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Deutsche Erstausgabe (ePub) März 2014

 

© 2014 by Isabel Shtar

 

Verlagsrechte © 2014 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Fürstenfeldbruck

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

Umschlagillustration: Marek Purzycki

Bildrechte vermittelt durch Shutterstock LLC

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

 

ISBN ePub: 978-3-95823-502-1

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


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Klappentext:

 

Was bedeutet Freiheit – und ist sie für jeden Menschen gleich?


Für Landmaus Bruno sind Großstadt und Studium das Abenteuer seines Lebens. Weit weg von seinem behüteten Dorfleben ist er von vielen neuen Eindrücken manchmal reichlich überfordert. Alles scheint plötzlich möglich – vor allem für eine schwule Jungfer. Doch als dann Gideon auf den Plan tritt, wird Brunos Welt vollkommen auf den Kopf gestellt, denn Gideons Vorstellungen von Freiheit sind so ganz anders als Brunos...


 

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Für alle, die die Taube in der Hand

 

nicht mit dem Spatzen verwechseln.

 

 


Kapitel 1

 

Landmaus Bruno

 

 

Der Startschuss ins Studentenleben klingelt mir noch in den Ohren, als mir bereits zu dämmern beginnt, dass sich einige Dinge eventuell nicht ganz so entwickeln werden, wie ich sie mir in meinem jüngst verlassenen Kinderzimmer ausgemalt habe.

Ich sitze auf einem klapprigen 80er-Jahre-Stuhl mit bedenklich unergonomischer Rückenlehne und mein Herz klopft wie verrückt. Alle anderen im Stuhlkreis starren mich erwartungsvoll an, Pädagogikprofessor Dingelkamp mit eingeschlossen. Dieses Fossil seiner Zunft hockt vergnügt grinsend auf seinem eigenen Folter-Stuhl und nickt mir wohlwollend zu, während meine künftigen Kommilitonen darum bemüht sind, keinen schlechten ersten Eindruck zu hinterlassen, und angestrengt ihre Gesichtszüge kontrollieren.

Das allein würde mich jedoch nicht an die Grenzen meiner Sprachfähigkeit treiben. Ich würde jetzt gewiss längst das lahme Vorstellungssprüchlein herunterleiern, das ich mir bereits vor Wochen ausgedacht habe – wenn Dingelkamp mich nicht unerwartet mit einem Wollknäuel beschmissen hätte. Reflexartig habe ich das blassgrüne, verfilzte Ding aufgefangen und nun sitze ich hier und gucke blöd aus der Wäsche. Dingelkamp sieht aus, als erwarte er irgendetwas Konkretes von mir. Aber was bloß? Wenn es dumm Glotzen sein sollte, liege ich richtig. Da beschleichen mich jedoch leise Zweifel.

Ich schwitze also Blut und Wasser, meine Mundwinkel zucken zwischen debilem Grinsen und Panikattacke hin und her und Dingelkamp krault sich derweil seinen pittoresken, weißen Rauschebart.

Kurz bevor ich endgültig die Krise bekomme, beugt er sich vor, wirft einen bedeutungsschwangeren Blick in die Runde und verkündet: »Das hier nennt man einen stummen Einstieg

Die anderen Studenten nicken ergeben, als würde ihnen das irgendetwas sagen, während ich betreten auf das dusselige Knäuel starre, in das sich meine Finger inzwischen so tief vergraben haben, dass man sie vermutlich nur noch mit chirurgischer Hilfe wieder daraus befreien kann.

»Aufmerksamkeit wird gebündelt! Fragen werden provoziert!«, fährt Dingelkamp mit Inbrunst fort.

Aha. Stimmt. Ich frage mich tatsächlich, wo ich hier gelandet bin. So einen Kram haben meine Lehrer nie mit mir veranstaltet. Die haben ihre Scheußlichkeiten von Ledertaschen aufs Pult geknallt, einen guten Morgen gewünscht und dann die Hausaufgaben kontrolliert, bevor sie neue Aufgaben gestellt oder ewige Monologe gehalten haben. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass ich so etwas bestimmt auch hinbekomme, weshalb ich schließlich jetzt auch hier sitze.

Dingelkamp kommt mit einer Geschmeidigkeit, die ich einem Mann seines Alters nicht zugetraut hätte, auf seine in Jesus-Latschen steckenden Füße. »Das Wichtigste«, doziert er, während er in bester Moses-Manier ausladende Gesten vollführt, »ist Kom-mu-ni-ka-tion! Kommunikation ist wie ein Netz, ein ineinander verstrickter Faden, der uns miteinander verbindet. Los!«, fordert er mich auf und lächelt, als sei er ein Werbeopa, der seinen Enkel mit Altherrenkaramellbonbons ins Elysium katapultieren will. »Stellen Sie sich bitte kurz vor und verraten Sie uns, warum Sie den Beruf eines Lehrers ergreifen wollen. Welche Hoffnungen haben Sie? Welche Bedenken? Welche Ängste? Dann behalten Sie das Ende des Fadens in der Hand und werfen unser Kom-mu-ni-ka-tions-knäuel an den Nächsten weiter, sodass wir ein Kom-mu-ni-ka-tions-netz bilden können.«

Sind hier versteckte Kameras? Kommen wir jetzt ins Fernsehen? Die Show dürfte den Geschmack meiner Großmutter perfekt treffen, was jedoch kein allzu gutes Zeichen ist.

»Ähm...«, stammele ich ohne Konzept los.

