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Das Zitat von David Diop auf S. 5 wurde von Thomas Schmid übersetzt.

© 2015 Berenberg Verlag, Sophienstraße 28/29, 10178 Berlin

KONZEPTION | GESTALTUNG: Antje Haack | lichten.com

SATZ | HERSTELLUNG: Büro für Gedrucktes, Beate Mössner

ABBILDUNGEN: Einbandvorderseite von Jean-Pierre Félix-Eyoum, Frontispiz von ullstein bild

REPRODUKTION: Frische Grafik, Hamburg

ISBN 978-3-937834-95-5

Inhalt

Prolog

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Epilog

Literatur (Auswahl)

Danksagung

Christian Bommarius

DER GUTE DEUTSCHE

Die Ermordung Manga Bells in Kamerun 1914

BERENBERG

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Afrique dis-moi Afrique

Est-ce donc toi ce dos qui se courbe

Et se couche sous le poids de l’humilité

Ce dos tremblant à zébrures rouges

Qui dit oui au fouet sur les routes de midi

Aus: David Diop: Afrique (À ma mère)

Afrika sag mir Afrika

Bist also du dieser Rücken der sich krümmt

Und sich hinlegt unter dem Gewicht der Demut

Dieser zitternde Rücken mit roten Streifen

Der Ja zur Peitsche sagt auf den Straßen des Südens

Aus: David Diop: Afrika (Meiner Mutter)

PROLOG

Am 7. August 1914 sah sich das Bezirksgericht Duala zu zwei Justizmorden veranlasst. Es verurteilte Rudolf Duala Manga Bell und Adolf Ngoso Din wegen Hochverrats zum Tod durch den Strang am folgenden Tag. Zwar war dem Gericht in der ehemaligen Hauptstadt der deutschen Schutzkolonie bekannt, dass weder Manga Bell, der Häuptling der Duala, noch sein Vertrauter Ngoso Din Hochverrat begangen hatten. Doch war das in diesem Fall ohne Belang. Die Aufgabe des Gerichts war nicht, Recht zu sprechen, vielmehr war die Durchsetzung des Rechts mit allen Mitteln zu verhindern. Auf Geltung und Anwendung des Rechts aber hatten Manga Bell und Ngoso Din bestanden, des Rechts, das sich aus dem Vertrag ergab, den Vertreter der Duala dreißig Jahre zuvor mit Vertretern zweier Hamburger Handelshäuser geschlossen und damit die Kolonisierung Kameruns ermöglicht hatten.

Damals, am 12. Juli 1884, hatten Eduard Schmidt und Johannes Voss, deren Firmen C. Woermann und Jantzen & Thormählen seit Jahrzehnten an der Küste Kameruns Handel trieben, mit den wichtigsten »Kings and Chiefs« der Duala vereinbart, dass auf die Deutschen die Hoheitsrechte, die Gesetzgebung und die Verwaltung übergehen sollten. Doch hatten sich die Duala ausbedungen, dass der von ihnen bewirtschaftete oder bebaute Boden ihr Eigentum bleibe und – in einer von den Deutschen akzeptierten Zusatzvereinbarung – dass ihr Monopol auf den Handel mit dem Hinterland nicht angetastet werde: »Wir wünschen, dass Weiße nicht hinaufgehen und mit den Buschleuten handeln, sie dürfen nichts mit unseren Märkten zu tun haben, sie müssen hier an diesem Fluss bleiben und uns Vertrauen schenken, so dass wir mit unseren Buschleuten handeln.«* Nur dank dieser Zusicherung war es den Deutschen gelungen, die Briten als Rivalen am Kamerunfluss auszuschalten. Der lukrative Zwischenhandel war die entscheidende Erwerbsquelle der Duala – sie bezogen aus dem Hinterland Elfenbein, Kautschuk und Palmöl und tauschten die Produkte in den deutschen und britischen Faktoreien gegen Stoffe, Eisenwaren, Pulver, Tabak, Salz und Branntwein –, seine Zerstörung hingegen das vorrangige Interesse der deutschen Firmen, die direkt und damit einträglicher auf den Märkten im Landesinneren Handel treiben wollten. Gleichwohl sahen sie in der Zusage, das Zwischenhandelsmonopol zu respektieren, nicht das geringste Problem. Sie hatten niemals vor, sie einzuhalten.

