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Michael Rutschky

Mitgeschrieben

Die Sensationen

des Gewöhnlichen

BERENBERG

EINS

März

Abendroth, der traurige Cheflayouter, feiert seinen 53. Geburtstag. Es gibt Matjesfilets mit Pellkartoffeln und einem Kräuterquark, der rasch verzehrt ist. Dazu Bier. Man steht herum auf einem Gang im Hauptgebäude, man lächelt einander stumm an, oder man wechselt Worte, die nicht weiterführen.

Endlich kommt der Verleger und versammelt in konzentrischen Kreisen Zuhörer um sich. Er erzählt nämlich, wie er letzte Nacht so betrunken war, dass er nicht mehr wusste, wo er sich befand – mit Abendroths Freundin in ihrer Wohnung?

»Ich habe ihr erklärt, dass im Allgemeinen Abendroth der Richtige für sie ist – im Detail aber ich.« Forciertes Berlinern; er lacht dramatisch vorneweg, aber die Angestellten folgen nur zögernd.1

Bei einer kleinen Feier in der Staatskanzlei überreichen die bayerischen Zimmerleute dem Ministerpräsidenten einen Ehrenhut. »Glück wünschen wir dem Mann im Lande, dem höchstes Amt ist anvertraut, der gefährliche Entwicklung sofort erkannte und stets auf Recht und Ordnung schaut.« 2

Mehrere Anrufe von Rosi Cieslak, die bei der Reportage von Janet Flanner über den Kunstraub der Nazis Korrektur liest; mehrere kleine Kontroversen. Schließlich: »Das kann man natürlich nicht sagen, ›diese Gebäude dominieren den Königsplatz‹.« – »Warum kann man das nicht sagen?« – »Das geht einfach nicht.«

Rosi Cieslak fühlt sich deklassiert als Korrektorin (sie sei von Beruf Historikerin, betonte sie während einer anderen Kontroverse), und sie äußert sich gern apodiktisch.

R. fährt in Richtung Marmorhaus, Leopoldstraße. Er will Kinokarten besorgen. Aber es findet sich kein Parkplatz – eigentlich verlangt es R. auch nicht wirklich nach »Flash Gordon« – dafür legt er sich den Gedanken zurecht:

Es sei typisch für das gegenwärtige Leben in den Städten, dass man den angemessenen Vergnügungen nicht souverän nachgehen könne; das Parkplatzproblem deute darauf, ebenso die Notwendigkeit, Kinokarten im Voraus persönlich zu kaufen; denn telefonische Vorbestellungen nehme ein Kino wie das Marmorhaus nicht an. –

Sie gingen dann zu Fuß, kauften die Karten an der Kasse und verbrachten noch eine Stunde im Leopold an der Leopoldstraße. Ein Paar am Nebentisch lud zur genaueren Beobachtung ein:

Beide jung, mager und exquisit hässlich – das Prinzip ihrer Selbstinszenierung. So fährt sich der junge Mann zuweilen mit der Hand durch die kurzgeschnittenen Haare am Hinterkopf und bringt sie wieder durcheinander. Außerdem seltsame Verrenkungen – so kann man eine Zeitlang denken, dem Mädchen fehle der rechte Arm, weil sie ihn hartnäckig unter dem Tisch verbirgt.

Immer wieder verrenken sie sich gegeneinander, bringen dem anderen die jeweilige Hässlichkeit nahe und küssen sich – der junge Mann berührt mit den Lippen die graue Haut auf der Wange des Mädchens.

Ebenso wie im Verliebtheitszustand mochten sie sich in einer extremen Krise ihres Verhältnisses befinden – einmal legt das Mädchen den Kopf auf den Tisch, auf die verschränkten Arme, was den jungen Mann zu einer besonders geschraubten Verrenkung provoziert – ebenso in einer Liebeskrise wie im Zustand ausgezeichneten Wohlbefindens.

An der Tankstelle, gegen elf Uhr, wirft ein Mittvierziger, der getankt hat und zum Bezahlen geht, R. einen Blick zu, der R. bekannt vorkommt, weil auch er ihn an einem Sonntagvormittag an der Tankstelle auszusenden pflegt.

Es ist ein stolzer Blick, wie der von Seefahrern oder weitreisenden Kaufleuten, die sich im Hafen oder in der Karawanserei begegnen. Vielleicht werden sie einander nie wiedersehen, denn unendliche Räume voller Lebensgefahren liegen vor ihnen.

Dabei geht es an einem solchen Sonntagmorgen bloß um eine Fahrt nach Landshut oder an den Chiemsee.

Christel Doppler, die Redaktionssekretärin, müsste jetzt ein weiteres Manuskript abtippen; aber sie sitzt über ihrem Lehrbuch des Italienischen. Sicher, sie könnte sich rechtfertigen: Italienisch zu sprechen, das trage bei zu ihrer Qualifikation als Redaktionssekretärin.

Aber das ist nicht der Punkt. Es geht darum, während des Arbeitstages etwas für sich selber zu tun und für niemanden sonst. Die Selbstbehauptung des Angestellten.

R. ruft die Herausgeberin an, wegen des Honorars, das Hans Platschek für seine Reportage über die holländische Kunstförderung angeboten werden solle. »Warum flüstern Sie eigentlich immer so?« Das stimmt, R. pflegt seinen Namen zu flüstern, wenn er die Herausgeberin anruft.

Wenig später ruft sie zurück. Ob R. ihr zufällig helfen könne, wie nämlich der Autor von »A Taste of Honey« heiße? – »Shelagh Delaney.« – »Ich wusste doch, dass Sie so etwas wissen!«

So etwas passierte heute zum ersten Mal.

Die Herausgeberin misst einige Zentimeter mehr als R. Freilich sind sie gleichaltrig – wenn die Herausgeberin nicht sogar ein paar Jahre jünger ist. Doch erscheint sie ihm zuweilen von einer schweren Monumentalität – die sich aus ihrer Rolle (die Herausgeberin) herleitet.

Während sie sich, wie sie mal erzählte, immer noch danach sehnt, ein kleines zartes Mädchen zu sein.

Enzensbergers Essay wider die Konsequenz beginnt mit einigen wörtlichen Reden. Sie verschwanden aber im Satz; die Apostrophe am Satzanfang, sagt Dirk Bickel, hätten die Herausgeberin gestört, Augenpulver.

Doch muss man die wörtliche Rede markieren, sonst verwirrt sich der Text. Im Vollgefühl dieser Wahrheit ruft R. die Herausgeberin an – und ist plötzlich heiser. Worauf sie sich räuspert.

Das Lokal in Bad Tölz heißt Hubertus-Stuben. An den Nebentisch setzen sich zwei ältere Damen, beide ganz in Rot; die eine führt einen Schäferhund mit sich, Probleme der Friedfertigkeit zwischen ihm und N.

Die eine rote Dame bestellt ein Cordon bleu, die andere russische Eier. Sie unterhalten sich. Kathrin hört sie über Königin Silvia von Schweden sprechen; R. hört die andere sinnieren: »Ja, und dann bekam er ja Berufsverbot …«

Für bürgerliche Damen unterdessen ein ganz normales Wort!, erörtern sie auf der Heimfahrt.

Morgens steht am Auto die rechte Vordertür offen. Jemand hat den Baedeker zerrissen, den Innenspiegel abgebrochen, ein paar Hebel am Armaturenbrett herausgerissen.

