2Die Staatsbürgerschaft war im 20. Jahrhundert das Signum politischer Zugehörigkeit in Europa. Sie entschied über Schutz und Freiheit eines Menschen und damit über seine Lebens- wie Überlebenschancen. Erzählt wird hier erstmals eine gemeinsame Geschichte der Staatsbürgerschaft in West- und Osteuropa von der Hochphase des Nationalstaats bis in unsere Gegenwart, die von den Krisen der Europäischen Union geprägt ist. Es ist die Geschichte einer zentralen rechtlichen Institution, die Kämpfe um Migration, Integration und Zugehörigkeit maßgeblich repräsentiert und zugleich bestimmt. Welche Lehren aus ihr mit Blick auf die Zukunftschancen einer europäischen Staatsbürgerschaft zu ziehen sind, ist eines der zentralen Themen dieses Buches.

Dieter Gosewinkel ist Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin und Leiter des »Center for Global Constitutionalism« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

Zuletzt erschien im Suhrkamp Verlag Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht (stw 2006, zus. mit Ernst-Wolfgang Böckenförde).

3Dieter Gosewinkel

Schutz und Freiheit?

Staatsbürgerschaft in Europa
im 20. und 21.
 Jahrhundert

Suhrkamp

4Meinem Sohn

Max Gosewinkel

gewidmet

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2167

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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-74227-3

www.suhrkamp.de

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Kapitel I:
Vielfalt und Abgrenzung
Nationale und imperiale Politik der Staatsbürgerschaft um 1900

1. Eine Institution geschlossener Staatlichkeit:
Staatsbürgerschaft im Deutschen Reich

2. Nationalisierung durch Territorialität:
Staatsangehörigkeit in Frankreich

3. Ein fragmentierter Status:
Untertanschaft im russischen Zarenreich

4. Territoriale Hierarchie:
»subjecthood« im British Empire

Kapitel II:
Konfrontation und Konflikt Staatsbürgerschaft im Kampf um politische Zugehörigkeit:
Der Erste Weltkrieg (1914-1918)

1. Die Grenzen der Gleichheit:
Nationale Wehrgemeinschaften im totalen Krieg

2. Rechtsentzug und Rechtserweiterung:
»enemy aliens« und Staatsbürger

Kapitel III:
Nationalisierung und Ethnisierung Staatsbürgerrechte zwischen Demokratie und Rassestaat (1918-1945)

1. Minderheitenrechte und Staatsangehörigkeit im internationalen Recht

2. Nationale Staatsangehörigkeitspolitik

3. Staatsbürgerrechte zwischen konstitutioneller Demokratie und Diktatur

4. Regime der Grenzkontrolle und die Krise staatlicher Souveränität

5. Der Zweite Weltkrieg:
Exklusion und Kolonisierung im Rassestaat

Kapitel IV:
Eroberung und Unterordnung Hierarchien der Bürgerrechte zwischen Kolonisierung und Dekolonisation (1900-1950)

1. Von imperialen Untertanen zu nationalen Staatsbürgern: British Empire

2. Indigene Untertanen der Republik: Empire français

3. Von »Eingeborenen« zu »Untermenschen«:
deutsche Kolonialreiche

4. Untertanen, Sowjetbürger und feindliche Fremde:
Statusschranken im russischen Kolonialismus

Kapitel V:
Liberalisierung und Gemeinschaftsbindung Staatsbürgerschaft im geteilten Nachkriegseuropa (1945-1989)

1. Neuordnung der Nachkriegswelt: Zwangsmigration, Staatsbürgerschaft und Menschenrechte 1945-1950

2. Ausbau der Staatsbürgerrechte im geteilten Europa:
Dekolonisation, Wohlfahrtsstaat und Migration 1950-1970

3. Lockerung der nationalen Gemeinschaftsbindung:
Menschenrechte und Staatsbürgerschaft vom Kalten Krieg zur europäischen Wende 1970-1989

Kapitel VI:
Europäische Integration und staatliche Abgrenzung Auf dem Weg zu einer Europäisierung der Zugehörigkeit? (1989-2014)

