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Acht Jahre Wirtschaftskrise. Acht Jahre Beruhigungsrhetorik und Durchhalteparolen aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Höchste Zeit für einen neuen Blick auf die Erschütterungen, die Banken und Börsen, Währungen und Gesellschaften seit langem an den Rand des Abgrunds drängen. »Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?« zeigt, dass Bertolt Brechts Werk einen solchen Blick auf die Wirtschaftskrise bereithält.

 In sechs Lektionen versammelt das Brevier literarische, aphoristische und publizistische Texte Brechts, die – obgleich vor mehr als einem halben Jahrhundert entstanden – wie Analysen und Kommentare zu den ökonomischen Turbulenzen der Gegenwart erscheinen.

 

Bertolt Brecht, geboren 1898, gestorben 1956, ist einer der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts.

 

Tom Kindt, geboren 1970, Professor für Germanistische und allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg/Schweiz.

 

 

Bertolt Brecht

»Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen
die Gründung einer Bank?«

Das Brecht-Brevier zur Wirtschaftskrise

Herausgegeben und
mit einem Vorwort versehen
von Tom Kindt

Suhrkamp

 

 

Die Texte des vorliegenden Bandes sind der 30-bändigen Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Werkausgabe entnommen: Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. 30 Bände (in 32 Teilbänden) und ein Registerband. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1989-2000. © Bertolt-Brecht-Erben/Suhrkamp Verlag. Die Zahlen in den Klammern beziehen sich jeweils auf die Bandnummer und die entsprechende Seitenzahl.

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4653.

© Bertolt-Brecht-Erben/Suhrkamp Verlag

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagabbildung: Bertolt Brecht, Foto: Konrad Reßler/Münchner Stadtmuseum

Umschlag: ZERO Werbeagentur, München

 

eISBN 978-3-518-74247-1

www.suhrkamp.de

Das Brecht-Brevier zur Wirtschaftskrise

 

Vorwort

Acht Jahre Wirtschaftskrise. Acht Jahre Katastrophenmeldungen. Acht Jahre Beruhigungsrhetorik und Durchhalteparolen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Höchste Zeit für einen neuen Blick auf die Erschütterungen, die Banken und Börsen, Währungen, Ökonomien und ganze Gesellschaften seit 2008 ergriffen und im Leben vieler Menschen große Verheerungen angerichtet haben.

Der vorliegende Band gewinnt einen solchen neuen Blick auf die Krise aus dem Werk Bertolt Brechts, aus Gedichten und Stücken, publizistischen Stellungnahmen und theoretischen Überlegungen, Kurzprosa und Romanentwürfen, nachgelassenen Skizzen und verstreuten Notizen. Er versammelt Texte aus fünf Jahrzehnten, der älteste stammt aus dem Tagebuch des fünfzehnjährigen Brecht von 1913, der jüngste aus dem Protokoll von Probenarbeiten am Berliner Ensemble in seinem Todesjahr 1956. Die meisten der Texte sind umfangreichen Werken entnommen, sie wurden für dieses Brevier also ›aus dem Zusammenhang gerissen‹; Brecht hätte das zweifellos begrüßt: »Sätze von Systemen hängen aneinander wie Mitglieder von Verbrecherbanden. Einzeln überwältigt man sie leichter. Man muß sie also voneinander trennen. Man muß sie einzeln der Wirklichkeit gegenüberstellen, damit sie erkannt werden.«

So ratlos die Krisendiagnostik und so wirkungslos das Krisenmanagement in den vergangenen Jahren gewesen ist – ein Band wie der vorliegende wirft die Frage auf, ob Brecht uns in der gegenwärtigen Situation tatsächlich weiterhelfen kann. Vermag er, geboren am Ende des 19. Jahrhunderts, die ökonomischen Turbulenzen und sozialen Tragödien am Beginn des 21. Jahrhunderts zu erhellen? Er, dessen Verständnis des Kapitalismus sich in einer Zeit herausgebildet hat, in der es weder Hedgefonds oder den automatisierten Handel der digitalen Ära gab noch die Europäische Union oder das Modell der sozialen Marktwirtschaft? Hat er, der sich selbst schlicht als ›Stückeschreiber‹ sah, etwas zu der Krisenspirale zu sagen, in die die Wirtschaft sechs Jahrzehnte nach seinem Tod geraten ist?

Sicherlich nicht, wenn man sich von Brechts Texten die durchschlagenden Lösungen der Krise erhofft, die Politiker, Ökonomen und Wirtschaftsakteure bislang nicht zu liefern vermochten. Durchaus aber, wenn man sein Werk so liest, wie er selbst es verstanden wissen wollte – als Irritation von Wahrnehmungs- und Denkmustern, als Anstoß, die Mechanismen der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu durchleuchten, als Impuls zum Nach- und Neudenken.