Kathrin entwickelt die Idee: Ein Jugendlicher, tagsüber artiger Gymnasiast, wollte sich beweisen, dass er nachts nichtsdestotrotz zum Punk taugt, der zu vandalieren vermag – so wie unsereins als Student mal Bücher oder Lebensmittel geklaut haben musste.

»Ich bin krank, ich habe Fieber«, erklärt R. – »Ich bin auch krank«, repliziert Karl Markus Michel, »aber Fieber bekomme ich leider nie.«

Dann betritt Frau K. den Raum und bringt Michel die unzusammenhängende, teilweise unverständliche Waldemar-Müller-Kolumne. »Mach ihn halt heute Abend fertig«, rät sie Michel heiter, »und telefoniere mit Gaston. Magnus muss ihn ja auch immer umschreiben.«

Der bayerische Ministerpräsident wiederholt bei einer Vorstandssitzung seiner Partei und bei einer anschließenden Pressekonferenz in München seine Einschätzung, dass der militante Kern der Hausbesetzer mit dem Terrorismus sympathisiere, woraus eine neue terroristische Bewegung entstehen könnte. In Nürnberg kam es kürzlich zu 140 Festnahmen unter Hausbesetzern.

Auf der Couch liegend, im Bademantel, leicht fiebrig, zerstreut einen Roman lesend: da wird man von der Frage, »wer bin ich?«, auf das angenehmste erschüttert.

Die Regeln des Anredens bleiben anhaltend ungeklärt – und R. glaubt, dass vor allem er es sei, der zu der Unklarheit beiträgt.

Im Allgemeinen gilt – das hatte wohl Enzensberger eingeführt – Vorname und »Sie«, der angloamerikanische Brauch. Frau K. freilich hat dafür gesorgt, dass sie sich mit allen duzt – außer mit R. –, auch mit der Herausgeberin, dem Verleger und Elli Ettlich, der Redakteurin von Photo. Ausgenommen ist Jürgen Felz (ebenfalls Photo), mit dem Frau K. ausdauernd einen Kabbelflirt unterhält; und Christel Doppler, die Redaktionssekretärin, bei der sie sich, wie bei R., an die Grundregel hält.

Daran hält sich auch Karl Markus Michel – ausgenommen bei Frau K. und, natürlich, bei seinem alten Freund Enzensberger – Michel, den wie diese »Carlos« zu nennen R. strikt vermeidet. Dirk Bickel sagt »Herr Michel« und »Herr Rutschky« – bis R. einmal »Dirk« sagte, was ihn gleich darauf »Michael« verwenden ließ.

Und wieso trägt R. zur Verunklarung bei? Indem er sich sowohl gegenüber Frau K. als auch gegenüber Michel weigert, von »Magnus« zu sprechen – wie der Usus gebietet –, und anhaltend »Enzensberger« sagt.

R. fährt mit einem Taxi in die Redaktion. Auf der Leopoldstraße steht ein schwer beschädigter Citroën; Polizisten vermessen Strecken und protokollieren die Abläufe, soweit sie zu erschließen sind.

Sein Taxifahrer entwickelt eine Theorie des deutschen Unfalls: »Wir haben uns wieder mal übernommen.« Er sei in Afrika, in den USA und sonstwo Auto gefahren, aber nirgends habe er solche Unfälle wie in Deutschland gesehen. »Kein Wunder, die Deutschen haben sich wieder mal übernommen«, wiederholt der Taxifahrer genüsslich.

Ein Bekannter habe ein Haus am Ammersee gekauft, an dem er noch 16 Jahre bezahlen müsse; um halb sechs Uhr morgens stehe er auf, fahre mit dem Auto zum Westfriedhof, um es dort zu parken. Dann mit der Straßenbahn zum Harras und mit der U-Bahn bis zum Odeonsplatz, wo ein Büro mit anstrengender Arbeit ihn erwarte. Und abends die ganze Strecke zurück.

»Ich sehe es den Leuten an, die am Steuer sitzen; die sind mit ihren Gedanken ganz woanders.«

Der Juttabruder steht im Schlafanzug da, und Kathrin piekt ihn mit dem Zeigefinger: »Du hast ja schon einen Bauch!« – »Ich komme jetzt in die Jahre«, repliziert er zeremoniös, »wo ein Mann sich einen Bauch zulegen darf.«

Er wird dies Jahr 33. Am Nachmittag versinkt Kathrin seinetwegen in traurige Gedanken, sein Schweigen, sein Ungeschick. Als er abends aus dem Tierpark zurückkommt, kocht sie für ihn – er studiert unterdessen den Zoo-Prospekt, den er dort eingesteckt hat – sie isst mit ihm gemeinsam an dem Tisch im Studio, und sie plaudern. »Wusstest du«, fragt sie R. später begeistert, »dass ein Pinguin 100 Minuten unter Wasser bleiben kann?«

Dann gehen sie zusammen ins Kino, David Lynch, »Der Elefantenmensch«, der Kathrin tief berührt und ausführlich beschäftigt. Wie das Monster immer verständlicher und sympathischer wird im Lauf der Geschichte, sie muss es immer wieder nacherzählen.

Wieder einmal wirkt sich die Unlust, das Gefühl, das Ausland nicht nur zu besuchen, sondern in ihm leben zu müssen, stark aus. Warum? Morgens sah R. am Straßenrand Gaston Salvatores BMW stehen – vom Verlag gestellt, soweit er weiß – : Einer der »hohen Herren«, wie Michel zu spotten pflegt, beehrte also die Redaktion und bedrohte das friedliche Handwerk. Dabei gibt sich Gaston Salvatore immer freundlich und umgänglich.

Allerdings stärkt er die Position von Frau K. »Und was gibt es bei euch Neues?«, fragte sie morgens beim Hereinkommen chefhaft herausfordernd. »Der Brief aus Kairo war ja sehr schön.« Sie meinte Michel und R., die Einheimischen; denn Wilhelm Genazinos Text kam über Michel hierher – sie haben also ihre Arbeit gut getan, wofür Frau K. sie lobt.

Regelmäßig könnte man in ihre Tagebücher die Kränkungen eintragen, die alle Teilnehmer im Kreis herum erleiden.

So fragte die Herausgeberin nach der Konferenz am Morgen Gaston Salvatore, ob er um eins zum Mittagessen mitkomme. Sie fragte unsicher und ängstlich. Dass sie weder Michel noch Dirk Bickel, die wie R. herumstanden, fragte, wäre in deren Kränkungstagebücher zu schreiben. In ihres aber: dass Gaston Salvatore prompt ablehnte.

Freilich: als R. mittags ins Büro zurückkehrt, steht sein BMW vor dem Tivoli. Er hat es sich anders überlegt und der Herausgeberin die Kränkung erspart.

Gaston Salvatore sitzt herum, telefoniert ein bisschen, blättert in Zeitschriften, plaudert mit Frau K., raucht, seufzt, geht nach oben in das Zimmer von Elli Ettlich, trinkt dort Kaffee, plaudert, seufzt, raucht, blättert in Zeitschriften.

