Zum Buch:

Niemals hätte Reeve gedacht, dass sie nach The Point zurückkehren würde, erst recht nicht, um den ihr so verhassten Ort zu retten. Doch einmal im Leben möchte sie das Richtige tun. Deshalb wendet sich Reeve an den einzig guten Menschen im Bezirk: den Cop Titus King. Der Mann, der schon immer eine unbändige Begierde in ihr weckte, ihr allerdings nicht gehören kann. Genau diese Leidenschaft, die zwischen ihnen beiden lodert, könnte ihr und Titus in dieser gefährlichen Mission zum Verhängnis werden.

„Jay Crownover weiß, wie man originelle Charaktere erschafft und Liebesgeschichten, die komplex und einzigartig sind – nicht zu vergessen die Extraportion Erotik.“

Romantic Times Book Reviews

Zur Autorin:

Jay Crownover ist ein großer Fan von Tattoos, wie sich deutlich an ihren Romanhelden sehen lässt. Sie liebt Musik und wäre liebend gerne ein Rockstar. Da sie bedauerlicherweise weder singen noch ein Instrument spielen kann, hat sie sich fürs Schreiben entschieden. Für sie geht nichts über eine gute Story mit interessanten Charakteren, die den Leser berühren.

Lieferbare Titel:

The Point – Entfesselte Sehnsucht

The Point – Wilde Hingabe

Jay Crownover

The Point –
Unbändige Begierde

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Ira Panic

 

 

 

MIRA® TASCHENBUCH

 

 

MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuchr
in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Better When He’s Brave
Copyright © 2015 by Jennifer M. Voorhees
erschienen bei: William Morrow, New York

Published by arrangement with
William Morrow, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln
Umschlaggestaltung: any.way, Barbara Hanke / Cordula Schmidt
Titelabbildung: Shutterstock / Kiselev Andrey Valerevich

ISBN eBook 978-3-95649-956-2

www.mira-taschenbuch.de
Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook!

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

 

 

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Dieses Buch ist dem bösen Mädchen in uns allen gewidmet.
Die Bitch weiß, wie man Spaß hat!
Und man sollte ihr dabei besser nicht in die Quere kommen.

Einleitung

Manches, was in The Point passiert, ist haarsträubend und überzeichnet, und genau so liebe ich es! Denn das ist einer der Gründe, warum es so viel Spaß macht, diese Reihe zu schreiben. Vergesst beim Lesen also nicht, dass es sich um Fiktion handelt. Alle Freiheiten, die ich mir bezüglich der Polizeiarbeit nehme, dienen der Handlung und haben nichts mit mangelhafter Recherche zu tun. Am besten, ihr spielt einfach mit und stürzt euch in den Strudel aus Rebellion, Romanze, Leben und Chaos, der diese Geschichten ausmacht.

Wenn ich Titus’ Polizeiwache und sein Büro beschreibe, mag euch einiges daran anachronistisch vorkommen. Jedenfalls sind diese Cops definitiv nicht mit all den technischen Schikanen ausgestattet, die bei den meisten modernen Krimiserien ganz selbstverständlich dazugehören. Was daran liegt, dass ich total verrückt nach der Doku-Serie Homicide Hunter – Dem Mörder auf der Spur bin … Oh, mein Gott, es gibt nichts Besseres! Darin werden Fälle aus den Siebziger- und Achtzigerjahren hier in Colorado Springs nachgestellt, und ich hatte beim Schreiben immer nur diese Polizeistation und Joe Kendas Büro vor Augen. Das Bild ist also schon ziemlich alt und zerknittert, passt aber gerade deshalb zur insgesamt ziemlich trostlosen, garstigen Atmosphäre in The Point. Und falls ihr euch die Serie mal anschauen solltet, werdet ihr garantiert erkennen, wie sehr sie mich inspiriert hat.

Wieder gilt mein Dank allen, die dieser Romanreihe eine Chance geben. Wir alle brauchen mal neue Ideen, ein kreatives Ventil, kleine Fluchten aus dem Alltag … und The Point ist mein Rückzugsort. Ich genieße es, ohne Rücksicht auf die Regeln des Genres über diese Männer und Frauen zu schreiben und die Grenzen dessen, was man normalerweise unter New Adult versteht, auszudehnen – sogar auch darüber hinaus, was man sonst so von mir kennt. Das Ganze ist unglaublich befriedigend, und ich freue mich über jeden, der mich bei diesem Ritt begleitet … und es ist ein ganz schön wilder Ritt geworden! Jedes Mal, wenn ich glaube, zu weit gegangen zu sein oder den äußersten Punkt erreicht zu haben, finde ich eine weitere Ecke, um die ich biege, oder eine neue, unerwartete Wendung, der ich folgen kann. Die meiste Zeit bin ich über den Verlauf der Handlung ebenso überrascht wie ihr – und für einen Schriftsteller gibt es nichts Aufregenderes und Spannenderes als das. Diese Bücher sind ein Riesenspaß für mich, und während ich sie schreibe, komme ich mir vor wie ein Kind im Süßwarenladen.

Wir wissen doch alle, dass ein mutiger Mann ein besserer Mann ist – daher kann ich es kaum erwarten, dass ihr Titus kennenlernt!

Tapferkeit heißt, der Einzige zu sein, der weiß, dass man Angst hat.

Franklin P. Jones

Prolog

Am Anfang vom Ende.

Tropf, tropf …

Platsch, platsch …

Ratter, ratter …

Schepper, schepper …

Zisch, zisch …

Knall, knall …

„SCHEISSE …“

Ächz …

Ich versuchte meinen Kopf zu heben, nachdem das Metallrohr zum zweiten Mal gegen den hinteren Teil desselben gekracht war, aber das wollte mir nicht so recht gelingen. In meinen Ohren rauschte es, über jeden Quadratzentimeter meines Gesichts lief das Blut und tropfte platschend auf den kalten Betonboden unter meinen Stiefeln. Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, wie tief die Pfütze schon war oder wie weit sie sich ausgebreitet hatte. Jedenfalls war es eine Menge Blut. Zu viel Blut. Alles meins. Ich konnte meine Augen nicht länger offen halten. Daher konnte ich auch die Männer nicht mehr sehen, die sich um mich geschart hatten und abwechselnd auf mich einschlugen, mit Fäusten und allem, was sonst noch greifbar war, während ich an die offene Rohrleitung über meinem Kopf gekettet war. Ich rüttelte an den Handschellen – es waren dieselben, die ich jeden Tag benutzte, um diese Stadt einigermaßen unter Kontrolle zu halten –, aber mir war klar, dass ich in nächster Zukunft eher nicht freikommen würde.