Ohnehin begründete der Vertrag nach Ansicht der Deutschen eher einen Rechtsanspruch auf koloniale Besitzergreifung gegenüber anderen europäischen Mächten, die im Scramble for Africa ebenfalls Küstenstreifen besetzen wollten, als die Legitimation der Herrschaft gegenüber der afrikanischen Bevölkerung. Deshalb fühlten sich die Deutschen von Anfang an nicht an den Vertrag gebunden und schoben ihn beiseite, sobald es ihnen möglich war. Die Duala bestanden zwar von Anfang an auf dem Protektoratsvertrag und der Zusatzvereinbarung, hatten allerdings über den Gegenstand und die Reichweite andere Vorstellungen als die Deutschen. Die Europäer bezeichneten die Vertreter der Duala als »Kings« und »Chiefs«, aber sie waren weder das eine noch das andere. Die Duala waren eine akephale Gesellschaft, also ohne politische Führer, sie kannten nur Familienvorstände, die in der Regel die Handelsgeschäfte mit den Europäern übernahmen und deshalb eine gewisse Autorität genossen. Jedenfalls waren sie keine Souveräne – auch wenn sie die europäischen Herrschaftstitel zum Teil selbst übernahmen – und damit zur Abtretung von Souveränitätsrechten weder berechtigt noch gewillt. Ihnen ging es nicht um Unterwerfung, sondern um Schutz. In früheren Bittschreiben an die britische Königin Victoria hatten sie geklagt, sie seien außerstande, den innerhalb der Duala-Gesellschaft fortwährend geführten Streit um die Beteiligung am Außenhandel zu schlichten, jede Auseinandersetzung führe zum Krieg, sie seien müde, das Land zu regieren. Mit anderen Worten: Als King Bell – eigentlich hieß er Ndumb’a Lobe – und King Akwa – er hieß Ngand’a Kwa – sowie andere Chiefs der Duala den Vertrag unterschrieben, wollten sie den Deutschen die Rechtsprechung nicht nur in Handelskonflikten zwischen den Duala und den Weißen übertragen, sondern auch in Auseinandersetzungen zwischen ihnen selbst und den anderen Duala.

Zwei Tage nach Vertragsschluss, am 14. Juli 1884, wurde in Duala am Ufer des Wuri die deutsche Flagge gehisst. Der von Reichskanzler Bismarck zum Reichskommissar für Deutsch-Westafrika ernannte Arzt Dr. Gustav Nachtigal, ein schon damals berühmter Afrikaforscher, der sich bis dahin mehr mit der afrikanischen Kultur als mit deutschen Exportinteressen beschäftigt hatte, war in Begleitung Dr. Max Buchners – ebenfalls Arzt und Afrikareisender – auf dem Kanonenboot SMS Möwe von Togoland gekommen, das er am 5. Juli für Kaiser und Reich erworben hatte. Wie vereinbart, ließ sich Nachtigal von den Vertretern der Hamburger Handelshäuser C. Woermann und Jantzen & Thormählen die »Souveränitätsrechte« über Kamerun, das heißt über die Siedlung Duala, übertragen: ein dreifaches Hoch, Trommelwirbel, drei Gewehrsalven des Kommandos und einundzwanzigmal Salut aus den größten Geschützen der Möwe. Damit war das Land, das die Deutschen Kamerun nannten, als Kolonie in die deutsche Geschichte getreten. Und es begannen – wie in allen Kolonien aller Kolonialreiche – die Eroberungen, die Feldzüge ins Landesinnere, die Unterwerfung der Bevölkerung, kurz, all das, was die Zeitgenossen als Zivilisierung bezeichneten.

