Für Leni und Lotti – ihr seid der Zauber in meiner Welt

Erbsensuppe! Warum musste es denn schon wieder Erbsensuppe geben? Pollys Papa konnte ganz wunderbar kochen, aber seit er nicht mehr in Schönberg arbeitete, sondern in einer Klinik in Kiel, blieb das Abendessen selbst am Wochenende immer öfter an Mama hängen. Und die konnte so gut kochen, wie ein Regenwurm jonglieren kann.

»Polly!«, rief Mama und stolperte durch das Küchenchaos. »Kannst du mal schnell die Dose öffnen?« Die Dose mit den Erbsen flog schon durch die Luft, bevor Polly antworten konnte, dass sie darauf überhaupt keine Lust hatte. Na toll! Nicht nur, dass Polly Erbsensuppe kein bisschen ausstehen konnte – jetzt sollte sie auch noch bei der Zubereitung helfen!

»Das heißt bitte, Mama!«

»Waaas?« Die Zwiebeln im Topf zischten so laut, dass Mama schreien musste. Polly verdrehte die Augen.

»Kannst du mal bitte die Dose öffnen! Und außerdem heißt es nicht was, sondern wie bitte!«

»Jetzt fang du nicht auch noch an wie dein Vater!«, motzte Mama und warf ihr eine zweite Erbsendose zu.

Pollys Papa Cornelius legte sehr viel Wert auf gepflegte Umgangsformen. Nur weil Polly und ihre kleine Schwester auf einem Bauernhof aufwuchsen, hieß das noch lange nicht, dass sie sich wie Trampeltiere benehmen sollten.

»Was ist jetzt mit der Dose?«, rief Mama durch den Zwiebeldampf. »Wenn die Erbsen nicht gleich kommen, muss ich den Rosenkohl in die Suppe werfen!«

Polly verzog das Gesicht. Mama wusste ganz genau, dass sie Rosenkohl nicht ausstehen konnte!

Missmutig zog Polly die große Küchenschublade auf. Da wo eigentlich der Dosenöffner liegen sollte, lag nun: eine Klobürste.

»Der Dosenöffner ist nicht da, Mama!« Polly hoffte, dass sie nun doch nicht mitkochen musste, aber Mama zuckte nur mit den Schultern.

»Wahrscheinlich hat Lotti die Sachen wieder neu sortiert. Dann musst du halt ein bisschen suchen.«

Pollys Schwester Lotti war zwar gerade erst zwei, aber bereits ganz groß darin, Unruhe zu stiften. Das Beste an einer kleinen Schwester war, dass sie kein kleiner Bruder war, fand Polly. Trotzdem ging Lotti ihr manchmal ganz schön auf die Nerven. Wenn sie zum Beispiel mit ihren kleinen Krümelfingern in Pollys allerliebsten Pferdeheften rumschmierte. Oder wenn sie nachts so lange schrie, dass Mama am nächsten Morgen zu müde war, um mit Polly an der Koppel für Gulasch und Suppe zu arbeiten. Deshalb hatte Polly Mama und Papa an einem schönen Sonntagmorgen vor zwei Monaten einfach mal ausschlafen lassen, hatte sich Klein-Lotti geschnappt und sie im Bollerwagen bis nach Schönberg gezogen.

In Schönberg war nämlich Flohmarkt und Polly war sich sicher gewesen, dass sie einen guten Preis für Lotti erzielen konnte. Leider hatte die dicke Frau Rettich ihr nicht glauben wollen, als sie sagte, ihre Eltern hätten ihr erlaubt, Lotti zu verkaufen. Stattdessen hatte sie gleich Pollys Mama angerufen. Und die war dann wie ein Tasmanischer Teufel von Kalifornien nach Schönberg gerast und hatte Lotti mit dem Auto abgeholt, während Polly den ganzen langen Weg zu Fuß zurückmarschieren musste. Und eine Woche Stallverbot gab’s auch noch obendrauf. So war das eben mit kleinen Schwestern …

Wenn die Klobürste nun also in der Küchenschublade lag, wollte Polly lieber gar nicht wissen, wo sie den Dosenöffner finden würde.

