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David Kessler

Späte Schuld

Buch

Der Moderator Elias Claymore ist ein aufgehender Stern am amerikanischen Talkshow-Himmel, doch dann ist seine Karriere schlagartig zu Ende, als er angeklagt wird, ein neunzehnjähriges Mädchen vergewaltigt zu haben. Die Medien stürzen sich begierig auf den Fall und walzen jedes Detail genüsslich aus – und es mangelt ihnen auch nicht an Material, denn Claymore ist alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Claymores düstere Vergangenheit wird ans Licht gezerrt, und auch die Indizien sprechen gegen ihn. Doch Elias Claymore weiß, dass im Falle einer Verurteilung für ihn weit mehr als nur seine Freiheit auf dem Spiel steht, und so wendet er sich an seinen alten Freund, den Anwalt Alex Sedaka. Aber auch Sedaka muss bald erkennen, dass in diesem Fall das Ringen um Gerechtigkeit schnell zu einem Kampf um Leben und Tod werden kann …

Autor

Mit fünfzehn Jahren brach David Kessler die Schule ab und schrieb ein Drehbuch für einen Fernsehfilm, der zwar nie produziert wurde, Kessler aber die Augen dafür öffnete, dass seine Berufung im Schreiben liegt. Im Laufe seiner schriftstellerischen Karriere hat er in England und Amerika bereits mehrere Thriller veröffentlicht und in einem Buch sogar den Täter in einem tatsächlichen Mordfall benannt, bevor dieser neun Jahre später aufgrund eines DNA-Tests der Tat überführt werden konnte.

Mit seiner Thrillerserie um den in San Francisco lebenden Anwalt Alex Sedaka erscheint David Kessler erstmals auf Deutsch.

Von David Kessler außerdem im Goldmann Verlag erschienen:

15 Stunden. Thriller (EBook_Icon_RZ.eps auch als E-Book erhältlich)

David Kessler

Späte Schuld

Thriller

Aus dem Englischen

von Verena Kilchling

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Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »No Way Out« bei Avon,

a division of HarperCollinsPublishers.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2013

Copyright © der Originalausgabe 2010 by David Kessler Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Copyright © FinePic®, München

Redaktion: Alexander Groß

An · Herstellung: Str.

Satz: IBV Satz- u. Datentechnik GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-09945-9

www.goldmann-verlag.de

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Für Eran, meinen Bruder im Geiste

»Wer mit Ungeheuern kämpft,

mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.

Und wenn du lange in einen Abgrund blickst,

blickt der Abgrund auch in dich hinein.«

Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse Aphorismus 146

Samstag, 4. Juli 2004 – 23.40 Uhr

Es waren nur zehn Finger, die über die Tastatur flogen, und doch konnten sie so viel Böses bewirken.

Voller Ehrfurcht sah sie zu, wie die Worte vor ihren Augen Gestalt annahmen, wie die Buchstaben auf dem Bildschirm mit ihren Fingern Schritt hielten. Am erstaunlichsten aber war, wie viel Schaden sich mit einer einzigen winzigen Veränderung anrichten ließ. Um das Verhalten eines ganzen Computerprogramms zu ändern, musste sie lediglich zwei Zeilen des Programms geringfügig modifizieren. Hacker und »Mitternachts-Programmierer« hätten sich über die absurde Einfachheit ihrer Manipulationen kaputtgelacht, und vielleicht hätten sich einige sogar über die schiere Dreistigkeit ihrer Unternehmung amüsiert. Aber nur wenige hätten ihre Ziele gutgeheißen.

Na und?

Sie wollte damit nicht reich oder berühmt werden. Sie wollte Gerechtigkeit – simple, altmodische Gerechtigkeit.

Während sie weiterarbeitete, hob sie den Kopf und blickte aus dem Fenster. In der Ferne sah sie die Lichter der nächtlichen Stadt glitzern, die sie daran erinnerten, dass es dort draußen, jenseits ihrer privaten Welt der Rache, noch eine andere Welt gab. Aber sie zwang sich, die Ablenkung zu ignorieren. Im kleinen Lichtkegel der Schreibtischlampe tanzten ihre Finger weiter über die Tastatur. Der Rest des Zimmers lag im Dunkeln.

Kurz darauf hielt sie inne und betrachtete zufrieden ihr Werk, das mit ein paar Klicks der linken Maustaste vollendet war. Sie hatte eine völlig neue Version des Programms erschaffen.

Und was für eine neue Version!

Fast wehmütig dachte sie an die einzelnen Arbeitsschritte zurück. Es war ziemlich kompliziert gewesen, an den Quellcode zu kommen, aber mithilfe von ein paar alten Kontakten war es ihr gelungen, die bürokratischen Hürden zu überwinden. Zum Glück besaßen viele Bundesstaaten inzwischen öffentlich zugängliche Archive oder hatten Informationsfreiheitsgesetze verabschiedet. Sie hätte sich gewünscht, das modifizierte Programm überall einschleusen zu können. Das wäre ein ziemlicher Coup gewesen. Aber sie musste realistisch bleiben.

Anfangs hatte sie gar nicht gewusst, ob sich ihr Vorhaben überhaupt in die Tat umsetzen ließ. Sie hatte keinen festen Plan verfolgt, sondern war aus purer Neugier auf die Idee gekommen, die Software zu modifizieren. Aber nachdem sie dann das Handbuch des Programms gelesen und einem Programmierer ein paar Fragen gestellt hatte, um zu verstehen, wie die Software funktionierte, war ihr aufgegangen, wie einfach das alles war.

Das Programm unentdeckt einzuschleusen war natürlich ein ganz anderes Problem. Es gab diesbezüglich mehrere Möglichkeiten. Eine bestand darin, sich in die verschiedenen Server zu hacken und das neue Programm hochzuladen. Aber das war riskant.

Es gab allerdings noch eine zweite Möglichkeit, die neue Version der Software einzuschleusen, eine, bei der sie vollkommen ohne Hacking auskam. Sie konnte die Systemadministratoren dazu bewegen, die Software selbst zu installieren. Dafür musste es so aussehen, als wäre die Software die neue Version eines Programms, das ohnehin bereits benutzt wurde. Indem sie das Programm zusammen mit einem gefälschten Briefkopf per Kurier verschickte, konnte sie die Netzbetreiber täuschen und sie dazu bringen, die neue Version in der irrigen Annahme zu installieren, es handele sich um ein Upgrade der Softwarefirma. Softwaremanipulation gepaart mit psychologischer Kriegsführung.

Jetzt würde sie es den Niggern heimzahlen.

Freitag, 5. Juni 2009 – 07.30 Uhr

Bethel war neunzehn – zu jung, um die Sechziger selbst erlebt zu haben, und zu desinteressiert, um sich die Erinnerungen ihrer Großeltern anzuhören, zum Beispiel wie ihre Mutter auf dem Woodstock-Festival gezeugt worden war.

