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Tropen

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© 2013 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Herburg Weiland, München

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50127-8

E-Book: ISBN 978-3-608-10356-4

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2013 der Printausgabe

Beautiful people
You look like friends of mine.
Melanie

DER ENGEL ORDNUNGEN

Wer den Engeln nahe ist, braucht nichts mehr zu beweisen. Er ist gerechtfertigt vor Gott und der Welt. Das ahnte ich schon in meiner Jugend, die schwarz war und voller Angst, in dem Jahr, als ich fünfzehn war, verklemmt und bis zur Einsamkeit arrogant.

Zuerst war mir mein Engel auf dem Fernsehschirm erschienen. Er verkörperte sich in dem kleinen, tragbaren Klotz auf meiner Kommode, der nur mir gehörte; in meinem persönlichen Kanal zur Welt. Der Engel erschien immer nur für drei, vier, fünf Minuten, doch bald erschien er mir überall. Seine Stimme drang, immer nur für ein paar Momente, aus den Lautsprechern der Radios, der Kneipen, der Diskotheken. Es war eine körperlose, reibungslose Stimme; sie klang, als käme sie aus großen Weiten. Sie klang hoch und flach wie auf Helium, schwerelos taumelnd im Edelgas. Engel sind leicht, sie sind ohne Gewicht. Und so lernte auch ich, das Leichte zu lieben, das mich der Sonne entgegentrug wie einen Fesselballon.

Ich hatte keinen Zweifel, dass der Engel nur für mich gekommen war. Denn wie durch ein Wunder erschien er immer genau dort, wo ich war. Andere, so kam es mir manchmal vor, konnten ihn nicht hören; meine Mutter etwa hackte ungerührt weiter Zwiebeln, wenn seine Stimme aus dem Küchenradio kam.

Der Engel war wunderschön. Er war blond und lockig und weiblich, damit auch ich ihn als Engel erkennen konnte. Nicht so, wie sie sind, erscheinen sie, sondern so, wie die Sehenden sie sehen können, lernte ich später. Denn alles, was ich bis dahin über Engel wusste, wusste ich von den Biedermeierbildern meiner Großtante Ada, von den Weihnachtskarten meines Großonkels Kurt. Der Engel trug Kreuze um den Hals, damit ich ihn nicht für einen Dämon hielt. Der Beruf der Engel, das wusste ich damals noch nicht, ist Kommunikation. Und deshalb sprechen sie immer genau die Sprache, die man versteht.

Der Engel, die Hand im Schritt, sprach zu mir: Dein Leib ist gebenedeit. Und so liebkoste ich meinen Leib und richtete ihn her für die Blicke der Menschen. Der Engel, von kräftigen Männern umtanzt, sprach: Lass die Liebe scheinen. Und ich, unter Tränen, malte mit Lippenstift Herzchen an den Spiegel. Der Engel, vor Skylines tanzend, sprach: In der Stadt ist das Leben. Und so ging ich, so bald ich konnte, zum Studieren in die Stadt. Der Engel, zwischen Situp und Sonnengruß, sprach: Harte Arbeit führt zum Ziel. Und so machte ich mich, so bald ich konnte, an meine Karriere.

Engel, sagt Origines, ernähren sich von nichts als göttlichen Strahlen. Auch mein Engel war dünn und wurde immer dünner; und so setzte auch ich mich auf Diät. Beweg dich, sagte der Engel, und er machte mir vor, wie man sich bewegt. Engel sind semper mobiles, immer in Bewegung, sagt Johannes von Damaskus; mein Engel war der beweglichste von allen. Er dehnte sich im Spagat, streckte das Bein in die Luft, drehte sich um die eigene Achse, bis mir schwindlig wurde.

Ich sah den Nabel des Engels, der seine Mitte beherrschte wie ein allsehendes Auge. Ich sah seinen herrlich unbeirrbaren Aufschwung nach oben. Stockend, tastend folgte ich seinen Bewegungen, setzte ein Bein vor das andere, zuckte mit den Schultern, warf den Kopf zurück. Ich stand vor dem Spiegel im Schlafzimmer meiner Eltern, und hinter mir stand der Engel mit ernstem, aufmerksamem Blick. Denn Engel machen keine Witze, und mein Engel war keine Ausnahme.

Engel sind keine Götter. Sie herrschen nicht, sondern sie dienen. Auch mein Engel zögerte nicht, mir zu dienen, mich zu leiten, mir Orientierung zu geben und die Regeln, nach denen gespielt wurde. Und er antwortete mir und ließ mich wissen, was die Dinge bedeuteten. Der Prophet Ezechiel berichtet von einem Engel, der durch Jerusalem ging, um die Hüften einen Gürtel aus Saphiren; er malte jedem Gerechten ein Zeichen auf die Stirn. Und auch mein Engel ging durch die Welt und kennzeichnete jeden, der es hatte: It, ritzte er ihnen in die Netzhaut, it, it, it.