Dann dasselbe wieder unten. Am Nachmittag, Elli Ettlich bringt R. sein Englisch-Wörterbuch zurück, kommt er in dessen Zimmer, legt Elli Ettlich den Arm um die Schultern und fragt weich-gequält: »Elli? Gehen wir nach oben? Kaffee trinken?«

Auch Christel Doppler hat nichts zu tun und blättert in einer Illustrierten. Als R. vorbeikommt, auf dem Weg zum Klo, amüsiert sie sich gerade über eine Ratgeber-Rubrik: Eine Frau leidet unter Zwangsideen, was sie dagegen tun soll; immer wieder muss sie nachschauen, ob sie wirklich das Gas abgestellt hat. Dann sieht sich Christel Doppler einer Reklame für Schokolade gegenüber: »Die möchte ich jetzt essen.«

Später geht R. in eine Konditorei, kauft 200 Gramm Mini-Florentiner (von der Größe eines Fünfmarkstücks) und isst sie in einem Zug auf.

Es klingelt, und jemand kommt zur Vordertür herein. R. meint Enzensbergers Stimme zu hören und versucht sich zu beruhigen: Das könne gar nicht sein, Enzensberger weile doch noch in Australien.

Aber was R. dann näher hört, lässt keinen Zweifel zu: Er ist es. Freilich kommt er nicht in das Zimmer von R. Und R. geht nur in das Zimmer von Frau K., erkundigt sich nach ihrem Auto; dessen Beschädigung durch den Unfall gestern, wiegelt sie ab, sei harmlos; R. vermeidet es, sich umzudrehen und in das Zimmer von Michel zu schauen, wo Enzensberger sitzt und liest.

Als R. am Nachmittag zurückkommt, ist er weg, und R. kann sich wieder frei durch alle Räume bewegen.

Um vier Uhr, zum Kaffeetrinken am Samstagnachmittag, kommt Hartmut Eggert. Er ist bei Jane Gerhardt und Bernd Hepp ausgezogen und logiert jetzt bei Kurt Scheel.

Die halbe Nacht musste er gestern Bernd Hepps Klagen anhören: Jane leide an einer Torschlusspanik und halte sich einen neuen, jüngeren Freund – Andeutung: mit größerer sexueller Leistungsfähigkeit. Am Mittwoch freilich aß Kathrin mit Jane Gerhardt zu Abend und hörte eine ganz andere Geschichte: Beim Besuch ihrer Schwester habe Bernd Hepp diese zu verführen versucht, die Schwester habe es ihr aber gleich angezeigt, und Bernd leugnete lauthals: Er als Busenfetischist würde doch niemals, niemals mit einer Frau schlafen wollen, die nur noch eine einzelne Brust hat (die Schwester leidet an Krebs – unsichere Überlebenschancen). Eine derart geschmacklose Verteidigung, dass sie ihn erst recht verdächtig machte.

Von hier aus habe sie, Jane, herausgefunden (erzählte sie Kathrin), wie er, Bernd, jede Menge weiterer Liebschaften unterhalte, so mit einer Apothekerin in Berlin – die ihm, wie er sich verteidigte, bloß von Nutzen sei, weil sie ihm kostenlose Beruhigungsmittel gegen seine Angstzustände beschaffe.

Insbesondere belaste es sie, Jane, dass sie letzten Dezember eine Bürgschaft über 250000 Mark für seine neue Fernsehfirma unterschrieben habe. Deshalb dringt sie jetzt auf den Verkauf des gemeinsamen Hauses.

Das alles erzählt Kathrin Hartmut Eggert aber nicht. Er wird demnächst mit Jane Gerhardt zu Abend essen und es von ihr selbst erfahren.

Nach dem Kino, »Außer Atem«, mit Rainald Goetz (und ohne Kathrin) in einer Szenekneipe gleich um die Ecke.

Ein Mädchen kommt an ihren Tisch: »Kann ich ein paar Blättchen von dir haben?« Sie hat beobachtet, dass R. die Zigaretten selber dreht – sie nimmt sich gleich mehrere aus der Packung. »Ich hab dir noch ein paar drin gelassen«, Gelächter: Tatsächlich hat sie die Packung so gut wie leer gemacht.

»Das hasse ich an dieser Szene«, erklärt Goetz, »den Sozialismus, dass sie so tun, als ob alles allen gehört.« – »Wieso?«, wiegelt R. ab, »ich hätte doch nein sagen können. Weil nur noch so wenig Zigarettenpapier übrig sei.«

April

Ein Roland Ludwig aus Reutlingen bietet Texte an, die unmissverständlich bezeugen, dass er, wie Wellershoff zu sagen pflegt, »nicht berechtigt ist zu schreiben«. Aus dem Begleitbrief: »… warum wird, wer Humanismus und Aufklärung nicht aus seinem Kopf kriegen kann, sie verwirklicht sehen will, in die unendliche Kälte des Profitschattens abgestellt, nach draußen, nach außerhalb, ins Abseits der Gesellschaft?«

Folgt eine Kurzbeschreibung, wie er weder als Germanist noch als Nachrichtentechniker Arbeit gefunden habe und von 513,12 Mark Arbeitslosenhilfe leben müsse. »Ich arbeite schon einige Zeit an einem Roman und bin dabei, sehr viel Kurzprosa bis zur Druckreife zu überarbeiten. Insofern ist jeder verkaufte Text eine Ermutigung und eine Existenznotwendigkeit für mich als Schriftsteller. Andererseits frage ich mich: Die seltenen Glücksfälle in der Literaturhistorie, wo ausgezeichneter Journalismus und der Zeit widersetzte Poesie zusammentreffen, wer verhindert sie permanent? Wer stellt die Verfasser und Dichter, kaltblütig und betriebsblind, ins soziale und poetische Abseits? Hat sich so wenig geändert in den Jahrhunderten abendländischen Fortschritts?«

Der Brief ist mit »Lieber Hans Magnus Enzensberger« überschrieben, verzichtet aber aufs Duzen. Frau K. hat die Manuskripte zurückgeschickt und den Brief in den Papierkorb geworfen.

Der bayerische Ministerpräsident empfängt im Prinz-Carl-Palais 91 Polizisten, die in den letzten Jahren bei Einsätzen verletzt worden sind. Besondere Aufmerksamkeit widmet er fünf Beamten, die an den Auseinandersetzungen um das Atomkraftwerk in Brokdorf (Schleswig-Holstein) beteiligt waren. Ein demokratischer Rechtsstaat könne solche gewalttätigen Konflikte keinesfalls dulden – im Übrigen beobachte er mit Sorge, dass in der Gesellschaft zunehmend Verständnis für diese Art von Gewalttätigkeit sich ausbreite.

Anders als die Anreden machen die verschlossenen Türen und das Anklopfen keine Probleme.

Christel Doppler, die Sekretärin, sitzt ohnehin im Offenen, nämlich in der Diele der ehemaligen Villa, von der aus die Treppe nach oben führt, wo Jürgen Felz und Elli Ettlich von Photo ihre Türen regelmäßig geöffnet halten. Das Zimmer von R. dagegen, unten, ist regelmäßig geschlossen, im Unterschied zu dem von Frau K., die zwei ihrer drei Türen offen lässt: in die Diele (zu Christel Doppler) und in das dreifenstrige Zimmer von Dirk Bickel, eine Art Alkoven. Dessen Tür zu Michel ist wiederum geschlossen; ebenso Michels Tür zu Frau K.