Aber jetzt schallte Buffalo Springfields »For What It’s Worth« aus den Kopfhörern ihres iPods, während sie am Straßenrand stand und auf Hilfe wartete. Sie wusste wenig über die politischen Hintergründe dieses Songs und nichts über die Schließung des Nachtclubs Pandora‘s Box oder die Hippie-Unruhen vom Sunset Strip. Aber die Stimme von Stephen Stills war einfach unwiderstehlich. Es war keine große Kunst, den Gemeinschaftskundeunterricht an der Highschool komplett zu verschlafen – sogar die Hausaufgaben und Prüfungen ließen sich schlafwandlerisch absolvieren. Sie wusste ein bisschen was über den Vietnamkrieg und die Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre, aber das war oberflächliches Schulwissen, das man nebenher aufschnappte, während man vom Quarterback der Footballmannschaft träumte.

Dieses Wissen blieb nicht als einheitliches Bild, sondern als Sammlung von Slogans in ihrem Gedächtnis haften: »We shall overcome«, »I have a dream«, »Power to the people«, »Burn, baby, burn!«. Der Ruf des Zorns hallte nach wie vor durch die Jahrzehnte, wenn auch nur noch schwach. Ein zeitlicher Abgrund trennte Bethel von der aufgewühlten Atmosphäre, die ihr Land damals beinahe auseinandergerissen hätte. Und dieser Abgrund wurde immer breiter, so dass vom durchdringenden Timbre der historischen Stimmen schließlich nur noch der verebbende Nachhall von Helden übrig blieb, an die sich kaum noch jemand erinnerte: Rosa Parks, Martin Luther King, Malcolm X, die Chicago Seven. Für Bethel nichts als Namen und Slogans, ohne Substanz.

Aber sie mochte den Song. Er war so angenehm eingängig. Bei der eindringlichen Liedzeile am Ende des Refrains, die die jungen Zuhörer dazu aufforderte, innezuhalten und sich umzusehen, bekam sie jedes Mal eine Gänsehaut. Sie hatte nur eine dunkle Ahnung davon, was sie bedeutete. Was auch immer es war, es hatte vor langer Zeit stattgefunden. Ist ja auch egal, dachte sie. Das war die Generation ihrer Großeltern gewesen. Sie selbst gehörte einer anderen Generation an, einer Generation, die mehr damit beschäftigt war, Arbeit zu finden, als damit, die Welt zu verändern.

Ihr voller Name lautete Bethel Georgia Newton. Was das Aussehen anging, war sie ganz das klassische Cheerleadergirl mit blondierten Haaren, sorgsam kultiviertem Teint und einem Lächeln wie aus der Zahnpastawerbung. Weder zu schlank noch zu drall, sondern ein perfektes »Zwischending« für ihre Größe von knapp eins siebzig; sportlich, aber auf eine weibliche, nicht übertriebene Art, mit durchtrainierten, aber nicht übermäßig muskulösen Beinen. Sie war in einem bürgerlichen Milieu aufgewachsen, weit weg von jeder Straßenkultur, aber was Lebenserfahrung anging, war sie kein unbeschriebenes Blatt mehr. Man konnte sie vielleicht nicht unbedingt als abgeklärt bezeichnen, aber sie hatte bereits einen Blick auf die bittere Seite des Lebens geworfen.

In ihrem engen weißen T-Shirt und Jeansshorts, die ihre durchtrainierten Kurven nur unzulänglich verbargen, stand sie am Straßenrand und hielt bei jedem vorbeifahrenden Auto den Daumen hoch. So wie ihr T-Shirt sich über ihren vollen Brüsten spannte und die perfekte, satte Bräune ihrer Oberschenkel seidig im kalifornischen Sonnenlicht schimmerte, konnte es doch nicht allzu schwer sein, jemanden zu finden, der sie ein Stück mitnahm. Aber sie musste feststellen, dass die Leute anscheinend panische Angst davor hatten, einer fremden Person am Straßenrand zu helfen.

Ein paar Meter entfernt stand ihr liegen gebliebenes Auto, und sie konnte nicht mal telefonisch Hilfe anfordern, weil der Akku ihres Handys leer war. Zunächst hatte sie einen halbherzigen Versuch unternommen, das Auto selbst zu reparieren, aber sie verstand nicht wirklich etwas von Motoren. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als einen guten Samariter an den Straßenrand zu winken und ihn zu bitten, sie zu einer Werkstatt mitzunehmen.

Insgeheim hoffte sie auf einen gutaussehenden Mann mit technischem Geschick und ansehnlichem Vermögen, der sie nicht nur aus ihrer Notlage am Straßenrand rettete, sondern auch aus der Ziellosigkeit und Langeweile, die ihr Leben in letzter Zeit zu bestimmen schienen. Aber sie hätte sich auch mit einem älteren Pärchen zufriedengegeben, das sie bis zur nächsten Telefonzelle mitnahm. Nun, nicht einmal das war ihr vergönnt. Das Leben war unfair.

Aber dann schien sie doch noch Glück zu haben.

Ein aquamarinfarbener Mercedes steuerte auf sie zu und bremste, ein neueres Modell aus der exklusiven Sparte der europäischen Automobilindustrie. Der Besitzer war eindeutig wohlhabend und wahrscheinlich jüngeren Alters. Als der Mercedes am Straßenrand zum Stehen kam, sah sie, dass der Fahrer ein Schwarzer war, den sie auf Ende zwanzig schätzte.

Was meine Eltern jetzt wohl denken würden?, fragte sie sich amüsiert und malte sich aus, wie sie mit dem jungen Mann im Schlepptau bei ihren liberalen Eltern auftauchte.

Aussprechen würden sie ihre Gedanken natürlich nicht. Sie würden ihn herzlich und gastfreundlich behandeln, aber Bethel fragte sich, ob sie wirklich in der Lage waren zu praktizieren, was sie predigten. Ihr ging auf, dass sie ihre Eltern eigentlich gar nicht richtig kannte. Und nun stand sie hier, weit weg von zu Hause, auf der Suche nach sich selbst.

Der junge Mann beugte sich lächelnd aus dem Autofenster und fragte, ob sie Hilfe brauchte. An seinem selbstbewussten Tonfall erkannte sie, dass er es im Leben zu etwas gebracht hatte. Sie fühlte sich sofort angezogen von seinem jugendlich-guten Aussehen und seiner ruhigen, coolen Selbstsicherheit, auch wenn sein Vokabular noch Spuren einer Herkunft aufwies, die er vermutlich verheimlichen wollte – oder vielleicht nur vergessen.