1. Verfassungsrevolution und Staatsbürgerrechte seit den 1990er Jahren

2. Staatsangehörigkeit und Migration im geeinten Europa

3. Unionsbürgerschaft:
Europäisierung der politischen Zugehörigkeit?

Schluss
Mitgliedschaft als Grund und Grenze von Schutz und Freiheit

Publizierte Quellen und Forschungsliteratur

Abkürzungsverzeichnis

Namenregister

Sachregister

9Vorwort

Am Ende des Jahres 2015, bei Abschluss dieses Buches, erreichen Flucht und Migration nach Europa den höchsten Stand seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Der europäische Kontinent, politisch geeint seit 1989 und ein Raum der Stabilität und des Wohlstands im Vergleich zu den angrenzenden Regionen Afrikas und Asiens, wird zum Zufluchtsort für Millionen von Menschen auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Armut. Sie suchen in Europa als Bürger nichteuropäischer Staaten Schutz und Freiheit, die ihre eigenen Staaten ihnen versagen. Damit stellen sie die Grenzfrage, die sich an jede Form der Staatsbürgerschaft richtet: Inwieweit genießt ein Individuum die Garantie von Schutz und Freiheit als Mitglied seines Staates, als Staatsbürger, und inwieweit darüber hinaus als Mensch? Die Frage nach der Bedeutung territorialer und personaler Zugehörigkeit, die innerhalb der Europäischen Union angesichts der Freizügigkeit obsolet geworden schien, stellt sich in doppelter Weise drängend neu: nämlich sowohl an den Binnen- als auch an den Außengrenzen der Europäischen Union. An Grenzen wurden von jeher Mitglieder von Nichtmitgliedern eines politischen Verbandes geschieden. Dies hatten territoriale Grenzen eines Staates und rechtliche Grenzen der Staatsbürgerschaft historisch gemeinsam. Diesen Zusammenhang greift die vorliegende Studie auf. Sie geht davon aus, dass Staatsbürgerschaft ein Status der Mitgliedschaft ist, der konstitutiv auf ein Innen und Außen, auf den Einschluss ebenso wie auf den Ausschluss angelegt ist. Staatsbürgerschaft zieht deshalb rechtliche Grenzen und bedarf ihrerseits der Grenzziehungen, um Gehalt zu gewinnen.

Bedeutung und Grenzen staatlich-politischer Zugehörigkeit waren seit dem 19. Jahrhundert für viele Europäer eine Alltagserfahrung geworden. Ich selbst konnte das eindringlich miterleben, als ich zum Beispiel 1977 in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Moskau sah, wie Menschen »volksdeutscher« Herkunft Reisepässe der Bundesrepublik empfingen und damit die lang ersehnte Ausreise aus der Sowjetunion antreten konnten. Im August 1989 erblickte ich in Sopron an der österreichisch-ungarischen Grenze den zerschnittenen Zaun, der über Jahrzehnte hinweg die Zweiteilung 10Europas in einander entgegengesetzte politisch-ideologische Zugehörigkeiten markiert hatte. Tausende von Menschen drängten über die Grenze nach Westen auf der Suche nach neuer Zugehörigkeit. Später genoss ich es, als Wissenschaftler in verschiedenen Ländern Europas zu arbeiten und mich als »Europäer« zu fühlen.

Es sind solche Erfahrungen als Zeitgenosse, die das Interesse an einem wissenschaftlichen Thema begleiten und am Leben erhalten, wenn die Arbeit an der Geschichte selbst epochale Zeiträume zu beanspruchen beginnt. Die Arbeit an dieser Studie hat mich über viele Jahre begleitet. Sie verdankt vor allem Menschen viel, denen ich begegnet bin, und Institutionen, die den Arbeitsprozess unterstützt haben. Das Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas an der Freien Universität Berlin und sein Direktor Jürgen Kocka unterstützten 2001 mein Interesse an einem Projekt über die Geschichte der Staatsbürgerschaft in Europa. Bei Gastaufenthalten an der Maison des Sciences de l’Homme, der École des Hautes Études en Sciences Sociales und an Sciences Po in Paris konnte ich erste Ergebnisse vorstellen. Das Institut d’Études Avancées de Paris ermöglichte mir als Fellow für ein Jahr, einen wesentlichen Teil des Manuskripts auf der Île Saint-Louis fertigzustellen. Hinnerk Bruhns, Alain Chatriot, Caroline Douki, Morgane Labbé, Paul-André Rosental und Michael Werner diskutierten mit mir und gaben freundschaftliche Unterstützung. Johannes Masing und Yfaat Weiss trugen in gemeinsamen Seminaren und Projekten im freundschaftlichen Gespräch zur Klärung zentraler Fragen bei. Hans Joas eröffnete mir durch ein Fellowship das wahrhaft interdisziplinäre Gespräch am Max-Weber-Kolleg in Erfurt. Dem Center for European Studies und seiner Direktorin Jane Caplan am St Antony’s College der Universität Oxford danke ich für die Möglichkeit, ein Jahr lang im wissenschaftlichen Zentrum eines früheren Empire den Kontinent von außen zu betrachten. Die Basis meiner Arbeit aber war das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, das mir die denkbar besten Arbeitsmöglichkeiten für ein lang angelegtes, aufwändiges Arbeitsprojekt zwischen Geschichts-, Rechts- und Sozialwissenschaft bot. Hier genoss ich vielfältige Anregungen und Unterstützung. Ich danke insbesondere Dieter Rucht und Mattias Kumm für die kollegiale Zusammenarbeit. In der langen Phase der Recherche und Manuskriptbearbeitung haben mir Inken von Borzyskowski, Sarah Bianchi, Johannes Steinbrück, Henriette 11Müller, Dominik Scholz, Jeannette Higiro, Jenny Neubert, Alex Berezin, Oliver Ditthardt, Felix Fischer und am Schluss mit besonderer Sorgfalt Manarsha Isaeva und Lisa Kämmer große und unermüdliche Hilfe geleistet. Janusz Porowski, Veronika Siska und Richard Hermann danke ich für Recherchen polnischer, tschechischer und slowakischer Quellen. Benno Gammerl, Monika Kayser, Claudia Kraft, Matěj Spurný und Jakob Zollmann danke ich sehr, dass sie Teile des Manuskripts gelesen haben. Philipp Hölzing hat als Lektor des Suhrkamp Verlags das Manuskript von seiner ersten Fassung an sorgfältig betreut. Hartmut Kaelble hat das Rohmanuskript als Erster gelesen, mein Vater, Dieter Gosewinkel, hat es abschließend lektoriert und zum Feinschliff beigetragen. Beiden danke ich herzlich dafür, dass sie dem Manuskript ihre große Erfahrung und ihr Engagement als Historiker haben zuteilwerden lassen. Selbstverständlich hafte ich als Autor für alles, was ihren aufmerksamen Augen entgangen sein könnte.

