cover

Emeran Mayer

DAS ZWEITE GEHIRN

Emeran Mayer

DAS ZWEITE GEHIRN

Wie der Darm unsere Stimmung, unsere Entscheidungen und unser Wohlbefinden beeinflusst

images

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

info@rivaverlag.de

3. Auflage 2021

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

© 2016 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Copyright der Originalausgabe: © 2016 by Dr. Emeran Mayer

Die englische Originalausgabe erschien 2016 bei HarperWave unter dem Titel The Mind-Gut Connection. How the Hidden Conversation Within Our Bodies Impacts Our Mood, Our Choices, and Our Overall Health.

Published by an arrangement with HarperWave, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Martin Rometsch

Lektorat: Matthias Michel

Umschlaggestaltung: Milan Bozic

Umschlagabbildung: © Barmaleeva/Getty Images

Bilder im Innenteil: © Barmaleeva/Getty Images

Satz: inpunkt[w]o, Haiger

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print: 978-3-7423-1163-4

ISBN E-Book (PDF): 978-3-95971-378-8

ISBN E-Book (EPUB, Mobi): 978-3-95971-379-5

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Für Minou und Dylan,
die mich beharrlich ermutigten,
auf meine Bauchgefühle zu hören

Für meinen Mentor John H. Walsh,
der mein Interesse an der Kommunikation
zwischen dem Darm und dem Gehirn weckte

Inhalt

Teil 1

Unser Körper, der intelligente Supercomputer

Kapitel 1 Die wechselseitige Beziehung zwischen Körper und Geist

Kapitel 2 Wie das Gehirn mit dem Darm kommuniziert

Kapitel 3 Wie der Darm mit dem Gehirn spricht

Kapitel 4 Die Sprache der Mikroorganismen – eine Schlüsselkomponente des Darm-Gehirn-Dialogs

Teil 2

Intuition und Bauchgefühle

Kapitel 5 Ungesunde Erinnerungen – die Wirkung frühkindlicher Erfahrungen auf den Dialog zwischen Darm und Gehirn

Kapitel 6 Emotionen in neuem Licht

Kapitel 7 Neue Erkenntnisse über intuitive Entscheidungsfindung

Teil 3

Optimale Gesundheit für das Gehirn und den Darm

Kapitel 8 Die Bedeutung des Essens – Lektionen von Jägern und Sammlern

Kapitel 9 Die moderne Ernährung – was die Evolution nicht vorhergesehen hat

Kapitel 10 Der einfache Weg zu Wohlbefinden und optimaler Gesundheit

Dank

Über den Autor

Literatur

Teil 1

UNSER KÖRPER, DER INTELLIGENTE SUPERCOMPUTER

KAPITEL 1

Die wechselseitige Beziehung zwischen Körper und Geist

Als ich 1970 mit meinem Studium begann, betrachtete die Medizin den menschlichen Körper als komplizierte Maschine mit einer endlichen Zahl von Einzelteilen. Durchschnittlich hielt er etwa 75 Jahre, vorausgesetzt, man kümmerte sich um ihn und verabreichte ihm den richtigen Treibstoff. Wie ein hochwertiges Auto funktionierte er gut, sofern ihm keine größeren Unfälle zustießen und keine Teile irreparabel beschädigt wurden. Mit ein paar Routineuntersuchungen dann und wann ließ sich plötzlichen Schicksalsschlägen vorbeugen. Internisten und Chirurgen verfügten über hochwirksame Instrumente zur Lösung akuter Probleme, zum Beispiel von Infektionen, Unfallverletzungen und Herzerkrankungen.

Doch seit etwa 40 Jahren scheint mit unserer Gesundheit etwas grundsätzlich nicht mehr zu stimmen, und das alte Leitbild liefert für viele unserer Probleme offenbar keine Erklärung oder Lösung mehr. Was mit uns geschieht, lässt sich nicht länger als simple Fehlfunktion eines einzelnen Organs oder Gens erklären. Stattdessen beginnen wir einzusehen, dass die komplexen Regulationsmechanismen, die dem Körper und dem Gehirn helfen, sich der rasch wandelnden Umwelt anzupassen, ihrerseits unter dem Einfluss unserer modernen Lebensweise stehen. Diese Mechanismen arbeiten nicht unabhängig voneinander, sondern als Teile eines Ganzen. Sie steuern die Nahrungsaufnahme, den Stoffwechsel und das Körpergewicht, das Immunsystem sowie die Entwicklung und Gesundheit des Gehirns. Allmählich erkennen wir, dass der Darm, die Mikroorganismen (Mikroben), die in ihm leben – die Darmmikrobiota (oft fälschlicherweise »Darmflora« genannt) –, und die Signalmoleküle, die diese mithilfe ihrer zahlreichen Gene – des Mikrobioms – erzeugen, ein wichtiger Bestandteil dieser Regulationssysteme sind.

In diesem Buch werfe ich einen ganz neuen Blick auf die Kommunikation zwischen dem Gehirn, dem Darm und den Billionen von Mikroorganismen im Darm. Dabei geht es mir vor allem um die Bedeutung dieser Beziehungen für die Gesundheit des Gehirns und des Darms. Ich werde darlegen, welche negativen Folgen für die Gesundheit der beiden Organe eine Störung dieser Zwiesprache hat, und zeigen, wie wir optimale Gesundheit erlangen können, indem wir die Kommunikation zwischen dem Gehirn und dem Darm wieder in Gang bringen und optimieren.

Schon während meines Medizinstudiums stellte mich die vorherrschende traditionelle Auffassung nicht ganz zufrieden. Zwar beschäftigte ich mich ausführlich mit allen Organsystemen und Krankheitsursachen, doch zu meiner Überraschung war von dem Gehirn und seinem möglichen Einfluss auf verbreitete Erkrankungen wie Magengeschwüre, Bluthochdruck und chronische Schmerzen nur selten die Rede. Zudem hatte ich bei Krankenhausvisiten oft Patienten gesehen, für deren Symptome selbst die gründlichsten diagnostischen Untersuchungen keine Erklärung lieferten. Meist handelte es sich um chronische Schmerzen in unterschiedlichen Körperregionen: im Bauch, im Beckenbereich und im Brustkorb. In meinem dritten Studienjahr, als es Zeit war, meine Doktorarbeit in Angriff zu nehmen, bewegte mich meine Suche nach einer Antwort dazu, die Wechselwirkungen zwischen dem Gehirn und dem Körper zu erforschen, denn ich hoffte, dadurch viele alltägliche Erkrankungen besser zu verstehen. Im Laufe einiger Monate sprach ich darüber mit mehreren Professoren verschiedener Fachrichtungen. »Herr Mayer«, entgegnete Professor Karl, der Ordinarius für innere Medizin an meiner Universität, »wir alle wissen, dass die Psyche bei chronischen Erkrankungen eine wichtige Rolle spielt. Aber es gibt heute keine wissenschaftliche Methode, um dieses klinische Phänomen zu untersuchen, und Sie können ganz gewiss keine ganze Dissertation darüber schreiben.«