Oh Gott, ich mache mir hier gleich ernsthaft in die Hose! Dabei werde ich nicht einmal von einer wild grölenden und einschüchternden Barbarenarmee angegriffen. In meinem Kopf herrscht tiefe Nacht. Ganz ruhig. Die Blase unter Kontrolle halten. Durchatmen. Rauf auf die Welle und mitschwimmen, los.

Verkrampft pule ich das Knäuel von mir und sehe mich nach einem passenden Opfer um. Ein mehr als rundlicher Kerl, mir schräg gegenüber, hat seinen Blick starr auf mein Gesicht gerichtet. Er wirkt mit seinen vollen Wangen und den dunkelbraunen Augen irgendwie freundlich auf mich. Der will bestimmt der Nächste sein. Vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein und er ist lediglich vor Schreck paralysiert, wie das Rehkitz im Scheinwerferlicht eines heranbrausenden Lkw.

»Also, ähm...«, bekomme ich nicht gerade intelligent hin und halte die Hände still, um mich besser auf das Sprechen konzentrieren zu können. »Ähm, ja«, probiere ich es noch mal, beiße die Zähne zusammen und blicke so gefasst auf, wie es mir unter diesen Umständen möglich ist.

»Ich heiße Bruno!«, platze ich schließlich heraus. »Bruno Berger. Ich studiere Lehramt, weil...« Mir nichts anderes eingefallen ist, wobei ich Kunst machen könnte und trotzdem nicht arbeitslos wäre. »Ich Lehrer werden will. Und ich, ähm, tja, hoffe... nun... dass ich dann Lehrer werde? Ein guter Lehrer, kein schlechter Lehrer?« Wie kann man bei einer derartigen Leere im Kopf nur so oft Lehrer sagen? Normalerweise bin ich nicht auf den Mund gefallen, aber diese Situation fällt nach meinem Empfinden nicht unter die Kategorie normal. Ich weiß nicht recht, was ich eigentlich erwartet habe, aber das hier war es mit Sicherheit nicht.

Bevor noch irgendjemand im Raum auf die Idee kommt, meinem peinlichen Auftritt durch einen Kommentar oder eine Nachfrage eine gewisse Schärfe zu geben, schmeiße ich meinem armen Gegenüber schleunigst das dämliche Knäuel zu, der es jedoch nicht auffängt, sondern es erst ächzend vom Fußboden aufheben muss.

Eine halbe Stunde später kann ich beruhigt feststellen, dass mein geistiger Dünnpfiff zwar den Vogel abgeschossen hat, der Rest der Bande sich jedoch nur geringfügig besser geschlagen hat. Vielleicht bekommt man einen Deppen-Bonus, wenn man als Erster drangekommen ist? Die Hoffnung ist gering, aber vorhanden, und Dingelkamp sieht nicht so aus, als würde ihn das verkrampfte Gestammel seiner Studenten irritieren. Eventuell gehört das sogar zur Übung und ist daher total sinnvoll? Er wird's schon wissen, schließlich ist er der Professor und ich nur ein kleiner Student an seinem ersten Tag.

Abschließend philosophiert er noch ein wenig über Kom-mu-ni-ka-tions-strukturen und Gruppenbildung, dann dürfen wir uns wieder entheddern. Das heißt aber noch lange nicht, dass der Wahnsinn jetzt ein Ende hätte. Als Nächstes nötigt Herr Professor Doktor Dingelkamp uns eine Übung zum nonverbalen Kennenlernen auf. Hört sich hochakademisch an, heißt jedoch konkret, dass wir paarweise pantomimisch ein Tier darstellen sollen.

Ehe ich mich versehe, klebt der rundliche Junge von eben schon an meinem Rücken, während ich mit den Armen herumwackele, um einen imposanten Grizzlybären zu imitieren. Sieht wahrscheinlich eher aus wie eine Vogelscheuche mit nervösen Zuckungen. Meinen Partner lerne ich nur in der Hinsicht besser kennen, dass er bei warmem Wetter wie heute zu wenig Deo verwendet. Damit ist er als Grizzlyarsch natürlich eine Topbesetzung.

Oh Mann. Das kann ja heiter werden. Hoffentlich läuft das hier nicht immer so. Diese Idioten-Polonaise halte ich nicht jahrelang aus. Mein einziger Trost ist, dass die anderen sich ebenfalls mit gequälten Gesichtern zum Affen machen – teilweise sogar wortwörtlich.

Der studentische Tutor, der uns nach Ende der Einführungsveranstaltung in Empfang nimmt, sieht aus, als würde er sich diebisch darüber freuen, dass jetzt andere das erdulden müssen, was man auch ihm zugemutet hat. Immerhin spricht er von Dingen, die tatsächlich etwas mit dem Universitätsalltag zu tun haben, von Bibliotheksausweisen und Stundenplänen und Prüfungsanforderungen und so.

Dennoch ist mein Hirn weiterhin damit beschäftigt, den Dingelkamp-Schock zu verarbeiten. Darüber verliere ich jedoch dank meiner Hans guck in die Luft-Einstellung den Anschluss an meine Gruppe und stehe plötzlich ganz allein da – das Gedränge im Eingangsbereich des pädagogischen Instituts ist enorm.

Egal, wie langhalsig ich mich umsehe, die sind ohne mich ab zum Mittagessen. Ich war immer schon ein Bummelbruder und die Tatsache, dass ich städtisches Leben nicht gewohnt bin, macht es nicht besser. Trotzdem bin ich gerade zwanzig Jahre alt geworden und nicht erst drei, wie Dingelkamps Lehrmethoden es mich fast haben glauben lassen. Nein, ich bin erwachsen und ich mache mir doch nicht ins Höschen, weil ich nicht weiß, wo's langgeht. Und falls doch, tue ich so, als sei nichts. Genau.