Claire de Oliveira danke ich für sehr viel mehr als die liebevolle Ermutigung, Lektüre und tatkräftige Unterstützung in den entscheidenden Jahren dieses Arbeitsprojekts, das auch im intellektuellen Austausch zwischen Paris und Berlin entstanden ist. Ich widme das Buch meinem Sohn Max Gosewinkel. Er hat die Chance, als Deutscher und Europäer eigene Erfahrungen mit politischer Zugehörigkeit im 21. Jahrhundert zu sammeln. Wo auch immer er in Gefährdungen seinen Schutz und seine Freiheit sucht – sie mögen ihm zuteilwerden.

Berlin, im Januar 2016

12Einleitung

Im Jahr 1949 hielt der englische Sozialwissenschaftler Thomas H. Marshall in Cambridge eine Vorlesung über das Thema »Citizenship and Social Class«. Er vertrat die These, dass Staatsbürgerschaft (»citizenship«) seit dem 18. Jahrhundert zur Emanzipation des Individuums aus der Unterworfenheit unter tiefe Armut und soziale Ungleichheit sowie zu mehr sozialer Gerechtigkeit entscheidend beigetragen habe. Der Sozialwissenschaftler Marshall, als Historiker ausgebildet, entwarf in eingehender historischer Analyse eine zeitliche Stufenfolge der Entwicklung von »Staatsbürgerschaft«: von der Herausbildung bürgerlicher Rechte im 18. Jahrhundert über die politischen Rechte des 19. bis zu den sozialen Rechten im 20. Jahrhundert.[1]

Der Text avancierte zu einem Klassiker der Soziologie des 20. Jahrhunderts. Er trat das Erbe großer historisch argumentierender Gesellschaftsanalysen der ersten Jahrhunderthälfte an, zum Beispiel in den Werken von Max Weber und Émile Durkheim. Die wissenschaftliche Botschaft des Werkes und der historische Kontext, in dem es entstand, begünstigten seinen Aufstieg zum kanonischen Text.[2] Es war Inbegriff einer liberalen, ›optimistischen‹ Ge13sellschaftsanalyse, die hinsichtlich des intellektuellen Anspruchs, der Sorgfalt der Argumentation und der empirischen Dichte den Geist der Aufklärung atmete. 1949 strebte der Wohlfahrtsstaat in England und im westlichen Kontinentaleuropa dem Höhepunkt seiner Entfaltung und Bedeutung zu. Die »trente glorieuses«,[3] jene drei Jahrzehnte einzigartigen wirtschaftlichen Aufschwungs und sozialer Sekurität der westlichen Industriestaaten nach dem Zweiten Weltkrieg, gewannen in theoretischen Texten wie Marshalls »Citizenship and Social Class« historische Folgerichtigkeit und politische Bestätigung. Der Text war auch deshalb kategorienbildend, weil er ein Narrativ des Fortschritts verkörperte. Er erzählte von der erfolgreichen und zunehmenden Durchsetzung individueller Rechte gegenüber dem Staat und dem sozialen Klassengegner, von den Errungenschaften sozialer Bewegungen bei der Bekämpfung sozialer Ungleichheit und schließlich vom Zuwachs an materiellem Wohlstand und sozialer Partizipation.