Das Krankheitsmodell des Professors und des gesamten medizinischen Systems war äußerst erfolgreich bei bestimmten Krankheitsbildern – die akut auftreten oder nicht lange dauern oder beides –, etwa bei Infekten, Herzanfällen oder chirurgischen Notfällen wie Appendizitis. Diese Erfolge hatten die moderne Medizin selbstsicher gemacht. Es gab kaum noch eine Infektionskrankheit, die man mit immer stärkeren Antibiotika nicht behandeln konnte. Mit neuen Operationstechniken ließ sich vielen Erkrankungen vorbeugend oder heilend entgegentreten. Unheilbar geschädigte Körper teile konnte man amputieren, ja mit Prothesen ersetzen. Wir müssten nur die vielen winzigen Details ergründen, aus denen die Einzelteile dieser Maschine bestanden. Das Gesundheitssystem verließ sich immer mehr auf neu entwickelte Techniken und nährte den verbreiteten Optimismus, dass selbst die schwersten chronischen Krankheiten, einschließlich der Geißel Krebs, eines Tages heilbar sein würden.

Als US-Präsident Richard Nixon 1971 den National Cancer Act, das Bundesgesetz zur Krebsbekämpfung, unterzeichnete, wurde die westliche Medizin um eine Dimension und eine militärische Metapher reicher. Krebs wurde zum Staatsfeind erklärt – und der menschliche Körper war das Schlachtfeld, auf dem Wissenschaftler und Ärzte versuchten, den Krebs zu besiegen. Sie nutzten giftige Chemikalien, tödliche Strahlung und massive chirurgische Eingriffe, um die Krebszellen immer heftiger zu bekämpfen. Zu einer ähnlichen Strategie griff die Medizin bereits beim Kampf gegen Infektionskrankheiten. Mit Breitbandantibiotika, die viele Bakterienarten abtöten oder schwächen, vernichtete sie Krankheitserreger. In beiden Fällen wurden Kollateralschäden zum akzeptablen Risiko, sofern letztlich der Sieg errungen werden konnte.

Jahrzehntelang prägte das mechanische, »militärische« Krankheitsmodell die medizinische Forschung und Praxis. Wenn wir den beschädigten Maschinenteil reparieren können, dachten wir, sei das Problem gelöst, und es sei nicht nötig, die eigentliche Ursache des Problems zu kennen. Diese Auffassung führte zu Therapien gegen Bluthochdruck, die Betablocker und Calciumantagonisten verwendeten, um anomale Signale von dem Gehirn an das Herz und an die Blutgefäße zu blockieren. Magengeschwüre und Sodbrennen wurden mit Protonenpumpenhemmern behandelt, die den Magen daran hinderten, zu viel Salzsäure zu produzieren. Die Fehlfunktion des Gehirns, die primäre Ursache all dieser Probleme, spielte für die Mediziner und Wissenschaftler keine große Rolle. Manchmal scheiterte die Therapie zunächst; dann waren noch intensivere Maßnahmen die letzte Rettung. Wenn die Protonenpumpenhemmer das Magengeschwür nicht beseitigten, konnte man immer noch den ganzen Vagusnerv durchtrennen, das wichtige Bündel aus Nervenfasern, das Gehirn und Darm miteinander verbindet.

Zweifellos waren einige dieser Methoden erstaunlich erfolgreich, und jahrelang bestand für die Medizin und die Pharmaindustrie kein Grund für eine Änderung ihres Ansatzes. Die Patienten wurden auch nicht sonderlich dazu angehalten, Erkrankungen vorzubeugen. Und vor allem schien es nicht notwendig zu sein, die wichtige Rolle des Gehirns und der Signale, die es unter Stress und bei negativen Gemütszuständen aussendet, zu berücksichtigen. Die früheren Therapien bei Bluthochdruck, Herzerkrankungen und Magengeschwüren wurden allmählich durch viel wirksamere ersetzt, die Leben retteten, Schmerzen linderten und der Pharmaindustrie enorme Profite bescherten.

Heute sind die alten mechanistischen Metaphern jedoch im Rückgang begriffen. Die Maschinen, auf denen vor 40 Jahren die traditionellen Krankheitsmodelle basierten – Autos, Schiffe und Flugzeuge –, besaßen keine der hochentwickelten Computer, die in den heutigen Maschinen eine zentrale Rolle spielen. Selbst die Apollo-Raumschiffe der Mondmissionen hatten nur rudimentäre Rechner an Bord, deren Kapazität nicht annähernd an die der heutigen iPhones herankommt. Es überrascht daher nicht, dass die damaligen mechanistischen Krankheitsmodelle Aspekte wie Rechenleistung oder Intelligenz nicht berücksichtigten – und deshalb auch nicht das Gehirn. Zusammen mit dem Technologiewandel haben sich auch die Modelle geändert, mit denen wir den menschlichen Körper beschreiben. Die Rechenleistung ist exponentiell gestiegen, Autos sind zu fahrenden Computern geworden, die ihre Bestandteile fühlen und regulieren, um eine einwandfreie Funktion zu gewährleisten, und bald werden sie ohne menschliches Zutun fahren. In der Zwischenzeit ist die alte Faszination für Mechanik und Maschinen einer neuen Begeisterung für Datengewinnung und -verarbeitung gewichen. Das Maschinenmodell der Medizin war nützlich für die Behandlung vieler Krankheiten; doch wenn es darum geht, chronische Erkrankungen des Körpers und des Gehirns zu verstehen, erweist es sich als überholt.

Der Preis des Maschinenmodells

Die traditionelle Auffassung von Erkrankungen als Versagen einzelner Teile eines komplexen mechanischen Systems, welches man mit Medikamenten oder Operationen reparieren kann, hat die Gesundheitsindustrie immer reicher gemacht. In den Vereinigten Staaten beispielsweise sind seit 1970 die Gesundheitskosten pro Kopf um über 2000 Prozent gestiegen, und fast 20 Prozent aller in den USA jährlich produzierten Güter werden benötigt, um diese enormen Kosten zu decken.