Was das Anklopfen betrifft, so pflegen Christel Doppler ebenso wie Frau K. bei Michel wie bei R. sich seiner zu befleißigen; bei R. kommt Bickel meist so herein. Michel hat sich bei R. einmal das Anklopfen verbeten, und er betritt dessen Zimmer ebenfalls ohne Signal – freilich auffallend laut und kräftig die Tür öffnend, was gar nicht zu ihm passt.

R. war beim Zahnarzt, hat sich die Brücke einsetzen lassen und dann Schmerzen, gegen die er Aspirin schluckt. Seinen Theorien zufolge müsste er zu jeder zugreifenden Tätigkeit unfähig sein. Tatsächlich aber redigiert und montiert er, ins Büro zurückgekehrt, die von Axel Matthes vermittelten »Aufzeichnungen aus Nicaragua« mit leichtester Hand.

Der Gaststätte Weißes Lamm in Schongau bescheinigt eine ministerielle Urkunde, dass sie sich um die Pflege des traditionellen Landgasthofes verdient mache oder so ähnlich, Kathrin liest die Urkunde richtig durch. Sie essen Rehbraten mit Spätzle, Blaukraut und Salat – R. isst sehr vorsichtig mit seinen schmerzenden Zähnen.

Am Nebentisch eine Gruppe Jungs, die norddeutsch spricht; R. hält sie wegen ihrer kurzen Haare für Rechtsradikale; Kathrin meint später, auf der Rückfahrt, als sie die Szene noch einmal durchgehen, es seien Absolventen einer Segelschule am Ammersee gewesen.

An einem anderen Tisch spielen junge Männer Karten, Einheimische, aber mit langen Haaren und Bärten; einer schimpft immer wieder los, »so einen nennt man einen schlechten Verlierer« (kommentiert Kathrin), und die anderen replizieren nicht weniger drastisch. Kathrin meint, gleich müsse die zünftig-bayerische Prügelei losgehen, wie sie hier zum Brauchtum gehöre (und zu dem traditionellen Landgasthof passt). Die Kellnerin, ländlich kurz und breit, im Dirndl, hat naturkrauses Haar, das sie aber höchst ungeschickt oben nach vorn und seitlich nach hinten zu frisieren versucht hat, wo es sich überall sträubt und absteht.

Und nicht zu vergessen: Die drei Berliner, die über die »Literarisierung der Wissenschaft« und den »Regionalismus des Argumentierens« räsonieren.

»Der Magnus«, erklärt Frau K., sei höchst angetan von der Nicaragua-Geschichte und wünsche sie unbedingt an Stelle der von Gaston Salvatore so heftig befürworteten El-Salvador-Recherchen ins Heft. (Gestern bei dem Ausflug erzählte Mathias Greffrath, er habe kürzlich Frau K. tief gekränkt, als er sie nicht auf Anhieb duzte.)

»Damit«, erklärt R. zeremoniell-ironisch, »will ich nichts zu tun haben. Das sollen die hohen Herren unter sich ausmachen.«

Später kommen beide in die Villa; und wieder ist es nur Gaston Salvatore, der R. begrüßt. In dessen Zimmer liegt der Hund auf einem Sessel, und Gaston Salvatore will ihn berühren, worauf der Hund knurrt und bellt. »Er ist sehr zurückhaltend«, erklärt R., und Gaston Salvatore repliziert: »Hunde sollen ja so ähnlich sein wie ihre Herren.«

Am Morgen kommt William Iser in die Redaktion – eigentlich sollte er schon gestern eintreffen.

Aber er wollte doch noch das verabredete Manuskript über die Berliner Hausbesetzer fertigstellen, ein Manuskript, von dem er am Telefon behauptet hatte, es fehlten nur zwei, drei Seiten. Allerdings ist das Manuskript, das er jetzt mitbringt, zu weniger als der Hälfte fertig. Er soll sich also hier hinsetzen und es unter Aufsicht abschließen.

Gestern bestritt Gaston Salvatore den größten Teil der Redaktionskonferenz damit, immer wieder diesen Artikel ins Spiel zu bringen, darauf zu dringen, dass in den Strukturplänen Platz für William Iser offen bleibt. Stumme Blickwechsel der anderen; niemand sagte was dagegen. Morgen um zehn, konnte die Herausgeberin durchsetzen, müsse das Manuskript fertig sein.

Irene Dische ist eingeflogen worden mit ihrem Text über die reichen Juden in der BRD. Das Manuskript wird halbiert, Michel redigiert die erste, R. die zweite Partie, während Irene Dische mit Gaston Salvatore und Frau K. in deren Zimmer sitzt und plaudert. Einmal kommt R. herein und stellt zwei Fragen, die sie unter Entschuldigungen, schlecht formuliert zu haben, beantwortet. Gaston Salvatore und Frau K. hören zu und schweigen.

Es verhielt sich zwar so, dass Michel und R. jetzt die dienstbaren Geister machen mussten; der Druck des Redaktionsschlusses beförderte sie aber zugleich zu den einzigen, die richtige Arbeit haben.

Der Juttavater sitzt in seinem Sessel vor dem Fernseher. Er trägt Kopfhörer, weshalb das Gerät ohne Ton laufen kann – bis zu sieben Stunden täglich, klagt die Juttamutter, verbringt er so.

Es gibt eine Fernbedienung, und er wechselt ab und zu die Programme: So möchte er sich einen Bericht der Tagesschau über akute Probleme in Krankenhäusern ersparen. R. braucht ihn nicht zu überzeugen, dass »Nur die Sonne war Zeuge« sie besser unterhalten wird als die Wencke-Myhre-Show: Er merkt es gleich selbst.

Allerdings lässt seine Aufmerksamkeit oft nach; er schließt dann die Augen und scheint zu schlafen, und sein altes Gesicht schaut schon so aus wie das eines Toten. Doch hat er den Kopfhörer nicht abgenommen; die anhaltenden Tonfolgen des Dialogs, auch die Filmmusik tun ihm gut, so wie ein Kind besser einschläft, wenn es im Nebenzimmer die Eltern plaudern hört, die es gebeten hatte, sie möchten die Tür einen Spalt offen lassen.

Der Fernseher hält für den alten Mann die Tür zum Leben offen, während er sich langsam daraus zurückzieht. Unterdessen saßen Kathrin und Jutta mit der Juttamutter in der Essecke vor der Küche zusammen. Sie schnitten Stoff zu für Klamotten und räsonierten, wie man hörte, ununterbrochen.

Irgendwo zwischen Fulda und Würzburg winkt sie ein Polizist auf die äußerste linke Fahrbahn: die beiden anderen sind, wie sich gleich zeigt, gesperrt. Mehrere Autos, auch welche vom ADAC, ein Hubschrauber, dann der Unfallwagen.

Er liegt auf dem Dach, das bis auf die Höhe der Sitze eingedrückt ist. Kathrin schaut weg; R. sieht einen Mann auf der Bahre, um die weißgekleidete Helfer knien. Er liegt auf der Seite, viele kleine Wunden im Gesicht. Er scheint ununterbrochen zu reden.

Enzensberger steht vor dem Pickboard, auf dem verschiedenfarbige Kärtchen mit den einzelnen Projekten haften. »Die Lage ist katastrophal.« Das ist sie aber gar nicht, und Frau K. sucht ihn zu beruhigen. Vielleicht aus schlechtem Gewissen; denn gestern erklärte sie R. heiter, »im Augenblick müssen wir ja keine Artikel ranschaffen«.