Er warf einen Blick unter die Motorhaube, schüttelte nach ungefähr einer Minute den Kopf und sagte: »Mit Motoren stehe ich auf Kriegsfuß. Mit Menschen komme ich irgendwie besser klar.« Mit diesem offenherzigen Eingeständnis und seinem entwaffnenden Lächeln gewann er sie endgültig für sich. Zwei Minuten später saß sie in seinem Wagen, und sie glitten die Straße entlang und lernten sich besser kennen. Bis ihr irgendwann auffiel, dass er von der Hauptstraße abgebogen war.

Sie wollte fragen, wo sie hinfuhren, aber dann erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf sein Profil und sah, wie sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen. Sie konnte nicht erkennen, ob es ein freundliches Lächeln war. Während sich die ersten Anzeichen einer dunklen Vorahnung in ihrer Magengrube zu einem Knoten ballten, ging ihr auf, dass sie viel zu große Angst hatte, um ihre Frage zu stellen.

Freitag, 5. Juni 2009 – 08.50 Uhr

»Ich habe Schmetterlinge im Bauch, Gene«, gestand Andi, während sie sich durch die Straßen von Los Angeles schlängelten.

»Zum Umkehren ist es zu spät.«

Sie lachten beide. Allmählich entwickelte sich dieser Satz zum Insiderwitz. Es hatte sie beide nervös gemacht, den Big Apple zu verlassen und ein neues Leben an der Westküste zu beginnen, auf der anderen Seite des Kontinents. Aber für Andis Karriere war der Umzug unumgänglich gewesen.

Andi Phoenix saß schweigend im Auto und brütete nervös vor sich hin. Sie war Ende dreißig und hatte sich ihr gutes Aussehen durch gesunde Ernährung, regelmäßiges Workout und ein wenig plastische Chirurgie bewahrt. Ihre Brüste waren mithilfe von Silikonimplantaten von 70B auf 75D angewachsen, und sie hatte sich bereits einmal Botox spritzen lassen, um die ersten Altersfältchen zu bekämpfen. Aber alles andere war allein ihrer Disziplin und einer gesunden Lebensweise zu verdanken. Das Blond ihrer Haare kam aus der Flasche, denn ihre Originalhaarfarbe war ein unscheinbares Braun. Die neue Haarfarbe war so etwas wie eine Therapie gewesen nach ihrer schwierigen Jugend. Leider brachten all diese Verschönerungen als großen Nachteil die Aufmerksamkeit der Männer mit sich, auf die sie gut hätte verzichten können. Sie war ein paar Zentimeter kleiner als die schwarze Frau auf dem Fahrersitz. Auch sonst hatte sie manchmal das Gefühl, im Schatten ihrer Freundin zu stehen.

Gene berührte sanft Andis Unterarm. »Denk dran, Süße: Die kennen dich auch noch nicht. Aber sie waren bereit, das Risiko einzugehen und dich herzuholen.«

Am Steuer saß – auch im übertragenen Sinne – Eugenia Vance, die eins achtzig groß und muskulös war und sie an diesem Morgen spielerisch im Bett niedergerungen hatte, wie üblich.

Sie hatten sich vor über zwanzig Jahren kennengelernt, als Andi noch ein Teenager gewesen war. Seit Gene Andi durch ihre Krisenjahre geholfen hatte, waren sie unzertrennlich. In all den Jahren, die sie sich kannten, hatten sie nie das Wort »lesbisch« verwendet, um ihre Beziehung zu definieren. Es ging nicht darum, irgendetwas zu leugnen, aber alle ihre Instinkte sträubten sich gegen diese Kategorisierung. Weder Gene noch Andi liebten »Frauen«, sie liebten sich.

»Trotzdem frage ich mich, ob das Ganze nicht ein großer Fehler war.«

Schnaubend brachte Gene zum Ausdruck, was sie von Andis Selbstmitleid hielt. »Da hast du dir ja den idealen Zeitpunkt für deine Zweifel ausgesucht, Mädchen!«

In Kalifornien war Andis Spezialgebiet sehr gefragt. Sie hatte Psychologie im Hauptfach studiert und anschließend ihren Juraabschluss an der juristischen Fakultät der Northeastern University gemacht, in deren progressiver, soziales Engagement unterstützenden Atmosphäre sie regelrecht aufgeblüht war. Nach dem Examen hatte sie jedoch feststellen müssen, dass die Justiz ein nervtötendes Geschäft sein konnte. Ihre Arbeit als Strafverfolgerin bestand weniger aus Prozessarbeit als darin, Absprachen mit den Richtern auszuhandeln, was normalerweise bedeutete, dass sich der jeweilige Kriminelle in weniger schweren Anklagepunkten schuldig bekannte, um mit einer milderen Strafe davonzukommen – wohl kaum der Dienst an der Gerechtigkeit, den sie sich vorgestellt hatte, und weit entfernt von den Idealen, die sie ursprünglich dazu bewogen hatten, Juristin zu werden.

Zugespitzt hatte sich die Lage, nachdem sie sich eine Lungenentzündung eingefangen hatte und gezwungen gewesen war, sich in der Kanzlei, in der sie nach dem Studium eine Stelle gefunden hatte, längere Zeit krankschreiben zu lassen. Als sie an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt war, hatte man sie alles andere als mit offenen Armen empfangen. Das Arbeitsrecht schützte sie zwar vor Kündigung, aber sie wurde immer unverhohlener ausgebootet. Schließlich hatte sie die Kanzlei gewechselt und die darauffolgenden acht Monate damit verbracht, sich in die neuen Fälle einzuarbeiten.

In dieser Zeit hatte sich ihr Interesse an der Materie geändert. Es gab zwar auch Unschuldige, die Rechtsbeistand brauchten, aber im Wesentlichen bedeutete strafrechtliche Arbeit, dass man den Schuldigen half, und das machte ihr ganz und gar keinen Spaß. Also zog sie die »Wilderer-wird-Wildhüter«-Nummer ab und bewarb sich bei der Staatsanwaltschaft, in der Abteilung für häusliche Gewalt, wo sie sich eine Zeitlang sehr wohlfühlte. Da sie sich wieder ganz von unten hocharbeiten musste, war sie nicht besonders oft im Gerichtssaal. Ihre Aufgabe bestand hauptsächlich im direkten Kontakt mit den Gewaltopfern, im Lesen von Polizeiberichten und im Zusammentragen von Beweisen. Das machte ihr nichts aus. Die Arbeit gab ihr das Gefühl, endlich nützlich zu sein.