Das vorliegende Buch hingegen erzählt eine andere und analytisch anders gelagerte sowie thematisch und räumlich umfassendere Geschichte der Staatsbürgerschaft. Ihm geht es um zweierlei: zum Ersten um die Geschichte der Staatsbürgerschaft als rechtlicher Institution und politischer Praxis seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts; zum Zweiten um die Historisierung eines normativen Ideals von Staatsbürgerschaft. Die zentrale Frage lautet daher: Was sind die historischen Bedingungen der Möglichkeit – und damit auch die Grenzen – eines Ideals von fortschreitender Gleichheit, Partizipation und Integration, das seit der Aufklärung dem Konzept Staatsbürgerschaft immanent ist und bei dessen praktischer Umsetzung vielfach beschworen wird? Damit rücken nicht nur die Inhalte staatsbürgerlicher Rechte, sondern auch die Voraussetzungen und Formen ihrer Erlangung ins Blickfeld. Der analytische Blick schwenkt von den Chancen der Inklusion zu den Risiken und Härten der Exklusion, von der ›inneren‹ Seite der Ausübung von Rechten zur ›äußeren‹, formalen Seite ihrer Zuteilung und Versagung. Es geht um politische Interessen, die im Kampf um Staatsbürgerrechte Sieger und Verlierer hervorbringen, um die historischen Spannungen zwischen extensiven und restriktiven Konzepten von 14Staatsbürgerschaft, schließlich um den diskursiven Gebrauch, den Funktionswandel und die Instrumentalisierung des gemeinschaftsbildenden Ideals der Staatsbürgerschaft bis hin zur Segregation.

»Citizenship and Social Class« ist einer bestimmten Zeit und räumlichen Erfahrung verhaftet. Marshall benutzte den politisch-theoretischen Begriff der »Staatsbürgerschaft« als Chiffre zur historischen Herleitung und theoretischen Erfassung eines gesellschaftsanalytischen Befundes in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Aber inwieweit war und ist »Staatsbürgerschaft« – konzipiert in Bezug auf diesen Kontext – wirklich ein Schlüssel zur Erklärung gesellschaftlicher Entwicklung in Europa insgesamt während des 20. und 21. Jahrhunderts? Das Wort »Staatsbürgerschaft« fand sich seit dem 19. Jahrhundert in den Rechts- und Sozialordnungen aller Länder Europas.[4] Doch welche Bedeutung und Funktion hatte der Begriff »Staatsbürgerschaft« in verschiedenen nationalen und politischen Kontexten? Bezeichnete er überall und übereinstimmend die Beförderung von Gleichheit und Partizipation in der an Brüchen reichen politischen Praxis eines Jahrhunderts, das ein »Jahrhundert der Extreme« (Eric Hobsbawm) war? Für wen verwirklichte sich die Verheißung von Schutz und Freiheit, die der Staatsbürgerschaft zugrunde gelegt wird, und für wen nicht?[5]

In diesem Buch geht es um das Innen der Bürgerrechte im Staat ebenso wie um das Außen nationaler Abgrenzung, um den Einschluss in die Gemeinschaft der Staatsbürgerschaft ebenso wie den Ausschluss von dieser, um die Garantie von Schutz und Freiheit durch die Staatsbürgerschaft ebenso wie ihre Verwendung zu kolonialer, geschlechtsspezifischer und politischer Diskriminierung.