Vom Anfang bis zum Ende des deutschen »Schutzgebiets« Kamerun verging kaum ein Tag ohne Krieg, jedoch nicht – von einer dramatischen Ausnahme gleich zu Beginn abgesehen – zwischen den Deutschen und den Duala. Die protestierten zwar, als die Deutschen ihr Handelsmonopol zerstörten und Steuern einführten; auch protestierten sie gegen die Nilpferdpeitsche auf ihren Rücken, die die Deutschen zumeist besser beherrschten als die Sprache der Duala. Aber abgesehen davon bestand ihre Verteidigung in der Strategie des Wandels durch Annäherung. Als die Deutschen ihnen ihre Existenzgrundlage nahmen, machten sie die Deutschen zu ihrer Existenzgrundlage, lernten Deutsch und traten in deutsche Dienste, als Händler, Verwaltungsangestellte, Missionare, Lehrer und selbst als »Oberhäuptling«, ein von den Deutschen vergebenes bezahltes Amt. Die Friedfertigkeit folgte nicht nur der Einsicht, waffentechnisch den Deutschen unterlegen zu sein – eine Erfahrung, die etliche Völker aus dem Kameruner Hinterland machen mussten. Auch die Rivalität der Duala-Clans verbot zunächst jeden Gedanken an einen gemeinsamen bewaffneten Widerstand.

Dabei blieb es, als die deutsche Kolonialverwaltung sich daranmachte, auch eine weitere Zusage an die Duala systematisch zu brechen – die Garantie, sie nicht von ihrem bebauten oder bewirtschafteten Land zu vertreiben. Seit 1910 planten die Deutschen die Modernisierung des zur Wirtschaftsmetropole aufgestiegenen Duala, die Anlage des größten Hafens Westafrikas, den Bau neuer Straßen. Das aber sollte nur durch die Umsiedlung der Duala gelingen können, aus der Stadt in die Nähe der von der Malariamücke bevölkerten Mangrovensümpfe am Stadtrand. Wie deutsche Kolonialärzte zudem bereitwillig bestätigten, war die Ansiedlung außerhalb des von den Deutschen bewohnten Gebiets auch ein rassehygienisches Gebot. Das alles verstieß offensichtlich gegen den dreißig Jahre zuvor geschlossenen Vertrag. Aber kein Verstoß gegen einen Vertrag ist so offensichtlich, dass er nicht übersehen werden könnte, zumindest von dem, der ihn begeht. Die Deutschen übersahen ihn, Rudolf Duala Manga Bell übersah ihn nicht.

Der Enkel King Bells, den selbst ehemals rivalisierende Clans als Anführer aller Duala anerkannten, war ein rechtstreuer Mann, und als solcher pochte er auf einen in Europa anerkannten Grundsatz: Pacta sunt servanda. Kein anderer Bewohner deutscher Kolonien hatte sich je derart laut zu Wort gemeldet; nicht nur von den Deutschen in Kamerun, sondern vor allem auch im Kaiserreich wurde er gehört und verstanden – denn dank seiner in Deutschland genossenen Ausbildung pochte er auf Deutsch. Und er bediente sich dabei einer Waffe, die – wie damals auch das Maxim-Maschinengewehr – nur Kulturvölkern zu Gebote stand, der Öffentlichkeit. Er schaltete deutsche Zeitungen ein, deutsche Anwälte sowie Abgeordnete des Berliner Reichstags und initiierte eine Kampagne, deren Botschaft so klar wie unbestreitbar war: Vertragstreue. Mit ihr pflegten Kolonialbeamte die Prügelstrafe am Bezirksgericht Duala zu begründen, die dort freitags sehr großzügig verhängt und samstags, am »Prügeltag«, vollstreckt wurde, hatten sich doch die Duala 1884 der deutschen Gerichtsbarkeit unterworfen. Mit ihr rechtfertigten sie sogar die geplante Massenenteignung in Duala, denn auch die Verwaltung war im Sommer 1884 auf sie übergegangen. Es war also nicht abwegig, dass auch Manga Bell sich in Eingaben an die Kolonialregierung auf den Vertrag berief. Das allein hätten die Kolonialverwaltung in Kamerun, das Reichskolonialamt und die Reichsregierung vermutlich noch ertragen. Eingaben dieser Art waren in den Kolonien an der Tagesordnung und wurden in der Regel kaum beachtet, gelegentlich allerdings wurden die Petenten mit Prügelstrafe oder Verbannung belegt. Doch die Mobilisierung der deutschen Öffentlichkeit, die an der deutschen Kolonialpolitik erheblich zu zweifeln begann, warf ein besonderes Problem auf. Denn die Selbstverständlichkeit, mit der Manga Bell vor aller Augen auf dem Recht bestand, machte jedermann klar, dass das vermeintliche Ziel des Kolonialismus – die kulturelle Hebung der sogenannten Eingeborenen – hier auf vollendete Weise erreicht worden war. Und seine Beharrlichkeit beseitigte alle Zweifel, dass Manga Bell den tiefsten Sinn des Rechts – die gewaltfreie Konfliktlösung – besser als seine deutschen Widersacher verstanden hatte.

