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Elias Hirschl

1994 in Wien geboren, ist Autor, Slam-Poet und Musiker. Seit einigen Jahren vernachlässigt er erfolgreich sein Philosophiestudium, um mit seinen Texten europaweit Bühnen zu bespielen. 2011, 2012 und 2015 Finalist beim FM4-Protestsongcontest. 2014 Sieger der Österreichischen Poetry-Slam-Meisterschaften in Graz. 2015 Tagessieger des Wiener Wortspiele-Festivals. 2015 3. Platz bei den europäischen Poetry-Slam-Meisterschaften in Estland. Slamtexte und Kurzgeschichten erschienen im Augustin, &Radieschen, DUM, Lichtungen und diversen Anthologien. 2015 erschien sein ausgezeichneter Debütroman »Der einzige Dorfbewohner mit Telefonanschluss« bei Milena.

Elias Hirschl

MEINE
FREUNDE HABEN
ADOLF HITLER
GETÖTET UND
ALLES, WAS SIE
MIR MITGE-
BRACHT HABEN,
IST DIESES
LAUSIGE T-SHIRT

Roman

Milena Verlag

Wald, Hochwald, Bäumchen pflanzen.
Thomas Bernhard, 2023

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch

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Jörg Vogeltanz, www.vogeltanz.at – Umschlaggestaltung

CPI books GmbH, Leck – Druck und Bindung

© by Milena Verlag 2016

ALLE RECHTE VORBEHALTEN

A–1080 Wien, Wickenburggasse 21/1-2

ISBN 978-3-90295-022-2
eISBN 978-3-90295-088-8

Weitere Titel und unser Gesamtverzeichnis finden Sie auf www.milena-verlag.at

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1

Zunächst fing alles ganz harmlos mit einem von Johannes Gettings unzähligen Hassbriefen gegen die Universal Studios an. Er hatte sich eines Abends entgegen besseren Wissens aufgemacht, um sich »Clock Stop Man« anzusehen, einen Unterhaltungsfilm mit Jim Carrey in der Rolle des frustrierten Büroangestellten Irving Hazelby, der eines Tages herausfindet, dass er die Fähigkeit zum Zeitanhalten besitzt und 1. diese Fähigkeit sofort nutzt, um sich zuerst einmal so richtig an seinem despotischen Chef zu rächen, indem er ihn bei angehaltener Zeit entkleidet und mitten auf einer Straßenkreuzung zurücklässt, 2. einen riesigen Berg an Geld und materiellen Gütern hortet, 3. die Einsicht hat, dass ihn all das nicht glücklich macht und der Reichtum, so groß er auch sein mag, Mary, die Frau seiner Träume, nicht dazu bringen kann, sich in ihn zu verlieben, 4. in einem Anfall von gen Himmel schreienden Bereuens alles rückgängig machen will, woraufhin 5. alles rückgängig gemacht wird, Irving 6. wieder in seinem Bett erwacht, wo er einsieht, dass er einfach immer er selbst sein muss, nur etwas weniger schüchtern, 7. es endlich über sich bringt, Mary anzusprechen, die sich sodann auch ohne Irvings Zeitanhaltefähigkeiten unsterblich in ihn verliebt, und die beiden 8. glücklich bis in alle Ewigkeit sind. ENDE.

Es sei darauf hingewiesen, dass der einzige Aspekt des Films, an dem Getting sich störte, und der letztendlich auch den Grund für das ganze Schlamassel bildete, die physikalisch völlig fehlerhafte Darstellung des Zeitanhaltens war. Der grauhaarige Philosophieprofessor war, als Jim Carrey das erste Mal in Verwunderung ob der stehen gebliebenen Welt verdutzt den Kopf gedreht hatte, sofort empört von seinem bequemen Kinosessel aufgesprungen, heimgelaufen, hatte sich hastig einen starken Espresso zubereitet, eine Marlboro angesteckt und sich ans Schreiben des Hassbriefes/philosophischen Essays gemacht.