Sieht man genauer hin, gibt Marshalls Lebensgeschichte selbst 15Hinweise auf Bedeutungen und Funktionen von »Staatsbürgerschaft«, die Zweifel an der Eindeutigkeit ihrer egalisierenden und sozial integrativen Wirkung begründen. 1914 wurde der junge Brite, während er sich als Student in Deutschland aufhielt, als Untertan der britischen Krone bei Ausbruch des Weltkriegs mit anderen Briten als Zivilgefangener interniert. Aus dem britischen Gast wurde schlagartig ein »enemy alien«, dem im Gegensatz zu den Deutschen die grundlegenden Freiheitsrechte in Deutschland nicht mehr zustanden.[6] Damit geriet eine andere – eine ›äußere‹ – Seite von Staatsbürgerschaft in den Blick, die neben der ›inneren Seite‹, den individuellen Rechten eines Staatsbürgers, eine eigene Bedeutung und Funktion besitzt: die Staatsangehörigkeit als Bedingung des Zugangs zu staatsbürgerlichen Rechten. Die Staatsangehörigkeit erwies sich im Fall des internierten Marshall als Stigma, das eine erste Grenze markierte. Sie entwickelte eine scharfe nationale Ausschlusswirkung und demonstrierte sowohl die personale wie die territoriale Begrenztheit staatsbürgerlicher Rechte. Denn die Bewegungs- und Ausreisefreiheit eines Briten, der qua Staatsangehörigkeit einem »Feindstaat« angehörte, wurde im Deutschen Reich aufgehoben, die Verfügung über sein Eigentum konnte eingeschränkt werden.[7] Mit seinem Heimatland, dessen Rechte er als britischer Staatsbürger auf deutschem Boden nicht in Anspruch nehmen konnte, verband ihn nur noch das rechtliche Band des diplomatischen Schutzes. Der Nationalstaat, so zeigte sich, gewährte und versagte – zumal in internationalen Konflikten – staatsbürgerliche Rechte nach nationalen Kriterien.[8]

Eine zweite analytische Grenze von »Citizenship and Social Class« ergibt sich aus ihrem konkreten historischen Bezugspunkt; nämlich aus der Geschichte Englands vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Gewiss war England als Ursprungsland der industriellen 16Revolution und als imperiale Weltmacht ein Entwicklungszentrum staatsbürgerlicher Rechte, neben den USA und Frankreich wohl das wichtigste. Aber seit dem 18. Jahrhundert vollzog sich die Entwicklung im Vereinigten Königreich evolutionär, ohne Rückgriff auf radikale politische Formen diktatorischer oder totalitärer Herrschaft. Die »rule of law« wurde prinzipiell respektiert und damit eine grundsätzliche Trennung von Politik und Recht, die die Herausbildung gesicherter individueller Rechte als Basis von citizenship erst ermöglichte. Darin unterschied sich Großbritannien von den meisten Staaten Kontinentaleuropas während des 20. Jahrhunderts, die zu Diktaturen wurden. Nimmt man diese autoritären und diktatorischen Regime, die das »Jahrhundert der Extreme« in Europa tief prägten, so verfochten auch sie nominell und in ihrer Propaganda Prinzipien von Staatsbürgerschaft und wohlfahrtsstaatlicher Gleichheit. Doch erfüllte hier die Institution der Staatsbürgerschaft eine andere Funktion: Sie sollte eine politische, soziale und ethnische Gemeinschaft konstituieren und diese gegen ›Gemeinschaftsfremde‹ abschließen. Die Bedeutung der Integration und Inklusion trat zurück gegenüber dem Zweck der Segregation nach außen. Zudem waren Staatsbürgerrechte in autoritären Regimen nicht Niederschlag gesellschaftlicher Kämpfe und expandierender Partizipation, wie es Marshall angesichts der sozialen Bewegungen Englands vor Augen stand. Vielmehr wurden sie nach Gutdünken vom Regime sowohl zugeteilt als auch entzogen. Hieran zeigt sich, dass das klassische Konzept der Staatsbürgerschaft, wie Marshall es auffasste, insgesamt keine hinreichenden Kategorien für die analytische Erfassung der europäischen Geschichte seit dem 20. Jahrhundert zur Verfügung stellte beziehungsweise stellt.

Eine dritte Begrenzung von »Citizenship and Social Class« liegt in der Ausrichtung des Konzepts »citizenship« auf den sozialen Konflikt, den Klassengegensatz in der Entwicklung der Industriegesellschaft.[9] Staatsbürgerrechte trugen zwar, wie zu zeigen sein wird, einerseits dazu bei, dass die soziale Ungleichheit in Europa im Verlauf des 20. Jahrhunderts abnahm. Andererseits konturierten und verstärkten sie Vorgänge kulturellen, religiösen und ethnisch-17nationalen Ausschlusses,[10] die in dem historischen Entwicklungsmodell Marshalls nicht vorkommen. Dazu zählt der historisch tief verwurzelte, lange währende und scharfe Ausschluss von Frauen[11] und gewissen religiösen Gruppen von den vollen Rechten der Staatsbürgerschaft. Hinzu kommt die Verwendung der Institution Staatsbürgerschaft als Herrschaftsinstrument, um hierarchische Abstufungen des Rechtsstatus ethnisch beziehungsweise »rassisch« definierter Gruppen[12] – beispielsweise im Kolonialismus – systematisch zu legitimieren und durchzusetzen. Marshalls klassisches Konzept von Staatsbürgerschaft erfasst weder diese auf systematischer Exklusion und Segregation beruhende Funktion noch eine neue, ihr entgegengesetzte Dimension im Hinblick auf individuelle Rechte: Seit den 1970er Jahren werden die Staatsbürgerrechte, vielfach verstärkt durch menschenrechtliche Maßstäbe, zum Bezugspunkt für dezidiert individualistische Forderungen nach Anerkennung von Differenz. Nicht die Integration in eine soziale oder politische Gemeinschaft, sondern das Recht auf – kulturelles, religiöses etc. – Anderssein wird damit zum Gegenstand und Ziel von Staatsbürgerschaft gemacht. Rückhalt erfährt diese Bedeutungserweiterung von Staatsbürgerschaft angesichts der wachsenden Heterogenität multikultureller und multireligiöser Gesellschaften seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert.[13] Die erzwungene Verge18meinschaftung einerseits, die Befreiung zum Anderssein andererseits repräsentieren polare Dimensionen der Staatsbürgerschaft, die kennzeichnend für die Entwicklung der Staatsbürgerschaft seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts sind, und zwar neben der wohlfahrtsstaatlichen Dimension Marshalls und weit über diese hinaus.

