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Fotos Umschlag/Innen: Andreas Jahn

Fahrkartenkauf 2.0

Als wir dann irgendwann am Vormittag aus dem Haus gingen, um Fahrkarten zu kaufen, waren wir guter Dinge, fanden zum Bahnhof und gingen an einen besetzten Schalter. Nur Fahrkarten konnten wir dort nicht erstehen, denn um das zu tun, sollten wir ein Gebäude aufsuchen, welches sich angeblich einen halben Kilometer östlich vom Hauptbahnhof befand. Seltsam, aber in Deutschland treibt ja der Fahrkartenverkauf zuweilen auch bizarre Blüten. In glühender Hitze fanden wir also einen Flachbau, der wie die meisten Gebäude hier die besten Jahre schon hinter sich hatte. Am Eingang erwartete uns ein älterer Herr, der Türsteher. Er musterte uns kurz, ließ uns ein und andere heraus. Die Stühle waren wie im Theater in Reihen und hintereinander angeordnet. Da ich wusste, dass man in Kuba, wenn man anstehen muss, immer nach dem Letzten der Schlange fragt, tat ich dies und wir setzten uns, um der Dinge zu harren, die da kamen.

Aber erst mal passierte gar nichts und das eine ganze Stunde lang. Aber Zeit ist ja bekanntlich relativ, wir hatten Urlaub und zu schauen gab es immer etwas. Vier Schalter hatten geöffnet aber es bewegte sich nicht viel. Alle zehn Minuten winkte der Einweiser, ein junger Mann mit Brille, schwarzer Hose, schwarzer Weste und weißem Hemd einem Wartenden. Dieser packte dann, wie wir es aus dem Wartezimmer des Arztes kennen, schnell seine Langeweilebekämpfer zusammen, steckte diese in die Handtasche oder klemmte sich das Zeug einfach unter den Arm und postierte sich vor einen Schalter, um auch dort wieder zu warten. Irgendwann holten zwei Mitarbeiter noch einen ziemlich ramponierten Schreibtisch von irgendwo her und siehe da, geöffnet war der fünfte Schalter. Jetzt hatten wir also einen Schalter mit Computer und einer Fachangestellten, an Schalter zwei wurden die Fahrscheine ausgeschrieben - per Hand, der dritte Schalter war offensichtlich der Stempelschalter und an Schalter vier saß eine junge Frau, die das Kind einer Freundin hütete. Der Aufgabenbereich des Schreibtischschaltermitarbeiters war unklar. Aber eines war schon mal klar, sieben Menschen hatten Arbeit - gesunde Arbeit und schienen glücklich, denn sie scherzten mit jedem Kunden, waren freundlich und ausgeglichen.

Nach zwei kurzweiligen Stunden waren wir dann an der Reihe. Der Tourist findet so etwas ja meistens recht unterhaltsam, aber ich möchte nicht wissen was in den Köpfen der Einheimischen vor sich geht, bei solchen enormen Wartezeiten. Aber vieleicht kann man dem Erlebnisfahrkartenkauf auch etwas Positives abgewinnen. Alle, und ich meine hier vor allem die alten Menschen, hatten soziale Kontakte. Sie redeten miteinander, lachten, schimpften, spielten Brettspiele, teilten mit dem Stuhlnachbarn den mitgebrachten Kuchen und tranken gemeinsam Kaffee.

Doch nun waren wir an der Reihe. Die Angestellte suchte unsere Verbindung heraus, Havanna - Santiago, das war leicht. Noch die Zeit. Wir wollten in der Nacht fahren und unsere Reise würde etwa dreizehn Stunden dauern – ohne Verspätung oder unerwarteten Aufenthalt. Einwandfrei. Ab zum nächsten Schalter. Freundlich geleitet vom Schalteranweiser. Unglücklicherweise benötigten wir unsere Reisepässe und die lagen noch bei Rosa. Ab vierzehn Uhr aber wurden keine Fahrkarten mehr verkauft und wenn wir diese heute nicht erhielten, verzögerte sich unsere Abreise um einen weiteren Tag. Wir hatten also eine halbe Stunde, um unsere Pässe zu holen, wenn wir übermorgen fahren wollten. Mit unseren Rucksäcken und zu Fuß unmöglich zu schaffen. David wollte bei den Sachen bleiben und ich mir eine Fahrradrikscha mieten.