Manga Bells friedlicher Kampf bedeutete für die deutsche Kolonialpolitik ein Dilemma. Wie alle Kolonialmächte beteuerte auch das Deutsche Reich, einen Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen der afrikanischen Bevölkerung durch Beendigung der Sklaverei und der Willkürherrschaft, den Aufbau eines Gesundheitssystems und die Einrichtung von Schulen leisten zu wollen. In der Praxis diente dieser humanitäre Aspekt aber vor allem als Deckmantel der Gewalt, auf der die Herrschaft beruhte. Es ging nicht um Zivilisierung, sondern um absolute Unterwerfung zwecks Ausbeutung der wirtschaftlichen und humanen Ressourcen. Für Manga Bell aber war Zivilisierung kein Vorwand, sondern eine Tatsache und die Achtung des Rechts ihr bester Beweis. Indem er auf dem Recht der Duala bestand, hat die Kolonialmacht die Herrschaft über ihn verloren. Was blieb, war die Gewalt.

* Bei den Zitaten handelt es sich ausschließlich um Auszüge aus historischen Quellen, die nicht einzeln nachgewiesen werden. Im Literaturverzeichnis ab Seite 146 finden sich Angaben zu allen relevanten Quellen und Studien.

I.

DIE DEUTSCHEN KOMMEN. Zwei Dampfpinassen schieben sich langsam den Wuri hinauf, Landungsboote mit dreihundert Matrosen im Schlepptau. Admiral Knorr hat sie geschickt, dessen Fregatten Bismarck und Olga zu groß sind für die Fahrt auf dem Wuri und deshalb im Kamerunästuar liegen, einige Meilen vor Duala, einer Ansammlung benachbarter Dörfer. Es ist der 20. Dezember 1884. Max Buchner, seit Monaten der Vertreter Nachtigals, weil der nun auch in Bimbia, Malimba, Klein-Bantanga und Kribi an der westafrikanischen Küste die deutsche Flagge hissen muss, notiert in seinem Tagebuch: »Der Tag der Rache.« Bald nach der Unterzeichnung des Vertrags hatte sich nämlich herausgestellt, dass einige Vertreter der Duala den Vertrag lieber mit England geschlossen hätten. Kum’a Mbape beispielsweise, auch Lock Priso genannt, hatte den Vertrag nicht unterzeichnet; dennoch hatten die Deutschen unter Hochrufen und Gewehrsalven auch in seinem Dorf – Hickory-Town, wie die Engländer sagen, Bonaberi für die Duala – ihre Flagge entrollt. Lock Priso ist zwar kein King, aber immerhin Headman in Hickory-Town, zwar King Bell zur Gefolgschaft verpflichtet, aber im Herzen mehr auf der englischen Seite. Er hatte am 16. Dezember mit seinen Leuten die Siedlung King Bells – Bell-Town bzw. Bonanjo – überfallen und niedergebrannt, um den Deutschen Widerstand zu leisten. King Bell war geflohen, und Buchner – der King Bell für ein »überaus gutes Muster eines Negers« hält – hatte den mit seinem Geschwader vor der afrikanischen Westküste kreuzenden Admiral Knorr zu Hilfe gerufen. Jetzt landen dessen bewaffnete Matrosen am Strand von Hickory-Town, um, wie Buchner schreibt, »die Ehre der deutschen Flagge und die deutsche Oberhoheit durch grosses Schiessen zu erhärten«. Das gelingt. Hickory-Town wird niedergebrannt, und auch in Joss-Town, das sich mit Lock Priso gegen King Bell verbündet hatte, gehen die Häuser in Flammen auf. King Bell erscheint mit seinen Kriegern auf dem Schlachtfeld, um den Deutschen beim Plündern zu helfen. Aber Buchner kommt auch ohne ihn zurecht: »Das Haus des Lock Priso wird niedergerissen, ein bewegtes malerisches Bild. Wir zünden an. Ich habe mir aber ausgebeten, dass ich die einzelnen Häuser vorher auf ethnographische Merkwürdigkeiten durchsehen darf. Meine Hauptbeute ist eine große Schnitzerei, der feudale Kanuschmuck des Lock Priso, der nach München kommen soll.«