»Wenn die Dose nicht bei DREI offen ist, spül ich den Rosenkohl ab!«, drohte Mama.

Polly verzog das Gesicht. Wie schrecklich konnte dieser Tag denn noch werden? Erst der potzblitzblöde Zahn und jetzt auch noch Rosenkohl!

Der Zahn! Genau! Plötzlich hatte Polly eine Idee. Zu irgendetwas musste dieses Riesending doch gut sein, oder? Und tatsächlich! Ohne große Mühe durchbohrte der neue Eckzahn den Dosendeckel, und noch bevor Mama überhaupt anfangen konnte, bis DREI zu zählen, hatte Polly die Dose einmal rundherum gedreht und der Deckel fiel scheppernd zu Boden.

Der Deckel war aber nicht das Einzige, was schepperte. Denn als Mama sah, wie Polly die Dose öffnete, ließ sie vor Schreck den zischenden Kochtopf fallen. Für die Schweinerei aus muffeliger Zwiebelbrühe, die sich auf dem Küchenboden ausbreitete, hatte Antonia Schlottermotz aber gar keinen Blick, nein. Das, was sie in diesem Moment interessierte, war eine einzelne, riesengroße Kleinigkeit: »Ogottogott, Polly! Seit wann hast du diesen Zahn?«

Das Gute an diesem Abend war, dass es nun doch keine obererbsige Suppe mehr gab, sondern eine Pizza vom lustigen Luigi. Das weniger Gute war, dass Papa wie ein Blitz nach Hause kam und sich für zwei Stunden mit Mama im Stall einschloss, während sich Polly um Lotti kümmern musste. Und die hatte den allergrößten Spaß dabei, die Salami von Luigis Pizza an die Wohnzimmerwand zu kleben!

Als Mama und Papa endlich aus dem Stall kamen, bemerkten sie die Salamidekoration nicht einmal. Mama war ganz bleich im Gesicht und Papas Haare sahen aus, als hätte ein Vogel darin sein Nest gebaut. Während Lotti mit Luigis Tomatensoße ein Nashorn an die Wand schmierte, saßen die beiden vor Pollys offenem Mund und betrachteten ihren Zahn.

Papa schluckte.

»Wie schlimm ist es, Antonia?«

»Sieht man doch!«, seufzte Mama. »Er ist ziemlich groß.«

»Größer als der von Winifred?«

»Viel größer …«

Papa stöhnte und vergrub sein Gesicht in den Händen. Die Sache wurde Polly langsam unheimlich. Sie wusste ja, dass dieser Zahn alles andere als toll war, aber für Mama und Papa war er offenbar eine Katastrophe! Und was bitte sollte Tante Winnie damit zu tun haben?

Tante Winifred war eigentlich gar nicht Pollys Tante, sondern die Schwester ihrer Oma und somit Pollys Großtante. Weil man sich bei einer Großtante aber eine alte Frau mit Schrumpelfüßen vorstellt, wurde Winifred von allen nur »Tante Winnie« genannt. Das passte auch viel besser zu ihr. Polly mochte Tante Winnie, keine Frage. Aber was sie mit diesem potzblitzbescheuerten Zahn zu tun haben sollte, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Papa seufzte. »Sagst du es ihr, Antonia?«

Mama blickte ihn empört an. »Ich? Wieso ich? Sie ist schließlich auch deine Tochter!«

»Aber das Problem liegt ganz eindeutig in deiner Familie! Oder ist Winifred etwa meine Tante?«

»Fangt jetzt bloß nicht wieder an zu streiten!«, fuhr Polly wütend dazwischen. Langsam wurde ihr die Sache zu blöd. »Es ist doch nur ein doofer Zahn! Und Tante Winnie hat damit rein gar nichts zu tun!«

Mama und Papa wechselten einen Blick. Dann griff Mama nach Pollys Hand.