Doch während die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 2000 in einem wegweisenden Bericht das amerikanische Gesundheitssystem als das teuerste der Welt bezeichnete, erreichte es hinsichtlich seiner gesamten Leistungsfähigkeit nur einen enttäuschenden 37. Platz unter 191 berücksichtigten Ländern. Hinsichtlich des allgemeinen Gesundheitszustands landeten die USA sogar nur auf Rang 72. In einem neueren Bericht des Commonwealth Fund kamen die USA kaum besser weg: Das amerikanische Gesundheitssystem wurde als das teuerste unter elf westlichen Ländern eingestuft – mit etwa doppelt so hohen Kosten pro Kopf wie in den anderen untersuchten Ländern. Was die Leistungsfähigkeit insgesamt anbelangte, nahmen die USA sogar den letzten Platz ein. Diese Daten spiegeln eine unbequeme Tatsache wider: Wir geben zwar immer mehr Geld aus, um die Gesundheitsprobleme der Nation in den Griff zu bekommen, aber wir machen nur geringe Fortschritte, wenn es darum geht, chronische Schmerzen, Gehirn-Darm-Störungen wie das Reizdarmsyndrom (RDS) oder psychische Erkrankungen wie klinische Depression, Angst- oder neurodegenerative Störungen zu behandeln. Versagen wir, weil wir veraltete Modelle anwenden, um den menschlichen Körper zu verstehen? Immer mehr Vertreter der integrativen wie der funktionellen Medizin und selbst traditionelle Forscher würden dieser Annahme zustimmen. Doch es zeichnet sich ein Wandel ab.

Die rätselhafte Verschlechterung unserer Gesundheit

Die Unfähigkeit, viele chronische Erkrankungen, darunter das Reizdarmsyndrom, chronische Schmerzen und Depression, wirksam zu behandeln, ist nicht der einzige Mangel des traditionellen, krankheitsorientierten medizinischen Modells. Seit den Siebzigerjahren stehen wir zudem vor neuen Herausforderungen, und zwar durch ein immer häufigeres Auftreten von Adipositas (Fettleibigkeit) und damit zusammenhängenden Stoffwechselstörungen, Autoimmunerkrankungen, etwa entzündliche Darmstörungen, Asthma und Allergien, sowie Erkrankungen des sich entwickelnden und alternden Gehirns, zum Beispiel Autismus, die Alzheimer-Krankheit und die Parkinson-Krankheit.

Die Zahl der Adipösen in der amerikanischen Bevölkerung ist beispielsweise von 13 Prozent im Jahr 1972 auf 35 Prozent im Jahr 2012 gestiegen. Heute sind 154,7 Millionen erwachsene Amerikaner übergewichtig oder adipös, ebenso 17 Prozent der Kinder im Alter von 2 bis 19 Jahren, das heißt etwa eines von sechs Kindern. Mindestens 2,8 Millionen Menschen sterben jedes Jahr, weil sie übergewichtig oder adipös sind. Weltweit lassen sich 44 Prozent der Diabetesfälle, 23 Prozent der koronaren Herzkrankheit und 7 bis 41 Prozent bestimmter Krebsarten auf Übergewicht oder Adipositas zurückführen. Wenn die Adipositas-Epidemie sich ungehindert fortsetzt, werden die jährlichen Kosten für die Behandlung von Menschen, die an ihren Folgen leiden, auf erschreckende 620 Milliarden Dollar steigen.

Wir suchen immer noch angestrengt nach einer Erklärung für die plötzliche Zunahme vieler dieser neuen Erkrankungen und kennen für die meisten von ihnen keine wirksame Behandlung. Zwar ist die durchschnittliche Lebenserwartung in den USA und in vielen anderen Ländern gestiegen, aber die USA liegen weit zurück, was das körperliche und seelische Wohlbefinden in den letzten Jahrzehnten unseres Lebens anbelangt. Der Preis, den wir für ein längeres Leben bezahlen, ist eine geringere Lebensqualität in diesen Jahren.

Angesichts dieser Herausforderungen ist es an der Zeit, die herrschenden Theorien über den menschlichen Körper auf den neuesten Stand zu bringen, damit wir verstehen, wie er wirklich arbeitet, wie wir ihn gesund erhalten und wie wir ihn gefahrlos und effektiv behandeln können. Wir dürfen nicht länger den Preis für unser veraltetes Modell zahlen und die von ihm verursachten langfristigen Kollateralschäden hinnehmen.

Wir wollen rundum gesund bleiben, aber wir ignorieren bis heute die entscheidende Rolle, die zwei der komplexesten und wichtigsten Systeme in unserem Körper spielen: der Darm (das Verdauungssystem) und das Gehirn (das Nervensystem). Die Verbindung zwischen Geist und Körper ist durchaus kein Mythos, sondern eine biologische Tatsache, die wir verstehen müssen, um von Kopf bis Fuß gesund zu bleiben.

Das Verdauungssystem als Supercomputer

Unser Wissen über das Verdauungssystem basierte jahrzehntelang auf dem Maschinenmodell des gesamten Körpers. Der Darm galt hauptsächlich als altmodischer Apparat, der nach dem Prinzip der Dampfmaschine des 19. Jahrhunderts funktionierte: Wir essen, kauen und schlucken die Nahrung, dann zerlegt der Magen sie mit mechanischen, mahlenden Bewegungen, unterstützt von konzentrierter Salzsäure. Anschließend wird der homogenisierte Speisebrei in den Dünndarm befördert, der Kalorien und Nährstoffe resorbiert und unverdauliche Reste in den Dickdarm weiterleitet, aus dem sie schließlich ausgeschieden werden. Dieses Modell mit seinen Metaphern aus dem Industriezeitalter war leicht zu verstehen und beeinflusste Generationen von Ärzten einschließlich der heutigen Gastroenterologen und Chirurgen. Nach dieser Auffassung kann man schlecht funktionierende Teile des Verdauungstrakts leicht umgehen oder entfernen und ihn selbst massiv umformen, um eine Gewichtsabnahme zu fördern. Bei solchen Eingriffen sind wir so geschickt geworden, dass wir sie mittels eines Endoskops ohne chirurgischen Eingriff vornehmen können.

Doch wie sich herausstellte, ist dieses Modell zu einfach. Die Medizin ist zwar immer noch der Meinung, das Verdauungssystem sei von dem Gehirn unabhängig, aber wir wissen heute, dass beide eng miteinander verbunden sind. Diese Erkenntnis drückt die Auffassung einer Darm-Gehirn-Achse aus, der zufolge unser Verdauungssystem viel komplizierter, komplexer und mächtiger ist, als wir früher angenommen haben. Neuere Studien lassen darauf schließen, dass der Darm eng mit seinen Mikroorganismen (Mikroben) zusammenarbeitet und unsere grundlegenden Emotionen, unser Schmerzempfinden, unsere sozialen Interaktionen und sogar einige unserer Entscheidungen beeinflusst. Bei diesen Entscheidungen geht es nicht nur um das Essen und die Größe unserer Mahlzeiten. Die komplexe Kommunikation zwischen Darm und Gehirn, das sprichwörtliche »Bauchgefühl«, spielt, neurobiologisch betrachtet, auch eine Rolle bei einigen der wichtigsten Entscheidungen in unserem Leben.