Auf dem Rad fühlte ich mich wie ein Kolonialeuropäer. Es war extrem heiß. Der Fahrer, ein junger Bursche in T-Shirt und kurzen Hosen, hielt eine taschentuchgroße USA-Fahne in der Hand. Mit dieser wischte er sich hin und wieder den Schweiß aus dem Gesicht. Es ging bergauf. So steil, dass mein Chauffeur aus der Rikscha sprang und sein Gewicht tapfer gegen den Lenker stemmte. Wenn ich es ihm gleichtun würde, ginge es sicher schneller. Also sprang auch ich heraus und schob. Ich hielt mich am Gestänge hinter dem Kundensitz fest und half so gut es halt ging das Gewicht des Gefährtes mit zu bewegen. Das wiederum missfiel meinem Chauffeur, da er sich vor den anderen Fahrern keine Blöße geben wollte.

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Einige standen, wartend auf Kundschaft, am Straßenrand

und schauten zu uns herüber. Keiner lachte oder foppte ihn, aber ich sollte endlich wieder einsteigen. „Hoffentlich ist die Bergspitze bald erreicht.“ Jetzt ging es auch schon wieder bergab. Unglaublich, die schlechten Straßen gepaart mit der ungeheuren Geschwindigkeit unseres Gefährtes! Mein Fahrer Diego, wollte die durch das Laufen verlorengegangene Zeit wieder aufholen. Keine beachtete rote Ampel inmitten des immensen Verkehres! Neunzig Grad Kurven! Wie in einem Bob versuchte ich mein Gewicht so zu verlagern, dass alle beiden Hinterräder am Boden blieben. Es gelang mir nicht immer. Ich schrie, hatte Todesangst. Doch wie durch ein Wunder erreichten wir ohne Unfall unser Ziel. Schnell zu Rosa, die Stufen doppelt genommen, Pässe gegriffen und wieder in den Fahrradanhänger. Los geht´s. Doch gleich darauf gleich ein Boxenstopp. Diego klopfte an ein Fenster und ließ sich seine alte leicht angeschnodderte Einliter-Fanta-Plasteflasche mit Wasser nachfüllen. In dieser Zeit ölte ein Junge die Ketten, überprüfte die Reifendrücke und ein anderer wedelte dem Erschöpften mit einem Stück Pappe heiße Luft und neue Kraft zu. Na gut, die zwei Jungs sind erfunden. Doch um den Arbeitslohn in die Höhe zu treiben wäre das ´ne super Nummer gewesen. Schon ging es weiter. Ich fühlte mich schlecht, konnte mich aber nicht sehr lange solchen Sentimentalitäten hingeben, da sich schon wieder eine ordentliche Berg- und Talfahrt über holprige Straßen ankündigte. Wir kamen gerade noch rechtzeitig an, um vom Fahrkartenverkaufsschaltereinlassmenschen empfangen zu werden. David und ich waren die einzigen Kunden im Wartesaal. Wir mussten uns trotzdem wieder setzen, um dann erneut aufgerufen zu werden. Der höfliche Schalteranweiser begleitete uns freundlich an unser Schiebefenster. Das wollte er sich nicht nehmen lassen. Dienstbeflissen bis zum Schluss. Ob deutsche Beamte das gleiche mit kubanischen Reisenden tun würden? Wir also erhielten unsere Fahrkarten und alle Angestellten waren überaus freundlich zu uns, obwohl ihre Arbeitszeit längst überschritten war. Das honorierte ich mit einigen Stückchen Seife für die Schalterangestellten.

Tagesaufgabe erfüllt!

Posterwelten

Es war ca. fünf Uhr morgens als ein Hahn krähte und mich weckte. Wer zum Teufel hält sich in einer Großstadt einen Hahn? Oder ist das ein Wecker? Das Geschrei erinnerte mich an den Wecker, den wir unserer jüngsten Tochter vor einigen Jahren zu Weihnachten geschenkt und kurz darauf wieder entsorgt hatten. Ein fürchterliches Ding, Hahnengekräh in schlimmster Weise. Doch wenn es ein Wecker ist, muss der Besitzer ihn doch endlich ausdrücken. So lange konnte der den doch nicht ignorieren. Ich zählte die Sekunden zwischen den Weckrufen. Kikeriki 1-2-3-4-5-6-7-8-9-10. Kikeriki und wieder zehn, und wieder und wieder. Immer und immer wieder zehn Sekunden in einer fürchterlichen Lautstärke. Klar war das ein Wecker und keiner befand sich in der Wohnung, um ihn abzustellen. Naja früher oder später hörte der Krawall auf. Eher später. David schlief glücklich und zufrieden den Schlaf des Gerechten. Ich beneidete ihn, drehte mich auf die andere Seite und versuchte noch mal einzuschlafen. Der Hahn war nun endlich still, doch irgendwo bellte ein Hund und ich hörte ein Radio. Salsamusik. Havanna erwachte. „Gleich sind wir da du hässlich-schöne, malträtiert und so oft missbrauchte Stadt.“ Am Vormittag streiften wir durch die Straßen. Bunte Blüten lagen wie nasse Papierschnipsel auf dem Asphalt verstreut. Der Verkehr donnerte laut vorüber, die Straße glänzte ölig. Eine dralle Schwarze schob eine bunte Torte, die sie auf dem Gepäckträger ihres Fahrrads festgeklemmt hatte, an uns vorbei. Etwas weiter weg spiegelte sich die Sonne in einer zerbrochenen Fensterscheibe.