Es brauchte eine Weile, bis R. verstand, dass Enzensberger »Panik« (so nennt er das) unumwunden dann äußert, wenn er sie empfindet, unabhängig von der Realität. »Alles geht schief, wenn ich mich nicht darum kümmere.«

Tatsächlich tritt er hier nur selten in Erscheinung und bringt gern zum Ausdruck, dass er Wichtigeres zu erledigen hätte als diesen redaktionellen Kram. R. denkt von sich ja ungefähr dasselbe.

Das Autofahren bewirkt keine Linderung; eher verschärft es die Schmerzen durch seine Selbstverständlichkeit (die gewöhnlich befriedigt). Dass die Sonne scheint, die Landschaft sich schön weitet und wieder zusammenzieht, dass Biberach ebenso wie Tübingen hübsch ausschaut, dass dies alles, wie Kathrin lobend zusammenfasst, halt Süddeutschland ist, es scheint gar nicht zu existieren.

Kathrin wollte wissen, warum R. in Freiburg Frederick Wyatt und seiner Frau nicht ausführlich von dem Konflikt erzählt habe. Er musste ihr erklären, dass ihm in einer solchen Lage einfach die Worte fehlen. Tatsächlich formulierte es aber in seinem Kopf unaufhörlich an dem Brief, dem Abschiedsbrief.3

Das Schreiben des Briefes entwickelt sich mit einer Selbstverständlichkeit und Präzision, die das Grübeln und Leiden der letzten Tage rückwirkend in Arbeit verwandeln.

Kathrin bemerkt, nachdem R. ihr, vom Alkohol behindert, den Brief vorgelesen hat: Er sei eben Schriftsteller; denn reden könne er halt nur schlecht in solchen Situationen, wohl aber darüber schreiben.

Michel kommt mit dem ihm eigenen eleganten Ungeschick ins Zimmer und spricht über den Brief an die Herausgeberin, von dem R. ihm ja eine Kopie habe zugehen lassen.

Ja, er habe von der Operation der Herausgeberin erfahren; freilich habe er von ihrem Brief nicht, wie darauf vermerkt, eine Kopie erhalten. Die Operation selbst hätten Enzensberger, Gaston Salvatore und die Herausgeberin irgendwie verabredet.

Im Übrigen bilde das Hauptproblem, dass der Verlag nicht nur wegen des schlechten Verkaufs der Zeitschrift, sondern vor allem deshalb in Schwierigkeiten stecke, weil die holländischen Partner sich zurückziehen wollen. Jetzt suche man nach neuen Partnern; vorerst müsse man an allen Ecken sparen, vor allem stehe die Vorfinanzierung der Zeitschrift auf zwei Jahre in Frage. Einstellen könne man sie aber auf keinen Fall, das würde die Anzeigenkunden misstrauisch machen im Hinblick auf die anderen Objekte des Verlags.

Im Übrigen habe er beobachtet, dass der Vorhalt, R. engagiere sich zu wenig für die Zeitschrift, schon vor seiner Zeit entstanden und nicht mehr beseitigt worden sei, aus Gründen, die er nicht kenne. Auch er habe, nebenbei gesagt, nicht die Absicht, seinen Zweijahresvertrag zu verlängern – aber darüber möge R. bitte schweigen.

Enzensberger ruft an und erklärt mit seiner heiteren Stimme, er habe den Antwortbrief von R. an die Herausgeberin mit Vergnügen gelesen, er hätte ebenso reagiert an seiner Stelle. Sie sollten sich unterhalten, welche Perspektiven R. für sich selbst sehe.

Im Übrigen habe die Herausgeberin ihm und Gaston Salvatore den Brief zwar angekündigt, aber wie er nun ausgefallen sei, »das geht vollständig auf sie und ihre Intelligenz zurück«.

»Nun«, repliziert R., »Sie sind doch durchaus in der Lage, Schreibstile zu imitieren …« Ein Anfall von Paranoia.

Mit Enzensberger und Michel zum Mittagessen und zur Beratung. Michel und R. bestellten das Gleiche, Parmaschinken und Melone. Enzensberger erläutert noch einmal die höchst komplizierten ökonomischen Schwierigkeiten des Verlags – und ein Konzept zur Lösung des Konflikts.

R. sei doch kein Journalist, sondern Autor; er, Enzensberger, habe schließlich auch mal so angefangen. Dass R. ohnehin nicht bleiben wolle, habe die Geschäftsleitung ungemein beruhigt; die Arbeit der Redaktion müsse aber so weitergehen wie bisher, dürfe sich an den Aktionen und Reaktionen der Herausgeberin nicht stören. R. solle fordern, dass sie ihm die ersten drei Monate des nächsten Jahres ausbezahlen, ohne dass er dafür arbeiten müsse.

Dann fährt R. für eine Stunde nach Hause. Kathrin liegt auf dem Sofa im Studio. Sie fiebert; die Ärztin hat ihr eine Penicillinspritze gegeben, da der sehr schmerzhafte Versuch, den Abszess im Ohr zu öffnen und so zu entfernen, misslungen ist.

Im Übrigen, hatte Enzensberger heiter erklärt, könne R. zufrieden sein. Sein Brief habe die Herausgeberin gründlich geärgert, ja verletzt.

Michel pflegt die Toilette im oberen Stockwerk der Villa zu benutzen. Damit Christel Doppler ihn nicht hört, vermutlich, denn unten steht ihr Schreibtisch direkt daneben; während oben verschiedene Räume die Toilette von den Büros – Elli Ettlich und Jürgen Felz – trennen.

Michel besucht das Klo sehr viel seltener als R. Weder trinkt er durchgehend Kaffee oder Wasser oder gar Bier; noch scheint er regelmäßig an den Händen zu schwitzen, was bei R. das häufige Waschen erfordert.

Es fühle sich an, erklärt Kathrin, als stecke ein Tennisball in ihrem Ohr. Und nicht nur das: der Abszess erinnere sie an gewisse Kunstobjekte, die sie in Berlin mal im Haus am Wannsee bewundert habe, kugelförmige Beutel, die pulsierten und schnauften.

Beim Kaffeetrinken guckt R. zwar ab und zu auf die Uhr, kann sich aber gleich beruhigen. Er werde heute ja nicht um zehn in die Redaktion fahren. Dann bringt er Kathrin zu ihrer Ärztin und geht mit N. in den Olympiapark. Den Hang hinaufsteigend, die Regenluft atmend, die Wolkenstaffeln betrachtend meint R. – wie seit langem nicht mehr – genau zu wissen, dies sei die Wirklichkeit, nichts sonst. Bei der Rückfahrt nimmt er Kathrin mit, die auf dem Nachhauseweg war. Dann Spaziergang in der Hohenzollernstraße; Massenaufkommen von Pierrotpuppen in einer Geschenkboutique. Bei Houdek in der Hohenzollernstraße Kotelett mit Salat und Pommes frites; die unglückliche Zeit bei der anderen Zeitschrift, als er hier öfter zu Mittag aß, hatte er ja ebenfalls überstanden.