»Polly, ich weiß wirklich nicht, wie ich es dir sagen soll, aber …« Sie seufzte.

Jetzt bekam Polly tatsächlich Angst. Wenn Mama keine Worte fand, dann musste es etwas sehr, sehr Schreckliches sein!

»Aber was?«, hakte Polly nach. Ihre Kehle war staubtrocken.

Mama und Papa sahen sich noch einmal hilflos an, dann fasste sich Mama ein Herz.

»Tante Winnie ist ein Vampir.«

»Ein Vampir?!« Polly musste laut lachen. Sie hatte mit allem Möglichen gerechnet, aber sicher nicht mit einem dummen Scherz. »Klar, Mama!«, kicherte sie übermütig. »Und du bist die Kaiserin von Nimmerland und Papa ist ein Seeräuberkönig und ich, ich bin die Prinzessin auf der Erbse!«

»Nein, Polly-Schatz«, sagte Papa ernst. Er lachte nicht mal ein klitzekleines bisschen. »Du bist wahrscheinlich auch ein Vampir. Genau wie Winifred.«

»Ich bin auch ein Vampir?« Polly starrte ihre Eltern ungläubig an und wartete darauf, dass sie endlich in ein herzhaftes Lachen ausbrechen würden. Aber Antonia und Cornelius Schlottermotz sahen ihre Tochter nur betroffen an und nickten gleichzeitig mit den Köpfen wie zwei traurige Wackeldackel.

Polly konnte es einfach nicht glauben. Das hier musste ein Scherz sein!

»Habt ihr vielleicht Fieber? Es gibt keine Vampire! Nicht in echt!«

»Doch, in Mamas Familie gibt es sehr wohl Vampire.« Papa warf Mama einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Und warum ist Mama dann bitte kein Vampir?«

Mama stieß einen Seufzer aus. »Diese Vampirsache ist kompliziert. Bisher gab es in jeder Schlottermotz-Generation einen Vampir. Aber weil bei mir und meinen Cousinen keiner dabei war, dachten wir, es sei vorbei.«

Papa beugte sich vor und schob vorsichtig Pollys Oberlippe hoch. »Offenbar hat sich deine Mutter geirrt …«

Jetzt reichte es aber! Verärgert sprang Polly auf und schlug Papas Hand von ihrem Mund. »Ich will kein Vampir sein! Und ich bin auch kein Vampir! Ich bin ein ganz normales Mädchen! Potzblitz!«

Bevor Mama und Papa etwas erwidern konnten, stampfte Polly aus dem Wohnzimmer. Sie war so zornig, dass sie das Gefühl hatte, die Wände würden bei jedem Schritt beben. Und tatsächlich fielen Lottis Salamischeiben reihenweise von der Wand. Doch als Polly eindrucksvoll mit der Tür knallen wollte, um Mama und Papa zu zeigen, wie wütend sie dieser Blödsinn machte, geschah etwas noch Merkwürdigeres: Plötzlich hielt sie die Tür in der Hand! Nicht nur den kleinen Türknauf, nein, die ganze Tür! Am Stück! Mit den Scharnieren! Irgendwie musste Polly sie aus dem Türrahmen gerissen haben …

Mama und Papa waren viel zu sprachlos, um zu schimpfen. Sie starrten nur die große, schwere Eichentür an, die Polly mühelos mit der rechten Hand über ihrem Kopf in die Luft hielt.

Und das war der Moment, in dem auch Polly klar wurde, dass sie wohl doch kein ganz normales Mädchen war …

Ein Traum! Das alles war einfach nur ein großer, potzblitzbescheuerter Albtraum!

