Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Franz Werfel

Der Abituriententag

 



e-artnow, 2016
Kontakt info@e-artnow.org

ISBN 978-80-268-6784-5

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Der Untersuchungsrichter Landesgerichtsrat Doktor Ernst Sebastian tötete die erst halb genossene Zigarre. Er pflegte während seiner Amtshandlungen nicht zu rauchen. Ein Verhör war noch anzustellen. Da die Uhr schon auf sechs ging und die Sonnenstrahlen immer schiefer den Stuhl des Verhörs trafen, der wie ein zusammengebrochener Mensch vor dem Schreibtisch hockte, wollte Sebastian sich beeilen.

Er hatte überdies Burda, dem Gymnasialprofessor Johann Burda, fest versprochen, dem heutigen Abend keinesfalls fern zu bleiben. Es war rührend, wie eifrig sich dieser Burda um das Zustandekommen einer höchst überflüssigen und reichlich verlogenen Feier bemühte! Ein sentimentaler Mensch, der ganz unmerklich die Schulbank mit dem Katheder vertauscht hatte, der sanftäugige Professor Burda! Sein Briefstil, mit dem er den ehemaligen Kameraden bat, ›das fünfundzwanzigjährige Jubiläum des Jahrgangs neunzehnhundertundzwei des Nikolausgymnasiums mit seiner Gegenwart zu beehren« – dieser Stil durfte wahrlich kaum ciceronianisch genannt werden.

Fest entschlossen, dem Kollegentag nicht beizuwohnen, hatte Sebastian den Brief vorerst unbeantwortet gelassen. Doch dann war Burda persönlich bei ihm erschienen, mit kindlicheifrigen Worten die Zusage einmahnend. Diese dringliche Bitte abzulehnen, wäre unhöflich gewesen. Auch mischte sich eine kleine dumpfe Neugierde ins Spiel, die Sebastian gar nicht bemerkte.

Der Landesgerichtsrat war ein Mensch, in dessen Wortschatz der Begriff ›Umstellen‹ eine große Rolle spielte. Die Umschaltung vom Schlaf zum Wachen, vom Dienst zum Leben, vom Urlaub zum Alltag beanspruchte viel Zeit und war mit mancherlei schwerfälligen Umständlichkeiten verbunden. Auch heute würden zwei Stunden das geringste Maß sein, das für die langwierige Prozedur des Umstellens berechnet werden mußte. Die ersten Augenblicke jeglicher Geselligkeit, das Betreten auch eines befreundeten Salons, Gruß, Handkuß, leichtes Gespräch, vorgetäuschte Gelassenheit, all das erforderte selbst in gewohnter Umgebung einen ganzen Mann. Um wieviel mehr Nervenfrische mußte man für das Wiedersehen mit einer Schar von gealterten, einander grundlos duzenden Männern bereit halten!

Sebastian schellte ungeduldig und befahl die Vorführung. in der Zwischenzeit blätterte er den Akt an:

›Mord an der Prostituierten Klementine Feichtinger.‹ Seines Erachtens war die Sache sehr unklar. Doch lag vielleicht die Unklarheit nur darin, daß er sich selber nicht gehörig auf den Fall vorbereitet hatte. Er wußte nicht mehr, ob es äußere Abhaltung oder ein innerer Widerstand gewesen, der ihn gestern beim Studium des Aktes behindert hatte.

Glücklicherweise aber war es das erste Verhör, das er heute mit dem Verdächtigen anstellen sollte.

Sebastian war ein sehr moderner Jurist. Er behauptete zwar, keine Macht der Welt könne den legitimen Kriegszustand aufheben, der zwischen Richter und Angeklagten herrsche, aber da der eine Teil der Kriegführenden, der Richter nämlich, in gar zu gewaltigem Vorteil sich befinde, so wolle es die Menschlichkeit, daß man dem Benachteiligten im Spiele einige ›Punkte vorgebe‹. Er verstieg sich sogar mißbilligenden Kollegen gegenüber zu der Behauptung, der Richter müsse einen Teil seiner Truppen auf Seiten des Feindes kämpfen lassen; dies sei nicht nur im Interesse der Gerechtigkeit, sondern mehr noch zum Erweis der Wahrheit vonnöten. All die bewährten Mittelchen der Untersuchung, Kreuzverhör, Verstrickungsfragen, Widerspruchsfallen, Überraschungsschläge, waren ihm in der Seele verhaßt. Er verdammte sie als den ›malleus maleficarum‹, den rückständigen Hexenhammer, als das Folterreglement der modernen Rechtspflege.

Ernst Sebastian hegte feste Überzeugungen, die er schon des öfteren in kriminalistischen Fachblättern dargelegt hatte.