Das »große Schießen«, die erste Schlacht deutscher Soldaten seit dem deutsch-französischen Krieg vierzehn Jahre zuvor, ist für die Deutschen also ein voller Erfolg. Rechte Freude aber empfindet Buchner trotz der hübschen Beute nicht. Er fühlt sich seit der Abreise Nachtigals ein wenig verloren, vielleicht, weil er nicht ganz versteht, was er hier in Duala eigentlich soll, umgeben vom versumpften Mangrovengürtel, in diesem feuchtheißen Tropenklima, das dem gebürtigen Münchner so gar nicht behagt. Seine Aufgaben wurden ihm zwar von den Beamten in Berlin erklärt. Er soll im Schutzgebiet Kamerun, das vorläufig aus nichts anderem als den Dörfern Dualas und anderen Orten entlang der Küste besteht, die deutsche Flagge bewachen, zur Not die Gemüter beruhigen und insbesondere die deutschen Faktoreien der Hamburger Handelshäuser C. Woermann und Jantzen & Thormählen beschützen. Aber Schutz ist leichter gesagt als getan, wenn man der einzige Beschützer ist, versehen mit nur zwei Revolvern, einem Drilling, einem Repetiergewehr und der Kriegsflagge: »Für die Agenten der deutschen Firmen war ich eine Enttäuschung, und dass ich ohne Truppe zurückblieb, erregte eine Besorgnis.« Denn was soll er tun, »wenn die Neger rebellisch« werden? Von den einundzwanzig Mitgliedern der deutschen Kolonie, die meisten von ihnen Agenten, wäre im Ernstfall nur wenig Hilfe zu erwarten, schon gar nicht natürlich von den dreißig englischen Agenten in Duala, die noch immer hoffen, die Chiefs der Duala auf ihre Seite ziehen und den Deutschen die Kolonie entreißen zu können. Selbst auf den »vortrefflichen, starken« Peter kann sich Buchner nicht unbedingt verlassen. Den Jungen vom Stamm der Kru hat er sich von einem deutschen Agenten als »Burschen zum Hausbedarf« geliehen, »eine Perle, eine Zierde seines Geschlechtes, einer der wenigen besten Neger, die ich jemals gesehen habe«. Doch schon bald bemerkt Buchner: »Musterhaft ehrlich ist er nicht«. Er stiehlt, geschickt zwar und »fast mit Anmut«. Aber auch das verdient Strafe. Buchner lässt ihn also »ein wenig durchhauen«, wenngleich mit Bedauern.

Immerhin kommen Buchner, als es nach einigen Monaten tatsächlich ernst wird und die englandfreundlichen Duala gegen die deutschlandfreundlichen Duala die Waffen ergreifen, die Korvetten des Admirals Knorr zu Hilfe. Allerdings verschwinden sie gleich wieder und lassen den Interimistischen Vertreter des Deutschen Reichs an den Gestaden des Wuri zurück, der sich – untergekrochen in der Wellblechhütte des Woermann-Agenten – danach noch ein halbes Jahr durch den »wirren struppigen Ölpalmenwald« namens Duala quält, angewidert von dem »stinkenden Morast«, der die Schlucht zwischen Bell- und Akwa-Town füllt, und von Fieberschüben und der Ruhr zunehmend zerrüttet.