Paradoxerweise setzte ihre zweite Phase der Desillusionierung erst ein, nachdem sie befördert worden war und mehr Zeit im Gerichtssaal verbrachte. Sie tat wieder genau das Gleiche wie vorher, nur dass sie jetzt auf der anderen Seite des Tisches saß und die Verbrecher Absprachen mit ihr aushandelten. Deren Anwälte empfand sie größtenteils als widerliche Typen, und ihr ging auf, wie verachtenswert sie selbst früher den Staatsanwälten als Strafverteidigerin vorgekommen sein musste.

Zur selben Zeit entwickelte sie ein neues Steckenpferd: die Vertretung von Gewaltopfern vor Gericht. Die zivilrechtliche Vertretung von Gewaltopfern war eine wachsende Branche, und sie wollte nur zu gern an dieser Entwicklung teilhaben. Aber schon bald hatte sie die oberste Karrierestufe erreicht und musste feststellen, dass dieses Spezialgebiet an der Westküste deutlich weiter entwickelt war als an der Ostküste. Der Gedanke, an die Westküste zu ziehen, behagte ihr nicht besonders. Aber dort boten sich ihr ganz andere Karrieremöglichkeiten.

»Und was ist, wenn ich den Anforderungen nicht gerecht werde?«, fragte Andi, die immer noch auf Bestätigung aus war.

»Jetzt pass mal auf«, sagte Gene nachdrücklich. »So was will ich von dir nicht hören. Nichts kann dich aufhalten außer deiner eigenen Angst – und wenn du dich von der überwältigen lässt, stehe ich direkt hinter dir und versohle dir deinen hübschen kleinen Hintern.«

»So klein ist der gar nicht«, protestierte Andi, aber dieses Mal klang es humorvoll und nicht wehleidig.

An Andis Hintern war in Wahrheit nicht das Geringste auszusetzen, was ihr jedes heißblütige männliche Wesen, das in ihre Nähe kam, nur allzu bereitwillig bestätigt hätte.

Gene hatte oft etwas Kompromissloses an sich, aber es war genau dieser Glaube, dass man im Leben Entscheidungen treffen und sie bedingungslos durchziehen musste, den Andi so an ihr schätzte. In allen wichtigen Belangen traf Gene für sie beide die Entscheidungen, und so hatte Gene auch entschieden, dass sie von nun an hier in Kalifornien leben würden. Andi hätte nie auf dem Umzug bestanden, so sehr sie ihn sich auch für sich selbst gewünscht hatte. Ihr fehlte immer noch das Selbstvertrauen, das nötig war, um Gene die Stirn zu bieten – mit der Welt nahm sie es auf, mit Gene nicht. Und Gene wusste eben ganz genau, dass Andi nach Kalifornien gehen musste, wenn sie ihre Karriere vorantreiben wollte. Sie selbst hätte gern darauf verzichtet, aber Andi bedeutete ihr zu viel, als dass sie ihr mit ihren persönlichen Interessen im Weg stehen wollte.

In Anbetracht der Umstände war Gene also bereit, ihre Wurzeln zu kappen und auf der anderen Seite des Landes neu anzufangen. Ein Opfer ist nur dann ein Opfer, wenn man etwas Wertvolles für etwas weniger Wertvolles aufgibt, sagte sie sich, eine Philosophie, die ihr viel Kraft gespendet hatte, als sie es wirklich nötig gehabt hatte. Andis Glück ist mir wichtiger als meine eigene zweitklassige Karriere. Also ist es nicht wirklich ein Opfer.

Gene liebte an Andi, dass sie vordergründig sanft und schüchtern wirkte, aber hitzig und willensstark sein konnte, wenn ihr Sinn für Gerechtigkeit geweckt wurde. Dieses Paradox sprach aus Andis Augen genauso wie aus ihren Worten. Ihre Augen besaßen eine magische Eigenschaft, die so beängstigend wie faszinierend war: Sie konnten gleichzeitig bedrohlich und verletzlich dreinblicken. Eigentlich waren es Andis Augen gewesen, in die sich Gene verliebt hatte. Als sie ihr bei ihrer ersten Begegnung ins Gesicht gesehen hatte, war der flehende, hilflose Ausdruck darin rasch in Wut übergegangen … nein, nicht in Wut … in Beharrlichkeit.

Gene drosselte das Tempo, lächelte Andi aufmunternd zu und betrachtete neugierig die Bürogebäude, die neben ihnen aufgetaucht waren. Andi erwiderte das Lächeln. Genes ansteckende Zuversicht hatte ihr Mut gemacht.

»Sieht aus, als wären wir da«, erklärte Gene resolut.

Sie bremste vor einem großen Bürokomplex.

»Wünsch mir Glück«, bat Andi und holte tief Luft.

Gene sah sie streng an. »Das mache ich bestimmt nicht, Süße. Das hast du nämlich gar nicht nötig.«

Gene zog Andi mit der linken Hand zu sich heran, um sie auf den Mund zu küssen. Es gelang ihr immer wieder, Andi aufzumuntern, wenn sie von Angst und Selbstzweifeln überwältigt wurde.

Genau dafür liebe ich dich, Gene, dachte Andi und schloss die Augen. Aber sie sagte es nicht. Stattdessen drückte sie Gene noch an sich, als diese die Umarmung schon längst gelockert hatte, bevor sie sich schließlich losriss und aus dem Auto stieg. Sie wollte etwas sagen, aber sie war immer noch ganz zittrig vor Aufregung und wusste, dass Gene das spürte.

»Jetzt geh rein und hau sie um, Süße!«

Andi warf die Autotür zu und ging auf den Bürokomplex zu. Ohne einen Blick auf die unzähligen Namensschilder der Kanzleien und Buchhaltungsfirmen zu werfen, betrat sie das Gebäude und zeigte dem Sicherheitspersonal ihren Ausweis.

Draußen blickte Gene Andi hinterher wie eine Mutter, die ihre weinende Sechsjährige am ersten Schultag im Getümmel verschwinden sieht. Dann ließ sie den Motor aufheulen, wendete den Wagen aggressiv mitten auf der Straße und fuhr die Strecke zurück, die sie gekommen war. Ihr war klar, dass es ein harter Tag für Andi werden würde – erste Arbeitstage sind immer hart.

Das Handyklingeln riss sie aus ihren Gedanken. Der Anruf kam von Sag Nein zu Gewalt, einem Krisenzentrum für Vergewaltigungsopfer.

»Hallo«, meldete sich Gene und drückte auf den Knopf für die Freisprechanlage.

Bridget Riley arbeitete in der Abteilung für Sexualverbrechen der örtlichen Polizeiwache. Und ein Anruf von Bridget Riley konnte eigentlich nur eins bedeuten: Es war wieder eine Frau vergewaltigt worden.