Ich strecke den Rücken durch, hebe den Kopf und gebe den furchtlosen Typen mit Durchblick, der entschlossen die Stufen der Fakultät hinunterschreitet, ohne dabei auf die Nase zu fallen, da er in dieser Haltung nicht wirklich sehen kann, wo er hintritt. Vor dem Haupteingang öffnet sich ein mit grauen Pseudo-Kopfsteinen gepflasterter Platz, in dessen Mitte sich ein kreisrunder Brunnen befindet, in dem mehr Entengrütze als Wasser schwappt. Direkt daneben steht ein hölzerner Wegweiser, der neben diversen universitären Einrichtungen mindestens vier Mensen aufführt. Ich folge einfach auf gut Glück dem Weg zur Hauptmensa, aus deren geöffneten Türen Essensdüfte quer über den Campus wabern.

Die Menschenmenge um mich herum besteht aus den unterschiedlichsten Typen. Neben zu spät gekommenen Hippie-Bräuten und Dreadlocks-Aposteln erkenne ich selbst ernannte Bankdirektoren in spe in Anzug und mit perfekt gebundener Krawatte und natürlich den ganzen langweiligen Rest, zu dem ich mich selbst zählen darf. Mein Magen beginnt brav zu knurren, während ich mich mit dem Strom bewege. Höchste Zeit, ihn mit etwas Nahrhaftem vollzustopfen.

Leichter gesagt als getan, denn die in einem gruseligen 50er-Jahre-Plattenbau untergebrachte Hauptmensa ist nicht nur unglaublich, sondern auch unglaublich voll.

Ich gebe es nicht gerne öffentlich zu, aber mein Landmaus-Bruno-Gehirn verkraftet das einfach noch nicht so sonderlich gut, da muss ich mich erst noch dran gewöhnen. Und das werde ich wohl kaum tun, indem ich kneife.

Ich lasse mich also wacker vorwärts schieben, schnappe mir im Vorbeistolpern ein traurig beiges Tablett und lade es mit allem voll, was ich irgendwie erwischen kann. Heraus kommen ein schleimig aussehendes Nudelgericht, in dessen Soße sehr tot wirkende Pilze treiben, ein knallgrüner Wackelpudding und eine kleine Flasche Fanta. Ich werte das mit extrem optimistischer Einstellung als einen Erfolg.

Kaum durch die Kasse, stehe ich vor dem nächsten Problem: Ich sehe einfach keinen freien Sitzplatz, obwohl der Speisesaal so groß ist wie eine Scheune für Schweinemast. In meiner erzwungenen, supercoolen Haltung laufe ich eine Weile ziellos durch die Gegend, nah an der Grenze eines Krampfes in der Rückenmuskulatur, bis das Schicksal endlich Gnade mit mir hat. Der leere Stuhl befindet sich direkt am Förderband für die Tablettrückgabe und mein Sitznachbar ist ein bärtiger Obdachloser mit interessantem Duftbouquet, der sich die Reste vom Band zusammensammelt.

Heute ist wahrhaftig nicht der Tag der Wohlgerüche. Egal, Hauptsache, ich kann mich endlich auch niederlassen. Ich weiß schließlich, dass es grausam und hinterhältig ist, sich über solche Leute zu mokieren, also darf ich mich nicht anstellen. Ich unterdrücke also mögliche Vorurteile und atme bewusst durch den Mund, piekse die Fahne angewandter Toleranz und Nächstenliebe in den Mensalaminatboden und beginne, mich über mein Essen herzumachen. Damit ich aufgrund der Flut an Sinneseindrücken überhaupt zum Essen komme, starre ich angestrengt auf die Tischplatte, während ich die zerkochten Nudeln in mich hineinlöffele.

Das Stimmengewirr bin ich so nicht gewohnt. Bald wird mir das aber nichts mehr ausmachen, schließlich bin ich erst seit drei Tagen in Hamburg. Mein Heimatkaff hat nur fünfzig Einwohner und auch das Landgymnasium, an dem ich Abi gemacht habe, war ziemlich überschaubar.

Wenn Oma und ich mal in die Stadt gefahren sind, dann hieß das im Klartext Itzehoe. Das ist nicht gerade eine internationale Metropole. Klar, ich war auch schon in Hamburg, nicht zuletzt, um meine Mutter zu besuchen, doch das waren nur Stippvisiten, Urlaub in einer fremden Welt. Jetzt wohne ich hier, studiere gar, das ist eine ganz schöne Umstellung, von der ich mir gleichzeitig viel verspreche.

Apropos. Was ist das denn für ein Flyer in der Mitte des Tisches? Neugierig lass ich die Nudeln Nudeln sein und sehe mir den Zettel genauer an.

SCHWUL? LESBISCH?, steht da in großen Blockbuchstaben am Kopf der Seite. Lesbisch bin ich nicht, dafür fühle ich mich von Punkt eins deutlich mehr angesprochen.

Oh mein Gott! So etwas gibt es wirklich! Nicht nur in der Theorie und im Fernsehen und so. Das war mir zwar schon irgendwie bewusst, doch ich hätte nicht damit gerechnet, dass es mir einfach so beim Mittagessen in den Schoß fällt. Ich verschlinge das Flugblatt mit deutlich mehr Enthusiasmus als mein Menü.