Immer hatte ich Angst gehabt, dass die Zeit an mir vorüberlief, lautlos und ohne mich zu streifen; an mir, an meinem Dorf im Speckgürtel, an meinem Elternhaus, an meinen Freunden. Mein Engel aber ließ mich die Zeit kosten; sie zerging auf der Zunge. Er zeigte mir das Jetzt, den kostbaren, erregenden Moment. Ich war schwach, doch mein Engel zeigte mir eine Stärke, an der ich teilhaben konnte; der ich mich ausliefern konnte wie einem Wind, der den, der ihm gehorcht, zu neuen Ufern treibt.

Immer hatte ich Angst gehabt, dass alles nicht reichte. Dass alles zu wenig war; meine Noten, meine Freunde, meine Brust. Doch der Engel sagte mir, dass es darauf nicht ankam. Es war nicht wichtig, was man war, sondern was man zeigte. Der Engel zeigte mir Glanz; den Glanz der Diamanten, der platinblonden Haare, des polierten Leders. Und ich färbte mir die Haare mit Wasserstoff und wühlte im Schmuckschrank meiner Mutter nach Klunkern.

Ständig wandelte er seine Gestalt. Denn der Engel hat keine Substanz; er ist Erscheinung, ohne Unterschied von Bild und Wesen. Erfinde dich selbst, sprach der Engel, erfinde dich neu. Denn genau das war es, was Engel tun: Ihr wirkliches Selbst ist unsichtbar. Auf keinen Fall können Menschen die Engel in ihrer wahren Gestalt sehen. Denn wegen ihrer veränderlichen Form sind Menschen nicht in der Lage, einen unveränderlichen Geist zu sehen.

Manchmal träumte ich von dem Engel. Der Traum war der Moment, in dem ich den Engel an die Hand nehmen konnte. Ich konnte ihm aus der Zeitung vorlesen oder mit ihm vor die Tür gehen, um eine zu rauchen. In einem meiner Träume ging ich sogar mit dem Engel zur Toilette; es war das Chin’s oder das Terremoto. Wir wurden fast gleichzeitig fertig; hinterher traute ich mich nicht an den Spiegeln vorbei. Ich hatte Angst, einer von uns beiden wäre unsichtbar.

Dieser Engel hat mich nie verlassen. Eines Tages, ich war längst erwachsen, gab er sich zu erkennen. Er sang mit einer Stimme aus Seidenpapier, und ich wusste sofort, dass er nur sich selbst damit meinen konnte:

Ray of Light.

Dass ich nicht allein war, hatte ich immer gewusst. Sogar wenn ich für mich vor dem Spiegel stand, mit meinem feinen, aber elegant gewellten Haar, meinen niedrigen, aber sorgsam gepflegten Brauen, meinen schmalen, aber spöttisch geschwungenen Lippen, meiner etwas zu dicken Nase, war ich in Gesellschaft. Ich wusste, dass es das Vollkommene gab. Ich war mir sicher, dass es ideale Versionen meiner selbst gab, geklärte Spiegelbilder mit keckeren, zarteren oder herrischeren Nasen, perfekte Ergänzungen meiner Mängel und Stärken.

Sie mussten von oben kommen, aus den kühleren Luftschichten jenseits der Stratosphäre. Lässig traten sie auf und ab, lehnten in den spitzen Torbögen marokkanischer Paläste, träumten im Rolls-Royce an der Transitstrecke, knieten feierlich im Wüstensand. Siegerlächeln in den Augen. Sie arbeiteten nordisch hart und diszipliniert, feierten südländisch und ausgelassen. Sie trugen Samtslipper sportlich wie niemand sonst; sie trugen Turnschuhe zum Frack. Alterslos wanderten sie durch die Jahrhunderte; ihr sanftes, androgynes Wesen verlieh den Charakteren eine zarte Stärke. Sie verkörperten unsere Zeit, schwiegen beharrlich, verweigerten und verschenkten sich zugleich, mit diesem letzten Schimmer immer gültiger Magie. Sie machten keine Kompromisse, ließen sich nicht vereinnahmen; alles, was sie taten, taten sie ganz.

Ich wusste, dass sie sich in Kreisen bewegten. Sie schwebten in Sphären mit unsichtbaren Außenhäuten, die sich plötzlich öffnen können für einen Moment, für einen Augenblick der Ekstase und der Erkenntnis. Und im nächsten Augenblick zogen sie wieder ihre Bahnen, irgendwo am Himmel, unberührbar in ihren Privatjets oder hinter den stahlgrauen Vorhängen der ersten Klasse, aus denen nur von Zeit zu Zeit eine Stewardess hervorschlüpfte, benommen und selig.