Freitag, 5. Juni 2009 – 09.45 Uhr

»Du bist früh dran, Alex.«

Alex Sedaka drehte sich um und sah einen achtundfünfzigjährigen schwarzen Mann vor sich stehen, der ihn strahlend anlächelte. Elias Claymore war viel zu warm angezogen für den südkalifornischen Sommer, womit er vermeiden wollte, dass man ihn erkannte. Er lenkte nicht gern die Aufmerksamkeit auf sich, weil er sonst sofort von Autogrammjägern umringt wurde.

»Ich saß in der ersten Reihe«, erklärte Alex und erwiderte das Lächeln. »So war ich der Erste an der Tür.«

»Wie geht‘s dir, alter Freund?«, fragte Claymore und verschmähte Alex’ ausgestreckte Hand, um ihn stattdessen an die Brust zu ziehen und herzlich zu umarmen.

Alex erwiderte die freundschaftliche Umarmung und folgte Claymore dann durchs Flughafengebäude.

»Was ist mit deiner Show?«, fragte er, während sie auf einen Ausgang zusteuerten.

»Der Sender hat den Vertrag verlängert.«

Elias Claymore war der neue Star unter den Talkshowmoderatoren, seit man im letzten Jahr beschlossen hatte, seine kalifornische Talksendung landesweit auszustrahlen. Manche hielten ihn bereits für den nächsten Montel Williams. Andere wiederum kritisierten diesen Vergleich im Hinblick auf Claymores wenig ehrenhafte Vergangenheit.

»Was macht die Liebe?« Typisch Elias, Gesprächspausen mit einer indiskreten Frage zu füllen.

»Ich bin mit meiner Arbeit verheiratet, das weißt du doch«, antwortete Alex mit einem Zwinkern. »Deshalb habe ich auch nie Zeit, mir deine Talkshow anzusehen.«

»Ach ja? Da habe ich aber was ganz anderes gehört.«

»Was denn?«

»Ach, mir hat da so ein Vögelchen gezwitschert, dass du jetzt mit einer gewissen Fernsehreporterin zusammen bist.«

»Du solltest nicht alles glauben, was die Vogelpropaganda von sich gibt.«

»Warum treffen wir uns dann zum Frühstück und nicht zum Mittagessen?«

»Ich dachte, ihr zeichnet mittags die Sendung auf?«

»Du könntest mitkommen und sie dir live im Studio ansehen.«

»Das werde ich wohl verschieben müssen. Ich treffe mich mit einer …« Alex grinste wie ein kleiner Junge, den man auf frischer Tat ertappt hatte.

Elias grinste zurück. »Hatte das Vögelchen also doch recht.«

»Ich weiß doch noch gar nicht, ob was draus wird. Diese Fernbeziehungen funktionieren normalerweise sowieso nicht. Sie wohnt hier in Südkalifornien, und ich lebe in San Francisco.«

»Und du bist noch nicht über Melody hinweg.«

Alex schwieg. Sie waren Freunde, seit er Claymore vor über zwanzig Jahren als Anwalt vertreten und ein geringeres Strafmaß für ihn ausgehandelt hatte. Mit der Zeit hatten sie gelernt, sich gegenseitig zu vertrauen und zu respektieren. Aber sie hatten auch gelernt, sich gegenseitig zu durchschauen.

»Moment mal«, protestierte Alex plötzlich. »Das ist aber nicht der Weg zum Parkplatz.« Er kannte den Los Angeles International Airport in- und auswendig und hatte sofort gemerkt, dass sie auf die Taxihaltebuchten im Untergeschoss zusteuerten.

»Kein Parkplatz heute, Kumpel. Wir nehmen ein Taxi.«

»Taxi? Übertreibst du diese ganze Inkognito-Geschichte jetzt nicht ein bisschen?«

»Mein Auto wurde gestohlen.«

»Gestohlen? Wann? Wie?«

»Vor zwei Tagen.«

»Stellt dir deine Versicherung denn keinen Leihwagen?«

»Doch, bestimmt. Sobald ich dazu komme, mich mit ihr in Verbindung zu setzen. Bisher hatte ich nicht mal Zeit, den Cops den Diebstahl zu melden.«

»Wenn du gestohlen sagst, meinst du dann Carjacking? Mit vorgehaltener Waffe?«

»Spinnst du? Wenn ich da gewesen wäre, hätte ich die Scheißkerle fertiggemacht. Ich bin ausgestiegen, um eine Zeitung zu kaufen.«

»Ich dachte, dein Mercedes hat eine digitale Zündsteuerung? Sind die nicht angeblich kurzschlusssicher?«

»Nicht, wenn man den Schlüssel stecken lässt.«

Alex starrte ihn mit großen Augen an. »Das ist nicht dein Ernst!«

Claymore hob verlegen die Hände. »Ich bekenne mich der Dummheit für schuldig, Euer Ehren.«

Sie lachten beide und setzten ihr freundschaftliches Geplänkel fort, ohne zu ahnen, dass sich über ihnen ein Sturm zusammenbraute.

Freitag, 5. Juni 2009 – 10.15 Uhr

Das Zimmer war in kaltem, klinischem Weiß gehalten. Es sollte nicht nur hygienisch, sondern auch beruhigend wirken, besaß jedoch die Gemütlichkeit eines Science-Fiction-Filmsets.

»Gut, jetzt bitte stillhalten«, sagte Dr. Weiner und nahm zwischen Bethels Beinen den dritten Abstrich.

Bethel hielt still und zwang sich, nicht an das zu denken, was gerade mit ihr passierte oder in den letzten Stunden mit ihr passiert war. Doch je heftiger sie sich dagegen wehrte, desto schmerzhafter überfluteten sie die Erinnerungen.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Bethel und kämpfte gegen die Tränen an. »Wie viele Abstriche brauchen Sie denn noch?«

»Wir nehmen immer mehrere«, erklärte Bridget Riley, die junge Kriminalbeamtin, die einige Meter entfernt stand.

»Aber wozu?«

Bridget hörte an Bethels Stimme, dass die junge Frau all ihre Kräfte zu mobilisieren versuchte.

»Weil manchmal die ganze Probe beim Labortest verbraucht wird und wir vielleicht zur Sicherheit noch einen zweiten Test machen oder eine Probe der Verteidigung aushändigen müssen, damit sie unabhängige Tests durchführen kann.«

Bethel Newton war bereits von allen Seiten fotografiert und gründlich von einer Ärztin untersucht worden, außerdem waren Vaginalabstriche und Fingernagelproben genommen worden. Auch Schamhaarproben gehörten zum Prozedere, aber Bethel war vollständig rasiert. Die im Mundraum entnommenen Abstriche dienten als Referenzproben. Bethels Körper war nun – im polizeilichen Ermittlungsjargon – ein Tatort. Und die Vaginalabstriche und Nagelproben stellten am Tatort gesicherte Spuren dar.

»Ich sehe nicht ein, wozu das gut sein soll«, murmelte Bethel.