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Bewusst suchten wir Regionen für unsere Streifzüge heraus, die im Allgemeinen von Fremdländern gemieden werden. Im Urlaub will sich doch niemand mit Armut beschäftigen. Obwohl Armut ja relativ zu betrachten und hier auf Kuba anders zu bewerten ist als bei uns. Kostenlose Schulbildung und medizinische Versorgung, preisstabile Grundnahrungsmittel, vielleicht noch ein festes Dach überm Kopf und die nötige Gelassenheit, das Leben zu leben. Für uns Menschen sollte das reichen, um glücklich zu sein. Eigentlich. Mir fiel auf, dass wir hier weitgehend von Werbung verschont blieben. Wie seltsam die Häuser ohne aggressiv bunt leuchtende Gehirnbeeinflussungsschilder aussahen. Kein Heer von Werbefachleuten und Psychologen, die versuchen über Kinder und Jugendliche an das Geld der Werberesistenten zu gelangen. Keine aberwitzigen Riesenplakate, die unabdingbar schrieen: „Kauf! Kauf! Kauf!“ Bis du es endlich tust, nur um es aus deinem Kopf zu sprengen und um zu merken, dass das leere Gefühl, das du vorher hattest, sich in keinster Weise geändert hat. Ich bin wer ich bin – mit Luxus oder ohne.

Wir gingen also durch die Straßen und sahen endlose Häuserruinenreihen. Die Arkaden - jeder Teilbereich versucht mit Farbe zu beleben. Lindgrün, altrosa abgesetzt, falscher Backstein. In einem Hotel wurden Klimaanlagen montiert. Die riesigen Kästen aufs Vordach gestellt, die Leitungen durch ein Fenster verlegt und ein Teil der störenden Fensterbank mit dem Vorschlaghammer abgedroschen.

Eine Ziersäule an eine Gebäudewand appliziert, ihr oberes Ende mit einem Stuck-Abschluss verziert, der unten fehlte. Eventuell war er vor Jahren schon abgebrochen. Diesen hatte man liebevoll mit Farbe imitiert.

Die Fenster der einzelnen Etagen reichten bis zum Boden und wurden von einem kleinen Balkongeländer geschützt. Teils aus Beton, teils aus Eisen, vergammelt oder aufpoliert, gestrichen und mit bunten Blumen aus Plastik behangen oder halb weggerostet und durch nichts ersetzt.

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Die Fenster waren weit geöffnet und mit luftigen Läden beschattet. Die in der Sonne dörrenden Topfpflanzen erzeugten ein Flair, das es uns genießen ließ durch die Straßen zu gehen, obwohl es heiß und stickig war. Bizarre, in den Fünfzigern gebaute Komplexe, an denen seit über einem halben Jahrhundert das Klima und die Tatenlosigkeit nagen. Halb zerfallen und halb aufgebaut. Eine abgetakelte alte Lady. Hier und da mit etwas Make Up aufgehübscht. Traumhaft sicher gesprühte Che-Gemälde über unverputzten Wänden, Cienfuego, Castro. Die Hitze wurde unerträglich. Ich begab mich in die Imagination der Revolution. Einschüsse, davonlaufende Menschen, zerspringendes Glas. Wir waren mittendrin. Bunte Kleider, schweißbedeckte Oberarme, eine grelle Frauenstimme, die mit ihrem Mann schimpft. Ich stand in der Posterwelt meiner Jugendträume.

Erst mal etwas trinken. Vor uns ein Markt. Kleine Stände -Buden leicht bedacht. Die Holzplanken der Tresen, ab-und glattgegriffen. Es wurde Fleisch zerteilt und Fliegen verjagt, Obst zum Probieren angeboten und verkauft. Säfte gepresst und getrunken. Weit hinten Zuckerrohrsaft, gequetscht mit einer Maschine aus den frühen Dreißigern, vielleicht noch älter. Doch der Saft, der unsere Kehlen herunterfloss, war jung und kühl und wunderbar. Und das Gleiche noch einmal. „Aber bitte die Gläser nicht ausspülen.“ Zu spät. Rein in die Wanne, und wieder raus. Fertig. Alles wurde gleichmäßig verteilt und doch herunter gekippt. Egal, weiter geht’s, an die anderen exotischen Tränken. Der morbide Charme des hässlich Schönen ließ uns nicht los und weiß Gott wir fanden alles schön.