Beim unheilvoll scharrenden Geräusch eines Metallrohrs, das über den Boden geschleift wurde, als einer meiner Angreifer näher kam, entwich mir zischend der klägliche Rest von Atem, der nach dem letzten Schlag noch in mir verblieben war. Die simple Tätigkeit des Luftholens fühlte sich an, als ob meine Eingeweide sich nach außen stülpten, und ich kniff die Lider so fest wie möglich zusammen, damit diese brutalen Arschlöcher nicht mitkriegten, wie effizient sie mir mit ihren Fäusten und Eisenstangen den Garaus machten. Mein Körper gab unter den qualvollen Attacken allmählich nach, aber meinen Willen und meine Entschlossenheit, auf keinen Fall Typen wie sie die Oberhand gewinnen zu lassen, würden sie niemals brechen. Ich würde in diesem Drecksloch sterben, durch die Hände dieser Mörder und Schurken. Aber egal, wie heftig sie mich misshandelten, und egal, wie gnadenlos sie gegen meine äußere Hülle vorgingen: Meinem Mut und meiner inneren Mission, die Welt vor Leuten wie diesen zu beschützen, konnten sie nichts anhaben. Ich würde niemals einknicken, mich niemals unterwerfen – und niemals einen Kerl wie Conner Roark gewinnen lassen.

Ich spuckte einen Mundvoll Blut aus, der metallische Geschmack legte sich auf jede wunde Stelle meiner Schleimhäute. Es gelang mir, den Hals zumindest so weit zu drehen, dass ich in die undurchdringlichen schwarzen Augen schauen konnte, die mich anstarrten. In diesem dunklen Blick lag kein Funken Freude darüber, dass er mich endlich da hatte, wo er mich haben wollte. Keine Spur von Befriedigung. Statt irgendeiner menschlichen Regung gab es nur eine totale Leere, wie in einem bodenlosen Hohlraum. Ich hatte exakt denselben Gesichtsausdruck schon einmal gesehen. Der Vater meines kleinen Bruders hatte ihn jahrelang tagein, tagaus zur Schau getragen, während er unsere Stadt in eine stinkende Kloake aus Gesetzlosigkeit, Ausschweifung und Gewalt verwandelt hatte. Diese Stadt war der schlimmste Ort, den man sich aussuchen konnte, um so was wie Recht und Ordnung herzustellen, und trotzdem tat ich genau das – und zwar so selbstverständlich, wie ich atmete. Sie war ein zerfallendes Ghetto, beherrscht von gefährlichen Männern und harten Frauen, aber das hier war mein Revier, und seine Bewohner waren meine gefährlichen Männer und harten Frauen, die es zu beschützen galt. Viele von ihnen waren meine Familie und hatten einen festen Platz in meinem Herzen. Für sie zu kämpfen war nicht einfach nur mein Job, es war meine Berufung. Es bestimmte, wer ich war. The Point hatte keinen Raum für Helden, aber ich war so nah dran, einer zu sein, wie es an diesem Ort überhaupt möglich war. Auch wenn ich mir momentan nicht sonderlich heldenhaft vorkam, gefesselt und verprügelt und in der Gewissheit, dass das hier mein Ende war.

Ich blinzelte ihn durch das Blut an, das mein Gesicht bedeckte, verzog meine geschwollenen Lippen zu etwas, das zumindest an ein gruseliges Grinsen erinnern sollte, und sagte rundheraus: „Fick dich. Du kriegst mich nicht klein. Eher bringst du mich um.“

Diese harschen Worte wurden vom letzten Rest Sauerstoff transportiert, der in und aus meiner offensichtlich verletzten Lunge pfiff, und dann verging mir Hören und Sehen, als die nächste Runde Schläge startete. Inzwischen hatte irgendjemand einen Baseballschläger aufgetrieben, der so heftig mit der Außenseite meines Knies kollidierte, dass ich stöhnend zusammensackte. Das Einzige, was mich noch aufrecht hielt, während diese Typen mich in Stücke rissen, waren meine geschwollenen, wunden Handgelenke in den Handschellen, die über mir an das Rohr gekettet waren.

Durch einen blutigen Nebel glaubte ich zu sehen, wie Roark den Kopf schüttelte, und als er jetzt sprach, kratzte der melodische irische Akzent, der seine Sätze färbte, über meine ramponierte, blutende Haut wie eine Million Glasscherben. Der Mann war ein Mörder, ein Lügner, ein krimineller Tsunami ohne Reue und ohne Bedauern. Er sollte keine Stimme haben, die nach sanften grünen Hügeln und unbeschwerten Volksliedern klang. Vielmehr sollte er eigentlich Hörner und einen Schwanz haben, und jedes Wort, das ihm über die Lippen kam, sollte nach Rauch und Schwefel riechen. Keiner, den ich kannte, kam dem leibhaftigen Teufel so nahe wie Conner Roark, und das hieß einiges. Immerhin verdiente ich meinen Lebensunterhalt damit, Dämonen und andere gefallene Wesen zu jagen, die meine Stadt, meine Straßen und meine persönliche Version der Hölle als ihr Zuhause betrachteten. Ich hatte mich in meiner Eigenschaft als Mordermittler in einer der gefährlichsten, korruptesten Städte der Welt mit mehr als genug niederträchtigen Drahtziehern angelegt. Dieser Ort war so böse, so finster, so versunken in Verbrechen und Gewalt, dass er nicht mal einen Namen hatte. Wir nannten ihn einfach The Point. Er war der Endpunkt, der Bruchpunkt, der Punkt ohne Wiederkehr … The Point war schlicht und ergreifend ein Platz, an dem nur die Starken überlebten und alle anderen dem Untergang geweiht waren.

Das Metallrohr prallte schmerzhaft gegen meine ohnehin schon kaputten Rippen, und mir wurde schwarz vor Augen.

Obwohl ich darum kämpfte, jede Reaktion, die sie mir entrangen, auf ein Minimum zu reduzieren, entfuhr mir ein Stöhnen.

„Und all das wegen eines Mädchens und wegen einer Stadt, die dir dein Blut und dein Opfer niemals vergelten wird. Ehrlich gesagt hatte ich angenommen, dass du eine größere Herausforderung darstellen würdest, mein lieber Detective King. Aber sie hat dich weich gemacht. Sie hat dich schwach werden lassen. Alle Männer dieser Stadt lassen sich von ihren zuckenden Schwänzen ablenken und vergessen dabei, dass wir uns mitten im Krieg befinden. Keine Frau ist es wert, für sie zu sterben.“

Ich hustete und spuckte noch mehr Blut. Danach ließ ich meinen Kopf nach vorn fallen und stieß ein keuchendes, pfeifendes Lachen aus. „Du kannst mich töten. Du kannst diese gottverdammte Stadt niederbrennen. Du kannst jedem, der es wagt, diesen Ort sein Zuhause zu nennen, das Leben zur Hölle machen. Doch selbst wenn du alles in Schutt und Asche legst, kriegst du nicht das, was du willst … eine Frau, die es wert ist, für sie zu sterben. Denn sie wird dich vorher umbringen.“

Mit zusammengebissenen Zähnen umklammerte ich die Kettenglieder der Handschellen, um mich so weit aufzurichten, dass ich meinem Kidnapper in die Augen schauen konnte, während ich ihm die nackte, brutale Wahrheit ins Gesicht schleuderte, die ihm, wie ich wusste, den Rest seiner Beherrschung rauben würde.