Nachmittags beschriftet R. Fotografien, mit dem angenehmen Gedanken, dass dies Arbeit sei, auch wenn noch völlige Unklarheit darüber herrscht, wohin sie führt. Dann schreibt er mehrere Briefe und telefoniert mit Niklas Stiller, Helmut Lethen und Heinz Bonorden. Nachdem er »Die Lehre der Sainte Victoire« beendet hat, beguckt er im Fernseher die zweite Folge von Feuchtwangers »Exil«. Der Alkoholismus bleibt unter Kontrolle.

Leider misslingt ihm auch der zweite Versuch, die Heizung mit Wasser aufzufüllen.

Gerade als R. zum Abflug nach Frankfurt aufbricht, ruft Rainald Goetz an. Er habe ein geradezu erpresserisch dringliches Angebot vom Spiegel erhalten, dort am 1. Juni als Redakteur einzutreten. Was tun?

Es scheint sich so zu verhalten, dass R. den ganzen Tag auf den Impuls wartet, der ihn die Herausgeberin anrufen ließe, damit sie einen Termin für das Scheidungsgespräch vereinbaren. Der Impuls bleibt aber aus.

Stattdessen setzt sich das Donnerstagsschema mit dem Lesen von Stern und Zeit durch, das eine ungeheure Verführungskraft besitzt und R. reif für das Werbefernsehen am Abend zurücklässt.

Abends kommt Gaston Salvatore – Frau K. hatte ihn, morgens in eine Taxe steigend, angekündigt – und R. hätte wohl von ihm was erwartet, eine Ermutigung oder einen Konflikt. Aber er geht gleich wieder, hat die Kopie des Briefes an die Herausgeberin, die in seinem Postkorb lag, kommentarlos eingesteckt.

Mai

»In der Einschätzung meiner Lage scheinen wir ja übereinzustimmen – also müssten wir uns leicht über ihre Liquidation einigen können.« Wenn R. sich an die Erfahrung der Ostertage hält, muss er den Satz als Arbeitsergebnis des ganzen Tages einschätzen.

Spät in der Nacht, nachdem Achim, der seine Tasche in einem Taxi vergessen und weder Geld noch Hausschlüssel zur Verfügung hat, gekommen und gegangen ist mit Leihgeld und seinen Ersatzschlüsseln – spät in der Nacht entsteht das zweite Arbeitsergebnis, der Gedanke, dass das Gespräch mit der Herausgeberin keinesfalls beim Mittagessen, womöglich im Tivoli stattfinden dürfe.

Der bayerische Ministerpräsident besucht Afghanistan. In dem Flüchtlingslager Nasir Bagh hält ihm der Pathanen-Häuptling Hadji Abdullah Whab eine Rede, in der er den unbedingten Willen seines Stammes, die Besatzer zu besiegen und zu vertreiben, bekräftigt. »Wir haben nicht bekommen, was wir brauchen, gebt uns bessere militärische Ausrüstungen, und wir werden der Welt zeigen, dass wir sie zu benutzen verstehen.« Der bayerische Ministerpräsident, in einen grünen Safari-Anzug gekleidet, schwitzt stark. Er reagiert verhalten auf die Mahnungen des Häuptlings, der mit den Sätzen schließt: »Als ich im letzten Krieg von Deutschlands Niederlage hörte, habe ich geweint und war verzweifelt, denn die Deutschen hatten auch gegen unsere Feinde gefochten.«

So viel gab es am Haus Bonner Straße 29 (gegenüber) heute zu sehen. Der junge Mann und die junge Frau, die R. in einem Fenster des obersten Stockwerks mal beim Geschlechtsverkehr beobachtet zu haben meint, schleppen Kartons mit nichtidentifizierbarem Inhalt – Plastikflaschen? Klopapierrollen? – zu einem vor dem Haus geparkten gelben Audi und verstauen sie darin. Von oben, aus einem anderen Fenster dieses Stockwerks, sieht ihnen ein älteres, grauhaariges Paar zu und scheint Instruktionen zu geben. Später kommt der Mann nach unten und berät beim Verstauen der Kartons. Dann erscheint eine braunhaarige Frau von Mitte 40 oben am Fenster und schaut ebenfalls zu. Abfahren sah R. den Audi aber nicht.

Welche Ideen sind entstanden? Großeltern, Eltern und Kinder in ein und derselben Wohnung? Oder Sohn und Schwiegertochter? Und diese sind mitten im Auszug begriffen, um ihr eigenes Leben anzufangen?

Gerade versank R., wie gewöhnlich, in der zerstreuten Lektüre des Spiegel, als die Hand nach dem Telefon greift und 13 wählt. »Rutschky. Wie ist es, wann kommen Sie herüber?«

Sie gibt sich ganz weich und zugänglich. Morgen vielleicht, gewiss aber übermorgen, leider okkupieren sie immer noch diese Holländer, Sie wissen schon … Zwar zitterten R. die Hände ein wenig, aber seine Stimme klang wohl fest und geradezu streng.

Sie sind mit Kurt Scheel verabredet; um zehn schauen sie sich auf seinem Farbfernseher »Hier hast du dein Leben« von Jan Troell an. Auch Achim will kommen

Aber schon um halb neun ist R. so erschöpft und gelähmt, dass er nur noch Gin Tonic trinken und fernsehen möchte, was gerade kommt. Trotzdem steigen sie ins Auto und fahren in die Klenzestraße. Doch will sich einfach kein Parkplatz auftun. Sie kurven um die Ecken des Quartiers, mehrfach dieselben, und diese Bewegung schleift sich allmählich so gründlich ein, dass R. sie gar nicht mehr unterbrechen könnte, selbst wenn da plötzlich ein freier Parkplatz wäre.

Also fährt er wieder nach Hause, der Wunsch nach Gin Tonic und Fernsehen hat gesiegt. »Quincy«, eine blöde US-Serie mit einem Gerichtsmediziner als Held (Jack Klugman). Um zehn schaltet Kathrin um auf Jan Troell – sowieso kein Farbfilm; und Kathrin erklärt nach den ersten Bildern: »Das kann ich jetzt unmöglich sehen.«

Gestern Nacht musste sie zwei Stunden mit Sigrid Hacker telefonieren und ihre wirren Selbsterklärungen anhören, wie sie jetzt ihr Leben revolutioniert; gestern Abend musste sie mit N. zum Tierarzt, eine Harnleiterentzündung, Eiter trat aus.

Mittags hatte sich Michel von Goetz und R. verabschiedet, er fahre nach Frankfurt und werde Goetz’ Manuskript, wenn es fertig ist, am Montag begutachten. Aber gegen vier Uhr kommt er wieder herein, er sei einfach zu neugierig.

Sie geben ihm die ersten Seiten. Goetz ängstigt sich so gründlich, dass er kaum sprechen kann; auch R. erfüllt Unbehagen. »Diese Situation hat mich immer gequält. Aber wie soll man es machen? Die Manuskripte müssen doch gelesen werden von den Verantwortlichen.« Sie beruhigen sich, arbeiten weiter und reden über anderes; R. bringt den Rest des Manuskripts in Michels Zimmer.

Dann kommt Michel in das Zimmer von R. und bittet sie hinüber. Enzensberger ist im Prinzip einverstanden; was ihn stört, das ist die Beschreibung von Transatlantik auf der Buchmesse. Es gibt die Regel, Transatlantik kommt in Transatlantik nicht vor. Sie gilt auch für das mehrfache Auftreten des Schriftstellers E. in dem Text.