Da war zum Beispiel gleich ›das erste Verhör‹. Nach seiner Auffassung sollte es in der Form einer zwanglosen Unterhaltung verlaufen. Richter und Beschuldigter müßten zueinander Vertrauen fassen, ehe an eine ersprießliche Weiterarbeit zu denken wäre. Vertrauen könne aber nur dann herrschen, wenn der Richter die menschliche Gleichstellung, die dem Noch-nicht-Verurteilten gebühre, mit aller Höflichkeit des Herzens anerkenne. Eine humane Begegnung beider Parteien, wohlgemerkt beider, müsse stattfinden, damit sich aus der einzigartigen Beziehung des Rechtsverwalters zum Rechtsbrecher der Kristall der Wahrheit bilde.

Sebastian hegte eine wirkliche Leidenschaft für sein Amt, für den gar nicht hochgewerteten Beruf eines Untersuchungsrichters. Hundertmal schon hätte er zu höheren Befugnissen aufrücken sollen. Er war dreiundvierzig Jahre alt, Landesgerichtsrat, der Hofratstitel wartete seiner, dennoch wußte er sich jeder Amtserhöhung zu entziehen. Die Untersuchung war ein Posten für jüngere Leute. In Richterkreisen hieß es, daß für diesen Beruf jeder gewitzte Polizeikommissär genüge. Sebastian war anderer Meinung. Vor einigen Monaten hatte ihn der Justizminister höchstpersönlich zu sich beschieden, um ihn umzustimmen. Vergebens! Man munkelte, Sebastians Ehrgeizlosigkeit sei nichts anderes als Hochmut. Sein Vater hatte zu Zeiten der Monarchie als Präsident des Obersten Gerichtshofes die höchste Richterstelle im Staate bekleidet. Der Sohn sei ein geistreicher Mann und bei der besten Gesellschaft, auf vielen Schlössern Exösterreichs ein gerngesehener Gast. Das genüge ihm.

Der Landesgerichtsrat sah nach der Tür und erhob sich. Es gehörte zu seinen Prinzipien, die Vorgeführten stehend zu empfangen wie Besucher.

Der in diesem Augenblick eintretende Untersuchungshäftling machte den Eindruck eines um mindestens zehn Jahre älteren Mannes, als es Sebastian war. Er blieb in großer Entfernung mit knieweichen Beinen stehen und hielt den Kopf gesenkt, eine Gebärde, die der Richter genau kannte und die unzweifelhaft bewies, daß der Mann sich das erstemal in dieser Lage befand.

Sebastian wartete, bis der Justizsoldat verschwunden war, dann sagte er mit einer hellen Stimme, deren angenommener Metallklang Markigkeit und Güte zugleich zu umspannen hatte:

»Also Sie sind Herr Adler? Guten Tag!«

Er streckte seine Hand aus. Der Mann mit dem gesenkten Kopf bemerkte es nicht. Sebastian aber zog die ausgestreckte Hand nicht zurück, sondern legte – als hätte er mit der allzu großen Geste nichts andres vorgehabt – diese Hand auf die äußerste Randverzierung seines Schreibtisches. Jetzt klang seine Stimme flüchtig und verwischt:

»Herr Adler, treten Sie nur näher! Mein Name ist Doktor Sebastian!«

Der Beschuldigte rührte sich nicht.

Der Richter sprach weiter schnell und leise:

»Wir kommen, Herr Adler, heute an diesem Ort nur zusammen, um uns ein wenig kennenzulernen. Fürchten Sie sich nicht! Sie sehen, unser Gespräch hat keine Zeugen. Mein Schriftführer ist nicht anwesend, die Amtszeit ist längst vorüber. Sie können ruhig sprechen. Vor Gericht sind Sie nur für jene Aussagen verantwortlich, die protokolliert und von Ihnen unterzeichnet worden sind. Ich sehe Ihnen an, daß Sie meine Stellung, die Stellung des Untersuchungsrichters, falsch beurteilen. Ich bin nicht Ihr Feind. Meine Aufgabe ist es nicht, zu überführen, sondern zu untersuchen. Ich könnte Ihr Feind nur von dem Augenblick an sein, wo ich davon überzeugt wäre, daß die gegen Sie vorliegenden Verdachtsgründe schlagend sind. Davon aber bin ich durchaus nicht überzeugt, Herr Adler! Ich bitte genau aufzufassen, was ich Ihnen hiermit gestehe: Ich habe nicht das geringste Interesse daran, einen Schuldbeweis gegen Sie zu konstruieren. Andere Herren würden Ihnen jetzt vielleicht die gesetzlichen Erleichterungen vorhalten, die ein furchtloses Geständnis nach sich zieht. Ich verzichte auf eine derartige Vorhaltung. Sie können ruhig annehmen, daß ich in Ihnen nicht den Beschuldigten sehe, sondern den Menschen, der so oder so in eine Klemme geraten ist. Also Mut, Herr Adler! Bitte nehmen Sie Platz!«