Der Zusammenhang zwischen Darm und Geist sollte nicht nur die Psychologen interessieren. Zwischen dem Verdauungssystem und dem Gehirn bestehen vielmehr handfeste anatomische Verbindungen, unterstützt von biologischen Signalen, die das Blut befördert. Doch bevor wir zu weit vorgreifen, wollen wir einen Schritt zurücktreten und uns genauer ansehen, was ich mit »Darm« meine, mit dem Verdauungssystem, das viel mehr ist als eine simple Maschine, die Essen verarbeitet.

Der Darm hat Fähigkeiten, die die aller anderen Organe übertreffen und sich sogar mit manchen Funktionen des Gehirns messen können. Er besitzt sein eigenes Nervensystem, das in der wissenschaftlichen Literatur »enterisches Nervensystem (ENS)« und in den Medien »zweites Gehirn« oder »Bauchhirn« genannt wird. Dieses zweite oder kleine Gehirn besteht aus 50 bis 100 Millionen Nervenzellen – ebenso viele enthält das Rückenmark.

Die Immunzellen im Darm stellen den größten Teil unseres Immunsystems. Mit anderen Worten, die Darmwand enthält mehr Immunzellen als das Blut oder das Knochenmark. Und es gibt einen guten Grund für die Anhäufung dieser Zellen an diesem besonderen Ort, der mit den vielen im Essen enthaltenen und potenziell tödlichen Mikroorganismen in Kontakt kommt. Die Immunabwehr im Darm ist in der Lage, eine bestimmte gefährliche Bakterienart, die ins Verdauungssystem gelangt, wenn wir versehentlich mit diesem Bakterium kontaminiertes Essen oder Wasser zu uns nehmen, zu identifizieren und zu vernichten. Noch erstaunlicher ist, dass diese Immunabwehr die kleine Zahl von potenziell tödlichen Bakterien in einem Ozean aus Billionen anderen, nützlichen Mikroorganismen aufspürt, die zusammen die Darmmikrobiota bilden. Weil das Immunsystem des Darms diese Aufgabe meistert, können wir mit den Mikroorganismen in unserem Inneren in vollkommener Harmonie leben.

Die Darmschleimhaut ist übersät mit einer enormen Anzahl endokriner Zellen, welche bis zu 20 verschiedene Hormone enthalten, die sie bei Bedarf ans Blut abgeben. Könnte man all diese endokrinen Zellen zusammenballen, wäre der Klumpen größer als alle anderen endokrinen Organe – Keimdrüsen, Schilddrüse, Nebenschilddrüsen und Hypophyse – zusammen.

Zudem ist der Darm das größte Vorratslager des Körpers; 95 Prozent des körpereigenen Serotonins sind hier gespeichert. Serotonin ist ein Signalmolekül, das eine äußerst wichtige Rolle in der Darm-Gehirn-Achse spielt. Es wird nicht nur für die gesunde Darmfunktion benötigt, zum Beispiel für die koordinierten Kontraktionen, die die Nahrung durch den Verdauungskanal befördern, sondern auch für lebenswichtige Funktionen wie Schlaf, Appetit, Schmerzempfindung, die Stimmung und das allgemeine Wohlbefinden. Da es bei der Steuerung einiger dieser Funktionen eine wesentliche Rolle spielt, ist es das Hauptziel für die wichtigste Klasse der Antidepressiva, die Serotonin-Wiederaufnahmehemmer.

Hätte der Darm nur die Aufgabe, Nahrung zu verdauen, würde er dann diese beispiellose Anhäufung von spezialisierten Zellen und Signalsystemen enthalten? Eine Antwort auf diese Frage liefert eine wichtige, jedoch weitgehend unbekannte Funktion des Darms: Er ist auch ein Sinnesorgan und hat von allen Sinnesorganen die größte Oberfläche. Wenn man den Darm ausbreiten würde, hätte er die Größe eines Basketballfeldes. Tausende von kleinen Sensoren codieren die gewaltige Menge von Informationen, die unser Essen in Form von Signalmolekülen enthält, von süß bis bitter, von heiß bis kalt und von würzig bis mild.

Wie ist der Darm mit dem Gehirn verbunden? Einmal durch dicke Nervenstränge, die Informationen in beide Richtungen übertragen, und zum anderen durch Hormone und Entzündungsmoleküle im Blut, die aufgrund von Signalen des Darms an das Gehirn gebildet werden. Hinzu kommen die Hormone, die das Gehirn produziert, indem es Signale an die verschiedenen Zellen im Darm – zum Beispiel an die glatten Muskelzellen, die Nervenzellen und die Immunzellen – schickt und dadurch ihre Funktionen ändert. Viele Signale des Darms, die das Gehirn erreichen, rufen nicht nur deutliche Empfindungen hervor, etwa das Sättigungsgefühl nach einer leckeren Mahlzeit, Übelkeit und Unwohlsein oder ein Gefühl des Wohlbefindens, sondern lösen auch Reaktionen des Gehirns aus, die an den Darm zurückgeschickt werden und spürbare Reaktionen in ihm hervorrufen. Und das Gehirn vergisst diese Empfindungen nicht, sondern speichert sie in einer großen Datenbank, sodass es auf sie zurückgreifen kann, wenn Entscheidungen zu treffen sind. Was wir im Darm spüren, beeinflusst letztlich nicht nur unsere Entscheidungen darüber, was wir essen und trinken, sondern auch die Auswahl der Menschen, mit denen wir Zeit verbringen, und die Art und Weise, wie wir in unserem Beruf wichtige Informationen bewerten.

In der chinesischen Philosophie beschreibt die Lehre von Yin und Yang, wie gegensätzliche Kräfte einander ergänzen und miteinander verbunden sein können und wie diese Kräfte durch ihre Interaktion ein einheitliches Ganzes hervorbringen. Wenn wir diese Vorstellung auf die Darm-Gehirn-Achse übertragen, können wir Empfindungen im Darm als Yin und Reaktionen des Darms als Yang betrachten. So wie Yin und Yang die beiden komplementären Prinzipien eines Ganzen – der Darm-Gehirn-Verbindung – bilden, sind die Empfindungen und die Reaktionen verschiedene Aspekte dieser Verbindung, die in beide Richtungen Signale sendet und für unser Wohlbefinden, unsere Emotionen und unsere intuitiven Entscheidungen eine so wichtige Rolle spielt.

