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Zum Buch

»Man muss vom Alten lernen, um Neues zu machen.«

BERTOLT BRECHT

Der 100. Band unserer vielgelobten Reihe marixwissen ist da! In ihm blicken wir zurück auf neun Jahre anschaulicher Wissensvermittlung in kompaktem Format. Der 100. Band versammelt Lebensbilder der bedeutendsten Persönlichkeiten der Weltgeschichte. Mutige Entdecker treffen auf findige Wissenschaftler, Politiker von Welt auf Widerständler gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Musiker reihen sich ein neben große Maler und Literaten. All diese Kämpfer und Künstler in ihrem Gebiet haben die Welt zu der gemacht, die sie heute ist. Grund genug, ihnen den 100. marixwissen-Band zu widmen!

Den Auftakt zum heutigen Verlagshaus Römerweg bildete der 2003 in Wiesbaden gegründete marixverlag, dessen inhaltliche Schwerpunkte im Besonderen bei Sachbüchern zu Philosophie, Religion, Geschichte und Geistesgeschichte liegen.

Eine der Hauptprogrammlinien des Verlags bildet dabei die erfolgreiche Reihe marixwissen, die seit 2006 Themen humanistischer Allgemeinbildung fundiert und zugänglich aufbereitet. In nur neun Jahren ist es gelungen, pro Jahr mehr als zehn Novitäten herauszubringen. Für dieses beständige Interesse an unseren Erscheinungen bedanken wir uns mit dem vorliegenden Jubiläumsband, der die wichtigsten und bedeutendsten Persönlichkeiten aus 100 BÄNDEN MARIXWISSEN versammelt. Wir wünschen viel Freude beim Lesen!

100 Menschen die inspirieren und ohne die unsere Welt nicht unsere wäre

100 Menschen
die inspirieren

und ohne die unsere
Welt nicht unsere wäre

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

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Alle Rechte vorbehalten

© marixverlag in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2015

ISBN: 978-3-8438-0520-9

www.verlagshaus-roemerweg.de

»Man muss vom Alten lernen,
um Neues zu machen.«

Bertolt Brecht

INHALT

ANTIKE UND MITTELALTER

Pythagoras, ca. 570–500 v. Chr.

Sokrates, 469–399 v. Chr.

Hippokrates von Kos, ca. 460–ca. 375 v. Chr.

Plato, 428–348 v. Chr.

Aristoteles, 384–321 v. Chr.