Es ist eine Einladung. Heute Abend schon trifft sich eine studentische Schwulen-Lesben-Gruppe und Neulinge sind herzlich willkommen. Ich! Ich bin herzlich willkommen. Das ist doch unglaublich. 18 Uhr in Raum 212 des soziologischen Instituts. Das ist in nicht mal fünf Stunden. Meine Gebete wurden erhört!

Sicher, ich lebe auch nicht auf dem Mars, dennoch bin ich vornehm formuliert ein Spätzünder. Das hat mehrere Gründe. Der erste und wichtigste ist, dass ich einfach ein braver Junge sein wollte. Oma hätte es echt nicht verdient gehabt, noch so eine Pleite zu erleben wie mit meinem Vater, bei all der Mühe, die sie sich mit mir gegeben hat. Hinzu kommen eine ordentliche Prise Feigheit, Unsicherheit und die Umstände des Lebens in der Provinz. Aber jetzt, in dieser großen, aufregenden, beängstigenden Stadt gibt es Leute, die sind wie ich und die mich so, wie ich bin, kennenlernen wollen!

»Hey, Schwuchtel!«, spricht mich der Pennbruder von links aus an. »Isst du deinen Wackelpudding noch?«

Meine Wirbelsäule verwandelt sich in Wurmkacke. »Was?«, stottere ich überrumpelt und wende mich ihm zu. Ich mag zwar aus einer Ecke stammen, wo offiziell nicht mal die Störche schwul sind, aber Schwuchtel ist gewiss auch in Hamburg kein Kompliment.

Er beehrt mich mit der Entblößung seines maroden Gebisses, das mich an ein kubistisches Gemälde erinnert. Schiefe, eckige, braune Dingsdas, die in seinem Fall wohl Zähne darstellen sollen. »Ich habe gefragt, ob du deinen Pudding noch willst?«, wiederholt er freundlich.

»Nee...«, erwidere ich und reiche ihm die Schale.

»Danke, Hübscher«, freut er sich und macht sich darüber her.

Irritiert sehe ich mich um. Steht mir das etwa auf die Stirn geschrieben? Seit wann das denn? Bisher hat das doch nie jemand erkannt. Vielleicht hat die Klarsicht meines Nachbarn auch etwas damit zu tun, dass ich den Schwul-Lesbisch-Flyer ein ganzes Weilchen verzückt angestarrt habe wie ein böser Nazi die Bundeslade bei Indiana Jones. Das ist für die bösen Nazis bekanntlich nicht zufriedenstellend ausgegangen. Gut, dass ich keiner bin und sich meine Begehrlichkeiten eher im harmlosen Rahmen bewegen.

Da mein Nachbar jetzt sowieso schon im Bilde ist, bestaune ich dieses Geschenk des Himmels in meiner Hand einfach ungeniert weiter. Plötzlich bin ich guter Dinge. Deswegen bin ich schließlich hergekommen. Mein Leben als Erwachsener soll jetzt endlich losgehen. Als Student. Und als schwuler Mann. Das hier könnte ein Anfang sein und daher genieße ich die angenehme Aufregung, die mich beim Anblick des schlecht kopierten Zettelchens überkommt, in vollen Zügen.

 

 


Kapitel 2

 

Nieder mit den Discohuschen!

 

 

Mein Enthusiasmus sinkt beträchtlich, als die Stunde der Wahrheit näherrückt. Der Nachmittag hat mir einiges von der Verstörtheit genommen, die Dingelkamp mit seiner Kamikaze-Pädagogik verursacht hatte, da wir mit unserer Tutandengruppe, zu der ich im Seminarraum wieder stoßen konnte, Büchersuchspiele und Bibliotheksführungen veranstaltet haben. Endlich Dinge, bei denen ich so etwas wie Sinn erkennen konnte. Ich habe mir eifrig Notizen gemacht, damit ich bloß nichts vergesse.

Doch jetzt, da ich schwer atmend vor Raum 212 des soziologischen Instituts stehe und die Sekunden auf dem Zifferblatt meiner von Opa geerbten Armbanduhr herunterzähle, geht mir der Arsch ganz schön auf Grundeis. Ich höre Stimmen durch die Tür, weibliche wie männliche, und weiß: Das sind sie wirklich. Echte Schwule, echte Lesben. Keine Tagträume, keine Pornodarsteller, was im Groben und Ganzen meinen Erfahrungsschatz ausmacht.

Als ich sechzehn war, habe ich, besoffen von zu viel Ale, mit meinem englischen Gastbruder in Bristol rumgeknutscht. Am nächsten Tag konnte er sich offiziell an nichts erinnern und ich bin abgereist. Das war's. Hinter dieser Tür wartet aber gewiss auch nicht mein Märchenprinz auf mich.

An den glaube ich sowieso nicht. Ich mag zwar unerfahren sein, aber ich bin keine dreizehnjährige Glitzervampir-Schmacht-Kreischerin. Ich muss nur an meine Eltern denken, um zu wissen, wie der Hase wirklich läuft. Zwar hoffe ich schon, dass es bei mir besser wird, aber so dumm, mich in eine Traumwelt zu flüchten, bin ich auch nicht. Fürs Erste reicht es mir, überhaupt mit echten Menschen von Angesicht zu Angesicht zu reden, die auch homosexuell sind.