Als Polly am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war sie sich sicher, dass sie alles, was gestern passiert war, nur geträumt hatte. Vampire? Pah! Die gab es höchstens in den Comic-Heften, die Onkel Hugo unter seiner Couch versteckte. Doch als Polly sich verschlafen an den Mund fasste, zuckte sie zusammen: Der neue Zahn war immer noch da! Riesig groß und sehr, sehr spitz! Polly seufzte. Kein Traum also …

Zum Glück war heute Sonntag. Das bedeutete, dass sie noch einen ganzen Tag Zeit hatte, um zu überlegen, wie sie ihr Geheimnis vor ihren Klassenkameraden verbergen konnte. Vielleicht konnte man den Zahn ja ein bisschen kürzer sägen? Mama hatte schließlich alle möglichen Werkzeuge in ihrer Scheune.

Aufgeregt schwang Polly die Beine aus dem Bett. Aber kaum hatte sie einen Fuß vor den anderen gesetzt, begann sich der Boden zu drehen. Plötzlich klebte der Teppich an der Zimmerdecke und die Pferdelampe leuchtete zwischen ihren Füßen. Was war hier bloß los? Polly brauchte einen Augenblick, bis sie das Schwanken im Griff hatte. Dann torkelte sie wie ein betrunkener Seemann in die Küche.

Lotti saß bereits in ihrem Hochstuhl am Küchentisch und verfolgte mit glänzenden Augen, wie Papa verzweifelt versuchte, Mama beizubringen, einen Pfannkuchen in der Luft zu wenden.

Als Cornelius Schlottermotz seine älteste Tochter in der Küchentür entdeckte, schlug er sich erschrocken die Hände vors Gesicht. »Mein Gott, Polly! Du bist ja ganz grün im Gesicht!«

Genau in dem Moment, in dem Mama ihren fetten Pfannkuchen mit Schwung in die Höhe warf, drehte sie sich zu Polly um und der Pfannkuchen landete mit einem saftigen PLATSCH auf Papas Kopf! Klein-Lotti klatschte begeistert in die Hände und gluckste vor Freude wie ein Schweinchen, das seine Schnauze in eine große Schüssel Schokoladenpudding stecken durfte!

Und obwohl Polly an diesem Morgen eigentlich überhaupt nicht nach Lachen zumute war, prustete auch sie los. »Hutta schuck, Pipi!«

»Was hast du gesagt?«

Mama und Papa sahen Polly an, als hätte sie Chinesisch gesprochen. Und irgendwie hatte sie das ja auch. Eigentlich wollte sie nämlich »Schicker Hut, Papa!« sagen.

Doch als sie nun zu einem neuen Versuch ansetzte, klang das so: »Pupser Hub, Schicka!« Irritiert schielte sie zu ihrer Zunge hinab.

Lotti kicherte natürlich sofort los und wiederholte trällernd, was sie verstanden hatte: »Schicka Pups! Schicka Pups!«

Papa aber hatte nur Augen und Ohren für Polly. Besorgt legte er ihr die Hand auf die Stirn. »Bist du etwa krank, Liebes?«

»Der Blutorangensaft!«, platzte es da wie ein Kanonenschuss aus Mama heraus. Antonia Schlottermotz fasste sich ungläubig an den Kopf. »Wir haben die Sache mit den Blutorangen vergessen!« Schnell riss sie die Kühlschranktür auf und füllte ein großes Glas mit dem orangeroten Saft.

Polly verzog das Gesicht.

»Ub tick ink ja kei!«

»Aber sie trinkt doch gar keinen!« Ausnahmsweise hatte Papa denselben Gedanken – und im Gegensatz zu Polly konnte er ihn auch so formulieren, dass man ihn verstand.

»Eben! Das ist ja das Problem!« Mama wirbelte aufgeregt durch die Küche. »Wenn Vampire keinen Blutorangensaft trinken, wird ihnen schwindelig. Und zwar nicht nur im Kopf und in den Beinen, sondern auch auf der Zunge!«

»Uff tie Tunga?« Polly schlug sich die Hand vor den Mund. Warum gehorchte die blöde Zunge nicht endlich und tat, was sie von ihr verlangte? Reichte es nicht, dass Polly mit ihrem neuen Eckzahn potzblitzbescheuert aussah? Musste sie zu allem Überfluss auch noch klingen wie ein Marsmensch, der zu viele Runden auf dem Karussell gedreht hatte?

