuch V.

Als ein Fazit der Debatte lässt sich konstatieren, dass sich das Programm der Evidenzbasierten Pädagogik nicht nur rhetorisch, sondern auch organisatorisch in seiner Verbindung von Wissenschaft und Politik zu einer Wirklichkeit eigener Art »mit monopolistischen Tendenzen« (Tenorth 2014, 7) vedichtet hat. Evidenz scheint zur Allzweckwaffe gegen jegliche Krise im Kontext Schule, zum Breitbandantibiotikum für alles, woran Bildung, ob als Bildungsforschung, als pädagogische Praxis oder als Bildungspolitik, krankt, geworden zu sein. Selbstinszenierung (Jornitz 2009, 75) und Selbstvermarktung (Gruschka 2013, 5) von Wissenschaft spielen dabei einträchtig zusammen13.

Allerdings finden sich in der Evidenzbasierten Pädagogik weder ein hinreichendes Forschungsprogramm noch eine disziplinäre Identität.

3           Vom Diskurs in der Sonderpädagogik14

 

Die Sonderpädagogik bleibt von der Kritik im Gefolge der PISA-Studie zunächst weitestgehend »verschont«. Ihre originäre Zielgruppe, Kinder mit Beeinträchtigungen in verschiedensten Bereichen ihrer Entwicklung, gerät erst mit dem Beginn der (politisch gesteuerten) Inklusionsbewegung in den Blick der Bildungspolitik. Immer deutlicher treten nun Fragen in den Vordergrund, die die Effektivität von Sonder(schul)systemen thematisieren, welche bis dato (von politischer Seite) relativ unhinterfragt als Beschulungslösung für die Kinder mit Beeinträchtigungen/Behinderungen galten. Mit deren Ankunft im Alltag der allgemeinen Schulen jedoch steigt dort die Nachfrage nach effektiven, d. h. wirksamen Fördermethoden und Interventionen, um die neue Aufgabe, die Unterrichtung und Erziehung von Kindern mit unterschiedlichsten Förderbedarfen, erfolgreich bewältigen zu können15.

Die Sonderpädagogik kann zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine längere Tradition der Interventionsforschung16