Aber Goetz gerät so außer sich, dass er trotzig den Text zurückzuziehen droht, wenn er nicht genauso kommt, wie R. und er ihn geschrieben haben. Was wiederum E. enerviert.

Unterdessen einigt R. sich mit Michel auf kleinere Veränderungen – und ihm fällt das entscheidende Argument ein: Der Auftritt von Transatlantik bildete für das Feuilleton das zentrale Ereignis der Buchmesse, also muss die Zeitschrift an dieser Stelle von Goetz’ Bericht über seine Reise durch das Feuilleton vorkommen. »Da haben Sie Recht«, gibt E. nach, »auch wenn’s mir nicht passt.«

Goetz und R. trinken noch ein Bier zusammen; dann fährt er mit seinem alten Mercedes-Diesel zu einem Punkfest in der Nähe von Nürnberg.

Kathrin bringt aus dem Briefkasten eine Todesanzeige mit. Dieter Garbrecht, am 29. April auf einer Urlaubsreise in New York verstorben (»der Tag, an dem wir die elektrische Schreibmaschine kauften«). Schockhaft entsteht ein Gefühl der Leere, des Unglaubens, der Unwirklichkeit; »das also nennt man fassungslos«.

R. will Genaueres wissen; Kathrin hält es, was den Schock angeht, für wirkungslos. Nachmittags versucht R. Michael Schröter zu erreichen, er ist aber nicht da. Dann ruft R. doch Annette Garbrecht an: Dieter Garbrecht erlitt einen Gehirnschlag und stürzte unglücklich. Er zog sich so schwere Schädelverletzungen zu, dass er drei Wochen bewusstlos im Krankenhaus lag.

Es ist gut, dass er starb, denn die Hirnschäden wären irreparabel gewesen.

Mittags bricht Kathrin überstürzt nach Frankfurt auf: um Margarete Freudenthal (Gred Sallis) zu interviewen, die schon nächste Woche nach Israel zurückkehrt. Außerdem wird heute der Juttavater operiert, und sie hat versprochen, danach eine Woche in Kassel zu verbringen.

Abends fährt R. mit M. und dem Hund nach Schleißheim, um ihren Geburtstag mit einem Essen zu feiern. Aber die Schlosswirtschaft hat heute geschlossen – was R. irgendwie ahnte. Bleibt der Frankenhof in der Karl-Theodor-Straße; M. isst mit Appetit – »nur dass das Artischockengemüse zu salzig ist« – trotzdem fühlt R. sich irgendwie impotent, weil er ihr nicht mehr bieten konnte.

Um 22 Uhr – sie sehen im österreichischen Fernsehen einen schlechten französischen Krimi mit Romy Schneider und Maurice Ronet – ruft nicht, wie verabredet, Kathrin an, sondern der Juttabruder. Sie sei nicht bei ihnen eingetroffen, ob sie sich bei R. gemeldet habe?

Um 22.30 Uhr ruft sie dann endlich selber an, manisch erregt, und startet einen Redeschwall. Wie sie mit der alten Dame sofort in ein intensives Gespräch geraten sei. Dass Margarete Freudenthal im Frankfurter Bahnhofsviertel in einem Hotel mit haut gôut untergekommen sei. Dass ihr zweiter Mann vor wenigen Jahren mit 94 gestorben sei. Dass das Opfer offensichtlich der Sohn sei, der, von Depressionen gelähmt, in Australien vegetiere, und so weiter.

Dieter Garbrechts Mutter fragt Annette Garbrechts Vater, ob sie noch ein Valium nehmen dürfe. Sie habe bereits ein anderes Beruhigungsmittel geschluckt – bei der Übermittlung von dessen Namen entstehen Schwierigkeiten. Annette Garbrechts Mutter gibt Dieter Garbrechts Mutter das Valium, das diese mit einem Schluck Wasser hinunterspült, bevor Annettes Vater auf die Frage hat antworten können (er ist gar kein Arzt). »Was hast du da geschluckt?«, fragt ihr Ehemann (sie ließ sich von ihm heiraten nach dem Tod seines Vaters, pflegte Dieter Garbrecht zu spotten, weil der Mann schon glücklich wäre, wenn er ihr bloß die Füße küssen dürfte). »Was hast du da eben genommen?« – »Valium.« – »Was?« – »Valium.« – »Hat nicht der Arzt gesagt, du darfst nicht …?« – »Ach was. Es hat mir schon damals, als Dieters Bruder starb, sehr geholfen. Ich will hier doch keine Szene machen.«

Das ist die Szene. Sie spielt im Restaurant Krohn, dem Eingang zum Hamburger Friedhof Ohlsdorf gegenüber, kurz vor der Beerdigung.

Trotz der Szene mit seiner Mutter will R. das Lächerliche, Gezierte, manchmal geradezu Tuntenhafte von Dieter Garbrecht nicht richtig vorstellbar werden. Dass er tot ist und – in welcher Haltung? mit welchem Gesicht? – in dem Sarg da liegt, das lässt sich mit keinem Bild des lebendigen Mannes verknüpfen.

»Ich habe gestern Abend noch mit Goetz telefoniert«, erzählt R., »er hat es schwer bereut.«

Er habe sowohl Enzensberger als auch Salvatore, erzählt Michel, telefonisch die Leviten gelesen wegen ihres Auftritts am Mittwoch; Enzensberger sei einverstanden mit seinem, Michels, Vorschlag, die Buchmessen-Passage so zu fiktionalisieren, dass die Redaktion unerkennbar bleibt, eine Prozedur, der Goetz bereits zugestimmt hat.

Im Übrigen, so Michel, habe er Goetz’ Argumente genauso schlecht gefunden wie die aller anderen, aber ihm habe die Haltung gefallen: die Reportage über das Feuilleton lieber zurückzuziehen, als eine wichtige Passage daraus zu streichen.

Von Salzburg kommend, sind sie wieder über die »Deutsche Alpenstraße« nach Reit im Winkl gefahren.

M. erinnert sich, wie befriedigend sie seinerzeit die Weihnachtsferien fand, welche die Familie hier, statt zu Hause, verbrachte; wie sie während der Anreise im Zug die Frauen mit den vollen Einkaufstaschen betrachtete und sich freute, dass sie dies Jahr nicht dazu gehöre. Dass Vater und Sohn unter dem Aufenthalt litten, habe ihr nichts ausgemacht.

Sie sitzen im Hotel zur Post, und R. erinnert sich, hier an verschiedenen Abenden mit dem Vater Bier getrunken zu haben, während M. sich anderswo amüsierte – gewiss ist das Phantasie: Es wird nur ein einziger Abend gewesen sein, an dem sie, womöglich, ein Bauerntheater besuchte, das Vater und Sohn verschmähten in ihrer depressiven Verstimmung.

Dann telefoniert R. mit Kathrin: Dem Juttavater geht es schlecht, weil die Leber nicht arbeitet; zwar sprach sie heute länger mit ihm, aber die Vergiftung machte ihn konfus: Er weinte, weil er seiner Frau so schwer unrecht getan habe – Kathrin und Jutta konnten ihn nicht davon überzeugen, dass er phantasiere.