Gegenstand

Dieses Buch geht von einer zentralen Annahme hinsichtlich der Bedeutung seines Gegenstands aus und begründet sie im historischen Durchgang durch das 20. und beginnende 21. Jahrhundert: Die Staatsbürgerschaft wird zum Signum politischer Zugehörigkeit in Europa im Laufe des 20. Jahrhunderts. Während Stand, Religion, Partei, Klasse und Nation im »Jahrhundert der Extreme« an kategorialer und politischer Prägekraft einbüßten, stieg die Staatsbürgerschaft zur bestimmenden Kategorie politischer Zugehörigkeit auf.[14]

Der Zugang, herkommend von den Voraussetzungen und Grenzen der Entstehung und Durchsetzung staatsbürgerlicher Rechte, bestimmt mit dem Gegenstand auch die Begrifflichkeit. Diese Studie verwendet den Begriff »Staatsbürgerschaft« im umfassenden Sinn, das heißt, dieser verbindet als Oberbegriff zwei Dimensionen, die analytisch voneinander unterschieden werden, zumal sie verschiedene Funktionen bezeichnen: Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft (im engeren Sinn von staatsbürgerlichen Rechten). Mit Staatsangehörigkeit ist eindeutig die rechtlich definierte und geformte Zugehörigkeit zu einem Staatsverband gemeint. Staatsbürgerschaft im engeren Sinn bezeichnet die individuellen Rechte, die – grundsätzlich, wenn auch nicht durchweg –[15] durch die Staatsangehörigkeit vermittelt werden und diese 19voraussetzen. Die Staatsangehörigkeit stellt die ›äußere Seite‹ der Staatsbürgerschaft dar. Sie entscheidet über Ein- oder Ausschluss mit Blick auf die staatsbürgerliche Gemeinschaft der Staatsbürger und repräsentiert eine wirksame und politisch hart umkämpfte Grenzziehung hinsichtlich staatsbürgerlicher Rechte, die historisch eng mit der Entstehung und Entwicklung des Nationalstaats verbunden ist. Staatsbürgerliche Rechte im engeren Sinn hingegen verändern über lange Zeiträume ihren Gehalt. Sie werden politisch erstritten, rechtlich ausgeformt und erweitert, vielfach mit Pflichten verbunden, aber auch zurückgenommen und aufgehoben. Die von Marshall behandelten drei Grundtypen von Staatsbürgerrechten – zivile, politische, soziale – sind zwar grundlegend für die historische Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert. Doch sind ihnen in ›Kämpfen um Anerkennung‹[16] während des 20. Jahrhunderts weitere – insbesondere kulturelle – Dimensionen und Rechtsforderungen hinzugefügt worden, die heute als Bestandteil eines modernen Konzepts von Staatsbürgerschaft gelten.

Die Staatsbürgerschaft in diesem umfassenden Sinn wird in ihrer historischen Entwicklung seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts untersucht. Nicht die lange Entwicklung der staatsbürgerlichen Rechte in den großen europäischen Rechtskodifikationen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und deren enge Verbindung mit der Entstehung europäischer Nationalstaaten stehen somit im Mittelpunkt. Diese Genese wird vorausgesetzt. Das Interesse richtet sich vielmehr auf die tiefen politisch-sozialen Brüche seit dem 20. Jahrhundert, in denen die Staatsbürgerschaft durchgreifenden Veränderungen ihrer Form und Funktion unterlag: Staatsbürgerschaft wirkte in nationalstaatlichen und imperialen, diktatorischen und liberalen, postkolonialen und postnationalen, schließlich in transnationalen Zusammenhängen. Die Darstellung konzentriert sich auf Europa. Die wichtigen Impulse zur Entwicklung der Staatsbürgerschaft, die seit dem 18. Jahrhundert von außereuropäischen Staaten,[17] insbesondere von den USA, ausgingen, werden jedoch einbezogen.