Adler schlich leise zum Verbrecherstuhl und setzte sich. Das erste, was Sebastian an dem Manne auffiel, war die große Glatze, verbeult und ausgebuchtet wie ein abgenütztes Geschirr. Der Haarkranz, der diese Glatze umlief, bestand aus schmutzig-grauen, ziemlich langen Locken. Ein Rundbart von der gleichen Farbe. Die Stirne war so mächtig vorgebaut, daß sie die doppelt geschliffene Brille zu überwölben schien, hinter der wimperarme Augen an Lidrandentzündung litten. Der Mensch war weder groß noch klein, weder gut noch schlecht gekleidet.

Doktor Sebastian tauchte in die reiche Maskengarderobe seiner sozialen Richtererfahrung, um den Mann unterzubringen: Nachtredakteur etwa, urteilte er. Dann entnahm er dem Faszikel das Blatt, auf dem Adlers Nationale verzeichnet stand. Seine Worte konnten in ihrem näselnden Klang die bösartige Scherzhaftigkeit nicht ganz verhehlen, die aus der Allmacht dieser Situation zu entspringen pflegt:

»Einige kleine Formalitäten müssen Sie in Kauf nehmen, Herr Adler!«

Und er verlas:

»Franz Josef Adler, geboren am siebzehnten April achtzehnhundertundvierundachtzig zu Gablonz in Böhmen ...«

Langsam legte er das Blatt hin:

»Sie sind nicht älter als vierundvierzig Jahre!? Aber das ist doch ...«

Den Rest des Satzes verschluckte er, um den Beschuldigten nicht zu kränken.

Aber er dachte: aufs Jahr so alt wie ich, fuhr sich durchs volle Haar und streichelte seine jugendliche Backe. Nun aber schob er den Akt zur Seite und stellte ohne Vorlage seine Fragen:

»Möchten Sie mir nicht Ihren Bildungsgang schildern, Herr Adler?«

Der Mann hatte eine sonderbare Stimme. Sie stieß die Worte kurz aus und fraß sie doch zugleich in sich hinein. Die Zischlaute überwogen und gaben den Worten eine vertrackte Würde, nicht anders als die zuckenden, gleichsam kurzsichtigen Verbeugungen, die Adler hier und da seinen Sätzen anfügte. Sein Gesicht stellte verzweifelte Höflichkeit dar und errötete oft und ohne Grund. Selbst die Haut unter den dünnen Augenbrauen wurde rot, und die mächtige Stirn zeigte große scharfumgrenzte Flecken. Dies beobachtete Sebastian, ohne daß er sich in das Gesicht des Verdächtigen allzusehr vertiefen mußte. Er verspürte, daß trotz der verzweifelten Höflichkeit und der vertrackten Würde dieses Gesicht auf unnachahmliche Art grinse, als suche es einen Spießgesellen, der es ebenso lächerlich finde, wie es sich selbst fand.

Adler berichtete:

»Ich habe das Gymnasium besucht. Leider aber war ich gezwungen, meine Studien zu unterbrechen. Später habe ich dann manches nachgeholt und mehrere Semester Philosophie an der Berliner Universität gehört; auch historische Fächer. Den Doktortitel habe ich allerdings nicht erworben.«

Zuckende Verbeugung.

Sebastian legte Hochachtung an den Tag:

»Ihr Bildungsgrad wird Ihnen nützlich werden, Herr Adler! Jetzt aber sagen Sie mir bitte ein Wort über Ihren Beruf! Wovon leben Sie?«

Adler zerkaute tiefernst die Worte, mit denen er bekannte: »Ich lebe von Rätseln.«

Sebastian lauschte aufmerksam dem paradoxen Satz nach, ehe er sich verwunderte:

»Von Rätseln? Was heißt das?«

Adler schlug langsam seinen Rockkragen um und deutete auf das Abzeichen. Es war ein großes goldenes Fragezeichen auf blauem Schilde:

»Ich bin Schriftführer des Rätselklubs.«

Diese Aufklärung mochte den Richter verletzt haben. Etwas Kaltes und Tückisches kam in seinen Wortklang:

»Sehr geheimnisvoll! Aber ich habe Sie nach Ihrem Beruf gefragt.«

»Jawohl, Herr Oberlandesgerichtsrat! Ich liefere den Zeitungen Rätsel.«

Doktor Sebastian nahm einen Bleistift zur Hand und begann auf dem Löschblatt, das vor ihm lag, zu kritzeln und zu zeichnen.