Sie begegneten den Menschen herzlich, ohne Snobismus, auf moderne Weise traditionsbewusst. Ihr Schweben gab ihnen ihre Haltung, den aufrechten Gang, der sich niemals beugte. Ich ahnte, dass sie auch mich komplett machen konnten; nur der Himmel war ihre Grenze. Ich ahnte, dass sie auch mich zu sich hinaufziehen konnten, in ihre Haltung, ihren aufrechten Gang. Auch ich war ein Krokus im Schnee, der auf die Märzsonne wartete. Und so studierte ich ihren Gang, ihre gestreckten Nacken, ihre sehnenden Wimpern.

Ich spürte die Anziehung, wie eine Narzisse sie spürt oder eine Orchidee; ein Saugen himmelwärts, das Gespür von etwas Richtigem, die Ahnung einer höheren Harmonie. Ich wusste, dass das Licht in der Nacht am hellsten strahlt, und so machte ich mich abends bereit, warf die Tasche mit der Nikon über die Schulter und stieg auf mein Rad.

Schon in meiner Schulzeit hatte ich mich als Diplomatin verstanden. Ich sah mich als Botschafterin der Schönheit, des gelungenen Lebens. Vermitteln wollte ich, zwischen den Sphären des Lichts und den armen, ratlosen, rastlosen Menschen. Und noch immer gefällt mir die Idee, das Licht zu reflektieren, zurückzuwerfen, zu vervielfältigen und zu verteilen über unsere schattige Welt.

So begann ich zu fotografieren.

Lange hatte ich keinen Begriff gehabt für das Licht, das ich überall suchte. Ich suchte es auf Galas und Empfängen, bei Premieren, Präsentationen und Modenschauen, bei den Eröffnungen von Rosspfahl oder Supp Contemporary, beim Siebenjährigen im Planet Pöseldorf, bei der Eritrea-Charity im Plaza.

Meine Tante Simone, Hochschulpfarrerin in der Evangelischen Studentengemeinde, hatte eine Pastorin aus mir machen wollen. Sie nahm mich zu Kirchentagen mit und an die Resopaltische von Evangelischen Akademien. Ich sah nur ungeschickt gekleidete Menschen mit blitzenden Brillen und einen ungepflegten Mann am Kreuz, der alle Haltung aufgegeben hatte.

Tante Simone hatte keinen Sinn für Engel. Engel waren für sie Weihnachtsmerchandising, körperlose Schülerlotsen, Weltraumschrott, hinterlassen von vermoderten Generationen. Aber sie überließ mir all die Bücher, die sie in ihrem Theologiestudium am gründlichsten gelangweilt hatten. Mit meiner Begeisterung hatte sie nicht gerechnet.

In diesen Büchern fand ich die Worte für mein Verlangen. Schon die Namen der Autoren, aristokratisch und stolz, flößten mir Vertrauen ein: Thomas von Aquin, Hildegard von Bingen, Johannes Scottus Eringena, Bernhard von Clairvaux. Sie konnten mir die Macht erklären, die Wesen wie Minou Farnese oder Winston Caracallo über uns hatten; den Segen, den sie austeilten und verweigerten; ihr Schweben, ihr beständiges Auf und Ab an unsichtbaren Leitern. Sie konnten den Kosmos erklären, den die Engel für uns ordneten und geometrisch einteilten, konzentrisch, in Unten und Oben, in Drinnen und Draußen. Sie wussten, dass die einen gereinigt werden, die anderen reinigen, dass die einen erleuchtet werden, die anderen erleuchten und dass die einen vollendet werden und die anderen vollenden. Und sie bestätigten meinen Verdacht, dass die Engel aussahen wie wir selbst, nur schöner und vollkommener. Menschenkörper hatten sie angenommen: nicht für sich selbst, sondern um unseretwillen.

Ich lernte den geheimnisumwitterten Dionysius Aeropagita kennen, der angeblich als Erster die Ordnung der Engel beschrieben hatte: Sie bringen das Schöne in die Welt, hatte er geschrieben, und das Schöne ist auch das Gute. Für alle Wesen ist also das Schöne und Gute ein Gegenstand des Erstrebens, der Sehnsucht und Liebe. Und das Gute verkörpert sich im Licht.

Ich wusste, dass es nur die guten Menschen sind, denen sich die Engel nähern; ihre Aufgabe ist es, einige Menschen zum Ziel zu führen. So war die Nähe der Engel ein Beweis meiner Tugend, und ich hielt mich in ihrer Nähe.

Und ich begann ein Studium in der Fotodesign-Klasse von Merve Francini. Ich wollte alles wissen, um eine gute Diplomatin des Schönen zu sein. Das Schöne, hatte ich erfahren, blitzt in alle Dinge seine Schönheit bewirkenden Mitteilungen des Strahlquells hinein. Blitze, die Schönheit erzeugen – gab es eine schönere Beschreibung für das, was mir vorschwebte?