»Die Referenzproben sind dazu da, zwischen verschiedenen Spendern zu unterscheiden. Inzwischen gibt es sogar leistungsfähige Verfahren zur DNA-Isolierung aus Sperma.«

»Er hat aber ein Kondom benutzt.« Sie erinnerte sich, wie geschickt er sie mit seinem Körpergewicht fixiert hatte, um das Kondom überzustreifen, bevor er in sie eingedrungen war. So als wüsste er genau, was er tat – als wäre es nicht das erste Mal. Manche Männer sind Experten im Umgang mit BH-Verschlüssen. Dieser Mann war Experte in Sachen Vergewaltigung – und Experte darin, möglichst wenige Beweise zu hinterlassen.

»Wir erwarten auch gar nicht, identifizierbares Sperma im Vaginalabstrich zu finden«, erklärte Bridget. »Aber nachprüfen müssen wir es trotzdem.«

Bethel durchfuhr ein Schauer, aber sie sagte nichts. Sie hatte nicht erwartet, dass es so schlimm werden würde.

»Sie haben ihn gekratzt, vergessen Sie das nicht«, fügte Bridget hinzu. »Deshalb enthalten die Fingernagelproben vielleicht Gewebe- oder sogar Blutspuren, durch die wir an seine DNA kommen. Es kann aber auch sein, dass wir Reste vom Kondom darin finden. Vielleicht hat er es in der Nähe weggeworfen.«

»Na und?«, fragte Bethel verbittert. »Inwiefern hilft Ihnen das dabei, ihn zu erwischen?«

Bridget holte tief Luft und erklärte dann geduldig: »Also gut, gehen wir mal davon aus, dass wir eine leere Kondompackung am Straßenrand in der Nähe des Tatorts finden. Wenn darauf Fingerabdrücke sind und er vorbestraft ist, können wir ihn identifizieren und einen Haftbefehl auf ihn ausstellen. Und angenommen er hat das Kondom wirklich weggeworfen, dann finden wir daran und in den Abstrichen, die wir von Ihnen genommen haben, vielleicht Beschichtungsflüssigkeiten – also Substanzen wie Gleitmittel, Spermizide oder Anti-Haftpulver – und können sie auf chemische Ähnlichkeiten mit Kondomen untersuchen, die wir im Besitz des Verdächtigen finden.«

»Und was beweist das?«, fauchte Bethel verächtlich. »Dass er die gleiche Kondommarke benutzt?«

Bridget legte tröstend eine Hand auf Bethels Schulter. »Beweise sind wie Puzzleteile, Bethel. Wenn wir genügend davon zusammensetzen, haben wir ihn, und wenn wir seine DNA anschließend mit DNA-Proben aus anderen Fällen abgleichen, kriegen wir ihn sogar für mehrfache Vergewaltigung dran. Und dann kannst du es dir als Verdienst anrechnen, ihm das Handwerk gelegt zu haben.«

Bethel wusste, dass diese Schmeichelei reine Taktik war, aber sie erwärmte sich trotzdem für das Argument und nickte.

Zwischen ihr und Bridget begann sich allmählich eine Bindung zu entwickeln, was ganz normal war: Von dem Moment an, in dem Bethel in die Polizeiwache getaumelt war, war Detective Bridget Riley ihr nicht mehr von der Seite gewichen.

Bethel hatte sich zunächst dagegen gesträubt, die vielen Untersuchungen über sich ergehen zu lassen. Mehrmals hätte sie beinahe einen Rückzieher gemacht. Aber Bridget hatte sie zum Durchhalten überredet, indem sie darauf hingewiesen hatte, dass ihre Blutergüsse und inneren Verletzungen auf beträchtliche Krafteinwirkung seitens des Vergewaltigers hindeuteten.

»Es besteht also so gut wie keine Gefahr, dass er einvernehmlichen Geschlechtsverkehr geltend macht«, versicherte Bridget ihr. »Bei Vergewaltigungen im Zuge einer Verabredung kommen Männer manchmal damit durch, aber bei Ihnen war es ja keine Verabredung. Wir müssten uns schon sehr dumm anstellen, damit er diese Ausrede anbringen kann. Und sobald wir den Täter identifiziert haben, kriegen wir ihn mithilfe der DNA dran, die wir hoffentlich aus den Abstrichen oder Nagelproben gewinnen.«

»Aber dafür müssen Sie ihn erst mal finden«, sagte Bethel zögernd.

»Wir gleichen seine DNA mit der landesweiten Gen-Datenbank NDIS ab, aber auch mit der kalifornischen DNA-Datenbank, die vielleicht etwas detaillierter ist.«

Bethel lächelte nervös. Dann sagte sie etwas, das Bridget ziemlich seltsam vorkam: »Was ist, wenn seine Anwälte Sachen über mich ausgraben?«

Freitag, 5. Juni 2009 – 11.05 Uhr

»Wie groß ist denn meine neue Abteilung?«, fragte Andi den hageren, bebrillten Herrn im hellgrauen Anzug, neben dem sie im Großraumbüro an den Schreibtischen entlangging.

Weil es eine Verwechslung bezüglich ihres ersten Arbeitstags gegeben hatte, hatte sie den halben Vormittag in einem Zimmer gesessen und Broschüren und Online-Material über Levine und Webster gelesen, statt eingearbeitet und ihren neuen Kollegen vorgestellt zu werden. Der Personalchef war erst am Montag wieder im Haus, weshalb es Paul Sherman, einem der Kanzleipartner, überlassen blieb, Andi durch das Labyrinth aus Schreibtischen und schulterhohen Trennwänden zu führen, hinter denen die jüngeren (männlichen) Mitarbeiter neugierig hervorspähten, um einen Blick auf die Neue zu erhaschen. Die meisten Frauen konzentrierten sich hingegen auf ihre Kopierarbeiten oder die Akten auf ihrem Schreibtisch und hoben nur kurz den Blick, um die Konkurrenz abzuschätzen.