»[…] was ein weiteres bedeutendes Indiz für die Angemessenheit meiner Aufforderung ist, dass Universal sich ficken gehen soll.

Bevor ich zu meiner Kernthese komme, möchte ich Sie noch höflich darauf hinweisen, dass das, was Sie den ganzen Film hindurch als ›Zeitanhalten‹ bezeichnen, selbstverständlich kein Zeitanhalten ist, sondern ein schlichtes Anhalten aller Bewegungen, was ja im Grunde jedes Kind verstehen kann (jedes Kind, das nicht bei Universal angestellt ist, wohlgemerkt) […], aber das nur am Rande.

Kommen wir zu meiner Kernthese: Ihr Film ist unlogisch und beschissen.

Ich werde nun versuchen, diese These anhand einer einzigen Szene Ihres Films zu beweisen, nämlich jener, in welcher Jim Carrey das erste Mal ob seiner Verwunderung des plötzlichen Stillstandes der Welt verdutzt den Kopf dreht. Stellen wir uns die Frage, mit welchen Konsequenzen wir rechnen müssten, wenn Jim Carrey in dieser stillstehenden Welt verdutzt den Kopf drehen würde. Zunächst müssen wir klären, mit welcher Form einer ›stillstehenden Welt‹ wir es hier überhaupt zu tun haben.

Es könnte 1. eine Welt sein, in der alles stillsteht und sich auch nicht bewegen ließe, oder 2. eine Welt, in der alles stillsteht, sich jedoch sehr wohl bewegen ließe.

Im ersten Fall würde Jim Carreys Körper bereits bei der kleinsten Bewegung an stillstehende Moleküle stoßen (etwa die seiner eigenen Kleidung, oder auch schlicht die ihn umgebenden Luftmoleküle). Sofern diese sich nicht bewegen ließen, würde dies Jim Carreys eigene Bewegung unterbinden und er wäre so also gar nicht erst in der Lage dazu, ob der stillstehenden Welt verdutzt den Kopf zu drehen, weil die stillstehende Welt ihn an ebendieser Tätigkeit hindern würde, womit Ihr Film bewiesenermaßen unlogisch und beschissen ist.

Im zweiten Fall jedoch, in welchem Jim Carrey die ihn umgebenden Teilchen bewegen könnte, hätte dies zur Folge, dass die von Jim Carrey bewegten Teilchen durch ihre Ortsveränderung wiederum andere Teilchen bewegten und diese wiederum andere usw., bis daraus schließlich wieder eine normale Bewegungsdynamik entstünde.

Wenn Jim Carreys Kopf sich nach rechts bewegte, würde links neben seinem Kopf ein Vakuum entstehen, wenn die entsprechende Stelle nicht augenblicklich von nachströmender Luft gefüllt würde, wodurch Luftbewegung entstünde und dadurch allmählich Wind und nach und nach wieder richtiges Wetter.

Es würde sich also lediglich um eine Welt voller kurzzeitig stillstehender Objekte und Lebewesen handeln, die jedoch allesamt beweglich wären, somit den Naturgesetzen folgten und sich mit der Zeit durch Wind, Wasser und Erosion langsam zersetzten. Theoretisch könnte nach einigen Millionen Jahren aus den zersetzten Lebewesen durch chemische Prozesse sogar wieder einfaches Leben entstehen, was erneut zeigt, dass Ihre ursprüngliche Idee nichts mehr mit Zeitanhalten zu tun hat, sondern schlicht und einfach mit dem durch Jim Carrey verursachten Auslöschen allen momentanen Lebens auf der Erde, was zwar per se nichts Schlechtes ist, aber eben nicht dem – auf den Plakaten so großkotzig angekündigten – Element des Zeitanhaltens entspricht, welches in Ihrem Film, wie gezeigt, gar nicht vorkommt, womit auch im zweiten Fall bewiesen wäre, dass Ihr Film unlogisch und beschissen ist.