Mama hielt ihr entschieden das Glas hin.

Einen Moment lang blickte Polly auf den dicken, roten Saft, der bedrohlich nah vor ihrer Nase hin- und herschwappte. Igittigitt!

Polly konnte Orangensaft nicht ausstehen – und Blutorangensaft war noch viel schlimmer! Wenn Mama glaubte, sie würde auch nur einen einzigen, winzigen Schluck davon trinken, hatte sie sich geschnitten. Nie im Leben würde sie dieses Glas leeren!

»Komm schon, Polly. Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.« Mama wedelte derart wild mit dem vollen Glas umher, dass ein dicker, roter Saftklecks mitten auf Pollys Nachthemd landete.

Nicht so schlimm? Sollte das ein Scherz sein? Wütend stemmte Polly die Hände in die Seiten. »Affa ick hacke Puupoffaffenkack!«

Mama runzelte die Stirn. »Wie? Du hackst Pup-Affen-Kacke …?«

Noch während Lotti vor Vergnügen quiekte und Polly verzweifelt die Augen verdrehte, mischte sich Papa ein. »Nein, Schatz. Ich denke, was Polly uns sagen wollte, ist: Sie hasst Blutorangensaft

Na also! Auch wenn Papa einen Pfannkuchen auf dem Kopf hatte, schien im Kopf selbst alles noch einwandfrei zu funktionieren. Vielleicht zahlte sich jetzt ja endlich aus, dass Papa ein Profi im Reden war.

Cornelius Schlottermotz arbeitete nämlich als Psü-cho-tee-ra-päut! Das bedeutete, dass den ganzen lieben langen Tag Leute zu Pollys Papa kamen und über ihre Probleme redeten. Papa Cornelius war davon überzeugt, dass man für alles eine Lösung finden konnte, wenn man nur darüber redete. Dabei weiß jedes Kind, dass das waschechter Blödsinn ist! Als Polly zum Beispiel neulich ihre Zwei-Euro-Münze in einem Gully vor der Schule verloren hatte, half Reden rein gar nichts. Da hatte Polly schon ein Stück Schnur und ein Kaugummi gebraucht, um das Geldstück zu retten!

Mama schienen Papas Übersetzungskünste auch jetzt wenig zu beeindrucken. Sie führte das Glas direkt an Pollys Mund. »Stell dich nicht an und trink endlich! Oder willst du den ganzen Tag solchen Unsinn reden?«

So fest wie möglich presste Polly ihre Lippen zusammen, verschränkte die Arme vor der Brust und warf Papa einen flehenden Blick zu. Er war schließlich derjenige, der immer behauptete, dass man Kinder niemals zu etwas zwingen solle. Nun aber nahm er sich hilflos den schlaffen Pfannkuchen vom Kopf und legte ihn vor Lotti auf den Tisch.

Pollys kleine Schwester zögerte nicht lange und klatschte sich den erkalteten Teiglappen voller Begeisterung auf den eigenen Kopf. »Lottis Hut, Lottis Hut!«, sang sie fröhlich und wunderte sich, dass außer ihr niemand lachte.

Papa brauchte einen Moment, bis er seine Sprache wiederfand. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus. »Tut mir leid, Polly. Aber ich fürchte, deine Mutter hat recht …«

Mama und Papa ließen erst locker, als Polly auch den allerletzten Tropfen Blutorangensaft runtergeschluckt hatte. Bäh!