»Es ist nicht wirklich eine Abteilung«, antwortete Sherman nervös. »Eher ein Bereich innerhalb meiner Abteilung.«

Andi verspürte einen Anflug von Unbehagen, als diese Worte in ihr Bewusstsein vordrangen. »Das verstehe ich nicht. Ich dachte, ich würde hier eine Abteilung leiten.«

Sherman wand sich vor Verlegenheit. Er war nur wenig kleiner als Andi, und doch schien sie ihn um Längen zu überragen. »Na ja, meine Abteilung befasst sich mit fahrlässigem Verhalten jeglicher Art, und in unserer Kanzlei ist die Verschuldenshaftung eben eine Unterabteilung davon.«

»Ich hätte gedacht, dass zwischen böswilligem und fahrlässigem Verhalten ein Unterschied besteht.«

»Fällt beides unter rechtswidrig.«

»Hausfriedensbruch ist auch rechtswidrig«, entgegnete sie, als würde sie mit einem Kind sprechen. »Genau wie Belästigung oder Beleidigung.«

»Ja, aber Verleumdung und üble Nachrede sind vorsätzlich.«

»Verbrechen auch.«

Sherman wirkte peinlich berührt. Auch wenn ihn Andis Konfrontationskurs sichtlich ärgerte, schien es ihm zu widerstreben zurückzuschießen. »Nun ja, ich möchte mich hier nicht als Besserwisser aufspielen. Wenn wir ein Verbrechensopfer zu vertreten haben, werden Sie diejenige sein, auf deren Schreibtisch der Fall landet. Sie sind die Expertin auf diesem Gebiet. Ich bin nur ein einfacher Anwalt für Fahrlässigkeitsfälle.«

Das Unbehagen in Andi wuchs. Ihr war etwas ganz anderes versprochen worden. Die Kanzlei hatte ihr die Stelle ohne Vorstellungsgespräch angeboten, einzig und allein auf Basis ihres Lebenslaufs und der Empfehlung ihres Abteilungsleiters in New York. Was Sherman nun beschrieb, ähnelte so gar nicht der Jobbeschreibung, die sie im Zuge des Stellenangebots erhalten hatte, sondern stellte eher einen Rückschritt dar.

Sie hatte sich zu dem Jobwechsel entschlossen, nachdem ihr klar geworden war, dass sie in New York keine Aufstiegsmöglichkeiten hatte. Aber jetzt sah es so aus, als sei sie hergelockt worden, um auch hier nur auf der Stelle zu treten. Sie fühlte sich betrogen. Abwarten, ermahnte sie sich. Bloß kein vorschnelles Urteil fällen. Vielleicht täuscht der erste Eindruck ja. Vielleicht haben sie hier nur eine andere Kanzleistruktur.

»Lassen Sie mich noch einmal nachhaken, Mr Sherman: Jedes Verbrechensopfer, das gegen den Täter vor Gericht ziehen will, landet auf meinem Tisch?«

Sie beobachtete sein Gesicht genau.

»Solange der Fall ausschließlich in Ihr Aufgabengebiet fällt, ja. Es könnte allerdings auch Bereiche geben, die sich überschneiden, dann müssen wir das diskutieren. Aber niemand wird irgendetwas hinter Ihrem Rücken unternehmen, geschweige denn über Ihren Kopf hinweg. Alles wird auf Konsensbasis entschieden.«

Es war offensichtlich, dass er sie aufmuntern und ihr Mut machen wollte. Dass man sie hier respektierte, lag auf der Hand, da die Kanzlei sonst kaum jemanden vom anderen Ende des Landes eingestellt und ihm ein derart großzügiges Gehalt angeboten hätte, von der Übernahme der Umzugskosten ganz zu schweigen.

»Das klingt ja ganz vernünftig. Ich hatte mir nur etwas anderes vorgestellt.«

»Dann lassen Sie uns doch einfach abwarten, wie es läuft«, schlug er vor. »Sie werden auf jeden Fall eigenverantwortlich arbeiten, und in den allermeisten Fällen wird niemand versuchen, Ihr Know-how in Frage zu stellen. Die anderen Partner werden sich aller Voraussicht nach Ihrem Urteil beugen, schließlich sind Sie die Expertin.«

»Na, dann an die Arbeit«, erwiderte Andi, deren Miene sich allmählich aufhellte.

»Das ist die richtige Einstellung.«

»Also, wo ist mein Büro?«

Sherman wirkte peinlich berührt. »Na ja, es ist nicht wirklich ein eigener Raum«, sagte er nervös. »Wie Sie sehen, arbeiten wir hier im Großraumbüro.«

»Sie meinen, nur die Partner haben eigene Büros?«

»Nein, ein paar andere auch. Aber wir hatten kein Zimmer mehr frei, von den Konferenzräumen einmal abgesehen. Sie bekommen Ihr Büro, sobald wir eine Lösung für unser Platzproblem gefunden haben. Wir müssen nur erst ein bisschen was umorganisieren. In der Zwischenzeit bekommen Sie eine Arbeitskabine in der Ecke – da kriegen Sie den Lärm gar nicht mit.«

Er bemerkte ihren Gesichtsausdruck. »Was ist?«

»Kann sein, dass ich mich damit unbeliebt mache, aber ich möchte eines klarstellen: Für eine Arbeitskabine im Großraumbüro bin ich nicht in Ihre Kanzlei gekommen. Ich habe den Vertrag unterschrieben, weil ich ein eigenes Büro bekommen und sogar eine Abteilung leiten sollte, und nicht, um hier wie ein Stiefkind behandelt zu werden.«

Freitag, 5. Juni 2009 – 14.40 Uhr

»Boah, seht euch diesen Hintern an!«

Alex warf dem schielenden Proleten in zerrissenen Jeans mit der fast leeren Dose Budweiser in der Hand einen wütenden Blick zu. Der Mann drehte den Kopf zu ihm, als wollte er fragen: »Willst du ein großes Ding draus machen?«

Im Grunde wollte Alex das nicht. Aber er war bereit dazu. Die rechtlichen und beruflichen Konsequenzen für ihn als Anwalt machten ihm mehr Angst als die Möglichkeit, zusammengeschlagen zu werden. Der Kerl war zwar größer als er, aber Alex praktizierte Krav Maga, eine israelische Kampfkunst, und schätzte die Chancen ungefähr fifty-fifty ein.

Weil er dem nach Aufmerksamkeit heischenden Trunkenbold keinen Gefallen tun wollte, konzentrierte sich Alex wieder auf den Billardtisch, über den sich gerade eine vierunddreißigjährige, katzenhafte dunkelhaarige Frau chinesisch-amerikanischer Herkunft beugte.

Sie waren im Embassy Billardclub in San Gabriel. Während des Herrenwettbewerbs – das Embassy war der vierte von sechs Austragungsorten der US-Tour – war der Club überfüllt gewesen, aber jetzt, als die Frau in schwarzer Hose und passender Weste den entscheidenden Stoß ihres Frames – wenn nicht gar des gesamten Halbfinal-Matches – anpeilte, war der Saal halbleer.

Nach einigen Sekunden erstarb das Geschnatter der Zuschauer und ging in respektvolles Schweigen über. Gespannt hielten alle im Saal die Luft an und fragten sich, ob Martine Yin es wohl schaffen würde.