[…]

Das Hauptproblem an Ihrem Film ist also, dass es entweder eine bewegte Welt geben kann, oder eine unbewegte. Aber es kann keine – wie in Ihrem Film propagierte – unbewegte Welt mit Jim Carrey als einzigem unbewegten Beweger darin geben, da dies, wie soeben gezeigt, zu groben Widersprüchen führt.«1

Wie so oft, artete auch dieses Mal einer von Gettings Hasstexten in eine seriöse und wissenschaftlich relevante Arbeit aus und wurde für den Wittgenstein-Preis nominiert. Die Universal Studios beauftragten unterdessen unverzüglich ihre besten Hasstext-Autoren mit dem Verfassen eines Konter-Briefs, in dem Getting äußerst ausführlich, ästhetisch und mitunter auch in ziemlich nicen Doubletimes gedisst wurde.

Im Grunde war das alles nichts Neues. Der alte Professor mit den langen grauen Haaren und den Doktortiteln in Philosophie, Geschichte, Psychologie, Theaterwissenschaften und Komparatistik hatte eine ungewöhnliche Neigung dafür, sich Filme anzusehen, von denen er unter Garantie wusste, dass er sie aufs Tiefste hassen würde. Dies tat er, weil es nichts auf dieser Welt gab, das Johannes Getting derart zum Schreiben motivieren konnte wie sinnloser Hass, den er durch Training in die richtigen Bahnen zu lenken gelernt hatte. Gettings Bewusstsein arbeitete wie ein leistungsstarker Transistor, der Hass beinahe verlustfrei in Kreativität umwandeln konnte. Bei der Lektüre von Gettings Texten wurde einem dieser Zusammenhang zwischen Produktivität und sinnlosem Hass gegen Dinge oder Menschen auch sofort bewusst, da seine stichhaltigen Argumentationen und Gedankengänge bisweilen von völlig unpassenden rassistischen, sexistischen oder jimcarreyphoben Ausrufen unterbrochen wurden.

Manche seiner Studenten an der Universität Wien meinten, Getting habe sich so sehr auf Hass als motivierende Kraft versteift, dass er diesen gar nicht mehr von seiner Arbeit trennen konnte. Andere wiederum vertraten die Ansicht, er meine das alles ironisch und mache sich einen riesigen Spaß aus den ganzen linken Philosophiestudenten, die sich bei jeder von Gettings Pflichtlektüren am liebsten die Haare ausgerissen hätten, die Texte für eine positive Note dennoch lasen und als Draufgabe auch noch für den Reader mit den Kopien bezahlen mussten.

Als die Universal Studios einige Monate später eine Fortsetzung mit dem Titel »Clock Turn Man« veröffentlichten (welche im Grunde haargenau die gleiche Handlung wie der erste Film hatte, nur mit Zeitreisen statt Zeitanhalten und Nicolas Cage statt Jim Carrey), flippte Getting völlig aus und es hätte beinahe einen Bombenanschlag auf das Universal-Hauptbüro gegeben. Stattdessen entstand das erste umfassende und wissenschaftlich fundierte Werk über Zeitreisen, was wieder einmal zeigt, wie konstruktiv gut kanalisierter Hass sein kann.

»Eine Zeitreise ist generell logisch möglich, da will ich Ihrem Film gar nicht widersprechen. Eine, wie von Ihnen geschilderte, Reise in die Vergangenheit mit einem thomasbrezinaesken Zeitfahrrad, das Nicolas Cage einem Reggae-Musiker-Schrägstrich-Voodoo-Magier auf dem Flohmarkt abgekauft hat, entbehrt jedoch jeden Menschenverstands!