20Gerade weil die Geschichte der Staatsbürgerschaft in Europa im 20. Jahrhundert tief nationalhistorisch geprägt, überaus brüchig und vielgestaltig war, wird sie nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit, sondern anhand von sechs ausgewählten Fällen rekonstruiert. Untersucht werden die Staaten: Großbritannien, Frankreich, Deutschland, die Tschechoslowakei, Polen und Russland. Dabei lässt sich die Auswahl vor allem von drei Gesichtspunkten leiten: Erstens gehören die verglichenen Staaten hinsichtlich ihrer Größe und politischen Bedeutung zur Gruppe derjenigen Länder, die für die politische Entwicklung Europas im 20. Jahrhundert maßgebend waren. Zweitens werden die Länder nicht isoliert voneinander, sondern gerade im Hinblick auf ihre engen Beziehungen und wechselseitigen Beeinflussungen untersucht – sei es aufgrund ihrer territorialen Nachbarschaft, ihrer historisch-kulturellen Verbindungen oder eines Hegemonial- beziehungsweise Abhängigkeitsverhältnisses. Drittens schließlich umfasst die Auswahl entgegen einer herkömmlichen Trennung zwischen Ost- und Westeuropa Länder aus beiden Regionen Europas. Neben ihrer Größe und ihrem herausgehobenen politischen Gewicht verbindet diese territorial aneinandergrenzenden Staaten eine durchgehende Entwicklungslinie von politischen Verflechtungen in Bezug auf Konflikte und Anpassungen, die ganz Europa durchzieht und repräsentativ für die Geschichte des Kontinents ist.

Fragestellungen und Probleme

1. Maßstab für Inklusion und Exklusion?

Die Staatsbürgerschaft im 20. Jahrhundert dient in diesem Buch als Sonde historischer Gesellschaftsanalyse. Was sagt die Entwicklung der Staatsbürgerschaft über die Begründung und das Ausmaß von Inklusion und Exklusion in europäischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts aus? Ausgangspunkt ist die Polarität zweier politischer Grundkonzeptionen, die das 20. und beginnende 21. Jahrhundert durchzieht: Das eine Konzept verfolgt die Zulassung und 21rechtliche Sicherung von Heterogenität und Individualität, das andere primär die Durchsetzung von Homogenität. Der Gradmesser für Inklusion beziehungsweise Exklusion[18] sind die nach außen gewandte Inklusionsbereitschaft sowie die innere Pluralität und Institutionalisierung individueller Bürgerrechte in europäischen Gesellschaften. Diese schlagen sich in Verfahren der Zulassung und Einbeziehung von außen kommender Fremder wie auch in der Integration beziehungsweise Segregation von Minderheitsgruppen im Innern des Staates nieder.

In diachronen ebenso wie in synchronen Vergleichen werden die behandelten Länder auf politische Entscheidungsprozesse und Praktiken untersucht, in denen sich im historischen Verlauf Kontinuitäten wie auch Brüche einer Politik des Einschlusses beziehungsweise Ausschlusses abbilden.

2. Konstellation statt Nation?

Unter den Erklärungen für eine Politik der Inklusion beziehungsweise Exklusion eines Staates in der Ausgestaltung seiner Staatsbürgerschaft während des 19. und 20. Jahrhunderts besitzt das je spezifische Verständnis der Nation einen herausragenden Stellenwert. Der historisch geformte Mehrheitsdiskurs über das maßgebliche Konzept der Nation in einem Nationalstaat wird in der Literatur als verfestigtes ›kulturelles Idiom‹[19] verstanden, das politische Entscheidungen über Ein- und Ausschluss auch über lange Zeiträume nicht nur zu beeinflussen, sondern zu bestimmen vermag. Aus 22dieser Grundüberlegung wird in idealtypischer Formulierung eine griffige Dichotomie zweier Nationskonzepte abgeleitet, denen für die Ausgestaltung der Staatsbürgerschaft entscheidende Wirkung beigemessen wird: Auf der einen Seite steht ein politisches, das heißt von gemeinsamen politischen Werten bestimmtes, maßgeblich am Staat orientiertes Verständnis von Nation, dem eine assimilationsfreundliche und inkludierende Wirkung auf die Politik der Staatsbürgerschaft zugeschrieben wird. Auf der anderen Seite findet sich ein ethnisch-kulturelles Verständnis der Nation, das auf vorstaatlichen Werten und der Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung der Nationsangehörigen beruht. Dieses wirkt – so sieht es ein Großteil der Literatur – stärker essenzialistisch, tendiert zur Diskriminierung nach außen und erschwert die Assimilation im Innern der nationalen Gemeinschaft. Lässt sich dieses dichotomische Modell als dominante Erklärung für die Offenheit beziehungsweise Geschlossenheit eines Nationalstaats aufrechterhalten?