Sie führte den Stoß mit entspannter Coolness aus, nicht zögerlich, sondern mit der festen Entschlossenheit einer Spielerin, die genau weiß, dass es für den zweiten Platz keine Lorbeeren gibt. Als die rote Kugel in der rechten Ecktasche landete und die weiße Kugel langsam ausrollte und dreißig Zentimeter vor der linken Bande liegen blieb, brach die kleine Gruppe dankbarer Aficionados, die gekommen war, um sich das Spiel und Martine anzusehen, in anfeuernden Beifall aus. Auch Alex applaudierte begeistert, obwohl er zugeben musste, dass er zu jenen Zuschauern zählte, die sich mehr für Martine als für Billard interessierten.

Mit Unterbrechungen führten sie nun schon seit über einem Jahr eine Beziehung – wenn man es überhaupt so nennen konnte. Alles hatte damit angefangen, dass Martine Alex nach dem Clayton-Burrow-Fall mehrere Monate lang verfolgt hatte, um ihn zu einem Interview zu bewegen. Sie war Fernsehreporterin und hatte über den Fall berichtet, der zu Alex’ berühmtestem geworden war. Zusammen mit anderen Reportern hatte sie sich im Beobachtungsraum neben der Todeskammer befunden, als der schicksalhafte Anruf und mit ihm der Befehl zum Abbruch der Hinrichtung eingegangen war.

Und sie hatte, wenn auch nur aus der Ferne, Alex’ eindringliches Gespräch mit seinem Rechtsreferendar miterlebt, in dessen Folge dieser verhaftet worden war. Die ganze surreale Episode hatte ihren Höhepunkt in einer nächtlichen Verfolgungsjagd mit dem Auto und einem verhängnisvollen Unfall gefunden, der den Kameras der Nachrichtenhelikopter bedauerlicherweise entgangen war.

Nach Abschluss des Falls hatte sich Alex standhaft geweigert, auf Martines Interviewanfrage einzugehen, und als sie dann doch endlich Gelegenheit bekommen hatte, mit ihm zu sprechen, hatte sie den Eindruck gehabt, dass er ihr nicht die ganze Wahrheit sagte. Zunächst war sie fest entschlossen gewesen, seinen Panzer zu knacken, aber irgendwann hatte sie gespürt, dass Alex’ Zurückhaltung mehr mit seinen persönlichen Gefühlen zu tun hatte als mit irgendwelchen harten Fakten, die den Fall selbst betrafen. Schnell war ihr klar geworden, dass Alex ungeachtet des Raubtierimages seiner Profession auch nur ein Mensch war, was sie ihrerseits, wie ihr ebenso schnell klar geworden war, daran hinderte, bei der Ausübung ihres Berufs mit der üblichen raubtierhaften Rücksichtslosigkeit vorzugehen.

Erst durch diese Erkenntnis und die damit einhergehende Abmilderung in Martines Verhalten hatte sich allmählich eine Beziehung zwischen ihnen entwickelt, wenn auch eine Fernbeziehung, was ihr Wachstum immer wieder hemmte. Sie lebte und arbeitete in Los Angeles, er in San Francisco.

»In dein Loch würde ich auch mal gerne was versenken, Baby«, grölte der Prolet laut und schwankte zur Bar, um sich sein nächstes Bier zu holen.

»Warum hältst du nicht einfach die Schnauze?«, fragte Alex und drehte sich zu ihm um.

»Warum kommst du nicht einfach mit raus und regelst die Sache wie ein Mann?«, forderte ihn der Unruhestifter heraus.

»Warum haltet ihr nicht beide die Schnauze?«, blaffte Martine. »Ich versuche mich zu konzentrieren.«

Inzwischen hatte der Schiedsrichter die Hoffnung aufgegeben, dass sich die Situation ohne sein Eingreifen lösen würde. Er rief ein paar Rausschmeißer zu Hilfe, die den Proleten unsanft nach draußen beförderten.

Martine wandte sich wieder dem Billardtisch zu, holte tief Luft, um sich zu sammeln, und lochte erst die schwarze und dann eine weitere rote Kugel ein. Nach einem spannenden Abtausch von Safety Shots war sie mit vier Punkten und acht Frames an den Tisch gekommen, während ihre Gegnerin einundsechzig Punkte und acht Frames auf der Tafel stehen hatte. Ihre Gegenspielerin, eine zierliche Blondine, hatte gerade bei einem verzwickten Snooker einen finalen Stoß über zwei Banden verschossen, was Martine noch einmal die Chance gab, das Match in diesem letzten Frame für sich zu entscheiden.

Aber nur, wenn jeder einzelne Stoß sein Ziel traf.

Sie blieb cool und versenkte noch eine schwarze und eine rote Kugel. Aber dieses Mal rollte die weiße Kugel in Richtung Baulk, so dass sie sich als Nächstes mit einer rosafarbenen statt einer schwarzen Kugel zufriedengeben musste. Sie wusste, dass sie sich jetzt keine Fehler mehr erlauben durfte. Nach der rosa Kugel musste sie die letzte rote einlochen und dann die schwarze angehen. Sie versenkte die rosa Kugel und hatte danach zu viel Abstand zur letzten roten. Die rote Kugel hätte sie dennoch problemlos einlochen können, aber wenn sie sie einfach in die Tasche rollen ließ, würde die weiße Kugel auf der falschen Seite der schwarzen zu liegen kommen. Sie musste die rote Kugel also mit viel Schwung über drei Banden spielen, um hinterher zurück zur schwarzen Kugel am unteren Ende des Tisches zu kommen. Und Schwung bedeutete, dass sie den Stoß mit tödlicher Präzision ausführen musste.

Sie schoss mit Schwung … viel Schwung.

Alex hielt die Luft an und betete.

Unter den Jubelrufen des Publikums landete die Kugel in der Tasche. Und als Krönung blieb die weiße Kugel auch noch auf der perfekten Ausgangsposition liegen, um die schwarze Kugel ein letztes Mal einzulochen. Jetzt räumte Martine ab: gelb, grün, braun, blau, rosa und schwarz. Als der Frame endete, gab es donnernden Applaus. Sie hatte einen Anstoß von achtundfünfzig und gewann den Frame mit zweiundsechzig Punkten.

Dem Publikum gefiel es, wenn ein Match bis zum Schluss spannend blieb, wie nervenaufreibend dies auch für die Spielerinnen sein mochte. Martine musste viele Autogramme geben, bevor sie endlich Gelegenheit hatte, mit Alex zu reden.

»Du warst toll«, sagte er.

»Tu mir einen Gefallen«, erwiderte sie. »Mach das nie wieder.«

»Was habe ich denn …?«

»Du weißt genau, was ich meine. Ich kann es wirklich nicht gebrauchen, dass du dich für mich prügelst. Du musst mir nichts beweisen.«

»Aber er hat …«

Sie brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen. »Lass uns einen Happen essen gehen«, schlug sie vor und griff nach seiner Hand.