Eine theoretische Möglichkeit, wie sich diese Reise in die Vergangenheit tatsächlich bewerkstelligen ließe, wäre es, eine Art Impulsumkehr herbeizuführen, sodass sämtliche energetischen Impulse eines Bezugssystems ihre Richtung ändern. Man müsste es hierbei schaffen, in die kleinsten Einzelteile der Welt vorzudringen; die fragilsten, nichtigsten Impulse ausfindig zu machen, welche die Ursache für die fundamentalsten Bewegungen dieser Welt sind, und diese dann umzukehren, sodass der Energiefluss rückwärts flösse, die Elementarteilchen sich umpolten und ihre Aufgaben tauschten. Sobald man dies vollbracht hätte, liefe alles von selbst. Der umgekehrte Impuls spränge auf alle restlichen Impulse über, so als würde man in einem riesigen Geflecht von sich drehenden, ineinander verkeilten Zahnrädern das kleinste Rad festhalten und in die entgegengesetzte Richtung drehen. Anschließend würde man warten, bis die Welt zu jenem gewünschten Zeitpunkt, an den man gelangen wollte, rückwärts gelaufen wäre, und anschließend erneut eine Impulsumkehr herbeiführen, damit alles wieder in richtiger Reihenfolge abliefe. Das Problem dabei wäre, dass man dazu wirklich alle Impulse der Welt umkehren müsste, also auch sich selbst, was dazu führte, dass ebenfalls alle psychischen Eigenschaften, die man besäße, dahingehend geändert würden, dass man die Zeitreise gar nicht bemerkte, sondern glaubte, alles sei normal – allerdings in den Zuständen, wie sie vor zum Beispiel zehn Jahren waren. Man verlöre durch diese Reise also seine Rolle als unabhängiger Beobachter, weil man sich selbst nicht von dem System ausgeschlossen hätte. Deshalb ist es völlig unlogisch, dass Nicolas Cage mit seinem Zeitfahrrad ins Jahr 1969 zum Woodstock-Festival fährt, da er selbst ebenfalls von den Effekten der Zeitreise betroffen sein müsste. Nicolas Cage hat den Fluch, mit dem er von diesem Bob ›Voodoo‹ Marley belegt wird, zu Recht verdient, wenn Sie mich fragen. Aber nicht für seine Unfähigkeit, die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen, wie Ihr Film uns das einredet, sondern für seine Respektlosigkeit gegenüber den Naturgesetzen! Zeitreisen, an denen man als unabhängiger Beobachter teilnähme, wie Sie und Nicolas Cage das gerne hätten, wären nur dann möglich, wenn man Nicolas Cage vom allgemeinen weltlichen Raum-Zeit-Gefüge ausnähme und in einem abgeschlossenen System – ohne jeglichen (!) Informations- oder Energieaustausch mit dem Außensystem – außerhalb der Welt unterbrächte, was schön wäre, weil man ihn dann weder sehen noch hören müsste. Von diesem unzeitlichen Ort außerhalb der Welt (einer Art Pausenraum) würde Nicolas Cage sodann eine Impulsumkehr der Welt durchführen und die Welt zurückspulen, wenn Sie so wollen. Nach einer erneuten Impulsumkehr

(damit die Welt wieder richtig herum liefe) könnte Nicolas Cage dann im Jahr 1969 wieder in die Welt eingeschleust werden. SO würde das funktionieren, und nicht, indem Nicolas Cage ein paar Mal an seiner ›Zauberklingel‹ läutet, woraufhin die ›Wolken in Zeitraffer rückwärts fliegen‹.

[…]

Ein weiteres Problem ist auch die Tatsache, dass, wenn Nicolas Cage zum Beispiel (wie in Ihrem furchtbaren Film geschildert) in die Vergangenheit ins Jahr 1969 reiste, um sich das Woodstock-Festival anzusehen und dort aus Versehen seinen eigenen Großvater als kleines Kind umbrächte (was ja vorkommen kann), Nicolas Cage selbst nie geboren würde und somit nie in die Vergangenheit reisen könnte, etc.