Vielleicht würde sich seine Stimmung aufhellen, wüsste Buchner von der wundersamen Vergrößerung der Kolonie in dieser Zeit. Denn während Nachtigal an der westafrikanischen Küste Kreuze unter Schutzverträgen sammelt und der einsame Buchner machtlos mit ansehen muss, wie die Duala »schnöden Wuchergewinn aus ihrem Handelsmonopol« einstreichen, den die deutschen Handelshäuser gerne selber hätten, treffen sich im Winter 1884/85 in Berlin auf Einladung des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck die europäischen Kolonialmächte und die Vereinigten Staaten von Amerika, um dem vor einigen Jahren gestarteten Scramble for Africa endlich ein paar ihnen nützliche Regeln zu geben. Da ist der Wettlauf eigentlich schon fast zu Ende, mit England und Frankreich auf den vordersten Plätzen. Denn bereits 1881 hat Frankreich Tunesien und das Gebiet der heutigen Republik Kongo besetzt, drei Jahre später Guinea; England sicherte sich 1882 das nominell weiterhin osmanische Ägypten, das wiederum Sudan und Teile Somalias beherrschte; Italien verleibte sich 1870 und 1882 Teile Eritreas ein. Mit den »Schutzverträgen« in Lüderitzland, dem späteren Deutsch-Südwestafrika, Togo und Kamerun tritt Deutschland also mit Verspätung in den Kreis der Kolonialmächte ein. Jahrhundertelang hatte sich der Handel Europas mit den Küsten Afrikas auf Sklaven, Gewürze, Tropenholz oder Elfenbein beschränkt. Aber mit der Industrialisierung ist nicht nur das Interesse an neuen Absatzmärkten gestiegen, zugenommen hat auch die Nachfrage nach Rohstoffen: Palmöl wird zur Herstellung von Kerzen und Schmiermitteln benötigt, Palmkerne für die Fabrikation von Seife und Margarine, und dann natürlich der »Baum, der weint«: Kautschuk. Im Jahr 1839 hatte der Amerikaner Charles Goodyear Schwefelsäure unter Kautschuk gemischt und ihn erhitzt. Dieses Verfahren – die Vulkanisation – veränderte die Konsistenz des Rohkautschuks. Er wurde zu elastischem Material, abriebfest, unempfindlich gegen Kälte und Wärme. Der Kautschuk hatte sich in Gummi verwandelt. Drei Jahre nach der Berliner Konferenz wird der Gummi die ganze Welt verwandeln und sie schlagartig beschleunigen. Denn 1888 kommt der schottische Tierarzt John Boyd Dunlop auf die Idee, Gummireifen mit Luft zu füllen, lässt sie noch im selben Jahr patentieren und gründet wenig später das erste Reifenwerk. »Das Auto ist eine vorübergehende Erscheinung. Ich glaube an das Pferd.« Nicht jeder versteht die Zeichen der Zeit so schlecht zu lesen wie der deutsche Kaiser Wilhelm II.; der König von Belgien, Leopold II., hat das richtige Gespür. Ihm gelingt es auf der Berliner Konferenz, den anderen Kolonialmächten die Anerkennung des »Unabhängigen Kongostaates« als sein Privateigentum abzuhandeln, was ihm in den nächsten Jahrzehnten ein sagenhaftes Vermögen und zehn Millionen Kongolesen den Tod bringen wird. Keine Kolonialgeschichte wird mit so viel Blut und Tränen geschrieben wie jene Belgiens.

Für Deutschland bedeutet die Konferenz die Anerkennung als Kolonialmacht. Und immerhin bekommt es doch noch einige schöne Flecken Afrikas. Dass auch Togo und Kamerun dazu gehören, ist vor allem das Verdienst des Hamburger Reeders und Übersee-Kaufmanns Adolph Woermann, der seit Jahren an der westafrikanischen Küste in seinen Faktoreien minderwertigen Branntwein, Waffen und Pulver gegen Palmöl und Kautschuk tauscht. Allerdings blickt er mit Unbehagen auf die englische Konkurrenz und das Zwischenhandelsmonopol der Duala. Schon 1883 hat er in einer Denkschrift den Schutz des hanseatischen Handels durch das Deutsche Reich und ein Ende des Zwischenhandels gefordert, zudem die »Erwerbung eines Küstenstriches in West-Afrika zur Gründung einer Handelskolonie Biafra Bai«, die dann Kamerun heißt. Das Schreiben ihres Mitglieds war von der Hamburger Handelskammer angenommen und an die Reichsregierung weitergeleitet worden. Wider Erwarten hat Woermann Erfolg. Obwohl Reichskanzler Bismarck nichts von deutschen Kolonien hält, sie gar für »Schwindel« erklärt, gibt er Woermanns Drängen schließlich nach. Weshalb? Eine Rolle spielt die Überlegung, dass das Deutsche Reich nicht hinter anderen europäischen Großmächten zurückstehen sollte. Zudem ist die Kolonialpolitik hervorragend geeignet, von den wachsenden sozialen Spannungen in der Gesellschaft des Kaiserreichs abzulenken. Und nicht zuletzt macht sich hier der Einfluss wirtschaftlicher Interessengruppen bemerkbar, die insistieren, dass Deutschland eine sichere Rohstoffversorgung benötige und neue Absatzmärkte für die rasant wachsende Industrieproduktion. Der rührigste und gewandteste Lobbyist ist Adolph Woermann selbst, der Bismarck – einen alten Bekannten – in zahlreichen Gesprächen beeindruckt. Dabei will der Reichskanzler nicht von Kolonien sprechen, weshalb er den Begriff »Schutzgebiete« erfindet, und er verlangt, allerdings vergebens, dass die Handelshäuser die Verwaltung vor Ort und auch die Kosten übernehmen. Als im Sommer 1884 die Möwe mit Nachtigal und Buchner an Bord vor der Küste Kameruns aufkreuzt, hat Woermann sein erstes Ziel erreicht: Die englische Konkurrenz ist abgehängt. Wenige Tage nach der Vertragsunterzeichnung zwischen den Deutschen und den Duala geht der britische Konsul Hewett an der Wuri-Mündung vor Anker, um den Duala nun doch noch das englische Protektorat anzubieten, doch da gibt es für ihn nichts mehr zu gewinnen außer dem spöttischen Titel The too late consul.