Eine neue Ära für das Darmmikrobiom

Während viele Menschen den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Verbindungen zwischen Gehirn und Darm jahrzehntelang kaum Beachtung schenkten, rückte die Darm-Gehirn-Achse in den letzten Jahren in den Mittelpunkt. Dieser Wandel ist hauptsächlich auf die exponentielle Zunahme des Wissens und der Daten über die den Darm besiedelnden Bakterien, Archaeen, Pilze und Viren zurückzuführen, die unter dem Sammelbegriff »Darmmikrobiota« zusammengefasst werden. Obwohl diese für das bloße Auge unsichtbaren Mikroorganismen uns an Zahl weit übertreffen (in Ihrem Darm leben 100 000-mal mehr Mikroben als Menschen auf der Erde), ist uns ihre Existenz erst seit etwa 300 Jahren bekannt. Damals verbesserte der niederländische Naturforscher Antoni van Leeuwenhoek das Mikroskop erheblich und konnte so in abgekratztem Zahnbelag lebende Mikroorganismen beobachten. Diese Organismen nannte er »Tierchen«.

Seither wurden enorme technische Fortschritte beim Identifizieren und Typisieren dieser Mikroorganismen gemacht, vor allem im letzten Jahrzehnt. Bei diesem beachtlichen Erfolg spielte das Human Microbiome Project eine wichtige Rolle. Diese Initiative der National Institutes of Health, eine Behörde des US-Gesundheitsministeriums, startete im Oktober 2007 und verfolgt das Ziel der Erforschung und Beschreibung derjenigen Mikroorganismen, die symbiotisch mit uns Menschen leben. Die beteiligten Forscher versuchen die mikrobischen Komponenten unserer genetischen und metabolischen Landschaft zu verstehen und herauszufinden, wie sie unsere Physiologie sowie unsere Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten beeinflussen.

Im vergangenen Jahrzehnt wurde die Darmmikrobiota fast überall in der medizinischen Forschung zum Thema, in so unterschiedlichen Fachgebieten wie Psychiatrie, Neurologie, Gastroenterologie und Chirurgie. Mikrobengemeinschaften finden sich überall in unserer Welt: in Pflanzen, Tieren, Böden, Tiefseequellen (Schwarze Raucher) und den oberen Schichten der Atmosphäre. Nicht nur Wissenschaftler, die Mikroorganismen in den Meeren, im Boden und in den Wäldern studieren, sind von der Welt der Mikroorganismen fasziniert, sondern auch das Weiße Haus: Im Jahr 2015 wurden Wissenschaftler aus dem ganzen Land eingeladen, um zu untersuchen, wie Mikroorganismen das Klima, unsere Nahrung und unsere Gesundheit beeinflussen. Am 13. Mai 2016 kündigte US-Präsident Obama ein landesweites Forschungsprojekt namens National Microbiome Initiative an, vergleichbar mit der BRAIN Initiative des Jahres 2013, die zur Investition von Milliarden Dollar in Forschungen zum menschlichen Gehirn führte.

Der Nutzen unserer Mikrobiota wirkt sich erheblich auf unsere Gesundheit aus. Zu den am besten erforschten Leistungen der Mikroben gehört ihre Hilfe beim Verdauen von Nahrungsbestandteilen, mit denen der Darm nicht allein fertig wird, bei der Steuerung des Stoffwechsels, beim Verarbeiten und Entgiften gefährlicher Chemikalien, die wir mit dem Essen aufnehmen, beim Trainieren und Regulieren des Immunsystems und bei der Vorbeugung gegen das Eindringen und die Vermehrung gefährlicher Krankheitserreger. Andererseits werden Störungen und Veränderungen des Darmmikrobioms – wie die Darmmikrobiota und die Gesamtheit ihrer Gene und Genome genannt werden – mit zahlreichen Erkrankungen in Verbindung gemacht, zum Beispiel mit entzündlichen Darmerkrankungen, Durchfall nach der Einnahme von Antibiotika oder mit Asthma. Sie könnten sogar eine Rolle bei Autismus-Spektrum-Störungen und bei neurodegenerativen Störungen wie der Parkinson-Krankheit spielen.

Mithilfe neuer Techniken sind wir dabei, die einzelnen mikrobischen Bewohner auf unserer Haut, in den Nasenlöchern, im Mund, an den Lippen, auf den Augenlidern und sogar zwischen unseren Zähnen zu entdecken und zu beschreiben. Der Magen-Darm-Trakt, vor allem der Dickdarm, beherbergt jedoch bei Weitem die größten Populationen. Mehr als 100 Billionen Mikroben leben in der dunklen, fast sauerstofflosen Welt des menschlichen Darms – nach neuesten Schätzungen ungefähr die gleiche Anzahl von Zellen, die unser Körper insgesamt besitzt, wenn wir die roten Blutkörperchen bei den menschlichen Zellen mitrechnen. Würden Sie aus all Ihren Darmmikroben ein Organ formen, wäre es zwischen 900 und 2400 Gramm schwer, ungefähr so schwer wie das Gehirn, das etwa 1300 Gramm wiegt. Aufgrund dieses Vergleichs wurde das Darmmikrobiom als »vergessenes Organ« bezeichnet. Die 1000 Bakterienarten, die die Mikrobiota im Darm bilden, enthalten mehr als sieben Millionen Gene; auf jedes menschliche Gen kommen also bis zu 360 Bakteriengene. Das bedeutet, dass weniger als 1 Prozent der Summe aller menschlichen und mikrobischen Gene (des sogenannten Hologenoms) menschlichen Ursprungs sind!

Dank dieser Gene verfügen die Mikroben nicht nur über eine enorme Kapazität, Moleküle zu bilden, durch die sie mit uns kommunizieren können, sondern auch über eine erstaunlich große Wandlungsfähigkeit. Die Darmmikroben unterscheiden sich erheblich von Mensch zu Mensch, und keine zwei Menschen haben genau die gleiche Darmmikrobiota mit ihren vielen Stämmen und Spezies. Welche Mikroben den Darm besiedeln, hängt von vielen Faktoren ab, zum Beispiel von unseren Genen, von der Mikrobiota unserer Mutter, die wir alle in gewissem Umfang übernehmen, von den Mikroben, die sich in anderen Familienmitgliedern im gleichen Haushalt befinden, von der Ernährung und, wie Sie in diesem Buch erfahren werden, von der Aktivität des Gehirns und von unserem Gemütszustand.