Was mich an diesem Teil des Filmplots am allermeisten aufregt, ist, dass Nicolas Cage nach der unabsichtlichen Tötung seines Großvaters nicht einfach verschwindet (was zwar auch logisch falsch, aber zumindest nachvollziehbar wäre), sondern sich langsam auflöst, sodass ihm noch genug Zeit bleibt, sich selbst daran zu hindern, in die Vergangenheit zu reisen und einzusehen, dass er einfach immer er sein muss, nur etwas weniger gestresst. Nur um Ihnen das noch einmal zu verdeutlichen: Nicolas Cage löst sich langsam auf! In welchem Universum und in welchem logischen System macht das auch nur ansatzweise Sinn? Für diesen Blödsinn existiert weder eine Rechtfertigung noch eine Entschuldigung, die mich von meinem Vorhaben abbringen könnte, den Drehbuchautor dieses Films auf seine eigenen Kosten steinigen zu lassen. [Es folgen 10 Seiten äußerst detailreich geschilderter Morddrohungen.]

Anyway! Worauf ich hinauswollte, war: Wieso verzichtet Nicolas Cage nicht auf diese beschwerliche Reise in die Vergangenheit und reist stattdessen in die Zukunft ins Jahr 1969?

Ich weiß, das klingt für Ihre – mit Ihren armselig kleinen Gehirnen verbundenen – Ohren zunächst völlig unsinnig, aber lassen Sie mich etwas weiter ausholen, um diesen Vorschlag genauer zu erläutern, sodass vielleicht sogar Sie ihn verstehen (obwohl ich das bezweifle): Es verhält sich nämlich so, dass die Welt laut neuesten Erkenntnissen der Physik zyklisch aufgebaut ist. Sie explodiert aus einem Urknall und zieht sich durch die Gravitationskräfte in absehbarer Zeit wieder zu einem einzigen Punkt von unendlich kleiner Ausdehnung zusammen, ehe sie erneut in einem Urknall explodiert. Da dieser Punkt zu Beginn des Universums eine unendlich kleine Ausdehnung hat, ist in ihm quasi kein Platz für Varianz vorhanden. Will sagen: Dadurch, dass von den Naturgesetzen her beim zweiten Urknall die gleichen Ausgangsbedingungen wie beim ersten Urknall herrschen und die Materie beim zweiten Urknall sich aufgrund der unendlich kleinen Ausdehnung ebenfalls kein Stück von der vorherigen Materie unterscheidet, explodiert die Welt ein zweites Mal auf die exakt gleiche Weise wie beim ersten Urknall und dehnt sich auch auf die exakt gleiche Weise aus.

Explizit gesagt: Die Welt wiederholt sich mit jedem Urknall auf die exakt gleiche Weise. Eine Welt folgt auf die nächste, und alle laufen auf exakt dieselbe Weise ab. Das mag für Ihre stutzigen Köpfe überraschend und deprimierend sein, ist aber dennoch wahr.

Nicolas Cage könnte also, um das Großvater-Paradoxon zu vermeiden, anstatt zum Woodstock-Festival 1969 in der Vergangenheit zu reisen, einfach so lange in die Zukunft reisen, bis sich die Welt einmal vollständig ausgedehnt, wieder zusammengefaltet und erneut ausgedehnt hätte – und das Woodstock-Festival schließlich erneut im Jahr 1969 des nächsten Weltenzyklus stattfände. Auf diese Weise könnte Nicolas Cage nicht aus Versehen seine eigene Existenz prophylaktisch verhindern (schade, eigentlich) und er könnte sogar seinen eigenen Großvater als kleinen Jungen töten, ohne dass dies mehr Konsequenzen hätte als eine lebenslängliche Haftstrafe im nächsten Weltenzyklus, was wiederum gar nicht schade wäre.

Dieses zeitliche System von Welten nenne ich daher von nun an das Zyklen-System, mittels dessen sich Zeitreisen widerspruchsfrei durchführen ließen. Unseren Zyklus, in welchem wir uns befinden, nenne ich daher den Originalzyklus oder Zyklus 0 (Z0)2

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Gettings Arbeit an seiner Theorie des Zeitreisens immer wieder von Zeitreisenden unterbrochen wurde, die Getting umzubringen versuchten, um die Erfindung von Zeitmaschinen zu verhindern, ihrerseits jedoch dabei von anderen Zeitreisenden unterbrochen wurden, die die Zeitreisenden umzubringen versuchten, um Getting zu retten und somit die Verhinderung der Erfindung von Zeitmaschinen zu verhindern.