Der Zeiger wandert auf die zwölf, ich hole ganz tief Luft und öffne die Tür. Mir ist schwummerig. Die Gespräche im Raum verstummen abrupt. Sechs Augenpaare richten sich interessiert auf mich. Das Zimmer selbst ist ein völlig unspektakulärer Seminarraum mit zur Seite geräumten Tischen, grauem Nadelfilzboden und einer Wandfarbe, die sich am besten als verdreckt beschreiben lässt. Die tiefstehende Sonne hüllt alles in ein schmeichelhaftes Licht.

Allerdings nicht so schmeichelhaft, dass sie die anwesenden Herren attraktiver erscheinen lässt. Binnen eines Herzschlags habe ich sie bereits in die tiefe Grube der Aussortierten geschmissen. So viel zum Thema innere Schönheit. Offensichtlich lege ich keinen Wert darauf. Immerhin muss ich zugeben, dass der kleine, etwas rundliche Lockenkopf, der als Erster seine Stimme wiederfindet, zumindest Sympathie in mir wachruft.

»Hi«, begrüßt er mich mit schwacher Stimme.

Die anderen Jungs glotzen mich einfach stumm weiter an, sodass ich mich in meiner Haut sehr unwohl fühle, und die beiden Frauen beginnen zu kichern. Wenigstens die sind echt hübsch und sehen überhaupt nicht aus wie die Klischee-Lesben. Eigentlich ein ziemlich gemeiner Gedanke, ich Charakterschwein, ich. Sie tragen beide Sommerkleider, wie sie gerade überall in den Auslagen angepriesen werden, haben langes Haar, die eine heller, die andere dunkler brünett, und absolut nichts Burschikoses an sich.

Das habe ich davon, meine Bildungslücken mit unreflektierten Vorurteilen zu stopfen. Ich wäre schließlich auch entsetzt, wenn mir jemand sagen würde, ich könne nicht schwul sein, weil ich nicht das Schwulen-Klischee à la gebrochenes Handgelenk erfülle. Das tun die anderen Typen hier allerdings auch nicht.

Neben dem, der mich angesprochen hat, ist noch ein Hagerer mit blondem Pferdeschwanz da, der vermutlich wie Legolas aussehen möchte und doch wirkt wie ein totaler Nerd, und zwei Heinis, die mich an die Gründer und einzigen Mitglieder eines Schul-Schachclubs erinnern, Kastenbrillen und -köpfe inklusive.

»Hi«, erwidere ich auch viel zu leise. »Ich bin Bruno.« In blödsinnigen Vorstellungen habe ich heute ja bereits Übung bekommen. Ich gebe mein Bestes, um selbstbewusst und sicher zu wirken. Das ist auf die Dauer ganz schön anstrengend. Mein Herz klopft wie verrückt, ich glaube sogar, dass ich vor lauter Aufregung und latenter Panik ein wenig zittere.

»Das hier ist ein schwul-lesbisches Treffen«, informiert mich der Hagere brüsk.

»Ich weiß«, erwidere ich weniger selbstbewusst. »Deswegen bin ich ja auch hier.«

»Du?«, fragt mich der Pummelige verdutzt.

»Wir sind zu sechst und du nur einer«, stellt einer der Schachclubeigner mit warnender Stimme klar.

»Was? Wieso?« Ich verstehe nicht, was sie von mir wollen, und strauchele erschrocken rückwärts.

»Ruhig Blut«, fährt uns das Mädel mit den dunkleren Haaren dazwischen, tritt auf mich zu und legt beruhigend ihre rechte Hand auf meine Schulter, sodass meine Flucht jäh unterbrochen wird.

Kopfschüttelnd richtet sie sich an die Runde. »Ihr solltet euch mal sehen«, tadelt sie sie. »Ihr jammert den ganzen Tag, dass sowieso mal wieder keiner kommt. Dann passiert das Gegenteil und ihr führt euch auf, als sei der Arme ein Tentakelwesen aus dem All, das eure Milz fressen will. Was kann denn... Bruno?... dafür, dass er aussieht wie etwas, das Falk heimlich auf seiner Festplatte bunkert? Wie war das mit der Toleranz?«

»Das war für eine Recherche über sexuelle Ausbeutung und Geschlechterstereotypen«, protestiert der Dürre mit hochrotem Kopf.

»Wer's glaubt«, haut ihn sein rundlicher Kompagnon in die Pfanne.

»Wie bitte?«, stehe ich derweil kurz vor einem Nervenzusammenbruch.

»Hey, Mann«, grinst mich die Brünette, die sich so schützend zwischen mich und die vier von der Tankstelle geworfen hat, rotzfrech an. Ihre Augen sind tiefgrün und in ihnen blitzt der Schalk.

»Ich kann das ja völlig ungeniert sagen, denn du fällst absolut nicht in mein Beuteschema und ich wohl hoffentlich nicht in deins. Wenn ja, hast du Pech gehabt, denn das da ist meine Freundin Katrin.« Sie deutet auf das andere Mädchen, das mir freundlich mit einem Bier zuprostet. Sie hat ein herzförmiges Gesicht und eine kecke Stupsnase.

»Absolut nicht«, schwöre ich Stein und Bein.

»Brav«, lobt sie mich. »Ich stehe zwar nicht auf Schwänze, aber wenn du obendrein auch noch in zusammenhängenden Sätzen sprechen kannst, würde ich dich eines Tages für eine Samenspende in Betracht ziehen.«

»Was?«, kreische ich nun tatsächlich und kläre so rasch die Frage nach den zusammenhängenden Sätzen. Und ich dachte, Dingelkamp sei schon der Gipfel des Tages in Sachen Irrsinn gewesen!