Manchmal bildete ich mir ein, dass Bilder die Engel erst wirklich machten; dass auch meine Bilder ihnen halfen, Gestalt anzunehmen. Engel waren ja Erscheinungen, aus Licht und Glauben geboren; wenn sie menschliche Form annehmen wollten, kondensierten sie ihre Körper aus der Atmosphäre. Ich wusste, dass ich ins Leere greifen würde, wenn ich einen dieser Körper berührte, auch wenn ich Fleisch tasten würde, Seide und Make-up. Meine Bilder aber entfernten noch die letzten Reste ihrer Körperlichkeit; das, was sie den Begrenzungen von Schwerkraft und Stoffwechsel unterwarf.

Ich wusste, dass Hierarchien die Leitern sind, auf denen wir uns dem Göttlichen nähern. Es sind Hilfen zum Aufstieg, wie Bonaventura sagt. Jeder erleuchtet den, der unter ihm steht, und wird selbst erleuchtet von dem, der über ihm steht. Jeder reinigt und wird gereinigt, macht vollkommen und wird vollkommen. Wie, hatte auch ich mich immer gefragt, kämen wir in den Himmel, wenn der Raum zwischen ihm und uns leer wäre? Ohne Meilensteine, in die Sphären gerammt, auf die man unterwegs den Fuß setzen kann?

Die oberste Klasse der Engel sind die Seraphim. Sie wohnen noch jenseits der Fixsterne. Ihre Hitze beheizt auch die niederen Sphären; man nennt sie auch »Entflammer« und »Glutentfacher«. Daher können sie ein Absinken zu einem in irgendwelcher Beziehung Geringeren überhaupt nicht kennen.

Doch noch der gemeinste Engel erhielt von ihnen sein Licht. Er empfing es von den Erzengeln, die Erzengel von den Fürstentümern, die von den Gewalten, Mächten und Herrschaften, die von den Thronen erleuchtet wurden, den Cherubim und schließlich den Seraphim. Denn der göttliche Strom wird durch die einen zu den anderen geleitet.

Zwecklos zu fragen, ob die Engel meine Liebe erwiderten. Ihre Zuneigung war wertvoll, weil sie uns nicht brauchten. Man konnte ihnen nahe sein, ohne in Frage zu kommen. Ohne in Frage zu stehen.

Aber Thomas von Aquin hat gesagt: Engel können nicht umhin zu lieben. Das war die Wahrheit; kein Engel war allein. Leicht flog er von einem zum anderen. Ich wusste, wie viel Zeit die Engel mit Liebe zubrachten, mit Traumhochzeiten in Fréjus und Seitensprüngen auf Amrum. Sie verschwendeten sich in Flirts auf Biennalen und triumphalen Gin-Tonic-Küssen im Reitmeyer. Sie bildeten Paare, die ihre Stärke verdoppelten, verdreifachten. Sie zeugten Kinder in erster, zweiter und dritter Ehe, adoptierten weitere Kinder aus Erst-, Zweit- und Drittländern. Sie gaben ihnen Namen, wie sie Rennpferde trugen. So groß war ihre Liebe.

Dabei habe ich die Engel nie beneidet. Ich wusste, dass auch Engel nicht immer glücklich sind. Die völlige Glückseligkeit, sagt Thomas von Aquin, ist Gott selbst vorbehalten. Ich sehnte mich nicht nach ihren Aufstiegen und Himmelsstürzen, nach ihren öffentlichen Scheidungen, ihrer sauren, Tag für Tag und Jahr um Jahr niemals für eine Minute unterbrochenen Pflicht.

Doch die Liebe war es, an der wir sie erkannten. Sie war es, an der sie gemessen werden wollten, hätte man sie jemals messen können. Und die Liebe war es auch, an der ich mich selber messen musste, koste es, was es wolle.

1

Ich hatte mich daran gewöhnt, meine Abende nüchtern anzugehen. Ich warf mich in die Brust, sagte »Huhu, Bastian«, rief »Saaa-raaah«. Ich lockte: »Chuck, schaust du mal«, oder: »Stellen Sie sich doch mal bisschen zusammen.« Ich spürte, wie schon das Aussprechen dieser Namen ein Lächeln auf meine Lippen zauberte, das zu meinem lachsfarbenen Trenchcoat passte.

Bald merkte ich, dass ich spüren konnte, wenn sie einen Raum betraten. Es war wie ein Ziehen im Nacken, eine leise Flauheit in den Knochen. Ich erkannte die kleinen Begrüßungsschreie, die ihrer Orientierung dienten wie der Ultraschall der Fledermaus.