Um die enorme Bedeutung dieser Mikroben für unseren Körper zu verstehen, lohnt es sich zu untersuchen, woher sie kommen und wie sie mit uns Menschen eine Symbiose eingegangen sind. Diese evolutionäre Geschichte hat Martin Blaser in seinem Buch Missing Microbes wundervoll erzählt:

Etwa drei Milliarden Jahre lang waren Bakterien die einzigen Lebewesen auf der Erde. Sie besiedelten jeden Platz auf dem Land, in der Luft und im Wasser und setzten chemische Reaktionen in Gang, die die Voraussetzungen für die Evolution der Mehrzeller schufen. Langsam, durch Versuch und Irrtum, erfanden sie im Laufe von Äonen die komplexen und robusten Feedbacksysteme, einschließlich der höchst effektiven »Sprache«, auf die bis zum heutigen Tag alles Leben auf Erden angewiesen ist.

Alles, was wir über die Darmbakterien gelernt haben, fordert die traditionellen wissenschaftlichen Theorien heraus. Das ist einer der Gründe dafür, dass das Thema so viel Interesse weckt und in Bezug auf die Kommunikation mit dem Nervensystem so viele Kontroversen auslöst, sowohl in der Wissenschaft als auch in den Medien. Es ist zudem der Grund dafür, dass manche Leute, tiefere, eher philosophische Fragen zum Einfluss des Mikrobioms stellen: Ist der menschliche Körper nur das Vehikel der Mikroben, die in ihm leben? Manipulieren die Mikroben unser Gehirn so, dass wir essen, was für sie am besten ist? Ändert die Tatsache, dass wir Menschen mehr Mikroben beherbergen als eigene Zellen, unsere Vorstellung vom menschlichen Selbst?

Solche philosophischen Spekulationen sind faszinierend, aber sie werden von bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht gestützt. Doch was die Wissenschaft vom menschlichen Mikrobiom in den letzten zehn Jahren entdeckt hat, ist ebenso tiefgreifend. Und obwohl wir erst am Anfang dieser rasanten wissenschaftlichen Entdeckungsreise stehen, können wir uns nicht länger als das einzige intelligente Produkt der Evolution und als völlig anders als alle anderen Lebewesen auf unserem Planeten betrachten. Die kopernikanische Wende führte im 16. Jahrhundert zu einer ganz neuen Vorstellung von der Position der Erde im Universum und zum Übergang zum heliozentrischen Weltbild, und im 19. Jahrhundert änderte Charles Darwins revolutionäre Evolutionstheorie unseren Platz im Tierreich für immer. Nun zwingt uns die Wissenschaft vom menschlichen Mikrobiom, unsere Position auf der Erde neu zu bewerten. Wir Menschen sind in Wirklichkeit Superorganismen, zusammengesetzt aus menschlichen und mikrobischen Komponenten, die untrennbar miteinander verbunden und aufeinander angewiesen sind. Nur so können wir überleben. Da die mikrobische Komponente durch ein gemeinsames biologisches Kommunikationssystem mit allen anderen Mikrobiomen im Boden, in der Luft und in den Meeren sowie mit den Mikroben, die mit fast allen anderen Organismen in Symbiose leben, eng verbunden ist, sind wir unlösbarer Teil des lebendigen Netzwerks der Erde. Die neue Theorie vom Superorganismus, der menschlich und mikrobisch zugleich ist, hat zweifellos tiefgreifende Folgen für unser Weltbild, unsere Verantwortung für unsere inneren und externen Ökosysteme und für viele Aspekte von Gesundheit und Krankheit.

Wenn die Darm-Mikrobiom-Gehirn-Achse aus dem Gleichgewicht gerät

Die Gesundheit aller Ökosysteme lässt sich anhand ihrer Stabilität und ihrer Widerstandskraft gegen Verletzungen und Störungen bestimmen. Wichtige Faktoren, die zu dieser Gesundheit beitragen, sind die Vielfalt und die Anzahl der Organismen eines Ökosystems. Das Gleiche gilt für unser Ökosystem im Darm. Es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass die Darmmikrobenzusammensetzung nach mehreren Darmerkrankungen ihren gesunden, stabilen Zustand einbüßt. In diesem Fall spricht man von einer Dysbiose. Eine der schwersten und am besten untersuchten Formen einer Dysbiose tritt bei einer kleinen Zahl von Krankenhauspatienten auf, die mit Antibiotika behandelt wurden. Sie leiden an schweren Durchfällen und Darmentzündung. Zu dieser sogenannten antibiotikaassoziierten oder pseudomembranösen Kolitis kommt es, wenn ein Breitbandantibiotikum die Vielfalt und die Anzahl der normalen Darmbakterien verringert hat, sodass der Krankheitserreger Clostridium difficile überhandnimmt. Wie wichtig eine vielfältige Darmmikrobiota für die Gesundheit des Darms ist, zeigt auch die Beobachtung, dass die Dickdarmentzündung schnell heilt, wenn man eine gesunde Darmmikrobiota wiederherstellt. Das ist derzeit am effektivsten durch die Transplantation von Stuhlbakterien eines gesunden Spenders in den Darm des Patienten möglich. Diese Behandlung führt bei den meisten Patienten zu einer fast wundersamen Wiederherstellung der mikrobischen Vielfalt. Auf diese neue Therapie werden wir später genauer eingehen.

Das Ausmaß der Dysbiose bei anderen chronischen Darmstörungen wie Colitis ulcerosa, Morbus Crohn und Reizdarmsyndrom (ebenfalls eine Störung der Darm-Gehirn-Achse) sowie ihre genauen Auswirkungen auf deren Pathophysiologie sind jedoch weniger eindeutig, und viele Fragen bleiben offen. Bis zu 15 Prozent der Weltbevölkerung leiden an den Leitsymptomen des Reizdarmsyndroms, an Problemen mit dem Stuhlgang oder an Bauchschmerzen und Unbehagen. Mehrere Studien berichten von einer veränderten Darmmikrobiota bei einer Teilgruppe von Patienten; aber es ist noch unklar, welche Rolle diese Veränderungen bei der Entstehung des Krankheitsbildes spielen und welche der verfügbaren Therapien (zum Beispiel die Gabe von Antibiotika oder Probiotika, eine spezielle Diät oder die Transplantation von Stuhlbakterien), die das Gleichgewicht in der Darmmikrobiota wiederherstellen sollen, beim individuellen Patienten wirksam ist.