Zu gerne hätte Polly ihren Eltern gezeigt, dass sie mit ihrer Vermutung falschlagen und sie noch immer redete wie ein Schüttelrätsel auf zwei Beinen. Aber nachdem der rote Saft ihre Kehle hinuntergelaufen war, kamen die Wörter wieder genau so aus Pollys Mund gepurzelt, wie sie es ihnen vorschrieb. Mit einem wütenden »Potzblitz!« stampfte Polly aus der Küche …

Die meisten Dinge, die Polly über Vampire wusste, waren falsch – zum Glück! Vampire hausten nicht in finsteren Friedhofsgruften und sie legten sich zum Schlafen auch nicht in Särge hinein. Selbst die Sache mit dem Blut stimmte nicht – zumindest mussten Vampire keine Menschen beißen und deren Blut saugen. Stattdessen holten sie sich ihren täglichen Vampir-Vitaminschub eben aus Blutorangensaft, und das fand Polly nur ein kleines bisschen weniger schrecklich als die Vorstellung mit dem Menschenblut. Blutorangensaft war einfach das weltallerekligste Getränk, da war sich Polly nach dem Erlebnis vom Morgen ganz sicher. Fast genauso furchtbar wie die Sache mit den Blutorangen war aber, dass Vampire kein Fleisch essen durften. Das hatte irgendwas mit einem uralten Fluch zu tun. All diese Dinge erzählte Mama Polly, während sie am Nachmittag ihren rostigen Lieferwagen in der Hofeinfahrt reparierte.

Polly riss erschrocken die Augen auf. »Heißt das etwa, ich darf nie wieder Brathähnchen essen?«

Brathähnchen war Pollys absolute Lieblingsspeise!

Mama lächelte sie mitleidig an. »Ich fürchte nicht, mein Schatz.« Mit einem Knall klappte sie die Motorhaube des Lieferwagens zu und rieb sich die ölverschmierten Hände an der Latzhose ab. »Aber dafür hat das Vampirsein auch eine supertolle Seite!«

»Und was soll das bitte sein?« Polly konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es irgendetwas Gutes daran geben sollte, ein Vampir zu sein. Erst der potzblitzblöde Zahn, dann der Blutorangensaft und jetzt auch noch die Sache mit dem Brathähnchen! Nein, Vampirsein war alles andere als »supertoll«!

Mama aber breitete grinsend die Arme aus, als wollte sie Polly einen riesigen Blumenstrauß überreichen. »Vampire haben Zauberkräfte!«

»Zauberkräfte?« Polly blinzelte ihre Mutter skeptisch an. Soweit sie das beurteilen konnte, konnte sie weder fliegen, noch irgendetwas in Schokolade verwandeln. Und den Zahn wegzaubern konnte sie auch nicht. »Und was sollen das für Zauberkräfte sein?«

»Das kann man nicht genau sagen. Jeder Vampir hat andere Kräfte. Und ihr könnt sie euch nicht aussuchen. Sie kommen zu euch wie Windpocken: einfach aus dem Nichts.«

Polly sah an sich hinab. »Und was ist meine Zauberkraft?«

Mama blickte sie überrascht an.

»Das ist doch offensichtlich! Du bist wahnsinnig stark! Stärker als Papa.«

»Das ist ja wohl keine Zauberkraft!«, lachte Polly. »Jeder Pappteller ist stärker als Papa!«

Mama musste grinsen. »Da hast du recht. Aber du bist trotzdem sehr stark. Deshalb habe ich dich auch in die Auffahrt gerufen.« Sie klopfte an das rostige Blech des Lieferwagens. »Du musst meinen Wagen anheben, damit ich den Reifen wechseln kann.«

Pollys Kinnlade klappte nach unten. »Ich soll deinen Lieferwagen anheben?!« Mama nickte. Polly konnte es nicht glauben. Hatte ihre Mutter etwa zu lange am Benzinkanister geschnuppert?