An der Berliner Kongokonferenz, die am 15. November 1884 beginnt, nimmt Adolph Woermann nicht nur als Kaufmann teil, sondern auch als frisch in den Reichstag gewählter Abgeordneter von der Nationalliberalen Partei, die eisern zu Bismarck hält und den Imperialismus als Kulturtat betrachtet. Und so erlebt er unmittelbar, wie die Kontinentalmächte die Beute unter sich aufteilen, wobei die jeweilige Gebietsgröße sich nach den Grenzen bestimmt, die auf der Karte Afrikas am Konferenztisch vorläufig markiert werden. Als die Konferenz am 26. Februar 1885 zu Ende geht, umfasst das deutsche Schutz- und Woermanns Handelsgebiet Kamerun 495000 Quadratkilometer. Es ist nur 45858 Quadratkilometer kleiner als das Kaiserreich. Adolph Woermann ist der Aufstieg zum größten deutschen Westafrikakaufmann und mit seiner Woermann-Linie zum größten Privatreeder der Welt nicht mehr zu nehmen.

Die Engländer nennen Westafrika white man’s grave, Buchner nennt es einen der »giftigsten Fieberorte unserer schönen Erde«. Als er im Mai 1885 Duala nach zehn Monaten verlässt, glaubt er sich dem Tod näher als dem Leben, wobei er das Leben in dieser Zeit durchaus als Hölle empfand. Am 17. Mai ankert die Ella Woermann vor Duala. Buchner wird auf einer Bahre an Deck gebracht, schweigend nimmt er Abschied von Natur und Mensch (»Lebt wohl, ihr Ölpalmen und du schnödes Unkrautgesindel«), zurück bleibt sein Hass auf die Duala, »dieses elende Menschenpack«, und eine schöne Erinnerung, ausgerechnet an King Bell und dessen Familie. Von Anfang an hatten King Bells »stattliche Gestalt, seine angenehmen Züge, die fast europäisch waren, würdig, ernst und ruhig«, Buchner beeindruckt, auch sein Benehmen und sein Takt »ließen nichts zu wünschen übrig«. Dass der Deutsche King Bell allerdings für den »besten Negerhäuptling [hielt], mit dem ich je zu tun gehabt habe«, lag vor allem daran, dass King Bell, sehr zum Verdruss vieler Duala, das Wort, das er den Deutschen vertraglich gegeben hatte, gehalten und seine Unterwerfung nie in Frage gestellt hat. Das machte Buchner auch King Bells ältesten Sohn, August Manga Ndumbe Bell, sympathisch, »ein merkwürdig schöner Neger«, der in Bristol erzogen worden war und in »fast vollendetem Englisch« mit Buchner sprach, wenn der von Fieberanfällen ans Bett gefesselt war. Mit Sicherheit hat Buchner auch den ältesten Enkel King Bells, Rudolf Duala Manga Bell, kennengelernt. Er war elf Jahre alt, als Lock Priso mit seinen Leuten Bell-Town, den Wohnsitz von Großvater, Sohn und Enkel Bell, in Schutt und Asche legten. Im Mai 1885 verlässt Max Buchner Kamerun – von chronischem Fieber zermürbt, abgemagert von 140 auf 90 Pfund, aber im Besitz von Lock Prisos Kanuschmuck – an Bord der Ella Woermann.