Avicenna, 980–1037

Hildegard von Bingen, 1098–1179

Walther von der Vogelweide, ca. 1170–ca. 1230

Thomas von Aquin, 1225–1274

Dante Alighieri, 1265–1321

Johannes Gutenberg, 1394/1404–1468

Jeanne d’Arc (Johanna von Orleans), 1412–1431

RENAISSANCE UND AUFKLÄRUNG

Sandro Botticelli, 1444/45–1510

Hieronymus Bosch, 1450–1516

Leonardo da Vinci, 1452–1519

Erasmus von Rotterdam, 1469–1536

Albrecht Dürer, 1471–1528

Lucas Cranach d. ä., 1472–1553

Nicolaus Copernicus, 1473–1543

Michelangelo Buonarroti, 1475–1564

Raffael, 1483–1520

William Shakespeare, 1564–1616

Galileo Galilei, 1564–1642

Johannes Kepler, 1571–1630

René Descartes, 1596–1650

Sir Isaac Newton, 1642/1643–1726/1727

Gottfried W. Leibniz, 1646–1716

Johann Sebastian Bach, 1685–1750

Voltaire, 1694–1778

Benjamin Franklin, 1706–1790

Carl von Linné, 1707–1778

Adam Smith, 1723–1790

Immanuel Kant, 1724–1804

Angelika Kauffmann, 1741–1807

Francisco de Goya y Lucientes, 1746–1828

Johann Wolfgang von Goethe, 1749–1832

Alexander von Humboldt, 1769–1859

Alessandro Volta, 1745–1827

Wolfgang Amadeus Mozart, 1756–1791

Wilhelm Freiherr von Humboldt, 1767–1835

Ludwig Van Beethoven, 1770–1827

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 1770–1831

Caspar David Friedrich, 1774–1840

Joseph Mallord William Turner, 1775–1851

Carl Friedrich Gauss, 1777–1855

Arthur Schopenhauer, 1788–1860

Heinrich Heine, 1797–1856

Eugène Delacroix, 1798–1863

DAS 19. UND FRÜHE 20. JAHRHUNDERT

Charles Robert Darwin, 1809–1882

Robert Schumann, 1810–1856

Charles Dickens, 1812–1870

Richard Wagner, 1813–1883

Giuseppe Verdi, 1813–1901

Karl Marx, 1818–1883

Florence Nightingale, 1820–1910

Fëdor Dostoevskij, 1821–1881

Lev Tolstoj, 1828–1910

Édouard Manet, 1832–1883

Mark Twain, 1835–1910

Elisabeth von Österreich-Ungarn – (Sisi), 1837–1898

Bertha von Suttner, 1843–1914

Friedrich Nietzsche, 1844–1900

Thomas Alva Edison, 1847–1931

Vincent van Gogh, 1853–1890

Sigmund Freud, 1856–1939

Nikola Tesla, 1856–1943

Max Planck, 1858–1947

Gustav Mahler, 1860–1911

Rudolf Steiner, 1861–1925

Rabīndranāth Tagore, 1861–1941

Marie Curie, 1867–1934

Wilbur und Orville Wright, 1867–1912 / 1871–1948

Gertrude Bell, 1868–1926

Gandhi, 1869–1948

Albert Schweitzer, 1875–1965

Lise Meitner, 1878–1968

Albert Einstein, 1879–1955

Béla Bartók, 1881–1945

Pablo Picasso, 1881–1973

James Joyce, 1882–1941

Franz Kafka, 1883–1924

Paul Hindemith, 1895–1963

Bertolt Brecht, 1898–1956

Ernest Hemingway, 1899–1961

DIE ZWEITE HÄLFTE DES 20. JAHRHUNDERTS

Pablo Neruda, 1904–1973

Salvador Dalí, 1904–1989

Jean-Paul Sartre, 1905–1980

Hannah Arendt, 1906–1975

Mutter Teresa, 1910–1997

Alan Mathison Turing, 1912–1954

John F. Kennedy, 1917–1963

Rolihlahla Nelson Mandela, 1918–2013

Sophie Scholl, 1921–1943

Gabriel García Márquez, 1927/28–2014

Andy Warhol, 1928–1987

Martin Luther King, 1929–1968

Jürgen Habermas, * 1929

Jane Goodall, *1934

Salman Rushdie, * 1947

Malala Yousafzai, * 1997

Textnachweis

Ein Grund zum Feiern – 100 Bände marixwissen

ANTIKE UND MITTELALTER

PYTHAGORAS

ca. 570–500 v. Chr.

Pythagoras ist der erste Vordenker einer philosophischen Schule, die im 6. Jahrhundert in Unteritalien entstand. Geboren wurde er um 570 v. Chr. auf der Insel Samos, die wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen zu Ägypten unterhielt. Er wanderte in die griechische Kolonie Kroton aus, wo er die Herrschaft des Landadels unterstützte. Dort wirkte er an der Gesetzgebung und Verfassung der Stadt mit, er schuf ein Münzsystem und entwarf die Prägung der Münzen. Von daher dürfte sein Interesse an der Ordnung der Zahlen kommen.