Immer war ich schon einen Schritt voraus. Noch bevor der Premierenvorhang fiel, noch bevor die Literaturhauschefin die Schlussworte sprach, noch bevor die Galeristen in die Hände klatschten und die Assistenten das Licht an- und ausknipsten, wartete ich längst bei Bruno e Salvatore, im Le Terroir oder der Strudlhofstiege, nahm strategische Positionen ein. Und bevor die letzte Flasche Marillenschnaps kreiste, stand ich schon in der Fetisch-Bar, ein Halbliterglas Mediumwasser neben mir auf der Theke.

Sie standen auf der dritten Stufe, den linken Absatz noch in der Luft. Ihre Sohlen sahen aus wie neu. Vielleicht fanden sie mich aufdringlich, vielleicht fanden sie mich charmant; es hatte keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Jeden schienen sie gleichmäßig anzulächeln, sogar die Agenturknechte, die Fellachen aus den Lokalredaktionen mit ihren Taschen; dabei wusste ich doch, dass sie niemanden sahen. Sie hatten Augen, aber keine Sehnerven. Damit sie nicht schneeblind würden vor lauter Licht.

Ich dirigierte sie in Paare, in Trios, in Grüppchen. Ich sagte: »Aber ein bisschen enger geht’s schon noch.« Und sie drängten sich noch enger aneinander, in immer neuen Stellungen und Neigungswinkeln, bis meine Kamera nicht mehr konnte. Und später, wenn die ganze Korona noch weiterzog in die Rooftop Bar und wenn dann schließlich über dem Michel die Sonne aufging, eifersüchtig, eilig und fröstelnd – da zündete ich noch einen letzten Blitz, bevor mich das Rad zurückbrachte, durch den erwachenden Tag in die Bernstorffstraße, zu Patrick, der jetzt schon rot und großäugig aus der kalten Dusche stieg.

Diese Fahrten waren die schönsten Momente dieser Abende. Ich fühlte eine Gemeinschaft mit den Helden und Heldinnen meiner Bilder, die nur die Nacht erzeugen konnte. Das Morgenlicht floss durch die Straßen; die Luft roch nach Brötchen und Meer. Wie im Halbschlaf trat ich in die Pedale; die Kette surrte fast von selbst. Und ich dachte noch einmal, dass es schließlich die Engel waren, die uns zeigten, dass das Universum es gut mit uns meint.

Wenn Patrick aus der Dusche kam, stolz und unbefangen bis zum Übermut, starrte ich manchmal noch seinem verschmitzten Hintern hinterher. Manchmal war mir, als wäre dieser Hintern das eigentliche Gesicht, das er der Welt zeigte.

Denn Patrick war unfähig zur Verehrung. Er war nicht bereit zur Hingabe, zum Ja. Er weigerte sich, zu lobpreisen. Auf den Symposien zum Thema »Celebrity Culture« oder »Codes and Semantics of Public Nervous Breakdowns«, die er mit seinen Kollegen in schlecht gelüfteten Seminarräumen, in schlecht sitzenden Anzügen abhielt, zerpflückten sie die Engel wie Brathähnchen. Sie rissen ihnen Flügel aus, stülpten ihr Inneres nach außen und murmelten anschließend, Fett in den Mundwinkeln, dass die Haut das Beste an ihnen sei.

Es machte mir nichts aus, dass er unsere Miete bezahlte. Immerhin bekam auch ich etwas Geld für meine Bilder, von der Agenda Hamburg oder der Gesellschaftsseite der Abendpost. Ich verkaufte Fotos an Blätter wie Spell oder Mars//Venus; an Bildredakteurinnen, die unter Schwarzweißfotos saßen, Kräutertee tranken und mir Kaffee aus der Glaskanne anboten. Im Vorzimmer saßen Sekretärinnen, quirlten lautlos Waldfrüchte in ihren Joghurt. Und ich war froh, kein Seidentuch in die Tasche meines marineblauen Blazers gesteckt zu haben.

Es gab Tage, an denen ich froh war, für ein paar Stunden allein zu sein. Hinter unserer Stahltür in der Bernstorffstraße arrangierte ich dann Gladiolen in hüfthohen Glasvasen, trug die Espressotasse vor mir her. Ich ging mit gerecktem Kreuz unter hohen Decken, betrat den Erker mit dem Wintergarten, ordnete die Ranken der Zierkürbisse. Mit weichen Schritten tanzte ich durchs Licht, zum Jubel von Wasser- und Feuerwerksmusiken. Ich zog die Brokatvorhänge auf und zu, lag in verlockender Pose auf dem Sofa. Jeden Moment konnte das Publikum kommen.

Dann kam nur Patrick.