Mikroben gewinnen an Bedeutung

Noch vor wenigen Jahren hätte es sich nach Science-Fiction angehört, doch die moderne Wissenschaft bestätigt, dass das Gehirn, der Darm und die Darmmikroben sich in einer gemeinsamen biologischen Sprache unterhalten. Wie »reden« diese unsichtbaren Kreaturen mit uns? Wie können wir sie hören, und wie können sie mit uns kommunizieren?

Die Mikroben besiedeln nicht nur das Innere des Darms; viele von ihnen befinden sich auf einer rasierklingendünnen Schicht aus Schleim und Zellen, die die Darmschleimhaut überzieht. In diesem einzigartigen Milieu sind sie kaum von den Immunzellen des Darms und von den zahlreichen zellulären Sensoren zu unterscheiden, die unsere Darmempfindungen codieren. Mit anderen Worten, sie leben in engem Kontakt mit den wichtigen Systemen des Körpers, die Informationen sammeln. Von dieser Position aus können sie mithören, wenn das Gehirn den Darm davon unterrichtet, dass Sie gestresst, glücklich, ängstlich oder wütend sind, selbst wenn Sie selbst sich dieser Gemütszustände nicht voll bewusst sind. Aber sie hören nicht nur zu. So unglaublich es klingen mag, die Darmmikroben sind sehr wohl in der Lage, unsere Emotionen zu beeinflussen, indem sie Signale erzeugen und modulieren, die der Darm dem Gehirn übermittelt. Was als Emotion im Gehirn beginnt, beeinflusst also den Darm und die Signale, die von den Mikroben ausgehen, und diese erstatten wiederum Rückmeldung an das Gehirn, wobei sie den emotionalen Zustand verstärken und bisweilen sogar verlängern.

Als vor etwa zehn Jahren die ersten Publikationen zu diesem Thema erschienen – meist Tierstudien –, war ich skeptisch hinsichtlich ihrer Ergebnisse wie ihrer Bedeutung – sie schienen einfach zu weit vom traditionellen Weltbild der Medizin entfernt zu sein. Nachdem meine Forschungsgruppe an der University of California, Los Angeles (UCLA), unter Leitung von Dr. Kirsten Tillisch eine eigene Studie mit gesunden Menschen beendet hatte, konnte sie die Ergebnisse mancher Tierstudien jedoch bestätigen. Daher beschloss ich, weiter zu untersuchen, ob die Wechselwirkungen zwischen den Darmmikroben und dem Gehirn unsere Hintergrundemotionen, unsere gesellschaftlichen Interaktionen und sogar unsere Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, beeinflussen können. Ist die Ausgewogenheit der Darmmikrobiota eine Voraussetzung für unsere geistige Gesundheit? Und wenn diese Verbindung zwischen dem Geist und dem Darm gestört ist, steigt dann das Risiko für eine chronische Gehirnerkrankung? Diese Fragen sind nicht nur aus wissenschaftlicher, sondern aus allgemein menschlicher Perspektive faszinierend, denn wir müssen die Darm-Gehirn-Achse auch deshalb unbedingt besser verstehen, weil viele Erkrankungen des Gehirns menschliches Leid und hohe Kosten für die Gesellschaft verursachen.

Die Zahl der registrierten Fälle von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) ist in den USA massiv gestiegen: von 4,5 unter 10 000 Kindern im Jahr 1966 auf eines von 68 Kindern im Alter von acht Jahren im Jahr 2010. Die neuesten Daten der staatlichen Gesundheitsbefragung im Jahr 2014 enthüllen, dass bis zu 2,2 Prozent der amerikanischen Kinder irgendwann in ihrem Leben die Diagnose ASS erhalten haben, was darauf schließen lässt, dass eines von 58 Kindern betroffen ist. Ein Teil dieser Zunahme ist wahrscheinlich auf größere Aufmerksamkeit und veränderte diagnostische Kriterien zurückzuführen; aber die Befunde deuten auch darauf hin, dass die Zahl der ASS-Fälle sich allein im letzten Jahrzehnt mindestens verdoppelt hat.

Wie die Häufigkeit der ASS ist auch die Häufigkeit anderer Erkrankungen gestiegen, die mit einer veränderten Darmmikrobiota in Verbindung gebracht werden, einschließlich Autoimmun- und Stoffwechselstörungen. Die Ähnlichkeiten im zeitlichen Verlauf dieser neuen Epidemien lassen eine gemeinsame, tiefer liegende Ursache vermuten, die mit einer Veränderung der Darmmikrobiota in den letzten etwa 50 Jahren zusammenhängt. Mögliche Ursachen dafür sind unsere Lebensweise, unsere Ernährung und der weitverbreitete Einsatz von Antibiotika, was auch neuere Tierstudien bestätigen. Neuere klinische Studien mit bestimmten Probiotika und mit transplantierten Stuhlbakterien haben begonnen, den Zusammenhang zwischen der Darmmikrobiota und Verhaltensstörungen zu untersuchen.

Neurodegenerative Störungen nehmen ebenfalls zu. In Industrieländern leidet einer von hundert über 60 Jahre alten Menschen an der Parkinson-Krankheit. In den Vereinigten Staaten sind mindestens eine halbe Million Menschen von ihr betroffen, und jedes Jahr werden rund 50 000 neue Fälle diagnostiziert. Man schätzt, dass die Zahl der Parkinson-Fälle sich bis 2030 verdoppeln wird. Aber die tatsächliche Zahl der Erkrankten ist schwer zu ermitteln, da die Krankheit meist nicht anhand ihrer klassischen neurologischen Anzeichen und Symptome diagnostiziert wird, solange der Krankheitsprozess nicht weit fortgeschritten ist. Neuere Studien zeigen sogar, dass die für Parkinson typische Degeneration im enterischen Nervensystem lange vor dem Auftreten der klassischen Krankheitssymptome einsetzt und dass Veränderungen in der Zusammensetzung der Darmmikrobiota mit der Krankheit einhergehen. Ob diese Veränderung eine Ursache oder nur eine Konsequenz der Krankheit darstellt, ist bisher nicht bekannt.

Im Jahr 2013 litten ungefähr fünf Millionen Amerikaner an der Alzheimer-Krankheit; bis 2050 dürfte diese Zahl sich fast verdreifachen und auf gut 14 Millionen steigen. Wie die Parkinson-Krankheit treten auch die Alzheimer-Symptome meist nach dem 60. Lebensjahr auf, und das Risiko steigt mit dem Alter. Nach dem 65. Lebensjahr verdoppelt sich die Zahl der an Alzheimer Erkrankten alle fünf Jahre. Die wirtschaftlichen Kosten der Alzheimer-Krankheit sind enorm, und wenn der derzeitige Trend sich fortsetzt, ist zu erwarten, dass sie in den USA bis 2050 rasch auf 1,1 Billionen Dollar steigen werden. Könnte eine lebenslange Veränderung der Darmmikrobiota eine Mitursache beider neurodegenerativen Störungen sein, die den Menschen etwa im gleichen Alter heimsuchen?