»Also Rätsel! Kreuzworträtsel, Buchstabenrätsel, Charaden, Orakel in Vers und Prosa! Sehr gut! Ich verstehe! Aber sagen Sie mir, Herr Adler, sind diese Rätsellieferungen denn ein hinreichender Lebenserwerb?«

Adler zischte zuvorkommend:

»Unter Umständen, Herr Hofrat! Ich brauche sehr wenig. Außerdem arbeite ich auch in Schachaufgaben und Rösselsprung.«

Sebastian betrachtete lange und eindringlich das Ornament, das er aufs Löschblatt gezeichnet hatte. Er begann es zu bereichern, zu verzieren und sah nicht auf:

»Sagen Sie mir jetzt eines! Sie verkehren recht häufig bei Prostituierten, nicht wahr?«

Adler zuckte die Achseln und machte eine Handbewegung, als wolle er sagen: ›Sehen Sie mich doch an! Was soll ich tun?‹

Der Richter drückte durch ein bereitwilliges Lächeln aus, daß alles verstehen, alles verzeihen heiße:

»Sie können mir ruhig diesbezüglich die Wahrheit sagen, Herr Adler! Wir sind Männer unter uns. Wir sind moderne und gebildete Menschen! Ich sehe keine Schande in diesen Dingen. Damit fertig werden muß jeder. Einer ist verheiratet, der andere ein Don Juan, der eine sinnlich, der andere temperamentlos, dieser ist mutig, jener schüchtern. Ich bitte Sie, offen zu reden!«

Dem Beschuldigten fiel das Geständnis nicht ganz so leicht wie dem Richter die Aufforderung. Nach einer Weile aber gab er zu:

»Ja! Hier und da besuche ich Prostituierte!«

»Bevorzugen Sie die Straßenmädchen oder feste Häuser?«

»Das ist mir ganz gleichgültig, Herr Hofrat!«

Sebastian sann darüber nach, wohin er mit der letzten Frage hatte zielen wollen. Es war ihm entfallen. Da fand er's noch einmal nötig, sich wegen des Gegenstandes seiner Neugier zu entschuldigen. Es müsse aber sein:

»Und wie ist es mit der Treue, Herr Adler? Gehen Sie längere Zeit zu ein und demselben Mädchen, oder wechseln Sie oft?«

Adler, der in diesen Worten eine Falle zu fürchten schien, gab eine ausweichende Antwort.

Sebastian sah noch immer nicht auf. Es gehörte ebenfalls zu seinen Prinzipien, beim ersten, zwanglosen Verhör den Gegner durch Blicke nicht zu verwirren, zumal wenn sich die Unterredung dem Lebenspunkte des Falles näherte:

»Sie müssen aber zugeben, Herr Adler, daß Sie mit der Feichtinger lange und gut bekannt waren!«

Adler zögerte keinen Augenblick:

»Ich bin ihr im ganzen dreimal begegnet. Zweimal davon in ihrer eigenen Wohnung.«

Und mit einer traurigen Bewegung fügte er hinzu:

»Leider!«

Sebastian kritzelte noch immer:

»Verzeihen Sie die Frage, Herr Adler! Sie gehört nicht ganz, aber doch ein wenig zur Sache. Haben Sie niemals eine Frau, eine Geliebte, ich meine etwas Eigenes, etwas Anderes besessen als diese Damen?«

Adler schwieg.

Sebastian wollte schon seine Frage fallen lassen, als die Antwort kam:

»Nein! Ich habe niemals andere Frauen gehabt als diese Damen! – Warum auch?«

»Und wann – wenn ich bitten darf – hat diese – besondere – Leidenschaft für Prostituierte bei Ihnen begonnen?«

Die Stimme des Beschuldigten, dieser Tonfall vertrackter Würde, erhob sich etwas:

»Ich weiß nicht, ob das eine besondere Leidenschaft ist. Es hat sich in meinem Leben einfach so ergeben. Das erstemal, als ich noch Gymnasiast war ...«

In diesem Augenblick sagte Doktor Ernst Sebastian:

»Unmöglich!«

Er sagte dieses Wort aber nicht zum Beschuldigten, sondern zum Löschblatt auf seinem Tisch.

Zwei Worte standen auf diesem Löschblatt, die seine spielende kritzelnde Hand hingeschrieben hatte. Diese Worte bildeten nichts Überraschenderes als den Namen des Häftlings, doch standen sie in verkehrter Reihenfolge da:

Nicht Franz Adler – sondern Adler Franz!