Seine Lehren wurden mündlich überliefert, denn er verfasste keine Schriften. Seine Schüler schlossen sich zu Bünden (heteriai) zusammen, die hierarchisch gegliedert waren. Sie standen vereinzelt auch Frauen offen, so wird seine Tochter Theano als Mitglied erwähnt. Die zentralen Lehrinhalte mussten geheim bleiben. Die Bünde bestanden aus zwei Gruppen: a) Die Akusmatiker folgten der neuen Lebensform, sie waren in politischen Fragen konservativ. b) Die Mathematiker kannten darüber hinaus die philosophischen Lehren und waren für Neues offen. Die Lehre bestand zum einen aus einem mathematisch-wissenschaftlichen Teil, zum anderen aus religiösethischen Inhalten.

Nach dieser Lehre wirkt in jedem Menschen eine unsichtbare Seelenkraft (psyche), die nach dem Tod des Körpers fortlebt. Sie kann sich im Traum und in der Ekstase vom Körper trennen und ist das wahre Wesen eines Menschen. Wie ein Hauch wird sie gesehen, gehört aber zum Bereich des Göttlichen. Sie wird in mehrere Körper hineingeboren und folgt damit einem Kreislauf der Geburten (kyklos tes geneseos), um zuletzt wieder in die Region des Göttlichen zurückzukehren. Ähnliches lehrten auch die Gemeinschaften der Orphiker.

Die Seelenkraft muss sich in jedem Leben von den Folgen böser Taten reinigen. Diese Reinigung erfolgt zum einen durch die asketische Lebensform, zum anderen durch die wissenschaftlichen Bemühungen. Askese bedeutet den zeitweiligen Verzicht auf lustvolle und lebensnotwendige Erfahrungen. Das Fleisch von Tieren darf nicht gegessen werden, denn es könnte die Seele eines Freundes darin wiedergeboren sein. Deswegen lebten die Mitglieder der Schule vegetarisch. Die Einzelseele gehört dem beseelten Universum an, somit ist alles Lebendige miteinander verwandt. Jede Seele kann sich durch Askese und Wissenschaft dem göttlichen Bereich nähern, aus dem sie kommt. Sie wandert aber durch mehrere Leben, um dieses Ziel zu erreichen.

Kosmos und Menschenwelt werden durch die göttliche Ordnung geprägt. Diese zeigt sich uns Menschen in der Ordnung der Musik (harmonia), der Mathematik, des Kosmos und des Staates. In der Theorie (theoria) schauen die Menschen die göttliche Ordnung, so wie in den Kulten die Mysten den sterbenden und auferstehenden Gott schauen. Wer die göttliche Ordnung erfasst, wird dem Göttlichen ähnlich. Diese Ordnung aber drückt sich in Zahlen aus, die unser ganzes Leben regeln, da sich in ihnen die Ordnung der gesamten Wirklichkeit verkörpert.

In der Musik lässt sich die Ordnung der Töne durch Zahlenverhältnisse ausdrücken, sie hängt von der Länge der schwingenden Saiten ab. Wie in der Musik, so lässt sich auch das Wesen der gesamten Wirklichkeit durch die Zahlenverhältnisse darstellen. Begrenztes und Unbegrenztes sind die Anfänge (archaia) aller Dinge. Damit gilt die Zahl als die Wesensform aller Dinge, die Mathematik wird zur primären Methode für die Erforschung der Wirklichkeit. Die natürlichen Zahlen werden in gerade und ungerade eingeteilt; allgemein werden Zahlen als Konfigurationen von Punkten innerhalb geometrischer Schemata aufgefasst. Die gesamte Wirklichkeit folgt den Strukturen der Vernunft, sie ist folglich durch die Zahlenverhältnisse darstellbar.

Nach der Lehre der Pythagoräer brennt im Mittelpunkt des Weltsystems ein Zentralfeuer (pyr meson), das nicht die Sonne ist. Die Erde hat die Gestalt einer Kugel und dieselbe Beschaffenheit wie der Mond. Die mathematische Ordnung ist das Wesen der Wirklichkeit und die mathematischen Einheiten sind ihre Bausteine. Das Werden der Welt lässt sich als das Werden der Zahlen verstehen. Die mathematischen Einheiten kommen aus einer kosmischen Einheit. Alles Einzelne muss sich der universalen Ordnung der Wirklichkeit unterwerfen, dies gilt auch für das Leben der Menschen.