Diese Vorfälle bestätigten Getting nur in seiner Arbeit und er fuhr daher mit dem Schreiben fort, sobald er die Leichen beseitigt hatte.

Hin und wieder schaffte es sogar jemand, Getting umzubringen, doch damit verhinderte derjenige die Erfindung der Zeitmaschine und somit auch die Möglichkeit, in der Zeit zurückzureisen, um Getting umzubringen, wodurch der Mord an Getting verhindert wurde und Getting ohne Probleme weiter an der Erfindung der Zeitmaschine arbeiten konnte, da es keinen Zwischenfall gegeben hatte.

»[…] wodurch sich nun, kurz zusammengefasst, sagen lässt, dass Zeitreisen mittels Impulskontrolle, Pausenraum und Zyklen-System sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit theoretisch möglich sind. Alles, was man zur praktischen Umsetzung meiner Theorien noch bräuchte, wäre eine vollständige mathematische Fundierung meiner philosophischen Arbeit. Um das zu vollbringen, müsste man sehr weit in die Mathematik vordringen, da vermutlich die physikalische Weltformel vonnöten wäre, um die zeitlichen Probleme in den Griff zu bekommen. Dies ist jedoch eine Aufgabe, die selbst meine intellektuellen Fertigkeiten bei Weitem übersteigt. Man bräuchte wirklich gute Mathematiker, um dieses Ziel zu erreichen. Ja, vermutlich bräuchte man die besten Mathematiker der Welt.«3

2

»WILLKOMMEN ZURÜCK beim Finale von Red Bull’s – Das Ende der Mathematik, der größten Mathematik-Fernsehshow diesseits des Asteroidengürtels, in der die besten Mathematiker der Welt um den heißbegehrten Titel des ›Letzten Mathematikers‹ kämpfen. Was für eine Stimmung! Was für ein Ereignis! Die Public-Viewing-Areale auf der Fanmeile sind vollkommen überlastet. Auf sämtlichen Zufahrtsstraßen stauen sich die ankommenden Fans. Die ganze Innenstadt ist mit Mathematikbegeisterten überfüllt. Aus allen Teilen der Welt sind die Menschen angereist, um diesem bewegenden Moment, diesem Fest der intelligiblen Entitäten beizuwohnen, und etwa 100 000 Zuschauer haben sich hier versammelt, in der aus allen Nähten platzenden Red-Bull-Pythagoras-Arena im historischen Herzen Athens.

Hier hat die moderne Mathematik ihren Ursprung, und hier soll sie auch ihr Ende finden, in einem von Red Bull finanzierten Showdown der Extraklasse, in dem vier Superhirne, die es durch die 29 Vorrunden geschafft haben, um den Titel kämpfen. In spannungsreichen Stunden werden wir live die Vollendung der coolsten aller Wissenschaften erleben – danach wird sie wohl nicht mehr vonnöten sein, denn wenn erst einmal alle Teilbereiche der Mathematik kommensurabel, also ineinander übersetzbar, sind und somit die endgültige Weltformel gefunden ist, steht einer vollständig computergestützten Wissenschaft nichts mehr im Wege und sämtliche menschlichen Forschungsbemühungen werden obsolet sein. Das ist auch der Grund, warum dermaßen strenge Sicherheitsvorkehrungen getroffen wurden, denn die Veranstalter und auch die Sportler haben bereits tausende terroristische Drohungen per Anruf, Post, Mail und WhatsApp von wütenden Physikern, Chemikern, Mathematikern und Psychologen erhalten (wobei die Psychologen mehrfach betonten, wie ›wissenschaftlich‹ ihre Terrordrohungen seien). Doch das macht gerade die Spannung hier aus: diese Ungewissheit, ob die Mathematik heute tatsächlich ihre Vollendung finden wird, oder ob wir alle in einer riesigen Explosion grausam verbrennen …

Und da kommen sie schon! Die vier letzten Mathematiker. Die Fans jubeln ihnen zu. Vereinzelte ›Integrier-mich!‹-Rufe sind zu hören. In der ersten Reihe sind T-Shirts mit der Aufschrift ›Das größte Glied der Reihe ‹ auszumachen, obwohl die von offizieller Seite eigentlich verboten wurden.