Ich erzählte ihm von dem Mädchen, das jetzt mein Mädchen war; ich wies ihn darauf hin, dass diese Frau die Welt, die Roark gerade zu zerstören versuchte, um ihn herum einreißen und ihn unter den Trümmern begraben würde, wenn sie herausfand, dass ich tot war. Ganz nebenbei brachte ich noch einige gezielte Sticheleien unter, die keinen Zweifel daran ließen, dass ich wusste, was er vorhatte und was seine wahre Motivation war, selbst wenn seine Beweggründe allen anderen chaotisch und vage vorkamen.

Ein Muskel in seiner Wange zuckte, und Roark kam ein paar Schritte näher dorthin, wo ich schlaff in den Ketten hing und langsam innerlich und äußerliche verblutete. Er blieb stehen, als seine Schuhe meine blutüberströmten Stiefelspitzen berührten. Ich spürte einen seiner Finger unter meinem Kinn. Er hob meinen Kopf, bis wir einander in die Augen sahen. Die Dunkelheit und der Wahnsinn in seinem Blick waren mir nur allzu vertraut. Sowohl der Irrsinn als auch die skrupellose Missachtung von Menschenleben lagen Roark quasi im Blut. Mit verkorksten Genen führte eben kein Weg daran vorbei.

Dein Mädchen?“ Seine Stimme klang hart und wütend, und mir war klar, dass ich einen Nerv getroffen hatte.

Ich stieß ein Lachen aus, das eher an ein letztes Röcheln erinnerte, und empfand einen flüchtigen Moment lang Befriedigung, als ein Spritzer meines Bluts direkt in seinem Gesicht landete. Wir waren fast gleich groß, und wenn ich nicht schlaff und zerschlagen vor ihm gebaumelt hätte, wären wir auf Augenhöhe gewesen. Ich war etwa zwanzig Kilo schwerer als er und konnte genauso schmutzig kämpfen wie alle anderen hier. Aber mein unüberwindbarer Nachteil – und der Grund, dass Männer wie er bei Typen wie mir immer die Oberhand behalten würden – war die Tatsache, dass ich ein Herz besaß. Ich machte mir etwas aus meinen Mitmenschen. Egal, wie oft diese Stadt mir in die Eier trat, egal, wie oft ich mich zwischen meiner Familie und dem, was richtig war, entscheiden musste, egal, wie oft ich daran erinnert wurde, dass ich an einem Ort ohne Licht und Gerechtigkeit lebte … die Menschen waren mir nicht gleichgültig. Ich hatte noch immer Hoffnung. Ich wollte noch immer jemand sein, der sich für das Recht und für das wenige Gute einsetzte, das sich in den Ritzen und in der Dunkelheit versteckte. Und ich konnte noch immer lieben. Mein Herz wurde von einem Monster beschützt, das tief in meinem Inneren hauste – doch diese Bestie hatte es immerhin geschafft, das Ding sicher zu behüten, während wir uns an diesem grauenhaften Ort durchschlugen.

Ich liebte meinen Bruder, obwohl er ein kriminelles Arschloch war. Ich liebte meinen Job. Ich liebte meine wenigen Freunde, die meist auf der anderen Seite des Gesetzes standen. Ich liebte meine Mutter, obwohl sie eine unverbesserliche Säuferin war, die keinerlei Interesse daran zeigte, jemals trocken werden zu wollen … und ich liebte mein Mädchen.

Das Mädchen. Das eine, für das ich sterben würde. Das eine, für das ich in diesen Krieg zog, den Roark angefangen hatte, und wenn es mir bestimmt war, auf diese Weise aus dem Leben zu scheiden, dann war das eben so. Ich würde sterben, weil ich ein Herz besaß. Aber zumindest wusste ich, dass es einen verdammt heroischen und wichtigen Grund für meinen Tod gab.

Meins.“ Ich bedachte ihn mit einem weiteren grotesk verzerrten Lächeln, und er ließ meinen Kopf los, der kraftlos nach vorn sank, weil mein Nacken zu ramponiert war, um das Gewicht allein tragen zu können. „Sie gehört mir seit dem Moment, in dem sie Novak und seine Leute verpfiffen hat. Sie hat sich bloß mit dir eingelassen, weil sie mich wollte und keine Ahnung hatte, wie sie an mich herankommen sollte. Sie glaubte, du könntest sie so beschützen, wie ich es tun würde. Was ist das für ein Gefühl, zu wissen, dass du für sie nichts anderes als ein jämmerlicher Ersatz für mich gewesen bist? Jedes Mal, wenn du mit ihr geschlafen hast, hat sie an mich gedacht. Du warst noch nie irgendjemandes erste Wahl, Roark.“

Ich spürte, wie er erstarrte. Das Mädchen war ein wunder Punkt für ihn, ein Verlust, der ihn nur noch heißer darauf machte, The Point in einer Explosion aus Rache und Hass zugrunde gehen zu lassen. Diese Abweisung und diese Beleidigung würde Roark keinesfalls auf sich beruhen lassen, ebenso wenig wie all die anderen Tiefschläge, die The Point ihm bereits versetzt hatte.

Seine Finger krallten sich in mein Haar und rissen mein Gesicht hoch, sodass er und ich uns einmal mehr in die Augen schauen konnten. Meine schwollen allmählich zu, und mir war klar, dass ich zu viel Blut verlor. Unterhalb der Schultern fühlte ich abgesehen von meinem pochenden Knie nicht mehr viel. Mein Körper, soweit ich ihn noch erkennen konnte, war übersät mit Blutergüssen, Striemen und offenen Wunden, aus denen der Rest meiner Lebenskraft auf den rissigen Betonboden tropfte. Ich versuchte, mich auf sein Gesicht zu konzentrieren, doch es verschwamm immer wieder vor mir und verwandelte sich in eins, das ich liebte. In der nächsten Sekunde wurde mir der Lauf einer schwarzen Pistole in den Mund geschoben, bis er an meine Zähne stieß. Das Metall löste ein Brennen auf meinen aufgeplatzten Lippen aus und brachte mich zum Würgen.

Ich entdeckte mein Spiegelbild in der totalen Leere seines dunklen Blicks. Er hatte mich im Visier, und ich wusste, dass er abdrücken würde.

„Sie hat die falsche Wahl getroffen“, sagte er. „Ich hätte ihr diese Stadt zu Füßen gelegt.“

„Wenn sie gewollt hätte, dass diese Stadt ihr zu Füßen liegt, hätte sie sie selbst dorthin befördert. Genau deshalb hast du sie nicht verdient, du Arschloch. Du hast nie kapiert, dass sie dich in Sachen Rachedurst und unangemessene Wut locker abhängen könnte. Doch sie war klug genug, um zu erkennen, dass das Leben mehr zu bieten hat als das. Und dieses Mehr, das bin ich für sie. Du warst nur ein Mittel zum Zweck.“ Ich gurgelte die Worte um den Pistolenlauf herum, aber sie hatten einfach gesagt werden müssen.

