W. A. Hary
Ritter des Bösen
„Er ist gewaltig - und doch nur ein Sklave der Hölle!“
Im Jahre des Herrn 1798
Es war großartig. Es war das größte Schiff, das ich jemals in meinem Leben gesehen hatte. Davon war ich überzeugt, als es da in den Hafen von Venedig herein schwebte.
Ja, schwebte! Anders kann man es nicht nennen. Fast geräuschlos glitt es dahin, kaum Wellengang verursachend. Die Geräuschkulisse, wie sie bei anderen Seglern üblich war, fehlte fast völlig. Da war kein Knarren der Takellage, kein dumpfes Rauschen in den gehissten Segeln...
Alleinige Urheberrechte an der Serie: Wilfried A. Hary
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ISSN 1614-3329
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Coverhintergrund: Anistasius
Titelbild: Karl-Heinz R. Friedhoff
Logo Schavall: Helmut Bone
Lektorat: David Geiger
Wichtiger Hinweis
Diese Serie erschien bei Kelter im Jahr 2002 in 20 Bänden und dreht sich rund um Teufelsjäger Mark Tate. Seit Band 21 wird sie hier nahtlos fortgesetzt! Jeder Band (siehe Druckausgaben hier: http://www.hary.li) ist jederzeit nachbestellbar.
Ich zählte sechs Masten! Und auch sie knarrten nicht, wie üblich. Die Segel waren zum größten Teil gerefft.
Ich stand am Kai und staunte. Ich hatte die Arme in die Seiten gestemmt und schüttelte den Kopf.
Das also war die ›Canivora‹, das größte Handelsschiff der Baldini-Flotte.
Baldini selber sollte an Bord sein. Er hatte mir durch einen Kurier bestellen lassen, dass ich am Tag seiner Ankunft am Kai auf ihn warten sollte.
Eine besondere Ehre, wenn ein so reicher Mann wie Baldini mich zu sehen wünschte. Und er war so pünktlich gekommen, als wäre die endlos lange Reise aus der Neuen Welt nach Venedig lediglich ein zeitlich gut kalkulierbarer Katzensprung.
Obwohl er schon mittags hatte hier sein wollen und sich jetzt schon der Abend über das Venedig im Jahre des Herrn 1798 senkte!
Die Canivora legte an. Hundert Hände halfen dem Sechsmaster, dessen Laderäume von Waren nur so überquollen.
Eines wunderte mich: Ich sah kaum Besatzungsmitglieder! Die Hauptarbeit wurde vom Hafenpersonal getätigt.
Ich betrachtete die Männer vom Hafenpersonal. Sie waren sehr schweigsam, machten eher grimmige Mienen und schufteten wie die Besessenen.
Gleich drei Rampen wurden angelegt. Oben wurden die Durchgänge geöffnet. Die Arbeiter strömten zuhauf auf das Schiff und begannen, die wertvollen Güter zu entladen.
Alles zu Fuß und per Hand.
Da waren Kisten, Ballen und lange Rollen. So verpackt, dass man nicht sehen konnte, was sie enthielten. Manche hatten ein ungeheures Gewicht. Ich sah zwanzig Männer, die mit schwellenden Muskeln eine Rolle vom Umfang einer Männerbrust und einer Länge von zirka fünf Metern trugen. Was mochte diese Rolle enthalten?
Ich vergaß meine Begeisterung über das stolze Schiff.
Überall wurden Laternen angezündet. Im flackernden Schein wurden die Arbeiten fort geführt. Ich hörte das Keuchen der Männer, das Trampeln ihrer Füße auf den Rampen, das Scharren, das sie auf dem steinernen Kai verursachten. Sie trugen die Güter in die Baldini-Lagerhallen. Auf mich achtete kein Mensch. Als wäre ich gar nicht vorhanden.
Und noch etwas: Keines der Besatzungsmitglieder beteiligte sich an der Arbeit! Ich bekam kaum einen dieser Männer zu Gesicht.
So stand ich zwei Stunden am Kai. Auch Baldini persönlich schien mich vergessen zu haben.
Und da stolzierte ein gut gekleideter Mann über die Rampe. Er hatte auch dieses auffallend bleiche Antlitz. Das, obwohl er Wochen auf dem Meer verbracht hatte? Obwohl diese Wochen sehr sonnenreich und sehr heiß gewesen waren?
Ich sah einen schmalen Oberlippenbart. Der Mann war schmal, fast dürr, hatte beengende Kleidung an, wenn auch von feinstem Tuch. Auf dem Kopf saß ein röhrenförmiger Hut, wie ich ihn in Venedig noch nie gesehen hatte.