Patrick fand mich sofort, wo immer ich mich aufhielt. Er setzte einen Kuss auf meinen Mundwinkel, sah mir treu in die Augen. Patricks Treue zog mir den Hals zusammen, versetzte mich in Atemnot, in Erstickungsangst; hustend streichelte ich seine Wange. »Ich liebe das«, sagte er. »Mach das noch mal.«

Manchmal rief ich Patrick von unterwegs an; ich wusste nie, was er gerade machte. Ich fragte auch nie nach. Oft hörte ich den Klang einer DVD, einen Fetzen Tarantino, einen grimmigen Ausruf: »Was zum …« Oft klang Patrick wie sediert, wie in Trauer, sprach, als redete er mit sich selbst: »Ich sollte mal wieder mehr ausgehen. Damit mir nicht der Deckel auf den Kopf fällt.«

»Die Decke«, wollte ich sagen, doch ich hielt den Mund.

»Mach’s gut, Patrick«, sagte ich mit einem Mitleid in der Stimme, das mich stutzig gemacht hätte, wäre ich an seiner Stelle gewesen.

Manchmal las mir Patrick aus Zeitschriften vor. Er wurde nicht müde, diese Blätter zu kaufen; er analysierte sie, er glaubte, sie könnten mir gefallen. Er glaubte nicht an Schönheit, an Größe, an Style; er glaubte das, was über die Schönen, die Großen und die Styler geschrieben wurde. Er glaubte, das könnte ihm etwas über die »Gesellschaft« erzählen. In seinem Mund klangen ihre Namen wie Figuren aus den Büchern, die er seinen Studenten zum Fraß vorwarf; wie ausgedachte Buchstabenfolgen, die ausgedachte Wesen bezeichneten. In dem munteren Singsang seiner Stimme konnte ich hören, dass er nicht an sie glaubte. Er hatte die Liebe nicht.

Wenn er durch die Wohnung lief, im Frotteeschlafanzug mit Bündchen, die ihm in die Haut schnitten, vertraute er blind seinen Muskeln, seinen Grübchen, seinen langen Wimpern, seinem weichen Mund über dem harten Kinn. Er wusste, dass er gut roch. Manchmal erwischte ich ihn dabei, wie er unter seinen Armen schnüffelte.

Manchmal belauschte ich ihn auch im Schlaf, um zu erfahren, ob er ein Geheimnis hatte. Er sprach vom Atomausstieg, von einem Wesen namens »Glock«. Wenn wir nachmittags im Bett lagen, bevor er sich an seine Vorbereitungen machte, flüsterte er mir Komplimente ins Ohr, sagte: »Wir habens schon gut.«

Ich schwieg. Ich schaute kurz zur Seite, vermied seinen Blick. Ich sah die brillanten Kontraste von Elaine Turringtons schwarzweißem Jeff-Braxton-Porträt an der Wand, sah Sonnenstrahlen durch die Jalousien fallen und im Aluminiumrahmen aufblitzen. Dann spürte ich eine Nase in meiner Halsbeuge und eine Erektion an meinem Knie, und Jeff Braxtons Saxophon bohrte sich in einen schwarzgefiederten Himmel und löste sich in einer Wolke auf.



Ich gab mir Mühe mit Patrick. Ich buchte für uns Last-Minute-Flüge nach Miami; wir stiegen einen Tag im Radisson ab und drei in einem Motel namens Harvey’s. Ich fütterte ihn mit huitres à la silhouette in den Délices de la Dordogne, mit Rinderbäckchen im Anzengruber. Ich führte ihn ins Moulin d’Alsace, ins Berg & Tal, in den Garten vom Weizsäcker’s. Im Weizsäcker’s trat eine Wahrsagerin in orangefarbener Strumpfhose auf uns zu; eilig zahlte ich und überließ unseren Entre-deux-Mers den Wespen.

Einmal nahm ich ihn auch mit ins Camelot, wo Benoît uns Caprices des Carmelites und Bouillabaisse Schlotsky servierte, sich zur Crème lusitane an unseren Tisch setzte und uns seinen Traum von einem Glasbodenrestaurant auf dem Mittelmeer ausmalte, mit Doraden, Meerbrassen und Schilflingen unter dem Kiel, von Suchscheinwerfern zum Leuchten gebracht.

Als mein Blick versehentlich auf den reservierten Tisch unter dem Colombo-Ölbild fiel, wurde mir klar, dass es von Anfang an ein Fehler gewesen war, Patrick mitzunehmen. Ich sah auf die Uhr; es war fast halb elf geworden; es war ein Donnerstag, die Stunde nach den Vernissagen. Es war die Zeit, in der hier nur die Besten aßen, ihre Bouillabaisse bestellten und anschließend Steak tartare, umständlich zubereitet unter ihren liebenden Blicken.

Und wahrhaftig erkannte ich Gerrit Jacobson, am Kopf der Tafel in die Weinkarte vertieft. Ich sah Brenda Schlott, die sich mit schrägen Beinen an den Tisch setzte. In den kurzen gelben Händen Raf ter Kates schwebte die rote Lederjacke über ihren Schultern wie das Tuch eines Toreros. Ira Natanowitsch stand eigens auf, um ihm um den Hals zu fallen, und Gerrit Jacobson warf ihm über zweieinhalb Meter die Speisekarte zu.