Das andere Mädchen, Katrin, tritt vor, und legt ihre Hand auf meine andere Schulter. »Keine Panik«, grinst sie. »Lea ist zuweilen ein enfant terrible. Ganz locker. Was sie damit zum Ausdruck bringen wollte, ist, dass du zu heiß bist, als dass dich die Jungs hier erwartet hätten. Deswegen halten sie dich jetzt alternativ für ein Killerkommando oder den Teufel.«

»Was?«, krächze ich erneut an der Grenze zu komplett sprachgestört. Und so etwas wie ich will Germanistik studieren. Ich weiß, dass ich nicht verstörend hässlich bin, sodass wildfremde Menschen auf der Straße mich entsetzt anstarren würden, doch damit endet die Fähigkeit zur Selbsteinschätzung auch schon. Ich bin Modell blond und blauäugig, knapp über eins achtzig und laut ärztlicher Untersuchung in bester gesundheitlicher Verfassung. Meine Schulkameraden fanden mich okay, aber die wollten auch nichts weiter von mir. Den Mädchen bin ich zu gekonnt aus dem Weg gegangen, als dass ich ihre detaillierte Bewertung hätte erfahren können. Als heiß wurde ich allerdings noch nie bezeichnet und das meines Erachtens nach auch völlig zurecht. Haben die sie hier nicht mehr alle?

Die Jungs starren betroffen Löcher in den Boden, nur Katrin lacht munter weiter.

»Tut uns leid«, wagt schließlich das lange Elend den ersten Schritt und sieht zu mir auf. Seine Augen sind blau, wirken jedoch ein wenig verkniffen. »Ich bin Falk. Er«, er deutet auf den Rundlichen, »heißt Felix. Und das sind Lennard und Franz.«

»Sehr angenehm«, zeige ich mich wohlerzogen, wie Oma es mir beigebracht hat.

»So ist's recht«, gurrt Lea. »Komm, setzen wir uns doch. Willst du ein Bier, Bruno?«

Ich nehme dankend an und atme schließlich erleichtert auf. Nach ein paar weiteren peinlich gezwungenen Minuten legt sich die Spannung allmählich und ich komme dazu, meine zuvor bereitgelegten Fragen zu stellen. Ich erfahre, dass die Gruppe einiges tut, um Bewusstsein und Toleranz zu wecken und die Rechte derjenigen zu wahren, wie zu fördern, die nicht dem sexuellen Mainstream entsprechen. Ich finde es gut und richtig und sehe durchaus ein, dass ich auch meinen Teil leisten sollte. Bisher habe ich ja gar nichts getan, dennoch will auch ich das, was sie vertreten.

»Tut mir echt leid«, entschuldigt sich Lennard … oder Franz rückwirkend. »Du sahst echt aus wie eine der Discohuschen aus dem Sweet Dreams

»Häh?«, steuere ich wenig geistreich zur Konversation bei.

»Ach«, schnaubt Falk, der so etwas wie der Gruppenchef zu sein scheint. »Diese Spaßschwestern, die denken, ihren Beitrag geleistet zu haben, wenn sie auf dem CSD einmal mit der Federboa in die Kamera gewedelt haben. Die tanzen, ficken, sich die Birne voll-dröhnen und behaupten, das sei eben schwuler Lifestyle und alle anderen nur Spießer. Diese Idioten regen mich echt auf! Okay, sie können treiben, was sie wollen, ist ja ein freies Land, aber sie machen es für alle anderen nur umso schwerer, indem sie dieses Klassenclown-Image kultivieren und fröhlich alle Klischees bedienen.«

Dieser Gedankengang kommt mir bekannt vor. Mit schwul haben in meinem Umfeld auch alle etwas ganz anderes assoziiert als einen führenden Politiker, obwohl dazu durchaus Anlass bestanden hätte.

Deswegen habe ich immer mein Maul gehalten. So wollte ich einfach nicht wahrgenommen werden. Den Schneid, den Gegenbeweis anzutreten, hatte ich einfach nicht. Vielleicht ändert sich das nun ja auch?

»Sind die echt alle so drauf?«, staune ich beklommen.

»Bestimmt nicht. Nur die, die es sind, sind eben präsenter, weil sie die gängigen Vorstellungen bedienen und schlichtweg auffälliger sind«, bemerkt Katrin. »Geht uns Lesben ja auch nicht anders. Wenige prägen die allgemeine Wahrnehmung, ohne dass sich die Leute die Mühe machen, darüber nachzudenken, dass das vielleicht nicht ganz verallgemeinerbar ist. Da heißt es wohl einfach weiter unverdrossen aufzuklären.«

»Ja.« Langsam werde ich mit dieser Sache wohl auch warm. »Wir sind doch auch alle verschieden, nicht wahr? Genau wie die Heterosexuellen, Bisexuellen, was auch immer? Das ist doch auch nur ein Teil von uns.«

»So ist es«, stimmt mir Felix zu. »Und darum geht es. Unser erklärtes Ziel ist es, uns selbst überflüssig zu machen.« Er lacht und zeigt dabei zwei tiefe Grübchen. »Wir wollen normal wahrgenommen werden, wie wir es schließlich sind. Jeder Mensch sollte sein können, wie er ist, wie er sein möchte. Das ist nicht leicht in die Köpfe zu bekommen, wenn einige nie ihren Arsch hochkriegen und stattdessen auf Selbstgettoisierung machen. Klar müssen wir untereinander Kontakt halten, aber eben nicht im Sinne einer Parallelgesellschaft oder kompletter Ignoranz auch unsererseits.«