Dieser Mann kam genau auf mich zu. In der Rechten hielt er einen Stock. Seine Hand umklammerte den golden schimmernden Knauf.
Er trat auf mich zu und blieb stillschweigend vor mir stehen.
Ich schluckte einen imaginären Kloß herunter und würgte die Worte hervor: »Senior Baldini?«
Er blieb stumm, sein Gesicht unbewegt. Seine Augen wirkten blutunterlaufen. Sie schienen im flackernden Schein der Laternen zu leuchten. Irgendwo krächzte ein Nachtvogel. Seine Stimme zerriss die seltsame Stille.
Der Mann hob den Stock und deutete mit der Spitze auf meine Brust.
Verständnislos starrte ich auf diese Spitze.
Da schnappte eine lange Nadel hervor.
Ehe ich eine Abwehrbewegung machen konnte, bohrte sich die Nadel mitten in meine Brust.
Ein wahnsinniger Schmerz, der mich sofort lähmte und mich sogar daran hinderte, einen Schrei auszustoßen.
Der Mann zog den Stock zurück.
Ich stand schwankend da und drohte zu Boden zu stürzen. Dabei konnte ich nicht einmal mehr die Arme heben, um den Sturz irgendwie abzufangen.
Der Mann trat zurück.
War es denn wirklich Baldini?
Ich hatte den großen Reeder und Handelsfürsten noch nie zuvor gesehen.
Er beobachtete mich schweigend. Ich schaute ihn an und konnte meinen Blick nicht mehr von ihm wenden. Das Glühen in seinen blutunterlaufenen Augen verstärkte sich.
Ich kippte rückwärts um. Aber da waren helfende Hände, die mich aufhielten. Sie hoben mich empor.
Mein Körper war brettsteif. Nur die Augen konnte ich bewegen.
Der hoch gewachsene hagere Mann stolzierte an mir vorbei.
*
Ich konnte mich plötzlich wieder aufrichten und blieb im Schneidersitz sitzen.
Die Umgebung hatte sich radikal verändert. Nicht, weil ich einen zeitlosen Ortswechsel erlebt hatte, sondern weil mein Gedächtnis offensichtlich eine beträchtliche Lücke aufwies.
Wie viel Zeit war vergangen, ohne dass es mir bewusst geworden war Dank der Paralyse durch das unbekannte Gift von Baldini?
Kurz orientierte ich mich.
Es gab keinerlei Nachwirkungen des Giftes. Seltsam, das hatte ich noch nie zuvor erlebt. Ich konnte mich jedenfalls nicht erinnern.
Vorsichtig stand ich auf. Es gab keinerlei Beeinträchtigung – tatsächlich!
Baldini stand ein paar Schritte abseits und beobachtete mich. Ich sah sonst niemanden.
Man hatte mich in eine der Lagerhallen gebracht. In der Nähe standen große Kisten und ich fragte mich ernsthaft, was sie, um alles in der Welt, enthielten, denn seltsame, völlig fremdartige Gerüche entströmten ihnen. Und hörte ich nicht auch Geräusche, die ich unmöglich zuordnen konnte? Oder bildete ich mir das nur ein?
Ein Blick zur Seite. Da lag eine Art Brechstange, von einem Arbeiter achtlos liegen gelassen und später vergessen. Die Arbeiter hatten es ja auch sehr, sehr eilig gehabt. Als hätten sie ihre Arbeit möglichst schnell hinter sich bringen wollen. Weil alles, was mit Baldini zusammen hing, sie ängstigte?
Ich konnte es durchaus nachvollziehen, denn ich befand mich mitten drin in einer Atmosphäre, die ich nicht richtig einschätzen konnte. Dabei hatte ich bis heute angenommen, so etwas wie ein Experte auf diesem Gebiet zu sein: Ich, das war Jesuitenpater Pablo Comera. Ich war nur Pater geworden, weil ich in der Kutte meine Magie anwenden konnte, ohne auf irgendeinem Scheiterhaufen von irgendwelchen Fanatikern zu landen. Ich war Pater geworden und galt offiziell auch in Kirchenkreisen als erfolgreicher Teufelsaustreiber. Es war mir sogar gelungen, den berühmten Cagliostro zu Fall zu bringen, auch wenn mein Name niemals in der Geschichte erscheint. Teufelsaustreiber haben zu keiner Zeit Geschichte gemacht. Höchstens bei ihren Feinden, den Schergen des Bösen...
Ich, Mark Tate, erlebe hier und heute diese Geschichte eines meiner früheren Leben neu - und ich erzähle sie jetzt all meinen Freunden, genau so, wie ich sie erlebte...