Meiner Frau hatte ich vor Antritt der Fahrt versprochen, nur Wasser aus der Mineralwasserflasche zu trinken. Diese füllte ich regelmäßig am Wasserhahn auf, wenn sie leer war. Doch Spaß beiseite. Am ersten Tag schon war es zu spät. Rosas Begrüßungstrunk war mit Leitungswasser versetzt. Kein Durchfall oder sonst etwas. Na bitte. Ein Pferdemagen zahlt sich aus. Es wäre ja auch allzu schade um die vielen sonderbaren Dinge, die alle mal probiert werden wollten.

Wir liefen also weiter. Die Straßen rauf und runter, rechts, links, kreuz und quer. Die Augen auf. Ein liebevoll, mit einem Fahrradmantel und zwei Schläuchen, drapiertes Schaufenster, Hunde, die aussehen wie Ratten und Ratten, die aussehen wie Hunde. Immer nur die Augen auf. Ein Schienenstrang versperrte uns den Weg. Hartholzschwellen in den Schotter gelegt. Nicht am Übergang und ohne nach links und rechts zu schauen, überquerten die Einheimischen die Bahnstrecke. Wir trotteten hinterher. Als auch wir das Schotterbett betreten wollten, sahen wir, lässig an eine Hauswand gelehnt, einen Ordnungshüter. Ihm war egal wer und wie oft er die Gleise betrat. Ob er das bei uns ebenfalls so leger sehen würde, wollten wir nicht ausprobieren und gingen den Polizisten fragen, ob wir hier auch über die Gleise springen dürften. In Deutschland wäre uns so etwas im Traum nicht eingefallen. Wenn er verneint hätte, müssten wir halt ein paar Meter Umweg gehen. Ich an seiner Stelle hätte das getan. Doch von unserer Frage war er so geplättet, dass er überhaupt keinen Gedanken daran verlor, uns zu foppen. Als wir ihn ansprachen, wusste er nicht, was wir von ihm wollten. Sicher waren wir die Ersten, die so eine unsinnige Frage stellten. „Dürfen wir hier rüber gehen?“

Leute gibt´s. Mitleidig lächelte er uns an, zuckte mit den Schultern und nickte.

Warten – Warten - Warten

Am Bahnhof angekommen, begaben wir uns erst einmal hinein. Er wurde im 12. Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts erbaut, ist außen mit bunten Kacheln und Türmchen verziert, innen eher schmucklos. Eingerichtet mit Plastiksitzen und einigen Imbissständen – eine Wartehalle eben. Von hier aus startet der Expresszug Nr. 1 quer über die ganze Insel nach Santiago de Cuba und in der Gegenrichtung der Expresszug Nr. 2, welcher von Santiago nach Havanna fährt.

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Wir setzten uns also und warteten. Und warteten und warteten. Die etwa zweihundert Menschen im Gebäude waren mit Geduld gesegnet. Sie saßen auf Bänken, mitgebrachten Klappstühlen, auf ihren Koffern, Taschen, Rucksäcken. Einige schliefen liegend auf dem Fußboden oder sitzend an die Wand gelehnt. Die ausgezogenen Schuhe fein säuberlich abgestellt. Um es kurz zu machen: Es passierte nichts, was uns auf eine pünktliche Abfahrt hoffen ließ. Alle fünfzehn Minuten, wahrscheinlich um geschäftiges Treiben vorzutäuschen, denn es fuhren doch keine Züge, erfolgte eine laute und undeutliche Lautsprecherdurchsage. Die Durchsagen, die sicherlich kein Mensch, aber auf alle Fälle ich nicht verstand, verwirrten uns alle fünfzehn Minuten. Laufend wollte ich den Rucksack nehmen und loseilen, schaute auf meinen Banknachbarn, sah sein gelangweiltes Gesicht und sein mitleidiges Lächeln sagte mir zum wiederholten Mal, dass ich mich entspannen sollte. Hier passierte abfahrtstechnisch gesehen erst mal nicht viel. Plötzlich ein unglaubliches Prasseln auf dem Bahnhofsdach. Draußen regnete es, nein, es schüttete. Für mich eine willkommene Abwechslung. Ich ging raus unters Vordach, um mich mit dem geschäftigen Treiben abzulenken, denn keiner der vom Regen Erwischten floh vor dem sintflutartigen Niederschlag! Im Gegenteil, anders als in Deutschland, bewegten sich die meisten Menschen nicht viel schneller als bei Sonnenschein durch die Straßen. Unglaublich würdevoll waren diese anzuschauen und sie hatten Recht. Wenn schon nass, dann mit Stil.