Ich nicke bedächtig. Dann platze ich heraus: »Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wovon ihr redet. Ich komme aus einem Pupsnest namens Hasenfuhrt und da ist der Name Programm. Okay, im Fernsehen habe ich das natürlich schon mal gesehen. Aber wie ist das wirklich? Gibt es das alles überhaupt in echt?«

»Wo liegt denn Hasenfuhrt?« fragt mich Lennard … oder Franz mitleidig. »Auf dem Pluto?«

»Kreis Steinburg«, erwidere ich etwas beleidigt. »Westlich von Hamburg, gar nicht weit weg.«

»Da gab es doch gewiss auch Straßen?«, erkundigt sich Felix interessiert und beugt sich vor, bis ihm seine Locken in die Stirn fallen und er aussieht, als wäre er gerade erst aus dem Bett gekrochen. Deswegen schneide ich mir meine Haare immer kurz, sonst sehe ich bei meiner Haarfarbe aus wie ein Mitglied einer Weihnachtsdeko-Schnitzengel Kapelle aus dem Erzgebirge. »Solche, die wegführen?«

»Ja«, bestätige ich gedehnt. »Das war halt nicht so einfach. Ich wollte meiner Großmutter keine Scherereien machen.«

Erneut sehen sie mich alle mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Mitleid an. Ist es etwa peinlich, seiner Oma, bei der man aufgewachsen ist, nicht den letzten Nerv rauben zu wollen? Außerdem hat sie mich schon von klein auf darauf getrimmt, dass es kein erklärtes Lebensziel sein kann, ein Hallodri zu werden wie mein Vater, auch, wenn sie ihn vor mir nie so explizit fertiggemacht hat. So weit würde sie nie gehen, auch da hat sie ihre Prinzipien, doch ich kann schon eins und eins zusammenzählen.

»Ist doch völlig okay«, beschwichtigt mich Katrin und reicht mir ein weiteres Bier. Ein Blick auf den Buffettisch am Fenster hat mir schnell gezeigt, dass hier weder großer Andrang noch diätversessene Abstinenzler erwartet wurden. Es gibt Bier und Wein und massenhaft Chips.

»Wirklich«, pflichtet Felix Katrin bei, bevor die anderen murmelnd folgen. »Ist doch klasse, wenn deine Großmutter keinen Aufstand gemacht hat. Das läuft auch heute noch bei einigen nicht so super.«

»Ja, ich weiß. Da hatte ich Glück. Sie ist auch sehr in Ordnung. Deshalb wollte ich ihr eben keinen Kummer machen, indem ich – wie war das Wort? – die Discohusche hinlege. Das war eh nie so meine Welt. Aber ein bisschen neugierig bin ich schon«, muss ich zugeben.

»Wisst ihr was?«, reißt Lea das Gespräch wieder an sich. »Das machen wir. Bruno kann als schwuler Neu-Hamburger ein bisschen Unterstützung wirklich gebrauchen.«

Falks Augen beginnen zu leuchten.

»Klar«, fängt er Feuer. »Es gibt total viel hier, das man machen kann. Vom schwulen Fußballverein bis zum Filmtreff. Gerade läuft eine Ausstellung zur Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich.«

»Ja, ganz super«, unterbricht ihn Lea durchaus charmant. »Vielleicht will Bruno für den Anfang einfach nur wissen, wie die Dinge im Hier und Jetzt so stehen – und zwar nicht nur von der pessimistischen Perspektive aus betrachtet?«

»Das andere hört sich auch toll an«, versuche ich Falks langes Gesicht mit Lob zu entkrampfen. Eigentlich hört es sich fantastisch an. So viele Möglichkeiten. Fußball ist zwar nicht mein Ding, trotzdem öffnet sich bei diesen Aussichten der Horizont für mich. Jetzt habe ich erst mal einfach Blut geleckt, weil es sich so weltmännisch, städtisch anhört, mal einen Blick in diese mir fremde Welt zu riskieren. Alleine würde ich mich das niemals trauen. Hier bietet sich die Chance, mit Rückendeckung über den Zaun in den Garten des Unfassbaren zu blicken. Dieser Versuchung kann ich nicht widerstehen.

»Genau«, fährt Katrin fort. »Hamburg für schwule Neubürger? Da darf das Sweet Dreams eben nicht fehlen.«

»Ach«, meint Felix naserümpfend. »Ich weiß, ihr hängt da gerne mal rum. Ist für euch auch irgendwie anders. Ich finde es nur frustrierend. Ich meine, als Mann wird man dort nur danach beurteilt, ob man einen Waschbrettbauch hat oder nicht. Und wer hat den schon, der im Leben auch Besseres zu tun hat, als den halben Tag in der Muckibude rumzuhampeln.«

Ich – aber das sage ich jetzt besser nicht laut. Muckibuden waren in Hasenfuhrt zwar Mangelware, aber die Kreisschwimmhalle war gerade mal eine halbe Stunde von zu Hause entfernt. Seit meinem fünften Lebensjahr habe ich dort trainiert, war sogar bei Jugend trainiert für Olympia, und das habe ich nicht getan, um der schönste Frosch im Tümpel zu sein, sondern weil ich einfach gerne schwimme.