Dann sah ich Sam Bosco und Ira Natanowitsch mit zueinandergeneigten, hitzigen Köpfen; ich sah Maren Sonntag, die kurzsichtigen grauen Augen zwei Handbreit über den Immobilienanzeigen der Abendpost. Ich sah Tenno Mittenkamp, der jetzt eine Art Rede hielt, die Fäuste gorillahaft auf das Tischtuch gestützt. Patricks Gesicht zeigte keine Reaktion, nur seinen chronisch amüsierten Blick. Und ich stellte fest, dass ich mich für ihn schämte.

Patrick merkte nicht, dass mein Kuss nicht ihm galt, sondern der Runde am reservierten Tisch. Die Flasche Sancerre, die ich bei Benoît persönlich bestellte, trank ich fast allein aus. Dann sah ich unscharf, aber ernst in Patricks Augen; seine Hand fühlte sich weich an und willenlos. In der Toilettenkabine rutschte er aus, aber fing sich wieder. Dann steckte ich ihm den Zeigefinger in den Mund, um sein Röhren zu dämpfen.

Als wir von der Toilette kamen, war die Runde schon aufgebrochen. Ich gab einen Scheck, nur um meine Unterschrift zu sehen; sie bewies meine Existenz, meine Unverwechselbarkeit. Das S in »Stella« hatte tatsächlich königlichen Schwung. Noch immer, nach all den Jahren.

2

Eine meiner größten Stärken war die Freiheit von Neid. Allenfalls fühlte ich einen schwachen Stich, wenn ich mich und Patrick mit den Paaren verglich, die ich fotografierte. Aus Patricks ironisch überreichten Gerbera, seinen Fernsehabenden bei selbstgedrehten Weinblattröllchen, seinen Geocaching-Expeditionen in die Harburger Berge ließ sich keine Kraft schöpfen, die uns erhob. Unsere Nächte, Patricks Ausdauer und Ausmaße, seine überraschenden, atemlos machenden Einfälle waren nichts, was sich öffentlich vorzeigen ließ. Und sie waren nichts gegen die Synergie eines Max Thorben und einer Cheryll Montag, die schon den sechsten Film miteinander drehten und nebenbei gemeinsam eine Mädchenschule in Mali aufbauten.

Der einzige Mensch, den ich tatsächlich beneidete, war Nina Löwitsch. Es war der flaue, sodbrennenartige Neid auf das Nahe, das unter Umständen Erreichbare; der Neid auf jemanden, zu dem auch ich hätte werden können.

Dass die Eröffnung von Ninas Retrospektive, mit knapp vierzig Jahren und doch keinen Augenblick zu früh, auf meinen Geburtstag fiel, sah ich als Zeichen. Der junge Mann auf dem Foto, das die Einladung zierte, trug weiße Jeans wie der Fotograf in »Blow Up«.

Nina und ich hatten den Film damals auf VHS vom Fernseher aufgenommen. Wieder und wieder hatten wir ihn zusammen angesehen, mit einem Glas Discountchampagner in der Hand und mit der Detailgier und der wissenschaftlichen Inbrunst von Archäologen. Der Fotograf in den weißen Hosen schüttelte Mädchen ab, die von ihm fotografiert werden wollten, fuhr in seinem Cabrio durch die Stadt und bekam erst wieder Boden unter die Füße, als er aus dem müden Londoner Spätsommer in einen Saal kam, in dem diese Band spielte. Da überschlug sich die Zeit und brüllte JETZT, wie verrückt.

An dieser Stelle schalteten wir immer das Gerät aus und spulten zurück. Wir interessierten uns nicht für die Mordgeschichte, für die Frage nach Wahrheit und Erfindung; wir interessierten uns nur für diesen Moment.

Ich kannte Nina Löwitsch schon seit fast zwanzig Jahren. In ihrer Wildlederjacke von Le Parachutiste war sie über den Hochschulflur gekreuzt, als hätte die Jacke viel Geld bezahlt, um von Nina getragen zu werden. Unschuldig und gleichgültig schleifte sie ihre Gefolgschaft hinter sich her wie ein Kind ein vertrautes Stofftier, führte sie in Rotlichtbars oder in Schlachterkneipen. Ich erinnerte mich an das freundliche Erstaunen, mit dem sie den Avancen der Professoren begegnete; an das listige Zwinkern des alten Max Bridukat, der Nina den Empfangssaal seiner Othmarscher Villa für eine Ausstellung ihrer Bushaltestellenfotos zur Verfügung gestellt hatte.