»Den Wagenheber hab ich Onkel Hugo geliehen«, seufzte Mama. »Und du weißt ja, wie Onkel Hugo ist. Die Dinge, die du ihm borgst, könntest du genauso gut auf eine Expedition ins Weltall schicken: Du siehst sie nie wieder.«

»Aber ich kann den Wagen nicht anheben, Mama. Ich bin ein Kind

»Du bist ein Vampir, schon vergessen? Und du bist stärker als alle anderen.« Mama grinste stolz. »Denk doch mal nach: Wie sonst hättest du gestern die schwere Eichentür aus dem Rahmen reißen sollen?«

Polly zögerte. Die Tür war ihr tatsächlich kein bisschen schwer vorgekommen. Aber einen Lieferwagen anheben …?

Als Polly vom Gatter sprang und sich dem Wagen näherte, klatschte Mama begeistert in die Hände. »Spitze, Polly. Du und ich, wir werden ein unschlagbares Team. Ich zähle bis drei und dann hebst du den Wagen an.«

Polly nickte unsicher und umfasste das kalte Blech. Und als Mama bei drei angekommen war, sammelte sie all ihre Kräfte, packte zu, zerrte, presste, zog und … nichts. Der Lieferwagen bewegte sich keinen Millimeter. Nicht mal ein klitzekleines bisschen. Dafür zitterten Pollys Arme wie ein nackiges Kätzchen im Kühlschrank.

Mama runzelte die Stirn. »Vielleicht musst du dich ein bisschen mehr anstrengen …«

»Mehr anstrengen?« Pollys Kopf war so rot wie ein Pavianpopo. »Wenn ich mich noch mehr anstrenge, platze ich!«

Mama zupfte sich ratlos am Ohrläppchen. »Aber gestern hat es doch auch geklappt.«

Völlig erschöpft ließ Polly sich in den staubigen Kies neben dem Lieferwagen fallen. Mama stürmte zurück ins Haus. Polly dachte, sie wollte ihr ein Eis holen oder ein Glas Wasser – aber nein! Stattdessen kam Mama mit Papa und einer Palette Dosenöl zurück.

Aufgeregt zog sie Polly vom Boden hoch und drückte ihr eine Dose nach der anderen in den Arm.

»Was soll ich denn mit so viel Öl?«

»Festhalten, Schätzchen! Einfach nur festhalten!«

Nach der vierten Dose wurden Pollys Arme schwer. Sie biss sich auf die Lippe, presste die Zähne zusammen – aber es half nichts! Bei der siebten Dose verließ sie die Kraft.

Die Dosen purzelten auf den Boden, platzten beim Aufprall auf und liefen aus.

Papa sah Mama verwundert an.

»Soll das heißen, sie ist doch kein Vampir?«

Mama zögerte einen Moment und griff nach Pollys Kinn. »Der Zahn ist jedenfalls noch da.«

»Aber sie ist nicht mehr so stark?«

Mama nickte. »Offenbar ist ihre Zauberkraft wieder verschwunden …«

Zum ersten Mal, seit der Riesenzahn aufgetaucht war, konnte Polly auf Papas Gesicht so etwas wie ein Lächeln erkennen. »Heißt das etwa, wir müssen Polly gar nicht wegschicken?«

»Ihr wollt mich wegschicken?!«

Papa schlug sich die Hände vor den Mund.

Mama warf ihm einen bitterbösen Blick zu. Dann hockte sie sich zu Polly. »Natürlich wollen wir dich nicht wegschicken. Es ist nur so, dass Vampire nicht bei Menschen leben dürfen. Zumindest nicht, solange sie die Prüfung nicht bestanden haben.«

Polly hatte keinen blassen Schimmer, wovon ihre Mutter sprach.

»Was denn für eine Prüfung?«

Mama seufzte. »Die Prüfung vor dem Siebenschläferrat. Das sind die sieben ältesten Vampire.«

»Und was wollen die von mir?«

»Die Siebenschläfer wollen sicherstellen, dass du mit deinen Zauberkräften umgehen kannst und niemandem schadest. Sie wollen sehen, dass du ein guter Vampir bist.«