Mit geschlossenen Augen wartete ich jetzt auf das Ende. Ich würde nicht betteln. Ich würde nicht flehen. Ich würde nicht ins Wanken geraten. Ich würde genauso abtreten, wie ich gelebt hatte. Ich würde mutig sterben. Und es kam verdammt noch mal überhaupt nicht infrage, dass dieses Stück Scheiße mitkriegte, wie viel Angst es mir machte, dass ich nicht nur meinen Bruder an diesem düsteren Ort zurücklassen musste, sondern auch mein Mädchen … das Mädchen. Wenn ich tot war, wäre hier die Hölle los. Conner Roark hatte ja keinen blassen Schimmer, was eine rachedurstige Frau, in der sehr viel mehr Böses als Gutes steckte, alles anstellen konnte, wenn man ihr das Herz brach.

PENG!

1. Kapitel

Reeve

Es gab zwei Orte auf der Welt, die ich nie wieder betreten wollte. Einer davon war die zerbröckelnde, faulige Stadt, die nur The Point genannt wurde. Der andere war die Polizeistation, die im Herzen dieser Stadt stand und in deren Mauern sich Korruption und Verbrechen ebenso ausgebreitet hatten wie in den Straßen da draußen. Aus tiefster Seele verabscheute ich den Grund, aus dem ich dorthin ging, und dennoch setzte ich einen Fuß vor den anderen. Denn ich wusste, dass ich bloß dann die Chance hatte, zu einer Frau zu werden, die mit dem Gesicht leben konnte, das ihr jeden Morgen aus dem Spiegel entgegenblickte, wenn ich mich ausnahmsweise und zum ersten Mal überhaupt von den richtigen Entscheidungen leiten ließ. Ich musste etwas tun, das nicht meinen egoistischen Begehrlichkeiten diente und auch nicht meinem brennenden Bedürfnis nach Rache und Vergeltung für die kruden Ungerechtigkeiten, die dieser Ort, wie mir nur allzu deutlich klar war, über einen bringen konnte. Ob gut oder schlecht: Jeder, der The Point als Heimat betrachtete, hatte automatisch eine Zielscheibe auf dem Rücken. Die Stadt machte keine Unterschiede dabei, Schmerz zu verursachen und Existenzen zu vernichten.

Meine Hände zitterten, als ich zur Türklinke griff. Ich hatte hier nichts verloren. Nicht in dieser Stadt. Nicht in diesem Gebäude. Nicht in diesem Leben, das nicht mehr mir gehörte.

Ich sollte mich eigentlich verstecken. Es war vorgesehen, dass ich ein anderer Mensch werden sollte, jemand, der die Chance bekommen hatte, noch mal ganz neu anzufangen. Es war vorgesehen, dass ich zu einem Mädchen werden sollte, das nicht ahnte, wie Tod und Rache sich anfühlten, obwohl beides direkt unter seiner Haut brodelte. Das neue Ich sollte so abgeschirmt und isoliert sein, so weit entfernt von den Verbrechen und der Verderbtheit, die das Lebenselixier von The Point waren, dass es in dieser grässlichen Stadt nicht mal fünf Minuten überstehen würde.

Doch das neue Ich war nie so recht haften geblieben, und ehrlich gesagt war ich nie ein Fan der zerbrechlichen und weichen Tarnung dieses Mädchens gewesen. Nur die Schwachen versteckten sich. Tief im Inneren, im Kern meines Seins, hatte ich immer gewusst, dass ich niemals wirklich in Sicherheit sein würde. Ich hatte im Laufe der Zeit zu viele Dämonen beherbergt, zu viele Pakte mit dem Teufel geschlossen, um daran glauben zu können, dass ich The Point entkommen konnte, ohne für meine Missetaten in irgendeiner Form blutige Buße zu tun.

Mit weichen Knien stand ich vor dem jungen Polizisten, der hinter schusssicherem Glas und Gittern im Empfangsbereich der Wache saß, und bat ihn, den einen Mann zu holen, den einen Guten, den ich in diesem gottverlassenen Ort getroffen hatte. Wenn ich schon mein neues Leben wegwerfen und kopfüber zurück ins Feuer springen würde, dann war Detective Titus King der einzige Mensch, dem ich zutraute, mich vor den Flammen zu schützen.

Manche Männer wollten die Welt brennen sehen. Titus hingegen wollte die Flammen im Alleingang ersticken, aus dem Inneren der Feuersbrunst heraus. Keinem außer ihm konnte ich die Information anvertrauen, die ich mit mir herumschleppte; keinem außer ihm traute ich zu, mich an einem sicheren Ort unterzubringen, nachdem ich mein neues Ich in die Wüste geschickt hatte und wieder in meine alte wunde, ramponierte Haut geschlüpft war. Gott allein wusste, wie lange ich meine Rückkehr überleben würde, aber mir war klar, dass meine Chancen mit Titus an meiner Seite wesentlich besser standen, bis zum Ende, zum Finale durchzuhalten. Nur mit ihm konnte ich es bis an das Ziel schaffen, das ich erreichen musste, um ein Unrecht wiedergutzumachen. Eins von so vielen in diesem Höllenloch.

The Point zog in den Krieg, und ich war dabei, den Guten einen Vorteil zu verschaffen. Und den würden sie dringend brauchen, um auch nur den Hauch einer Chance zu haben, sich in diesem Kampf zu behaupten.

Der junge Polizist fragte nach meinem Namen, und als ich „Reeve Black“ murmelte, konnte ich beobachten, wie sein Blick sich veränderte. Eben war er noch anerkennend auf meinem langen schwarzen Haar und meinem hautengen T-Shirt verweilt, das Kurven betonte, die weit gefährlicher waren, als er ahnte, und plötzlich nahm er einen spekulativen, beinahe angewiderten Ausdruck an. Ich hatte einen gewissen Ruf, und der war alles andere als gut. Selbst in dieser Stadt, die voller schlechter Menschen war, die böse Dinge taten, gab es immer noch Steigerungspotenzial für die Schlimmsten der Schlimmen. Ich war die Allerschlimmste und hatte nie das Gegenteil behauptet.

Der Polizist sprach leise in sein Telefon. Mehr als einmal hörte ich ihn meinen Namen nennen und sah, wie er den Kopf schüttelte. Ich sollte wirklich, wirklich nicht hier sein, und Titus war mit Sicherheit alles andere als glücklich, mich zu sehen. Aber er brauchte ja nicht glücklich zu sein. Er musste sich nur anhören, was ich zu sagen hatte, und seine Bereitschaft signalisieren, mir dabei zu helfen, ihm zu helfen.

Ich schob eine Haarsträhne hinters Ohr und brachte meine Hände durch reine Willenskraft dazu, das Zittern einzustellen. Dies war nicht der richtige Moment, um Schwäche zu zeigen. Ich hatte keine Angst vor ihm. Ich hatte vielmehr Angst um ihn.