Die Harmonie der Ordnung muss folglich im menschlichen Handeln verwirklicht werden. Hinter der kosmischen Ordnung verbirgt sich ein göttlicher Wille bzw. eine göttliche Weltregierung. Überhaupt hat die universale Ordnung göttlichen Charakter, denn das Göttliche ist für uns Menschen immer das Größere, Stärkere und Lichtvolle. Die pythagoräischen Bünde waren gemäß einer hierarchischen Ordnung mit einer aristokratischen Verfassung organisiert. Das Verhalten der Mitglieder wurde streng kontrolliert, auf diese Weise musste »dem Recht beigestanden« und das Unrecht bekämpft werden.

Auch das Wesen der menschlichen Tugend ist durch Zahlen darstellbar, denn die Seele und der Verstand sind Eigenschaften von Zahlen, die einzelnen Teile der Seele stehen in harmonischem Verhältnis. Die Tugend wird dann gelebt, wenn sich die menschliche Seele in die Harmonie der Gesamtwirklichkeit einfügt. Die Seele nähert sich dem Göttlichen, wenn sie die Tugend verwirklicht und sich vom Bösen fernhält. Alles Lebendige ist miteinander verwandt. Die Gesundheit des Körpers wird von den Ärzten (z. B. Alkmaion) als Gleichberechtigung (isonomia) der gegensätzlichen Kräfte verstanden.

Als Organ des menschlichen Denkens wird das Gehirn angenommen. Die Sinnesorgane übertragen die Reize der Außenwelt zum Gehirn, dabei verändert sich der Druck auf die einzelnen Sinnesnerven. Es wird bereits zwischen dem Wahrnehmen (aisthanesthai) und dem Verstehen (xynienai) unterschieden. In dieser frühen Denkerschule entfalten sich die mathematische und die naturwissenschaftliche Forschung im Kontext einer großen religiösen und ethischen Lebensordnung. Der weise Mensch muss sich in die kosmische Ordnung einfügen.

So hat die Schule der Pythagoräer die antike Wissenschaft entscheidend geprägt, ihre Wirkungen sind bis in die europäische Neuzeit hinein zu erkennen. Im 4. Jh. v. Chr. hat sich diese Schule aufgelöst, doch 200 Jahre später wurde sie als neupythagoräische Schule wieder gegründet. Sie prägte das Denken der Spätantike und des frühen Christentums. Eine asketische Lebensordnung wurde mit dem Streben nach Wissen und nach kosmischer Harmonie verbunden.

Anton Grabner-Haider

SOKRATES

469–399 v. Chr.

Sokrates lebte im 5. Jh. v. Chr. in Athen und wurde im Jahr 399 v. Chr. im Alter von 70 Jahren durch den Giftbecher hingerichtet. Zunächst war er von der Schule der Sophisten geprägt, hat aber einige Denkfehler dieser Schule aufgedeckt und überwunden. Auf ihn berufen sich mehrere philosophische Schulen der hellenistischen Zeit: Kyniker, Kyrenaiker, Epikuräer und Stoiker. Da er selbst keine Schriften hinterlassen hat, kennen wir seine Lehre vor allem aus den Darstellungen seines Schülers Plato und aus den Memorabilia des Xenophon.

Plato schildert seinen Lehrer Sokrates in den frühen Dialogen als Denker, der die Wissensansprüche seiner Mitmenschen in Frage stellte und vor allem über die Belange der Ethik und der moralischen Tugend nachdachte. Seine philosophische Grundfrage hatte die Form: »Was ist X?« So suchte er nach dem Allgemeinen, das so beschaffen ist, dass es mehreren Dingen zukommt. Aber er räumte dem Allgemeinen keine Existenz ein, wie dies später Plato tat, denn Sokrates fragte nach der Tugend, die eine bestimmte Form (eidos) und Gestalt (idea) hat. Damit unterschied er der Tendenz nach zwischen einer Art (eidos) und einer Gattung (genos).