Lange war ich stolz gewesen auf meine Freundschaft zu Nina Löwitsch. Die Freundschaft hatte sich über alle Statusschranken hinweggesetzt, die Fotodesigner von Filmstudenten trennten, in der Cafeteria, den Sitzgruppen auf dem Hochschulrasen und den Bars im Vergnügungsviertel. Und ich hatte mir alle Mühe gegeben, mich dieser fast widernatürlichen Freundschaft würdig zu zeigen.

Eines Abends war Nina bei meiner jährlichen Fernsehrunde zur Oscar-Verleihung im Fotoatelier der Hochschule erschienen, eine Perlenkette um den Hals und ein wahrhaftiges Diadem im Haar. Niemand wusste, wie Nina von dem Abend erfahren hatte. Meine Kommilitonen wurden still oder auf verkrampfte Art hysterisch, als Nina sich einen hölzernen Drehstuhl aus dem Abstellraum herbeischleifte und sachte rotierend, ein Bein übergeschlagen und aus spitzem Winkel die Show verfolgte.

Ich erinnerte mich an das ängstliche Schweigen, die mühsam ausgedachten Kommentare und den hastigen Aufbruch meiner Kommilitonen, als gegen sechs Uhr früh die Übertragung vorbei war. Ich hatte die Flaschen und Pappbecher zusammengeräumt, und als ich nach Nina Löwitschs Colaflasche griff, die sie selbst mitgebracht hatte, hielt sie die Flasche fest und sagte sachlich, ohne Schwärmerei oder Ironie, ohne Schwingung und Nachhall: »Ich liebe Sean Penn.«

Das sagte sie wie eine Frau, die eine Entscheidung getroffen hatte; die zu ihrem Mann stand, auch wenn der sich immer wieder in Schwierigkeiten brachte, auch wenn der ihr Herz zerschliss. Wie eine Frau, die stark genug war zur Verehrung, zum Ja; denn die Liebe zu den höheren Geschöpfen ist erhabener als ihre Erkenntnis.

»Ich auch«, sagte ich, und ich wusste im selben Moment, dass Nina diese Antwort erwartet hatte, dass sie ihren Satz nur gesagt hatte, weil sie wusste, dass ich ihn bestätigen würde. Es hatte kein Auftrumpfen in diesem Satz gelegen, keine Herausforderung, kein Anspruch auf Originalität. Er war nur ein Passwort, ein Tasten nach dem Zeichen auf meiner Stirn.

Ich erinnerte mich, dass Nina schon in ihrer Studienzeit Geld genug gehabt hatte, um mich regelmäßig in den Petit Prince zu Foie gras und Portwein einzuladen. Und ich versuchte, nicht an Ninas ostwestfälischen Vater zu denken, der einst als mittelständischer Fensterfabrikant Nebensponsor des Bielefelder Fußballvereins gewesen war und jetzt Aufsichtsratschef von Bosco Halbleiter in Höchst.

Und während ich bald Rechnungen schrieb, monatelang auf Honorare wartete und tagelang Für und Wider abwog, bevor ich einen meiner Schuldner zu mahnen wagte, zog Nina nach Berlin. In ihrem Hauptquartier, einer umgebauten Fabrik am Westhafen, mitten in einem Mischgebiet mit städtischem Aufwertungsplan, mit gleißendem Weiß überzogen und trotz denkmalschützerischer Bedenken mit einem Dachaufbau versehen, fanden sich Berühmtheiten ein, Models, It-Girls und It-Boys, um sich von Nina in Menschen verwandeln zu lassen, in Blut und Lymphe, in Augenringe und übernächtigtes Lächeln, in eine Gestalt, die wir Lehmgeschöpfe verstanden. Sie gab ihnen die Anmut geschundenen Fleisches, die Sinnlichkeit körniger, hochaufgelöster Haut. Sie gab ihnen den Staub, um den herum sie ihre Schneeflocken auffächern konnten.

Die Fotos kannte ich auswendig; die abwartenden Blicke auf den Bettüberwürfen von Stundenhotels, die Hände zwischen den Schenkeln, die Brüste, in Ausschnitte von Turntrikots gequetscht. Wenn ich an Nina dachte, fiel mir bald nicht mehr ihr Gesicht ein, sondern die Gesichter auf ihren Fotos – die Strähnen über dunkel gerahmten Augen, die patzig gepressten Münder, die zerwühlten Frisuren, die überschminkten, überquellenden Lippen, dazwischen Zigaretten mit streichholzlangem Ascheschwanz. Mir fielen bleiche, blaugeäderte Bäuche ein, darauf die Worte SAD und HAPPY mit Lippenstiftschrift, umrankt von verwischten Unendlichkeitszeichen, und nackte, schutzlose Beine, dünn wie junge Birken, die aus grindfarbenem Teppichboden wuchsen. Ich erinnerte mich an daumenlutschende Schönheiten in Embryohaltung, an lässige Typen auf pockigen Betonstufen, mit krempenloser Melone, nacktem Oberkörper und einem Tischtennisschläger in den schwarzen Shorts.