Darmmikroben werden auch mit Depression in Verbindung gebracht, der zweithäufigsten Ursache für Erwerbsunfähigkeit in den Vereinigten Staaten. Die Medikamente, die am häufigsten bei der Behandlung von depressiven Störungen verordnet werden, sind die sogenannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer wie Fluoxetin, Paroxetin und Citalopram (unter zahlreichen Handelsnamen erhältlich). Diese Arzneimittel regen das serotonerge System an, von dem die Psychiater lange Zeit annahmen, es befinde sich auschließlich im Gehirn. Heute wissen wir jedoch, dass 95 Prozent des Serotonins im Körper in spezialisierten Zellen im Darm gespeichert sind. Beeinflusst werden diese Zellen von unserer Ernährung, von Chemikalien, die bestimmte Darmmikroben bilden, und von Signalen, die das Gehirn ihnen schickt, um sie über unseren emotionalen Zustand zu informieren. Am erstaunlichsten ist, dass diese Zellen eng mit den Sinnesnerven verbunden sind, die Signale unmittelbar zurück in das Gehirnzentrum senden, das die Emotionen steuert. Deshalb sind sie ein wichtiger Knotenpunkt in der Darm-Gehirn-Achse. Aufgrund dieser strategischen Position ist es meiner Meinung nach wahrscheinlich, dass Darmmikroben und ihre Metaboliten bei der Entstehung einer Depression sowie hinsichtlich ihrer Schwere und Länge eine wichtige und weitgehend unerforschte Rolle spielen. Das ist eine faszinierende Möglichkeit, die, wenn sie durch kontrollierte Studien bestätigt wird, neue Chancen für die Entwicklung wirksamerer Therapien eröffnet, einschließlich spezifischer diätetischer Maßnahmen.

In diesem Buch werden wir neue Erkenntnisse in den Fokus nehmen, die einige der zerstörerischsten Gehirnerkrankungen und einige der häufigsten Gehirn-Darm-Störungen mit Veränderungen der Kommunikation zwischen den Darmmikroben und dem Gehirn sowie mit unserer Lebens- und Ernährungsweise in Zusammenhang bringen.

»Du bist, was du isst« – sofern Sie die Darmmikrobiota berücksichtigen

»Sag mir, was du isst, und ich sage dir, wer du bist«, schrieb Jean Anthelme Brillat-Savarin, ein französischer Jurist, Arzt und Autor eines im 19. Jahrhundert einflussreichen Buches über die Physiologie des Geschmacks. Diesem Kenner der Haute Cuisine, nach dem der Brillat-Savarin-Käse und der Savarin-Kuchen benannt wurden, verdanken wir einige tiefe und frühe Einsichten in die Beziehung zwischen Ernährung, Adipositas und Verdauungsstörungen. Im Jahr 1826, als er darüber schrieb, konnte er allerdings noch nicht wissen, dass Darmmikroben darüber entscheiden, wie das Essen das seelische Wohlbefinden und wichtige Gehirnfunktionen beeinflusst. Die Mikroben an der Schnittstelle zwischen dem Darm und dem Nervensystem befinden sich sogar in einer Schlüsselposition, wenn es darum geht, das körperliche und seelische Wohlbefinden unmittelbar mit unseren Speisen und Getränken, aber auch darum, unsere Emotionen mit unserer Nahrung zu verbinden. In jeder Millisekunde sammelt der Darm Informationen über Ihr Essen und Ihre Umgebung, und zwar 24 Stunden am Tag und an sieben Tagen in der Woche, sogar im Schlaf. Ein großer Teil dieser Informationssammlung spielt sich im Magen und am Anfang des Dünndarms ab, wo nur wenige Mikroben vorkommen und wo ihr Beitrag zum Darm-Gehirn-Dialog wahrscheinlich gering ist. Doch die Billionen Mikroben im Dickdarm verdauen Nahrungsreste und bilden enorm viele Moleküle, die diesem Prozess eine ganz neue Dimension hinzufügen. Wie wir aus Tierversuchen wissen, ist es möglich, ohne Darmmikrobiota zu leben, zu verdauen und Nährstoffe aufzunehmen, sofern wir in einer Umgebung ohne Krankheitserreger leben. Doch wissen wir heute ebenso, dass die Entwicklung des Gehirns solcher keimfreien Tiere – Mäuse, Ratten und sogar Pferde – erheblich gestört ist, vor allem in jenen Regionen, die an der Steuerung von Emotionen beteiligt sind. Das heißt, das Gehirn von Tieren, die in einer solchen keimfreien Umwelt aufwachsen, unterliegt einer erheblichen Veränderung.

Das Wohlbefinden Ihrer Darmmikrobiota hängt davon ab, was Sie essen, und sie ist in den ersten paar Lebensjahren mehr oder weniger auf Ihre bevorzugte Nahrung programmiert. Unabhängig von ihrer ursprünglichen Programmierung kann sie jedoch jedes Futter verdauen, das Sie ihr vorsetzen, egal, ob Sie sich hauptsächlich von pflanzlichen Produkten ernähren oder ein überzeugter Fleischesser sind. Einerlei, was Sie den Mikroben im Darm geben, sie nutzen die enorme Datenmenge, die sie in ihren Millionen Genen gespeichert haben, um halb verdautes Essen in Hunderttausende von Metaboliten umzuwandeln. Obwohl wir erst zu verstehen beginnen, welchen Einfluss diese Metaboliten auf den Körper haben, wissen wir, dass einige von ihnen den Magen-Darm-Trakt einschließlich seiner Nerven und Immunzellen nachhaltig beeinflussen. Andere gelangen ins Blut und sind an der Signalübertragung über große Entfernungen hinweg beteiligt. Dabei beeinflussen sie jedes Organ, auch das Gehirn. Besonders wichtig ist die Fähigkeit dieser von Mikroben gebildeten Moleküle, in einem Zielorgan eine leichte Entzündung hervorzurufen, was Adipositas, Herzerkrankungen, chronische Schmerzen und degenerative Gehirnerkrankungen auslösen kann. Diese Entzündungsmoleküle und ihre Wirkung auf bestimmte Gehirnregionen könnten durchaus ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis vieler Gehirnstörungen sein.

Was bedeutet die neue Wissenschaft für Ihre Gesundheit?