Als Erster erscheint der deutsche Mathematiker Karl Mauß, der einzige Mensch auf diesem Planeten, der die ›Principia Mathematica‹ tatsächlich gelesen hat!4Er trägt ein kreidebeschmiertes grau-braunes Jackett über einem ausgewaschenen weiß-rot-karierten Hemd auf seinem Buckel, dazu eine kurze Lederhose und die klassische Sandalen-Tennissocken-Kombination. Seine wenigen fettglänzenden Kopfhaare hat er links gescheitelt. Er rückt noch schnell seine Hornbrille zurecht und winkt etwas unschlüssig in die Runde. Die Mädchen fallen reihenweise in Ohnmacht. Er wirft ein kurzes künstliches Lächeln ins Publikum und setzt sich dann an seinen Schreibtisch.

Mit unsicheren Schritten und dem für sie typischen nervösen Kopfzucken betritt nun auch die Österreicherin Karoline Hirsch die Bühne. Sie trägt ihre Haare zu einem Knäuel verfilzt, dazu eine weite graue Bluse mit Kaffeeflecken, einen dazupassenden schienbeinlangen Rock der Marke H&M in Khaki über drei zerfetzten braunen Strumpfhosen und ebenfalls die bewährte Sandalen-Tennissocken-Kombination, sehr gewagt in den Farben Rosa und Gelb. Sie ist ein bildhübscher Anblick und ein großartiges Vorbild für all die wissenschaftsbegeisterten jungen Frauen im Publikum, deren Kreischen nicht enden wollend ist.

Der kurze Imagefilm, der während des Erscheinens jedes Kandidaten mit HD-Projektoren auf die riesigen Leinwände geworfen wird, zeigt Hirsch jetzt in ihrem normalen Arbeitsumfeld. Hier sieht man sie beim Bergsteigen das Hadwiger-Nelson-Problem lösen, und hier sieht man sie, wie sie mit einem Glas Rotwein in der Hand vor dem Kamin sitzend die Numerische Analysis mit dem auf Turing-Automaten beruhenden Berechnungsmodell der theoretischen Informatik vereinigt.

Hirsch schaut noch einmal kurz mürrisch in die Runde und setzt sich dann an ihren Tisch.

Nun stolpert der erste Mann aus Übersee auf die Bühne: Der geistig leicht verwirrte US-Amerikaner John Mash. Er trägt nichts. Dazu die klassische Sandalen-Tennissocken-Kombination in Grau. Einige Mash-Fans im Publikum haben sich übrigens extra für heute ebenfalls in diesem Stil gekleidet. Ein Mitglied des Regieteams bringt ihm schließlich ein Handtuch. John Mash trägt jetzt ein kleines, gelbes Frottee-Handtuch von Karl Lagerfeld (das dieser freundlicherweise kurz entbehren konnte).

In diesem Moment betritt der letzte Teilnehmer die Bühne! Es ist niemand geringerer als der Däne Sören Schrødingersen. Er hat ordentlich gekämmtes, kurz geschnittenes Haar und trägt einen maßgeschneiderten Anzug der Marke Hugo Boss, dazu eine Krawatte in Aquamarin und lederne, weinrote Herrenschuhe von Manolo Blahnik.

Das Publikum buht ihn aus. Vereinzelte Beleidigungen und Morddrohungen sind zu hören. Das hätte er sich in diesem Aufzug, ehrlich gesagt, auch denken können. Beschämt setzt er sich zu den anderen Kandidaten.