In den altösterreichischen Schulen, Ämtern, Matrikeln, Wählerlisten pflegte man um der alphabetischen Ordnung willen den Rufnamen nachzustellen. Vielleicht wird dieser Brauch auch heute noch geübt. Sebastians Hand aber hatte sich einer alten Sitte erinnert, als sie hinschrieb: »Adler Franz«.

Der Untersuchungsrichter riß das Löschblatt aus der Mappe, zerknüllte es und warf es in den Korb. Dann bat er – die nervöse Unrast seiner Sprechart verstärkte sich – den Beschuldigten: »Erzählen Sie mir bitte doch ausführlich, wie Sie zur Bekanntschaft mit Klementine Feichtinger gekommen sind!«

Adler begann vorsichtig seine Geschichte aufzubauen. Nach jedem Satz machte er lange Pausen, als müsse er Schritt für Schritt den Boden seines Berichts prüfen, ob er auch tragfähig sei. Er suchte die Wirkung seiner Worte in den Zügen des Richters zu erkennen. Aber er sah nur Zeichen einer merkwürdig angespannten Zerstreutheit.

Sebastian hörte kein Wort der Erzählung.

Die Strahlen einer goldverdunkelten Abendsonne beschienen grell den Beschuldigten auf dem Verbrecherstuhl, wie es sich gebührte. Sie offenbarten die Schäden auf dem Gesichte dieses Dreiundvierzigjährigen, der einem alten Manne glich. Die Stirne, die Glatze mit ihren absonderlichen Buckeln und Mulden flammte in der roten Lichtflut, auch der Haarkranz, der Rundbart brannte.

Sebastian überlegte immer wieder dasselbe:

›Rote Haare! Natürlich rote Haare! Die Grundfarbe ist unverkennbar rostrot. Augenbrauen fehlen! Außerordentliche Kurzsichtigkeit! Was aber bedeutet das alles gegen ...‹

Und er staunte über das unerwartete Wort, das ihm ins Bewußtsein trat:

›Was bedeutet das gegen die Stichflamme? ...‹

Unvermittelt unterbrach er den Bericht des Verhörten:

»Sie heißen also Franz Adler?«

Adler sah erschrocken drein. Vorsicht! War das ein Schuß aus dem Hinterhalt? Er stammelte:

»Selbstverständlich, Herr Hofrat! Warum?«

Sebastian lachte ein wenig. Seine Hand fuhr zur Klingel und drückte den Taster nieder:

»Ich will Sie jetzt erlösen, lieber Herr Adler! Besten Dank! Für heute ist es genug. Montag morgens wollen wir mit frischen Kräften an die Sache herangehen. Wir haben den ganzen Sonntag Zeit, zu ruhen und nachzudenken. Ruhen Sie und denken Sie nach, Herr Adler! Danke!«

Und er reichte ihm die Hand hin, die der Untersuchungsgefangene mit der zerknirschten Unentschlossenheit des Erniedrigten nur schlaff ergriff. Er aber war noch nicht bei der Tür, als der Richter ihn noch einmal anrief:

»Adler!«

Sebastian hatte das erstemal »Adler« und nicht »Herr Adler« gesagt.

Der Angerufene zuckte zusammen und drehte sich nicht voll um:

»Befehlen Herr Hofrat?«

Sebastian beugte sich vor:

»Seit wann sind Sie hier in der Stadt?«

Adler überlegte in seiner mißtrauischen Art lange, ehe er erwiderte:

»Ich, Herr Hofrat? – Seit zwei Jahren schon.«

»Vor zwei Jahren sind Sie also zurückgekehrt?«

Adler stand nun mit dem Gesicht zur Tür. Er wiederholte gleichmütig:

»Ja, vor zwei Jahren.«

Sebastian aber hob zwei Finger der rechten Hand an seine Nasenwurzel und sah angestrengt zu Boden, als hätte er allzuviel und unerlaubt Wichtiges erfahren. Dann richtete er sich auf und legte den amtsüblichen Nachdruck in seinen Ton:

»Wenn Sie eine Beschwerde haben, Herr Adler, Sie wissen, ich bin die zuständige Stelle!«

Der Untersuchungsrichter lauschte an der Tür, bis der Schritt des Justizsoldaten und des Häftlings auf dem langen Gange verklungen war. Dann trat er zu seinem Schreibtisch und riß, einer verträumten Eingebung folgend, die vielen Schubladen auf. Eine schmutzige Unordnung, ein staubiges Durcheinander von amtlichen Restbeständen, von privaten Schriften und Korrespondenzen offenbarte sich. All das Papier atmete erstickende Wogen von Ekel und Hoffnungslosigkeit aus. Sebastian litt an der quälenden Eigenschaft, sich von Geschriebenem nicht trennen zu können. Es fiel ihm sehr schwer, einen alten Brief, eine Aufzeichnung, ja selbst einen erledigten Schriftsatz zu zerreißen. Er warf noch einen schnellen Blick in diese trübe Papierhölle, dann stieß er die Schubladen wieder zu. Nie würde dieser Wust gesichtet, aufgearbeitet, abgelegt werden.