Das Werk Brechts kreist um eine Erfahrung, die er selbst als das Zentralthema von Kunst bezeichnet hat – um die Erfahrung, »daß die Welt aus den Fugen ist«. Anders als viele Künstler des 20. Jahrhunderts nimmt er diese Erfahrung in seinen Texten freilich nicht zum Anlass für Sentimentalität oder Fatalismus. Und anders als es ein hartnäckiges Vorurteil will, tritt Brecht der aus den Fugen geratenen Welt auch nicht mit erhobenem Zeigefinger und simplen Lehrsätzen entgegen. Geprägt wird Brechts Denken und Schreiben von 1916 bis 1956, vom späten Kaiserreich über die Jahre der Weimarer Republik und des Exils bis zur frühen DDR, durch das Projekt einer literarischen Gesellschaftsanalyse, die Handlungsbedarf und Handlungsmöglichkeiten in sozialen Zusammenhängen aufzeigen soll. In aufklärerischer Absicht erkunden die Werke Brechts das Zusammenleben von Menschen, und das bedeutet spätestens seit der Dreigroschenoper: die Auswirkungen der Wirtschaftsordnung auf die Lebenswirklichkeit. Grundlegend ist dabei das Verfahren der ›Verfremdung‹: »Das Selbstverständliche wird in gewisser Weise unverständlich gemacht, das geschieht aber nur, um es dann um so verständlicher zu machen. Damit aus dem Bekannten etwas Erkanntes werden kann, muß es aus seiner Unauffälligkeit herauskommen; es muß mit der Gewohnheit gebrochen werden, das betreffende Ding bedürfe keiner Erläuterung.«

Im Sinne solcher Überlegungen lenkt Brechts Werk den Fokus auf das nur scheinbar Selbstverständliche wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse, das bei näherem Hinsehen unverständlich, ja, nicht selten unvernünftig erscheint. Es zeigt – in seinen eigenen Worten gesagt – die gesellschaftliche Wirklichkeit »als eine veränderliche und veränderbare«, indem es sich an ihre »Widersprüche« hält. Brechts besonderer Blick für diese Widersprüche ist es, der seinen Texten aktuelle Relevanz verleiht, der sie vielfach – trotz ihrer Entstehung vor über einem halben Jahrhundert – wie Analysen und Kommentare zur gegenwärtigen Wirtschaftskrise und deren weitreichenden sozialen Konsequenzen erscheinen lässt.

Seiner Gedichtsammlung Hauspostille von 1927 hat Brecht den Hinweis vorangestellt, sie sei »für den Gebrauch der Leser bestimmt« und solle »nicht sinnlos hineingefressen werden«. Für das vorliegende Brecht-Brevier gilt dies auch, und es ist darum wie die Hauspostille in ›Lektionen‹ unterteilt, die in unterschiedlichen Situationen das zu erweisen haben, was für Brecht von Literatur unbedingt zu verlangen war, nämlich ›Gebrauchswert‹: Die Texte der Ersten Lektion (»Von der Undurchsichtigkeit der Wirtschaft«) fragen, was von der verbreiteten Auffassung zu halten ist, dass sich das Wirtschaftsgeschehen dem Verständnis und damit der Beeinflussung durch den Menschen entzieht. Die Zweite Lektion (»Die Magie des Marktes«) wirft mit Brecht einen spöttischen Blick auf die populäre Beschwörung der geradezu magischen Kräfte des freien Marktes. Die Dritte Lektion (»Börsenspekulationen und andere Naturkatastrophen«) betrachtet, ob es sich bei den ›Beben‹ der Börse, den ›Stürmen‹ auf dem Finanzmarkt und den ›Dürren‹ der Realwirtschaft tatsächlich um wettergleiche Naturerscheinungen handelt oder um menschengemachte Unfälle. Die Vierte Lektion (»Schuldenmachen und andere Geschäftsmodelle«) besteht in einer kleinen Galerie mit Brecht'schen Darstellungen verschiedener Wege, auf denen man im Kapitalismus zum Erfolg gelangen kann. Wie eine Gesellschaft aussieht, in der viele versuchen, diese Wege zum Erfolg zu beschreiten, führen die Texte der Fünften Lektion (»Die Vermarktung der Gesellschaft«) und der Sechsten Lektion (»Die Ohnmacht der Moral und die Macht der Inszenierung«) vor. Wie Brechts Hauspostille endet auch das vorliegende Brevier zur Wirtschaftskrise mit einem Schlusskapitel und einem kurzen Anhang, die man nach der Lektüre der oft düsteren Lektionen zur Aufhellung der Stimmung lesen sollte.