Wie Sie alle sehen können, meine Damen und Herren, kommt jetzt der altehrwürdige Dr. Hibblert auf die Bühne, der uns heute den Schiedsrichter macht. Er begrüßt die anwesenden Prominenten im Publikum, bedankt sich ausgiebig bei den Sponsoren und verkündet noch einmal das ohnehin allen gut bekannte Regelwerk.

Jedem Kandidaten steht unbegrenzt Papier zur Verfügung. Durch einen speziellen Mechanismus in der Mitte des Tisches wird das nächste Blatt nachgeliefert, sobald das darüberliegende vom Kandidaten entweder zerknüllt oder auf den Lösungsstapel rechts von ihm gelegt wurde. Der Lösungsstapel wiederum wird in regelmäßigen, kurzen Abständen mit einem speziellen Röntgengerät durchleuchtet und dabei von einer Software automatisch auf logische Fehler untersucht. Wird ein solcher Fehler entdeckt, geht eine Alarmsirene los und der Kandidat wird mit einer von Microsoft entwickelten Falltür in ein Becken voll grünen Schleims fallen gelassen.

Des Weiteren, wie Dr. Hibblert gerade anmerkt, darf während des ganzen Wettbewerbs keinerlei Kommunikation zwischen den Kandidaten und sonstigen Personen stattfinden. Daher befinden sich die vier Schreibtische der Mathematiker auch in getrennten schall- und blickdichten Boxen. Um sehen zu können, was darin vor sich geht, zeichnen unzählige Boxen-Kameras die Arbeitsvorgänge kontinuierlich auf, die simultan auf eine viergeteilte Leinwand geworfen werden. Wir haben die Vogelperspektive auf das Blatt Papier, wir haben Aufnahmen von den Gesichtern der Kandidaten, Bilder von ihren zitternden Händen, Live-Übertragungen der Vitalfunktionen: von Herzschlagfrequenz, Blutdruck, Transpirationsvolumen bis zum pH-Wert der Magensäure. Wir haben sogar Nahaufnahmen der nervös zuckenden, dafür aber umso attraktiveren Füße der Kandidaten.

Dr. Hibblert erklärt den genauen Ablauf des Rennens. Die Kandidaten müssen zunächst gleichzeitig damit anfangen, an der vollständigen Kommensurabilisierung der grundlegenden Struktur der Analysis mit der der Topologie zu arbeiten, ehe sie zur Königsdisziplin voranschreiten: dem Zusammenführen aller Teilgebiete der Mathematik durch das Lösen sämtlicher noch nicht gelöster mathematischer Probleme, das schließlich auf das Herunterbrechen der gesamten mathematischen Informationsmenge auf einen einzigen Nenner hinausläuft: die M-Theorie der Mathematik – die große Generalformel, die alle Bereiche dieser Wissenschaft in einer einzigen simplen Botschaft vereint: die Weltformel.

Wir werden an diesem denkwürdigen Abend einiges zu sehen bekommen, die Millennium-Probleme, das Hilbert-Programm und alle weiteren Ihrer ungelösten Lieblingsprobleme!

Dr. Hibblert bedankt sich noch ein letztes Mal bei allen Mitwirkenden und schickt sich nun an, die Startschusspistole aus seiner Tasche zu holen, um den langersehnten Beginn des Wettkampfs einzuleiten.

Die Spannung im Raum ist kaum zu ertragen. Die Kandidaten räuspern sich ein letztes Mal. Sie strecken ihre Finger durch, massieren ihre Schläfen. Das Papier liegt bereit. Die Stifte liegen wartend in ihren Tischrillen uuuuuund …«

* Peng! *

5 selbst entworfene Methode vertraut, die er die Mauß’sche Lockenkurve nennt, mittels der er versucht, bei den mathematischen Problemen die Kurve zu kriegen und gleichzeitig seine Haare in Form zu bringen. Begeisterter Applaus im Publikum und der erste Schweißausbruch beim deutschen Trainer.