II.

KAMERUN IST EINE KOKOSNUSS. Wer die Frucht genießen will, muss die Schale sprengen. Und das geht nun einmal nur mit Gewalt. Zumal die Duala kein Entgegenkommen zeigen und ihr Handelsmonopol hartnäckig verteidigen. Sie kaufen europäische Produkte in den Faktoreien von Woermann, Jantzen & Thormählen oder der englischen Händler auf Kredit und bezahlen mit Kautschuk, Palmöl oder Elfenbein, das sie von anderen Stämmen im Landesinnern beziehen, die häufig ihrerseits nur Zwischenhändler sind, ebenfalls für ihr Gebiet auf ihrem Monopol bestehen und den Durchzug von Handelskarawanen mit allen Mitteln verhindern. Weil die ins Inland führenden Flüsse für größere Schiffe unpassierbar sind und der Urwald, der gleich hinter dem Küstenstreifen beginnt, für Karawanen ohne kundige Führung undurchdringlich ist, haben die Agenten von Woermann und Jantzen & Thormählen ein Problem. Aber schon bald haben sie auch eine Idee. Sie erhöhen die Preise für die europäischen Waren und setzen die der Landesprodukte herab. Um das durchzusetzen, verabreden sie mit den englischen Händlern eine gemeinsame Handelssperre. Die Duala antworten mit einer Gegensperre und stellen den Verkauf von Lebensmitteln, Trinkwasser und Feuerholz ein. Eine Pattsituation, die zum Vorteil der Deutschen aufzulösen Julius von Soden, dem ersten deutschen Gouverneur in Kamerun, trickreich gelingt. Soden, von Kaiser Wilhelm I. persönlich im März 1885 zum Gouverneur ernannt, ist Jurist und ein erfahrener Diplomat, zuletzt war er in Sankt Petersburg im Einsatz. Sein Plan benachteiligt zwar die Duala, aber weil die deutschen Agenten – wie vom Gouverneur gewünscht – lauthals zum Schein protestieren, wähnen die Duala sich als Gewinner. Soden meldet nach Berlin: »Ohne diese Komödie wäre es mir nicht gelungen, die Eingeborenen zur Nachgiebigkeit zu bewegen.«

Die Duala versuchen, die niedrigen Preise an ihre Handelspartner im Landesinnern weiterzugeben, stoßen jedoch auf Widerstand. Als Häuptling Money in Bimbia den Deutschen zudem die Gefolgschaft verweigert, schickt der Gouverneur das Kanonenboot Cyclop. Bimbia wird niedergebrannt, Money abgesetzt und ein neuer Oberhäuptling ernannt, der den gouverneurtreuen King Bell als Oberherrn anerkennt. Den Abo und Wuri, die ebenfalls »fortgesetzte[n] offene[n] Ungehorsam« an den Tag legen, ergeht es nicht besser. Auf Befehl von Sodens Stellvertreter, Jesko von Puttkamer, beschießt das Kanonenboot ihr Dorf Banambasi eine Stunde lang, bevor es vom Landungskorps »in Brand gesteckt und vernichtet« wird; einen Tag später wird ein zweites Dorf niedergemacht. Das sind nicht nur erste Erfolge der deutschen Kolonialverwaltung und der deutsch-kamerunischen Handelsbeziehungen. Auch der deutsche Wortschatz profitiert. Der Euphemismus »Strafexpedition« – zutreffend wäre Feldzug oder Überfall – wird zu einem der bedeutsamsten Substantive der deutschen Kolonialpolitik.

Der Zwischenhandel aber ist damit noch nicht ausgeschaltet, noch reicht die Macht des Gouverneurs nicht weiter als ein Geschützrohr des Kanonenboots. Und nicht nur die deutschen Händler fordern unermüdlich, »den Zwischenhandel der Eingeborenen militärisch wegzumanövrieren«. Auch die Gesellschaft für deutsche Kolonisationmkono wa damuKölner Zeitung