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass eine Tür aufschwang, an der in abblätternden schwarzen Klebebuchstaben sein Name und Rang standen. Als sein Kopf sich durch die Öffnung schob, flatterte mein Herz für einige Schläge, und mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Selbst über die Distanz hinweg und durch alle Mauern, die uns trennten, konnte ich förmlich die Wucht spüren, als mich der Blick seiner unverschämt blauen Augen traf, in denen mühsam gebändigter Zorn funkelte.

O ja … Ganz und gar nicht glücklich, mich zu sehen.

Mich weiterhin unverwandt anstarrend, stürmte er aus dem Büro und auf mich zu. Ich stand etwas abseits des Getümmels im Revier. Polizisten liefen hin und her, manche in Uniform, manche in Zivil. Titus trug niemals Uniform, zumindest hatte ich ihn noch nie darin gesehen. Nein, Titus kleidete sich wie ein Mann, der einen Job zu erledigen hatte, der ihn zermürbte und ihm langsam, aber sicher die Seele raubte.

Während er sich näherte, bemerkte ich, dass seine nachlässig geknotete Krawatte locker um seinen Hals hing. Ich sah, wie sich seine hochgekrempelten Hemdsärmel um seine Unterarme spannten, als er bei meinem Anblick die Hände zu Fäusten ballte. Ich registrierte, dass seine dunkle Hose zerknittert war, was vermutlich das Ergebnis seiner heutigen Bemühungen war, all die bösen Typen zur Räson zu bringen und all die bösen Dinge geradezubiegen. Als er sich schließlich drohend vor mir aufbaute, konnte ich trotzdem nicht aufhören, ihn anzuschauen. Ich beendete meine Prüfung seiner Person bei seinen abgetragenen, abgewetzten Stiefeln. Ein Mann wie Titus King würde niemals polierte Halbschuhe tragen oder in blütenweißen Sneakers auf dem Tennisplatz stehen, um sich nach Feierabend sportlich zu betätigen. Nein, Titus war jemand, der robuste Schuhe für den schlammigen Morast brauchte, durch den er tagein, tagaus bei seinem Versuch waten musste, zumindest so etwas Ähnliches wie Recht und Ordnung herzustellen.

Ich schluckte und kämpfte gegen den Drang an, einen Schritt zurückzuweichen. Titus war ein kräftiger Kerl und wirklich groß, daher verspürte man unwillkürlich das Bedürfnis, seinem stechenden Blick zu entkommen. Doch wenn ich das tat, würde er merken, wie verängstigt ich war, und ich konnte es mir nicht leisten, unsere Unterhaltung auf diese Weise zu starten.

Stattdessen klimperte ich mit den Wimpern und atmete tief ein und aus. Mir war klar, dass er dadurch geradezu gezwungen sein würde, das Heben und Senken meiner Brust zu verfolgen. Schließlich verzog ich eine Seite meines sorgfältig geschminkten Mundes zu einem schiefen Grinsen, durch das ich schon mehr als nur einen Mann dazu gebracht hatte, alles zu tun, was ich von ihm wollte.

„Detective King.“ Ich mochte seinen Namen, sogar mit dieser Berufsbezeichnung davor. Er könnte der Herrscher irgendeines alten barbarischen Reichs sein, in dem nur die Starken überlebten.

„Was zum Teufel soll das?“ Frage und Feststellung zugleich, wurden diese Worte so laut in den Raum gerufen, dass es die Aufmerksamkeit sämtlicher Polizisten und Kriminellen auf sich zog, die im Gebäude unterwegs waren.

Ein eisenharter Griff legte sich um meinen Ellbogen, und dann wurde ich ohne Umschweife herumgezerrt – vorbei an allen Gittern und Barrieren, vorbei an all den Polizisten an ihren Schreibtischen, vorbei an einem gebannten Publikum, das offensichtlich darüber spekulierte, welche Laus dem großen Detective über die Leber gelaufen war. Titus neigte normalerweise nicht dazu, seine Gefühle zur Schau zu stellen. Er war eher ein Mann der Tat, weshalb der finstere Ausdruck auf seinem herben, hübschen Gesicht und die Heftigkeit, mit der er mich durch die Menge seiner Kollegen und des Gesindels hier auf der Wache bugsierte, nicht unbemerkt blieben. Er war stinksauer über mein plötzliches Auftauchen und machte sich nicht die Mühe, es zu verbergen.

Als wäre ich eine seiner Tatverdächtigen, stieß er mich in sein Büro und schlug die Tür hinter uns mit mehr Kraftaufwand als nötig zu. Ich wusste, dass The Point kurz vor Ausbruch eines Flächenbrands stand, doch nichts konnte je so heiß oder unkontrolliert sein wie das wütende Feuer, das in den Tiefen von Titus’ himmelblauen Augen loderte. Er war so zornig, wie ich erwartet hatte. Darüber hinaus war er allerdings auch ziemlich besorgt, und das machte ihn anscheinend noch wütender. Niemand wollte sich um ein Mädchen wie mich Sorgen machen. Ich hatte jeden widerlichen Scheiß, der auf meiner Türschwelle landete, klaglos hinzunehmen. Ich verdiente es nicht anders. So funktionierte das mit dem Karma nun mal. Aber Titus hatte diese verdammte Veranlagung, sich Sorgen zu machen, auch wenn die betreffende Person das weder verdiente noch unbedingt wollte, und das musste ihn ja zur Weißglut treiben.

Ich musterte ihn für einen langen Moment und ließ meinen Blick auf dem Muskel ruhen, der in seiner stahlharten Kieferpartie zuckte. Titus war so schön. Das war mein allererster Gedanke gewesen, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Damals, als ich zu ihm gegangen war, um ihm mein Herz auszuschütten und dadurch eine Art Erlösung zu finden. Er war alles, was ein Mann sein sollte. Besaß alles, über das ein Krieger verfügen sollte, um in diesem Ödland zu bestehen, während er für Dinge kämpfte, die längst verloren waren. Wenn es um Titus ging, kam es mir manchmal so vor, als sei ich innerlich zwischen Lust und Verehrung hin- und hergerissen.

Er war gebaut wie eine uneinnehmbare Festung. So groß und breit, dass es schien, als könne sich nichts und niemand je einen Weg in sein Inneres bahnen. Sein Körper war hart: vom Ausdruck seines Gesichts bis hin zu den Muskeln, die sich unter seiner Haut bewegten, selbst wenn er etwas ganz Simples tat und sich zum Beispiel gegen die Kante seines Schreibtischs lehnte. Sein Haar war an den Seiten kurz geschoren, oben trug er es etwas länger. Es war fast so tintenschwarz wie mein eigenes, mit Ausnahme dieser verblüffend und schockierend schneeweißen Stelle an seiner Schläfe: die stete Erinnerung an jene Nacht, in der mein neues Ich geboren worden war und er hatte zusehen müssen, wie sein jüngerer Bruder sich eine Pistole an den Kopf gehalten und mit Selbstmord gedroht hatte. Titus hatte außerdem rabenschwarze Brauen, dunkle sexy Bartstoppeln und einen olivfarbenen Teint, der nicht der Sonne geschuldet war.