Das moralische Handeln ist für ihn wesentlich eine Angelegenheit der Vernunft: moralische Sachverhalte sind unverrückbare Fakten und damit der Unterscheidung von »wahr« und »falsch« unterworfen. Das Anliegen der Ethik besteht folglich darin, wahre Sätze über Gut und Schlecht ausfindig zu machen. Wenn moralisches Handeln eine Sache des Wissens ist, dann handelt der Wissende auch moralisch richtig. Diese Lehre hat später die stoische Schule weiter entfaltet. So fragte Sokrates nach den Kriterien des ethischen Wissens; denn jede Tugend (arete) beinhaltet ein Können (techne) und ein Wissen (episteme). Doch auch die Intuition spielt beim Erkennen der Tugend eine wichtige Rolle.

Für Sokrates war das Wissen um die moralischen Werte die hinreichende Bedingung für das richtige Handeln: Wer das Gute erkennt, wird es auch tun. Die verschiedenen Tugenden bilden eine Einheit, wer sich auf eine versteht, kennt alle. Freilich kennt nur der philosophisch Gebildete die Tugend im vollen Umfang. Wenn jemand tapfer lebt, dann hat er auch ein Wissen von Gut und Böse. Tapferkeit, Weisheit, Besonnenheit und Gerechtigkeit sind die vier Teile der einen Tugend.

Wenn moralisches Wissen die notwendige und hinreichende Bedingung für das sittliche Handeln ist, dann beruhen die moralisch falschen Handlungen auf einem Irrtum bezüglich des Seins und des Sollens. Es folgt daraus, dass niemand freiwillig das Unrecht tut. Der Übeltäter folgt einem Irrtum, er kennt nicht das moralische Gesetz. Wir erstreben die Dinge deswegen, weil wir überzeugt sind, dass sie für uns gut sind. Und wir vermeiden sie, weil wir denken, dass sie für uns schlecht sind. Folglich schädigen ungerechte Handlungen den Übeltäter in seiner Seele, sodass er für den Weisen als bedauernswert erscheint. Niemand will freiwillig böse sein. Für den Weisen ist es weniger schlecht, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun. Es gibt eine Lust wider besseres Wissen, die von vielen angestrebt wird; sie ist aber ein Fall von Unwissenheit. Wenn wir zwischen zwei Handlungen wählen können, dann folgen wir der, von der wir mehr an Lust erwarten.

Viele wählen statt eines kleines Gutes ein großes Übel und lassen sich durch die Einwirkungen des Scheines irreführen. Die schlechte Wahl ist aber immer das Ergebnis eines Nichtwissens. Fünf Faktoren sind zumeist dafür verantwortlich, dass jemand gegen sein besseres Wissen handelt: die Lust, die Furcht, die Liebe, der Zorn und der Schmerz. Wer von der Lust überwältigt wird, zeigt eine Schwäche des Willens (akrasia). Nicht alle setzen das Gute mit dem Lustvollen gleich. Die Tugend als sittliche Tüchtigkeit hängt immer von unserer Einsicht in das Gute ab.

Unrecht zu handeln ist auf alle Fälle für den falsch, der es als Unrecht erkannt hat. Sokrates floh nicht aus dem Gefängnis, obwohl er dazu die Möglichkeit bekam, weil er in der Flucht ein Unrecht sah. Er war nämlich in Athen angeklagt, die Jugend zu verführen und neue Götter zu verehren, da er in einer neuen Weise nach dem Göttlichen gefragt hatte, das sich uns zeigt. Für ihn gelten die moralischen Prinzipien ohne Ausnahme und absolut: Gerechte Vereinbarungen müssen eingehalten werden, Unrecht darf nicht getan werden.