Direkt vor dem Hauptgebäude befand sich ein kleiner, mit Marmorplatten verlegter Platz, der bei starkem Regen unter Wasser stand. Dort tummelten sich Jungen im Alter von schätzungsweise zehn bis siebzehn Jahren in Shorts oder Badehosen. Ihre Oberkörper waren nackt. Sie holten einen weiten Anlauf, ließen sich mit Schwung auf Brust und Bauch fallen und schlitterten, vom Wasser getragen, johlend über die Marmorplatten. Ein wunderbar anzuschauender Wettkampf. Vom Spaß beflügelte Leichtigkeit und lustiges Miteinander. Als der Regen aufhörte, ging ich wieder in die Wartehalle. David war gerade dabei einige Tüten Gummibärchen an die wartenden Kinder zu verteilen. Sie kamen, erst etwas zögerlich, doch als der Damm brach, im Schwall des gleichen reißenden Stromes, wie der, welcher gerade noch vom Himmel fiel, um etwas von der süßen Abwechslung zu ergattern. Höchstwahrscheinlich wird noch in fünfzig Jahren von dem geredet werden, der im Bahnhof die Gummibärchen verteilte und seltsame Späße dazu machte, denn dies war für jeden eine willkommene Abwechslung.

Langsam wurde es wieder still. Dann warteten wir wieder. Und warteten und warteten. Plötzlich ein lauter Knall. Vier Meter vor uns fiel eine etwa einen halben Quadratmeter große Platte aus Stein von der Decke auf den Fußboden. Unweit einer an einer Säule stehenden Gruppe von Menschen. Hätten die Leute auch nur zwei Meter weiter rechts gestanden, hätte es mindestens einen von ihnen schwer getroffen. Wer jetzt aber denkt, es herrschte Panik oder Aufruhr, irrt gewaltig. Vermutlich handelte es sich bei den Wartenden um alte Revolutionäre, die mehr als einmal dem Tod ins Auge geblickt hatten, denn sie verzogen keine Miene. Schauten kurz nach oben, besahen sich den Trümmerhaufen auf dem Boden und gingen zum Tagesgeschäft, dem Warten, über und zwar genau auf dem Platz, an dem sie dies begonnen hatten. Irgendwann am Abend, denn inzwischen war es draußen dunkel, kam ein Bahnbediensteter mit einem Besen, kehrte den von der Decke gefallenen Bauschutt zusammen und ging wieder seines Weges. Den Haufen räumte keiner weg. Möglicherweise wollte man auch nur warten bis die nächste Platte von der Decke fiel, um nicht mit einer nur halb beladenen Schubkarre fahren zu müssen.

Vielleicht aber liegt der Schutt noch heute.

Ferrocaril - Der Zug nach Santiago

Spät in der Nacht kam dann endlich auch der Zug und alle Wartenden, die bis jetzt so geduldig ausharrten, verloren plötzlich die Nerven. Obwohl jeder auf alle Fälle einen Sitzplatz erhalten würde, denn es werden nur so viel Fahrscheine verkauft, wie der Zug Plätze hat, drängten die Menschen zum Einlass, als ginge es um Leben und Tod. Naja jeder Reisende hatte halt seine ganz spezielle Vorstellung, auf welchem Quadratmeter im Zug er die Fahrt verbringen wollte. Von karibischer Gelassenheit keine Spur mehr! Wir schauten uns das völlig absurde Geschiebe und Gezerre aus gebührendem Abstand an und stiegen fast als letzte ein. Im Zug wurden alle wieder ruhiger. Vermutlich benebelt durch den starken Uringeruch, der sanft durch die Abteile zog. Die Passagiere fanden ihre Plätze, nahmen sich etwas zu lesen oder versuchten zu schlafen. Wir verabschiedeten uns noch von einem im Bahnhof kennengelernten Freund, einem kleinen Hund, der von mir ein Stück Leberwurstschnitte erhielt und uns von dem Moment an nicht mehr von der Seite wich. Danach bereiteten wir mit den Schlafsäcken das Nachtlager in unserem Abteil. Die kleine Promenadenmischung saß an der Zugtür bis wir abfuhren. Sicher waren wir die ersten, die ihn nicht getreten oder geprügelt haben, denn die meisten Straßenhunde fristen ein hartes Dasein in Havanna.