Sebastians Hände waren ganz schwarz von jahrealtem Staub geworden. Er ging zum Waschtisch. Dort stand er eine Weile lang regungslos. Aber statt den Wasserhahn aufzudrehen, nahm er plötzlich seinen Hut vom Rechen und verließ, als halte er's hier nicht länger aus, mit ungewohnter Eile das Gerichtsgebäude.

Zweites Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Als Sebastian das separierte Zimmer des Adriakellers betrat, waren die meisten der zum Jubiläum entschlossenen Herren schon versammelt.

Ein Gruppenbild wanderte gerade von Hand zu Hand, das die stumpfe Pyramide einer symmetrisch aufgebauten Jünglingsversammlung darstellte. Die Titelschrift behauptete, daß diese in drei Schichten hockenden, sitzenden, stehenden jungen Leute die Abiturienten des Jahrgangs neunzehnhundertundzwei des kaiserlich-königlichen Staatsgymnasiums zu Sankt Nikolaus seien.

Alle Gestalten dieser gealterten Photographie hatten durch die Zeit etwas Lächerliches bekommen. Entweder wuchsen sie langstielig aus ihren Kleidern heraus oder sie waren in dem Übermaß der sie bergenden Anzüge sitzen geblieben wie gewisse Kuchen. Die verwegensten Kopfbedeckungen belebten die Reihen: Bäurische Hüte, Sportkappen, Marinemützen. Ein unternehmendes Köpfchen trug sogar einen steifen Paradehut, Melone oder Dohle genannt. Und fünfundzwanzig Jahre lang hatte sich der Fingereindruck auf dem Bild erhalten, der in jener verschollenen Stunde die Ebenmäßigkeit dieser Melone verunziert hatte.

Das Bild war gelb und befleckt. Dennoch schien auf dem vergilbten Glanzpapier jene Feuchtigkeit, jene Ahnung von schlechtem Teint wahrnehmbar geblieben, die für Knabengesichter so charakteristisch ist. Gewiß aber hätte kein gerichtlich-beeideter Sachverständiger den ihre eigene Jugend hier feiernden Herren die richtige Knabenphysiognomie zuzuteilen vermocht.

Sebastian mußte eine Weile lang suchen, ehe er den wildfremden Jungen fand, der er selber gewesen war. Er stand in der dritten Reihe, oberhalb des Klassenvorstands Professor Kio, der in der Mitte des Tableaus saß und mit soldatischem Ingrimm die Unterlippe kaute. Sebastian fand sich reichlich unsympathisch, die schiefe Haltung des Kopfes, die deutliche Blässe der Wangen, die allzu spitze Nase, dies alles bereitete ihm Unbehagen. Wie gut, daß wir älter werden, daß ein allstündlicher Tod unsere Züge immer wieder verlöscht! Man sollte sich niemals photographieren lassen.

Sebastian wollte eben die Erscheinung eines andern Knaben auf dem Bilde erforschen, als es ihm aus der Hand genommen wurde.

Professor Burda begrüßte ihn mit Begeisterung. Sein sanftmütiges Gesicht strahlte. Er lief eilig von einem zum andern. Man sah ihm die Wiedersehensfreude an. Er mochte der Einzige hier sein, der keine Stacheln und Reserven in sich verhielt. Zudem war er auch der Einzige, der Frack trug, den ein wenig schlotternden Frack einer reinen Seele. Wie der aufgeregte Veranstalter eines weiträumigen Festes wirkte er, der sich anschickt, den Einzugsfanfaren das Signal zu geben. Und es waren von den siebenundzwanzig Eleven des Jahrgangs doch nur fünfzehn erschienen. Drei hatten sich der Einladung entzogen, drei waren unauffindbar und sechs durch Tod verhindert.

Burda teilte diese Abgangsstatistik der Versammlung sogleich mit.

Schulhof, Schauspieler und Oberregisseur eines großen deutschen Stadttheaters, meinte daraufhin zu Sebastian:

»Immer noch mehr als genug!«

Und während er mit belustigten Augen auf Burda hinwies, drehte er den alten Spruch um:

»Non vitae, sed scholae discimus.«

Sebastian schüttelte viele Hände und schaltete immer wieder das Licht freundlichen Wiedererkennens in seinen Augen ein. Die meisten erkannte er auch ohne Schwierigkeiten wieder.