Seine Augen waren blau – ein hübsches, helles Blau, das die Härte seiner männlichen Züge eigentlich hätte mildern sollen. In ihnen lag jedoch etwas Kaltes und Hartes, das sie glitzern und schimmern ließ wie eine fein geschliffene Klinge, so scharf, dass es schmerzte, länger hineinzusehen. Diese wunderschönen Augen, umrahmt von Wimpern, die zu lang und federweich für so ein herbes, unnachgiebiges Gesicht waren, konnten schon im Alleingang allen möglichen Schaden anrichten, auch ohne die bedrohliche Rückendeckung durch seinen kraftvollen Körper. Titus war der Typ, den man besser nicht unterschätzte, und alles an seiner äußeren Erscheinung brachte diese Tatsache unmissverständlich rüber.

Er verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust, und ich beobachtete hemmungslos den Tanz seiner Muskeln. Ich hatte hier wirklich nichts verloren, aber solange ich hier war, würde ich die Aussicht genießen.

„Lange nicht mehr gesehen, Detective.“

Seine Miene wurde noch finsterer, und eine Ader an seinem Hals begann zu pulsieren. „Wir hätten uns nie wieder begegnen sollen, Reeve. Das ist der eigentliche Sinn und Zweck des Zeugenschutzprogramms. Du solltest jetzt das Problem des Federal Marshal sein.“

Ich verlagerte mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und nickte langsam. „Ist mir bekannt. Aber es hat sich etwas ergeben, von dem ich glaube, dass du es wissen solltest.“

Leise fluchend fuhr er sich mit beiden Händen durchs Haar, das nach oben abstand, und brachte es dadurch endgültig durcheinander. Sein zerzauster Schopf und seine Miene ließen ihn fast animalisch wirken. Dieser Mann hatte definitiv einen äußerst wilden Zug, und ich überlegte, ob ihm selbst das überhaupt klar war.

„Hör zu, Reeve.“ Er stieß sich vom Tisch ab, streckte den Arm aus und legte eine Hand auf meine Schulter. „Du musst den Marshal kontaktieren, der für deinen Fall zuständig ist. Es gibt eine undichte Stelle. Einer der Zeugen, der mit den Ermittlungen über Novak und seine Leute zu tun hatte, wurde letzte Nacht umgebracht. Er hatte gerade ausgepackt und war erst seit zwei Monaten im Schutzprogramm. Jeder, der mit dem Fall befasst ist, könnte gefährdet sein. Dass du hergekommen bist, war eine Riesendummheit. Es ist viel zu riskant.“

Ich seufzte und ging um seine mächtige Gestalt herum, um mich auf einen der wackeligen Stühle zu setzen, die vor seinem abgenutzten, vollgemüllten Schreibtisch standen. Ich wischte meine feuchten Hände an meinen Jeans ab, reckte das Kinn und hoffte, dass er nicht mitkriegte, wie gern es gezittert hätte. „Hartman. Hartman wurde letzte Nacht ermordet.“

Mord war so ein hässliches Wort. Schwer und unangenehm, selbst wenn man es nur dachte und nicht laut aussprach. Das Wort bestand aus lauter spitzen, scharfen Objekten, die sich in mein Fleisch bohrten und mir das Atmen schwer machten. Es hatte die Macht, Schmerzen zu bereiten, die Macht, alles zu verändern; es verfolgte mich seit vielen Jahren und hing mir wie ein Mühlstein am Hals.

Titus spannte jeden einzelnen Muskel in seinem Körper an, und seine Lippen pressten sich zu einem brutalen Strich zusammen. „Was?“

Ich musste wegschauen. Er versuchte mich mit diesen gletscherblauen Augen aufzuspießen, und ich wollte ihn auf keinen Fall in die Nähe des matschigen, weichen Zentrums meines wahren Ichs lassen.

„Ich weiß, dass Hartman letzte Nacht ermordet wurde. Deshalb bin ich hier“, sagte ich. „Ich habe das Zeugenschutzprogramm verlassen, weil ich weiß, wer es getan hat.“

Die Linie seines Mundes verzog sich und machte einer wütenden Grimasse Platz, die eine klügere Frau als mich sofort hätte aufspringen und davonlaufen lassen. Wieder baute er sich direkt vor mir auf und senkte den Kopf so, dass ich keine andere Wahl hatte, als mich seinem bohrenden Blick zu stellen.

„Wovon redest du eigentlich, Reeve? Und bring deine Sache bitte möglichst überzeugend vor. Dafür gebe ich dir noch exakt zwei Sekunden, dann werde ich dich einsperren, ins Röhrchen pusten lassen und eine Blutprobe anordnen.“

Ich war nicht betrunken und hatte noch nie in meinem Leben eine illegale Droge angefasst. Ich verdrehte die Augen und warf mein Haar über eine Schulter. Er verfolgte die Bewegung mit schmalen Augen und trat endlich einen Schritt zurück. Erleichtert, aber kaum hörbar atmete ich auf.

Ich war ja echt hart im Nehmen, aber Titus konnte mir durchaus etwas zu viel werden. Er war ziemlich überwältigend.

„Ich weiß das von Hartman … Jetzt komm schon, Detective, schau mich an.“ Ich wartete, bis er mich ansah. „Würde ich auf ein bequemes Plätzchen im Zeugenschutzprogramm und einen perfekt gepflegten Rasen in der Vorortsiedlung verzichten, wo alle glauben, mein Name sei Jill Parker, und wo es mein Job ist, Fußball-Muttis die Haare zu schneiden, wenn ich nicht einen guten Grund dafür hätte? Ich war in Sicherheit, Titus. Und mein größter Wunsch seit dem Tag, als ich meine Seele an Novak verkauft habe, war Sicherheit. Ich würde das niemals aufgeben, nicht in einer Million Jahren … Und trotzdem bin ich hier. Der Krieg um diese Stadt hat gerade begonnen, und ich kenne den Verräter, der den ersten Schuss abgegeben hat. Du brauchst mich.“

Für einen langen Moment musterte er mich nachdenklich. Die Spannung, die zwischen uns in der Luft lag, baute sich immer weiter auf, bis sie den winzigen Raum erfüllte. Er wollte mir nicht glauben, wollte nicht, dass ich hier war, wollte nicht, dass ich wusste, was abging oder wie es mit mir zusammenhing, aber an den Fakten führte kein Weg vorbei. Ich sagte die Wahrheit, das bewiesen die Leiche und das Blut von heute Nacht.

Titus lehnte sich wieder gegen den Tisch, und seine kräftigen Brauen zogen sich über der Nasenwurzel zusammen. „Erzähl mir, was du weißt. Dann entscheide ich, ob ich dich brauche oder nicht.“

Er war schroff. Er war grob. Er war unnachgiebig. Nichts davon konnte ich ihm verübeln. The Point wurde angegriffen, und es würde unschuldige – und nicht so unschuldige – Opfer geben. Und wenn es etwas gab, das Titus verabscheute, dann waren es Opfer.