Es ist immer falsch, einen Mitmenschen zu schädigen. Folglich darf ein Unrecht nicht mit einem Unrecht vergolten werden. Vereinbarungen und Versprechungen gelten nur dann, wenn sie gerecht sind. Wenn sie ungerecht sind, müssen sie nicht eingehalten werden. Da Sokrates in Athen blieb, hat er die Gesetze der Stadt akzeptiert. Er weiß sich an sie gebunden und flieht nicht aus dem Gefängnis. Als er den Giftbecher trinkt, glaubt er an ein Weiterleben seiner Seelenkraft. Der Tod ist für ihn, wie wenn man »von einer Krankheit genesen« ist.

Der Zweck der Philosophie ist die kritische Prüfung des Denkens, die Bildung der Jugend und die Anleitung zum guten Leben. Die ethischen Werte sind nicht relativ, wie die Sophisten lehrten, sie gelten unbedingt. Wir können sie mit unserer Vernunft erkennen und folglich auch lehren. Ein Handeln ist dann richtig, wenn es den wahren Nutzen, nämlich die Glückseligkeit, bewirkt. Jeder muss sich selbst erkennen, um die sittliche Tugend zu verwirklichen. Wenn ich weiß, wer ich bin, dann erkenne ich, was ich tun soll.

In jedem Menschen findet sich eine innere Stimme (daimonion), die ihm sagt, was er tun und was er lassen soll. Die höchste Tugend ist die Genügsamkeit, denn wer am wenigsten bedarf, ist der Gottheit am nächsten. Nur wer sich selbst beherrschen kann und die richtige Einsicht in die Dinge hat, soll im Staat die Herrschaft ausüben. In der Politik reden zu viele mit, die diese Bedingungen nicht erfüllen.

Sokrates starb für seine moralischen Überzeugungen, er wollte kein Unrecht tun. Damit ist er für unsere Kultur zum Vorbild der aufrechten Vernunft geworden: Die Aufgabe der Philosophie liegt zum einen im kritischen Denken, zum anderen im gut geführten Leben.

Anton Grabner-Haider

HIPPOKRATES VON KOS

ca. 460–ca. 375 v. Chr.

»Ärztliche Verordnungen werde ich treffen zum Nutzen der Kranken nach meinem Vermögen und meinem Urteil, fernhalten aber werde ich mich davon, sie zu Schaden und Unrecht zu treffen.«

So heißt es in jenem berühmten Eid, dessen Autorschaft mit dem griechischen Arzt Hippokrates von Kos verbunden ist und dessen Namen unsterblich gemacht hat. Der hippokratische Eid bezeugt das Streben antiker Ärzte nach ethischen Normen für die Behandlung Kranker zu Zeiten, in denen eine staatliche Kontrolle des Medizinalwesens und seiner Vertreter noch nicht existierte. Hippokrates steht gleichsam als Inbegriff des idealen Arztes am Anfang der langen Entwicklungsleiter zur Medizin unserer Gegenwart. Keineswegs einig ist sich die Wissenschaft allerdings in der Frage, welche der mehr als 60 überlieferten Schriften des sogenannten hippokratischen Corpus tatsächlich aus der Feder des griechischen Heilkundigen stammen. Denn nur wenig ist über das Leben des Hippokrates bekannt.

Den Ausführungen des Soranos von Ephesos zufolge, der am Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. ebenfalls als Arzt wirkte und eine Biographie seines hochgeachteten Vorgängers verfasste, wurde Hippokrates um 460/459 v. Chr. auf der Insel Kos vor der kleinasiatischen Küste geboren. Der legendenhaften Überlieferung zufolge entstammte er der Ärztesippe der Asklepiaden, die den griechischen Heilgott Asklepios als ihren Stammvater betrachtete. Laut Soranos handelte es sich bei Hippokrates um einen Asklepios-Nachkommen in der 19. Generation.