Ressl hatte seine angenehme Sphäre von Wohlernährtheit und Luxus behalten. Auch Faltin war ziemlich unverändert geblieben. Seine weichen runden Schwarzaugen weideten unruhig den Raum ab und suchten Gelegenheit, Neuigkeiten zu erfahren oder zu verkünden.

Da trat Sebastian ein hagerer Mann an, der ihm fest in die Augen sah und eine knochige Hand hinhielt. Der Landesgerichtsrat setzte das zuvorkommend gestörte Gesicht auf, das er im dienstlichen Leben zu verwenden pflegte. Zugleich aber ärgerte er sich über dieses Gesicht, denn er wußte, wer dieser Mann war. Der Knochige sagte:

»Komarek! Ich bin Komarek! Erkennen Sie mich nicht?«

»Aber natürlich erkenne ich dich, Komarek!«

Sebastian legte vertraulich wie ein Älterer oder wie ein Vorgesetzter die Hand auf Komareks Schulter. Eine durchaus falsche, eine erlogene Geste, fühlte er. Die Qual dieses Abends begann. Komarek zog sich zurück.

Mit einer verbissenen Unruhe, der er nicht Herr werden konnte, wartete Sebastian, welchen Platz ihm Burda anweisen würde. Es war für ihn eine Erleichterung, als er gebeten wurde, zur rechten Hand des erwarteten Ehrengastes zu sitzen. Sebastian blickte umher. Ihm gegenüber, als nächster im Range, saß Karl Schulhof, oder Karlkurt Schulhof, wie er sich neuerdings nannte, der Künstler, der Schauspieler, der Oberregisseur. Sebastian verspürte eine sarkastische Regung, als er den glänzenden Scheitel und das scharf linierte Schauspielergesicht betrachtete: Überragende Geister hat die Creszenz Neunzehnhundertundzwei zu Sankt Nikolaus nicht hervorgebracht.

Unzweifelhaft parierte Schulhof diese Regung seines Gegenübers mit ähnlichen Erkenntnissen.

Die Gesellschaft wies deutlich zwei Parteien auf.

Den weitaus größeren Teil des Tisches hielt die zweite Partei besetzt. Es waren dies die Zukurzgekommenen, das Kanonenfutter eines knappen und hoffnungslosen Auskommens. Matte, graue Gesichter, in welche eine erfrorene Bitterkeit eingemauert war. Menschen, die weder zu schlafen noch zu wachen schienen, Fixangestellte des Nichts auf unfrohem Ausgang.

Tragisch zu nennen war es, daß auch Fischer Robert, der Hochbegabte, unter diesen Schatten des alltäglichen Hades hockte. Nie hatte es eine Frage gegeben, die Fischer Robert nicht gebändigt hätte, keinen Aorist, dem er nicht gewachsen war. Nicht einmal in der frühesten Pennälerzeit konnte es ihm je zustoßen, ›ut‹ mit dem ›Indikativ‹ zu konstruieren. Sebastian hatte in seinen Reden zwar stets die Vorzugsschüler im Allgemeinen und den Primus Fischer im Besonderen verächtlich gemacht, aber in der Tiefe seines Herzens brannte dennoch sehr oft Bewunderung für Fischers Fassungskraft, Geistesschärfe und Aufmerksamkeit.

Nun saß der Heros, der einst allen Lehrern die Schulheftpakete nach Hause tragen durfte, am unbesonnteren Ende der Tafel und unterhielt sich über den neuen Fahrpreistarif der Straßenbahn und über die Baupolitik der Gemeinde, denn er war Beamter des Magistrats. Er unterhielt sich mit Komarek, dem Auswurf, dem schlechtesten Schüler des Jahrgangs. War es Unachtsamkeit oder ein ironischer Geistesblitz Burdas, daß sie nebeneinander saßen?

Nicht nur das Leben, auch die Sitzordnung hatte die beiden Spitzenleistungen der Klasse, die positive und die negative, einander angeglichen.

Immerhin, Komarek war noch nicht ganz erstorben, etwas von seiner funkelnden Gedrücktheit, von seinem ›catilinarischen Feuer‹ war am Leben geblieben.