»Hey«, tröstet Lennard … oder Franz Felix und drückt ihn mit dem Arm um die Schultern an sich. »Es sind doch echt nicht alle da so drauf. Den Schuh musst du dir nicht anziehen.«

»Stimmt schon«, gibt Felix seufzend zu. »Aber einige schon und es ist einfach kein tolles Gefühl, angeguckt zu werden, als sei man eine wertlose Made.«

»Wer dich so anguckt, der ist eine wertlose Made«, stellt eins der Mitglieder des von mir unterstellten Schachclubs die Sache klar und hat damit vom Prinzip her völlig recht. Das gehört zu Omas Lehren: Der Wert eines Menschen bemisst sich gewiss nicht nach seinem Äußeren. Stimme ich vollkommen zu. Nur dieser amoralische Sensor in mir pfeift da total drauf, denn der bekommt gepflegt das Würgen bei dem Gedanken, Felix' Speckrollen zu küssen.

Mein schlechtes Gewissen schimpft mich innerlich mit Omas Stimme aus und das habe ich auch wirklich verdient. Ich kann's trotzdem nicht ändern, in der Hinsicht bin ich in der Tat eine wertlose Made. Allerdings wäre es das Allerletzte, das auch noch nach außen zu tragen. Es sei mein kleines, schmutziges Geheimnis, mit dem ich leben muss.

»Ja, scheiß auf die Freddies dieser Welt!«, knurrt Falk feindselig.

»Freddies?«, rutscht mir postwendend raus.

Felix verzieht angewidert das Gesicht und die anderen drei tun es ihm gleich. »The king of fucking everything«, erklärt er mir. »Und das ist wörtlich zu nehmen. Er ist der Nummer eins Platzhirsch. Er sieht selbstredend aus wie ein Aftershave-Zahnpasta-Unterhosen-Model und geilt sich daran auf, dass jede Schwester von hier bis zum Nordpol sich den rechten Arm abreißen würde, um bei ihm zu landen oder wie er zu sein.«

»Komisch«, kommentiere ich. Solche Menschen soll's ja beiderlei Geschlechts geben, auch wenn mir die Beweggründe schleierhaft sind.

»Der und seinesgleichen fressen jemanden wie Bruno doch ohne zu kauen«, klagt Felix und deutet dabei ungeniert mit dem Zeigefinger auf mich.

»Ach was«, sträube ich mich und schüttele wie wild den Kopf. Ein ganz krankes Bild entsteht in meinem Hirn, in dem ich von einem Rudel schwuler Hühner niedergepickt werde.

Das ist natürlich total bescheuert, da Hühner weiblich sind und demzufolge im Zweifelsfalle lesbisch, womit sie keinerlei Interesse an mir haben dürften. Ich wurde als Kleinkind ja mal von einem sehr heterosexuellen Gockel angefallen, der sein Weibsvolk gegen meine Knuddelattacken verteidigen wollte. Noch heute habe ich eine kleine Narbe am Hals, wo er versucht hat, mir die Kehle aufzuschlitzen. Er hat seine Heldentat mit einer Karriere als Suppeneinlage bezahlt. Das Landleben ist hart.

»Außerdem sind wir doch da«, triumphiert Lea, wendet sich mir zu und nimmt unbefangen meine Hand. »Wir passen schon auf dich auf«.

»Danke«, erwidere ich lahm. Ich kann mich meiner Haut eigentlich selbst erwehren. Behaupte ich mal, aber auch da fehlt mir Praxiserfahrung. Nichtsdestotrotz bin ich froh darüber, dass sie mich in ihrer Mitte willkommen heißen und mir die Welt zeigen wollen. Souveränität, Mut und Durchblick trage ich gerade wie ein Faschingskostüm mit mir herum, unter dem ich grässlich schwitze.

Und so bin ich plötzlich verabredet. Für Freitag. Unglaublich. Ich hatte wirklich Schiss, das ganze Wochenende über alleine dazuhocken. Oma hat strikte Order gegeben, dass ich erst mal hier bleiben solle, um mich einzufinden. Das gelingt mir gerade doch gar nicht mal so schlecht. Ein bisschen stolz bin ich schon.

Bald schon bin ich um sechs Handynummern reicher und bekomme bildreich beschrieben, wo wir uns treffen werden. Den restlichen Abend verbringe ich beschwingt inmitten meiner neuen Bekannten, während wir uns weiter beschnuppern. Sie geben mir Tipps zum Studium und plaudern auch über sich selbst. Ich erfahre, dass Katrin Kunstgeschichte studiert, Lea Musik und Englisch auf Lehramt, Falk Politologie, Felix Soziologie und Lennard – Franz, in der Tat beide etwas Naturwissenschaftliches. Mist, ich bekomme es einfach nicht hin, die beiden auseinanderzuhalten, sie sehen einander so ähnlich.

Als der Hausmeister um elf Uhr abends das rauschende Fest beendet, spüre ich eine freudige Ruhe in mir, die vor allen Dingen darauf zurückzuführen ist, dass ich mich nicht mehr so furchtbar allein in diesem Moloch wähne. Ich kenne jetzt wirklich und wahrhaftig Menschen, die sind wie ich, und denen gegenüber ich im entscheidenden Punkt offen sein kann. Experiment geglückt, sozusagen.

Gemeinsam mit Lea und Katrin trete ich anschließend den Heimweg zum Bahnhof an. Die beiden halten sich bei den Händen und wirken so glücklich. Bei dem Anblick werde ich ein bisschen wehmütig. Wie das wohl ist, verliebt zu sein und beruht auf Gegenseitigkeit? Sicherlich habe ich mich schon das ein oder andere Mal in jemanden verguckt. Mehr als stille Schwärmerei war aber nie drin. Das, was die beiden Frauen haben, möchte ich auch. Wer nicht? Ab heute gehört es wirklich zu den Möglichkeiten, den unzähligen Möglichkeiten, die mein neues Leben verheißt.