Dieses Buch bestreitet die Erklärungskraft dieses Modells auf der Grundlage historisch-empirischer Befunde für die europäische Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. Es vertritt demgegenüber die Auffassung, dass die Konzeption der Nation in historischen Umbrüchen der Staatsbürgerschaft nur ein konstitutiver Faktor unter anderen und vielfach nicht der entscheidende ist. Die Institution der Staatsbürgerschaft wirkt in derart viele politische, sozio-ökonomische und kulturelle Lebensbereiche hinein, dass die Interessen und Intentionen der politischen Akteure, die die Staatsbürgerschaft konstituieren, nicht eindeutig oder auch nur überwiegend aus einem spezifischen Nationsverständnis abzuleiten sind. Daher wird in diesem Buch die These vertreten, dass die Konstituierung und der Wandel spezifischer politisch-sozialer Konstellationen ausschlaggebend für den historischen Wandel der Institution Staatsbürgerschaft sind. Unter politisch-sozialen Konstellationen wird dabei die Verbindung von außen-, sozial- und bevölkerungspolitischen Kontextbedingungen mit politisch organisierten Interessen verstanden, die das Konzept und die institutionelle Form der Staatsbürgerschaft über einen bestimmten Zeitraum hinweg prägen. Daraus folgt die Hypothese, dass der Wandel der Konstellation einen Wandel der Institution Staatsbürgerschaft im Spannungsfeld zwischen Inklusion und Exklusion nach sich zieht. Wenn aber für die Ausprägung und den Wandel einer politisch-23sozialen Konstellation und damit der Staatsbürgerschaft kulturelle Konzepte der Nation nur ein Motiv unter anderen sind, erhalten transnationale Erklärungsfaktoren das ihnen gebührende Gewicht: Einflüsse und Transferbeziehungen nicht nur in, sondern auch zwischen den Nationalstaaten formen die Institution der Staatsbürgerschaft maßgeblich mit. Diese äußeren Faktoren werden nur im Vergleich europäischer Staaten und in ihrer Beziehungsgeschichte sichtbar, die dieses Buch unternimmt.

3. Entwicklungsgefälle von West- nach Osteuropa?

Ich gehe von dem Befund aus, dass die Staatsbürgerschaft eine gemeineuropäische Institution der rechtlichen und politischen Ordnung im 20. und 21. Jahrhundert darstellt. Einige – wenn auch nicht alle[20] – ihrer zentralen Funktionen[21] sind in allen europäischen Staaten seit dem 20. Jahrhundert zu finden. Wie aussagekräftig ist dieser vergleichende Befund jedoch für die konkrete Ausgestaltung und Wirkungsweise der Staatsbürgerschaft in den jeweiligen Staaten? Lassen sich den einzelnen Nationalstaat übergreifende Muster einer Politik der Staatsbürgerschaft erkennen? Dieses Buch geht der Frage nach, ob und inwieweit sich unter der Oberfläche einer gemeineuropäischen Institution verschiedene ›Pfade‹ der Entwicklung unterscheiden lassen. Ein in der Forschung verbreitetes Interpretationsmuster, das an der engen Verbindung zwischen Konzepten der Nation und der Staatsangehörigkeit festhält, geht von einem markanten Unterschied zwischen West- und Osteuropa aus:[22] Ein dem ›Westen‹ zugeschriebener, politischer, 24für Assimilation offener Typus, der zumeist mit dem Territorialprinzip in eins fällt, wird einem mittel- und osteuropäischen Typus der ethnisch-kulturellen Geschlossenheit gegenübergestellt, der eng mit dem Abstammungsprinzip verbunden ist. Damit wird die These vom Bedingungszusammenhang zwischen Nationskonzeption und Staatsangehörigkeit auf eine geographisch-kulturelle Scheidelinie inmitten Europas projiziert und diese Unterscheidung zu einem qualitativen Gefälle verfestigt. Gibt es also einen ›osteuropäischen‹ Entwicklungspfad der Staatsbürgerschaft, der sich in spezifischer Weise von einem ›westeuropäischen‹ unterscheidet? Ist dieser Unterschied nun systematisch-kategorial oder nur historisch kontingent?

[23]25