Als ein Heilloser und Armer hatte er schon in frühester Jugend erkannt, daß Gott in seiner unermeßlichen Unberechenbarkeit zwei Parteien der Menschheit geschaffen habe, die Glücklichen und die Unglücklichen, von denen er es aber nur mit der ersteren hielt. Zu den Glücklichen gehörten vorzüglich die Reichen, aber nicht nur die Reichen. Was diese jedoch anbetrifft, so äußerte sich ihr Reichtum nicht allein in dem Aufwand, den sie trieben, sondern mehr noch in der unbewußten Fröhlichkeit, mit der sie ihn trieben. Nicht nur die köstliche Tatsache der schmackhaft belegten Frühstücksbrötchen war maßgebend für das unerforschliche Wesen der Welt, die wohlüberlegt-sorgfältige Verpackung, die zärtlichen Hüllen von Öl- und Seidenpapier waren in Komareks Augen fast noch bedeutsamer. Überhaupt, wer könnte die tausend heimlichen Zeichen des Reichtums ermessen? Der runde rosige Schnitt der Fingernägel! Der milchige Glanz der Haut, der von geräumigen Zimmern, kultivierter Nahrung, reichlichen Bädern, unverbindlichen Gesprächen, gesichertem Zukunftsgefühl und weichem Schlaf herrührte! Das Unnachahmliche der Kleidung, selbst wenn sie vernachlässigt war! (Wenn ein Prolet hingegen einen feinen Anzug trug, wirkte er doppelt unmöglich, schämte sich und hatte Angst, in Verdacht zu kommen.) Die Art sich zu erheben ferner, wenn die Prüfungsfrage einen dieser Auserwählten traf! Eine hochfahrende und gesicherte Art sich zu erheben, wobei auch der Lehrer einen unerwünschten Beiklang von voraussetzungserfülltem Wohlwollen nicht aus der Stimme bannen konnte, selbst wenn er im gleichen Augenblick sich an dem Lebensglanze des Prüflings zu rächen dachte.

Nach Komareks Erfahrung war auf der Skala des Glücks dem Reichtum der angesehene Name benachbart.

Der Klassenvorstand rief zum Beispiel Ernst Sebastian auf. Sebastian wußte kein Wort. Da schlug Professor Kio – und er war doch ein Gerechter unter Ungerechten – die Hände über dem Kopf zusammen:

»Was würde Seine Exzellenz, Ihr Herr Vater, der Präsident des Obersten Gerichtshofes, dazu sagen, daß sein Sohn keine Ahnung von einem hypothetischen Konditionalsatz hat?«

Welch eine Verbeugung lag noch in diesem Tadel!

In mancher Beziehung übertraf ein großer Name sogar noch das Glück des Reichtums. Ein reicher Tunichtgut wurde ohne weiteres aufgefordert, ›seinen Vater in die Sprechstunde zu schicken‹. Das Professorenkollegium hatte geradezu eine Vorliebe dafür, wohlhabende Eltern den Canossagang antreten zu lassen. Wer aber hätte es gewagt, Seine Exzellenz Hofrat Sebastian Ritter von Portorosso ins Konferenzzimmer zu bestellen?

Von den Vätern der andern Partei hingegen, die Gott geschaffen hatte, von Komareks Vater, war niemals die Rede gewesen. Die Lehrer hatten es aus einem unergründlichen Schamgefühl vermieden, davon Notiz zu nehmen, daß auch hinter Komarek eine Familie stand, um das gefährdete Schicksal des Knaben bangend.

Ein einziges Mal nur, als ihm das ›consilium abeundi‹ drohte, hatte der Direktor (fast widerwillig) gewünscht:

»Ich möchte jemanden von Ihren Angehörigen sprechen, Komarek!«

Zu alledem aber kam, daß Komarek gezwungen war, die Schwierigkeiten seines Loses vor den Mitschülern geheim zu halten. Wenn die Glocke des Pedellen läutete und die Knaben mit frischgewaschenen Fingern ihre Bücher aufschlugen, hatte er schon stundenlange Arbeit hinter sich. Denn ihm oblag es, seine jüngeren Geschwister anzukleiden, das Frühstück für die Familie zu bereiten und, da die Eltern ihrem Verdienste nachgingen, auch die Wohnung aufzuräumen.

Mit Reichtum und Namen aber waren die Finessen des Glücks noch lange nicht erschöpft. Gott hatte nicht nur das Geld auf unbegreifliche Weise verteilt, sondern auch das Gedächtnis. Komarek August konnte soviel büffeln, stucken, ochsen als er mochte, er merkte sich, er verstand kaum einen Bruchteil des Lehrstoffs. Fischer Robert hingegen, der aus nicht viel besseren Verhältnissen stammte als er, erfaßte den Binomischen Satz beim ersten Hören.

Zu den ungleichmäßig verschwendeten Glücksgütern mußte ferner jene Erscheinung gerechnet werden, die man gemeiniglich Charakter nennt: die klare Unberührbarkeit und Unbeugsamkeit der Person, die um sich einen Raum von Respekt verbreitet. Doch nicht nur Charakter, auch Charakterlosigkeit war ein Geschenk an die Glücklichen. Man mußte schon in Gottes besonderer Gunst stehen, um im Trommelfeuer der Erniedrigungen freundlich grinsen zu können und sich alltäglich selber ins Gesicht zu spucken.