Gestern lag eine Ansichtskarte im Kasten. Ein junger Mann mit platinblonder Perücke, ausgestopften Brüsten, einer Schärpe »Miss America« quer über dem grellbunten Kleid, hält ein Schild hoch: »Not Every Boy Dreams of Being a Marine.«

Abgestempelt ist die Karte: »Boulder, Mar 27‚ 81, Colo«. Der Text: »Von der großen US-Tour Grüße. Ich finde es unglaublich aufregend. In NY könnte ich wohl leben. Herzlich Dieter.«

Vor drei Wochen starb er in der Stadt, von der jetzt zu lesen ist, dass er dort gern leben würde.

Warum Achim nicht schreibe in der Zeitschrift? Sie sind von der Schlosswirtschaft, Schleißheim, ins Rolandseck, Schwabing, gewechselt, was mehr Alkohol ermöglicht, weil Autofahren unnötig ist.

Achim erklärt, wie er jeden Tag mehr Zeit in der Redaktion verbringt, als er eigentlich müsste; wie ihm daraus das Gefühl entsteht, er habe sich »ohnehin schon viel zu weit eingelassen«. Wie er abends vor allem lesen muss (was er schon den ganzen Tag getan hat): Er macht sich ein Abendessen aus belegten Broten und liest bereits, während er es verzehrt, »wenn es nichts mehr zu lesen gäbe, müsste ich sterben«. Wie soll er da zum Schreiben kommen?

Während er das nächste Kapitel schreibt, plagen R. wieder einmal tiefe Zweifel an dem Buch. Was ihn freilich nicht vom Schreiben abhält. Er pflegt diese Art von Zweifeln zu den »masochistischen Phantasien« zu rechnen, die ihn oft heimsuchen (wie neulich die Flugangst, als es von Frankfurt zurück nach München ging). Den ganzen Tag ist Musik zu hören, Purcell, »Dido und Aeneas«; Satie, frühe Klavierstücke; Mahler, dritte, vierte, fünfte Symphonie, »Das Lied von der Erde«, »Kindertotenlieder«. Abends hat R. das Kapitel fertig; es fühlt sich, wie immer, roh und misslungen an. Aber merkwürdigerweise kann er sich gleich daranmachen, das nächste zu präparieren, bis, nach 22 Uhr, das Fernsehprogramm eingeschaltet werden darf.

Gegen halb sieben Uhr morgens holt Achim ein Exemplar seiner Schlüssel ab, das er am Samstag für den Notfall hier erneut deponiert hatte – Kathrin händigt ihm die Schlüssel aus, R. verharrt im Halbschlaf.

Er verlor, wie er später erzählt, sein ganzes Schlüsselbund bei einem Zug um die Häuser – wovon er am Samstag proklamiert hatte, dass es nie wieder vorkommen werde.

Am Nachmittag ruft R. ihn zu Hause an: Ja, er sei nicht ins Büro gegangen, wegen des Katers, insbesondere des moralischen.

Gestern Abend habe er alte Freunde besucht, und beim Nachhausekommen sei ihm ein schwerer Fehler unterlaufen: Er habe den Fernseher eingeschaltet und sich bei Szenen aus »That’s Entertainment« wiedergefunden. Die tanzenden Paare erinnerten ihn schmerzhaft an sein immer noch und immer wieder ungeklärtes Verhältnis zu Iris, so schön und harmonisch tanzen sie eben gerade nicht zusammen – äußerst schmerzhaft, der Gedanke. Da habe er sich auf eine Kneipentour machen müssen, bis in den Morgen hinein.

Wie und unter welchen Umständen ihm das Schlüsselbund abhanden kam, er weiß es einfach nicht mehr – alles andere, Geld, Papiere usw. befanden sich noch in seiner Umhängetasche.

Michel fehlt, ebenso Frau K. Den ganzen Tag beschäftigt R. sich damit, ein neues Adressbuch einzurichten. Kathrin hat es ihm zum Geburtstag geschenkt. Wichtige Regel: Name, Adresse und Telefonnummer werden mit Bleistift geschrieben, damit man sie jederzeit ausradieren und die neuen, die anfallen, eintragen kann.

Als R. ein Drittel des Buches fertiggestellt hat, kommt er auf eine andere, bessere Regel: Name, Adresse und Telefonnummer nicht unter-, sondern nebeneinander, über die Breite von zwei Seiten des Buches zu schreiben – aber R. will nicht noch einmal von vorn anfangen.

Das letzte Adressbuch, vor ungefähr zwei Jahren eingeführt, organisierte der Vordruck von vornherein in dieser Manier. Aber R. beherrschte ein solcher Zustand der Verwirrung, dass er es nicht bemerkte und mit dem Untereinander von Name, Adresse und Telefonnummer anfing, wodurch er die sinnreiche Vorgabe des Büchleins zerstörte, was, weil er mit Tinte statt Bleistift schrieb, nicht rückgängig zu machen war.

Schöner Wolkenhimmel, »nächstes Jahr«, verkündet R., »wenn ich wieder in Freiheit lebe, fahren wir nach England.«

Im Olympiapark liegt nur ein einziges Paar in der Sonne, die beiden mit dem Rauhaardackel, »schöne junge Menschen«, die R. im letzten Jahr deutlich auffielen, weil sie sich, während sie bronzebraun brieten, fortlaufend zankten.

Auch dies Jahr waren sie schon einige Male zu beobachten – Regelmäßigkeit im Bräunen wie im Zanken – dann aber schien die Frau ein neuer Kerl zu begleiten, mit dem sie zwar gleichfalls briet, aber nicht zankte.

Falsch, heute lagen sie wieder in der alten Besetzung da, wobei es R., wegen ihrer nackten Brüste, die sofort seinen Blick fixierten, schwer fiel, die Frau auf Anhieb zu identifizieren als diejenige, welche er wegen des Bräunens und Zankens schon so lange kannte.

Mit Burkhard Mueller im Frankenhof, Karl-Theodor-Straße. R. weiß nicht genau, was Mueller von ihm will; jedenfalls sitzen sie lange zusammen.

R. erklärt ihm, dass er gern schaut, seine Augen gebraucht – und betrachtet währenddessen ein älteres Ehepaar. Der Mann beschwert sich bei der Kellnerin, dass die Speisekarte sein Gericht (welches, hat sich R. nicht eingeprägt) mit Kartoffelpüree als Beilage ankündigt, er aber Bratkartoffeln erhalten habe. Die Kellnerin zuckt bedauernd die Achseln, aber der Mann insistiert. Ob sie ihm, fragt die Kellnerin schließlich, noch Kartoffelpüree bringen solle? »Ja, bitte, das wäre sehr liebenswürdig.« Schwer verständlich findet das nicht nur die Kellnerin, sondern auch R.: Das Püree liegt im Mund als ein unangenehm künstlicher Brei, die Bratkartoffeln dagegen kauen sich reell.

Unterdessen erklärt ihm Burkhard Mueller, dass er – im Unterschied zu R. – vor allem dem Hören mit Leidenschaft nachgeht, Musik, Geräusche, Text. Er besucht sehr selten das Kino, Galerien, das Museum.

Für den Abend ist Peter Sloterdijk eingeladen. Er kommt zu spät und isst kaum von den Salaten, die Kathrin zubereitet hat. Später betrachtet R. länger ein Käsebrot, das auf Sloterdijks Teller liegt und das er in Zeitlupe verzehrt.