Es war eine lange Geschichte, von der er nur den Anfang kannte, und es gab Teile, die ich ihm nicht erzählen wollte. Zum Beispiel, dass ich mich in den Verräter verliebt hatte. Ich wollte nicht eingestehen, dass ich vor allem deshalb auf den General hereingefallen war, der die erste Salve in dieser Schlacht abgegeben hatte, weil er mich oberflächlich so sehr an den eindrucksvollen Mann erinnerte, der jetzt vor mir stand.

Conner Roark war in mein Leben getreten und hatte mir die eine Sache geboten, nach der ich mich sehnte, solange ich denken konnte: Sicherheit. Die Chance auf ein Leben, in dem Worte wie Mord nicht erstickend schwer um meinen Hals hingen. Das war der Kuchen gewesen, bei dem mir bereits das Wasser im Mund zusammengelaufen war. Aber das Sahnehäubchen obendrauf, das mich endgültig dem Wahnsinn in die Arme getrieben hatte, war die Tatsache gewesen, dass Conner außerdem groß und kräftig war. Er hatte welliges dunkles Haar und traumhafte mitternachtsblaue Augen und sprach mit dem weichsten irischen Akzent, den ich je gehört hatte. Und da all diese erfreulichen Dinge ebenso zu einem gewissen Mann mit Dienstmarke gehörten, der geschworen hatte, das Recht zu verteidigen und aus innerer Überzeugung für das Gute einzutreten, hatte ich mein dämliches Herz gar nicht schnell genug mit einer Schleife umwickeln und verschenken können. Es war ohnehin kein Geschenk, um das sich viele rissen.

Doch Conner Roark war nicht wie Titus King. Kein Mann war das, und es war idiotisch von mir gewesen, etwas anderes zu glauben.

„Der Marshal, der mich ins Schutzprogramm genommen hat …“ Ich musste das Gesicht abwenden. Es war verdammt hart, zuzugeben, wie leicht ich einer billigen Kopie dessen, was ich nie haben konnte, auf den Leim gegangen war. Die Schlimmsten kriegten nie das Beste, und Titus war definitiv der beste Mann, den ich je getroffen hatte. „Conner Roark. Der Typ hat jede Menge Dreck am Stecken. Er hat jemanden auf den alten Hartman angesetzt, nachdem der aus dem Gefängnis entlassen und an einen sicheren Ort gebracht worden war. Er wollte Race Hartman wissen lassen, dass es keine gute Idee ist, dort weiterzumachen, wo Novak aufgehört hat.“

Titus sagte eine Weile nichts. Er schaute mich schweigend an, und ich konnte sehen, dass er meine Worte in seinem Kopf hin- und herdrehte. „Warum?“, fragte er dann. „Warum kümmert es Roark, wer in The Point das Ruder übernimmt? Was bringt es ihm, und warum nimmt er dafür in Kauf, seine Karriere als Marshal zu zerstören?“

Ich schlug die Beine übereinander und trommelte mit den Fingern auf mein Knie, um so hoffentlich das wirbelnde, unsichere Chaos zu überspielen, das in meinem Inneren tobte. „Darauf habe ich keine Antwort. Er hasst die Stadt. Er hasst die Menschen, die hier leben, und das tut er mit einer Leidenschaft, die schon an Fanatismus grenzt. Ich kann dir nicht sagen, warum er es getan hat. Ich kann dir nur sagen, dass er es war.“ Ich biss mir auf die Lippe, während ich Titus dabei beobachtete, wie er versuchte, die Puzzleteile zusammenzufügen.

Meine gelassene Fassade begann zu bröckeln. Meine Unterlippe zitterte, und ich spürte, wie die Emotionen sich einen Weg durch meine immer enger werdende Kehle kratzten. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er mir glauben sollte oder nicht, und das tat weh.

Titus stemmte schließlich die Hände in die Hüften, legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. „Du verarschst mich doch.“

Bedächtig schüttelte ich den Kopf. „Schön wär’s.“ Wieder gruben sich meine Zähne in meine Unterlippe.

Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Plötzlich beugte er sich vor und stützte die Hände auf die Knie, als hätte ihm jemand einen Schlag in den Magen versetzt. „Woher weißt du das eigentlich alles so genau, Reeve? Warum sollte ein korrupter Marshal der Bundespolizei eine Frau, die unter seinem Schutz steht, in seinen Plan und sein Verbrechen einweihen? Warum bringt er Hartman nicht einfach stillschweigend um und geht weiter seinen Geschäften nach? Warum vertraut er dir so sehr, dass er dich wissen lässt, was er vorhat?“

Ich hörte die Enttäuschung in seiner Stimme, sein Erkennen, dass die Lage schlimmer und unübersichtlicher war, als er sich vorgestellt hatte, und noch weitere schmutzige Bullen involviert waren. Und da ich in dieser speziellen Scheißnummer mittendrin steckte, wusste er auch, dass ich recht hatte. Er brauchte mich.

„Warum handeln gefährliche und verzweifelte Männer wohl so, Detective?“

„Aus Liebe.“ Sein Ton war ungerührt und monoton.

Ich nickte ernst. „Ich war praktisch von dem Moment an mit Conner zusammen, als er mich von hier weggeschafft hat. Nach allem, was mit Dovie passiert war, fühlte ich mich grässlich. Ich hatte nie gewollt, dass sie verletzt werden würde, aber ich musste wegen meines Deals mit Novak tun, was ich getan habe. Bei Conner kam ich mir geliebt vor, obwohl ich meine Freundin betrogen habe, obwohl ich ein schrecklicher Mensch bin. Und ich fühlte mich sicher bei ihm.“ In Wahrheit wollte ich dich, aber ich wusste, dass es keine verdammte Chance gab, dass es jemals dazu kommen könnte, und deshalb begnügte ich mich mit dem, was ich für das Nächstbeste hielt … Den letzten Satz sprach ich natürlich nicht aus, doch vermutlich konnte er ihn in meinen Augen lesen.

„Diese ganze Geschichte klingt verflucht unglaubwürdig.“

Was du nicht sagst. Selbst wenn ich glaubte, etwas Gutes zu tun, verwandelte es sich jedes Mal ins Gegenteil.

„Ich kann dir helfen, Conner zur Strecke zu bringen, Titus“, meinte ich. „Deshalb habe ich das Schutzprogramm verlassen. Deshalb bin ich hier. Ich hasse The Point. Ich hasse die Person, zu der ich wegen dieser Stadt geworden bin. Aber ich bin es dir und den Leuten, die niemals von hier wegziehen werden, schuldig: Ich muss tun, was ich kann, um ihn daran zu hindern, noch mehr Schaden anzurichten. Die Guten verdienen es, auch mal zu gewinnen.“ Er verdiente diesen Sieg.

„Und wie stellst du dir das vor? Wie willst du mir helfen? Bislang habe ich nur dein Wort dafür, dass Roark ein schmutziger Bulle ist, der die Regeln gebrochen hat, indem er sich mit einer Zeugin eingelassen hat. Das Ganze kann durchaus darauf hinauslaufen, dass am Ende dein Wort gegen seines steht und man deine Aussage als Rache einer verschmähten Geliebten einstuft.“

Mit diesem Einwand hatte ich gerechnet. Also hob ich meine Handtasche hoch und wühlte darin herum, bis ich das Handy fand, das ich Conner während seines letzten Besuchs in meiner sicheren Zuflucht in der Vorstadt gestohlen hatte. Das war erst einen Tag her; trotzdem kam es mir so vor, als ob seither ein ganzes Leben vergangen wäre. Wortlos reichte ich Titus das Telefon und stand auf. Ein winziger Stromstoß durchzuckte mich, als ich dabei flüchtig seine raue Handfläche streifte.

„Das ist Conners Handy“, erklärte ich. „Sieh es dir gründlich an und such mich danach auf. Ich hänge da jetzt mit drin, Detective.“

Als ich die Hand nach der Türklinke ausstreckte, hörte ich ihn hinter mir wieder leise fluchen. Dann sagte er meinen Namen, in einem sehr viel sanfteren Ton als bisher. Über die Schulter hinweg sah ich ihn an.

Er drehte das Telefon zwischen den Fingern und betrachtete mich, als wollte er in mein Inneres schauen. Aber dort wollte er nicht wirklich sein; es war ein dicht bevölkerter und verschachtelter Ort, und vermutlich wäre er schockiert darüber, wie viele Immobilien er dort bereits besaß.

„Du behauptest, du wüsstest nicht, warum Conner das tut – falls er denn tatsächlich darin verstrickt ist. Aber was ist mit dir, Reeve? Warum machst du das hier?“

Die klare Antwort darauf belauerte mich mit einer so krassen Mischung aus Hunger und Hass, dass sie mich fast in die Knie zwang. „Weil es das Richtige ist und ich schon vergessen hatte, wie das aussieht. Ich will nicht mehr diese Person sein. Ich kann nicht mehr so sein.“ Damit trat ich durch die Tür und stolperte um ein Haar über die junge Frau, die ich vor gar nicht allzu langer Zeit durch meine selbstsüchtigen und dummen Aktionen beinahe getötet hätte.

Dovie Pryce war ein Schätzchen. Alles an ihr war rein und vollkommen. Ihre grünen Augen weiteten sich bei meinem Anblick, und sie wurde noch blasser als ohnehin schon. Ich kam mir mit einem Mal wie die mieseste, niedrigste Lebensform vor, die jemals auf diesem Planeten existiert hatte.

„Was machst du denn hier, Reeve?“ Sie klang besorgt, was mich noch mehr runterzog. Eigentlich sollte sie mich hassen, mich verabscheuen, und doch sorgte sie sich um mein Wohlergehen. Sie war zu gut, als dass ich sie jemals Freundin nennen dürfte. Sie war zu gut für diese gottverdammte Stadt.

Ich schob mir eine Haarsträhne hinters Ohr und grinste schief. „Ich hatte ein kleines Geschäft mit Titus zu besprechen. Das Zeugenschutzprogramm ist nicht wirklich erfolgreich bei mir.“ Am liebsten hätte ich sie umarmt und ihr gesagt, wie leid es mir tat, dass ihr Arschloch-Vater von meinem gleichermaßen verrückten wie verkorksten Freund hingerichtet worden war. Aber ich vermutete, dass Titus das besser hinkriegen würde als ich. Außerdem liebte Dovie den Detective und war in Shane Baxter verliebt, seinen Teufelskerl von Halbbruder. Und Neuigkeiten wie diese sollten von Familienmitgliedern kommen.

Dovie gab einen mitfühlenden Laut von sich. Bevor sie mir weitere Fragen zu meiner plötzlichen Rückkehr stellen konnte, tauchte jedoch ein eleganter blonder Mann an ihrer Seite auf und legte beschützend einen Arm um ihre schmalen Schultern. Ich hatte Dovies älteren Bruder Race nie kennengelernt und war nicht wild darauf, das jetzt nachzuholen. Er kannte mich nicht, wusste aber garantiert, dass ich bei der Entführung seiner Schwester die Hand im Spiel gehabt hatte und auch daran beteiligt gewesen war, eine Bande rücksichtsloser Schläger in seine Richtung zu weisen, die ihn so schlimm zugerichtet hatten, dass er fast gestorben war. Race Hartman hatte jedes Recht der Welt, mir die fürchterlichsten Dinge an den Hals zu wünschen. Wie jeder andere, der Novaks letztem Massaker lebend entkommen war.

Diese Erkenntnis – gepaart mit der Gewissheit, dass Conner sich rachedurstig und wutschnaubend an meine Fersen heften würde, sobald er herausfand, dass ich ihn aufs Kreuz gelegt und verraten hatte – schürte nicht gerade meine Hoffnungen, die Konsequenzen dessen, was ich heute losgetreten hatte, zu überleben. Zum Teufel, bei meinem Glück wäre es schon ein Wunder, wenn ich es heil aus dieser Polizeiwache heraus und in das schäbige Motel schaffen würde, in dem ich mich fürs Erste eingerichtet hatte.

Mein neues Ich war eine zerbrechliche Hülle gewesen. Mein altes Ich war aus härterem Holz geschnitzt, aber selbst der stärkste Stamm brach, wenn das Gewicht der Welt sich darauf niederließ.

2. Kapitel

Titus

Es hätte mich eigentlich nicht weiter überraschen sollen, dass die Freundin meines Bruders die Nachricht, dass ihr Vater ermordet worden war, vergleichsweise gefasst zur Kenntnis nahm. Schließlich hatte sie den Typen nie getroffen, außerdem hatte er den schlimmsten und brutalsten Verbrecher der Stadt angeheuert, um sie zu töten. Aber Dovie hatte etwas an sich; sie strotzte geradezu vor Großherzigkeit und Liebenswürdigkeit. Dabei vergaß ich oft, dass sie trotz allem einen steinharten Kern haben musste, verstärkt durch Betonstahl, um sich gegen meinen knallhart kriminellen jüngeren Bruder behaupten und in The Point überleben zu können.

Race hingegen war eine ganz andere Nummer. Ich hatte Zorn, Rage, blinde Wut erwartet … alles, nur nicht die eisige Gleichgültigkeit, die sich über ihn zu legen schien, sobald ich den beiden die Neuigkeit mitgeteilt hatte. Race und sein Alter konnten einander nicht ausstehen. Tatsächlich war es mehrfach zu wüsten Drohungen gekommen, und wenn Reeve nicht aus heiterem Himmel mit ihrer ungeheuerlichen Geschichte aufgetaucht wäre, hätten Race und mein Bruder ganz oben auf meiner Liste der Mordverdächtigen gestanden.