Der Begriff Asklepiades bezeichnete zu dieser Zeit den Arzt. In einem später entstandenen Mythos erscheint Asklepios schließlich als Sohn des Gottes Apollon und einer irdischen Frau. Kultstätten des Asklepios, sogenannte Asklepeia, sind seit dem späten 6. Jahrhundert v. Chr. belegt. Kranke suchten dort durch einen Tempelschlaf (enkoimesis) Linderung von ihren Leiden. Das zentrale Heiligtum befand sich in Epidauros, wo die in archäologischen Grabungen zutage geförderten Tafeln bis heute Zeugnis über die Heilungen im Tempel ablegen.

Eine besondere Rolle im Asklepioskult spielte die Schlange. Ihre Häutung, das Abstreifen der alten Haut, stand symbolisch für eine Verjüngung und Erneuerung durch die göttliche Heilkraft. Zugleich besaß das Reptil in den Augen der Zeitgenossen Qualitäten, über die auch ein Arzt verfügen sollte: Scharfsinn und Wachsamkeit. Sofern es gezähmt war, wohnte ihm auch die für den Heilkundigen nötige Milde inne. Darüber hinaus fand Schlangenfleisch als Bestandteil vieler Arzneien Verwendung. So wurden neben anderen Tieren vor allem zahme, ungiftige Schlangen in den Asklepios-Heiligtümern gehalten. Nicht zuletzt sorgte der Gott gemäß der Überlieferung in Gestalt einer Schlange für die Verbreitung seines Kultes weit über Epidauros hinaus. Die Verbindung zwischen Asklepios und der Schlange fand gleichsam ihren ikonographischen Niederschlag. Seit dem 4. Jahrhundert wurde der Gott unter anderem mit einer Schlange dargestellt, die sich um einen Stab windet. Dieser Äskulapstab hat die Zeiten als Symbol der Heilkunst bis in unsere Gegenwart hinein überdauert. Als Hippokrates im 5. Jahrhundert v. Chr. seine Kunst auszuüben begann, waren die Asklepios-Heiligtümer bereits gewachsene Institutionen.

In die vermeintliche Lebensspanne des Hippokrates, der seinen Beruf entsprechend den Gepflogenheiten der Zeit als wandernder Heilkundiger ausgeübt haben dürfte, fallen die Vollendung der attischen Demokratie wie auch die großen Kämpfe der Athener gegen Sparta und Persien. Im Jahre 449 gelang unter der Führung des Kimon in der Doppelschlacht bei Salamis der entscheidende Sieg gegen die Perser. Der Kalliasfriede des Jahres 448 erklärte die griechischen Städte Kleinasiens und Zyperns als auch weiterhin dem Perserreich zugehörig, sicherte ihnen aber die Wahrung ihrer Autonomie zu. Die Ägäis wurde zum griechischen Binnenmeer. Nur ein Jahrzehnt zuvor hatte die attische Demokratie mit der Zulassung der 3. Klasse zum Archontat, der gewählten Regierungsführung, ihre Vollendung erfahren.

Die ersten Jahre von Hippokrates’ ärztlicher Tätigkeit dürften von der großen kulturellen Blüte des 5. und 4. Jahrhunderts, der klassischen Zeit, bestimmt gewesen sein. Zu seinen bekanntesten Zeitgenossen zählen etwa die Philosophen Sokrates (469–399 v. Chr.) und Plato (427–347 v. Chr.), die Literaten Sophokles (497–406 v. Chr.), Euripides (480–406) und Aristophanes (445–385 v. Chr.) sowie die Geschichtsschreiber Herodot von Halikarnassos (484–425 v. Chr.) und Thukydides (460–396 v. Chr.). Den Ausführungen Platos und später des Aristoteles (384–322) zufolge war Hippokrates als Arzt und heilkundiger Lehrer bekannt. Angesichts des renommierten Umfeldes großer Denker und anderer, offenbar zur Zufriedenheit der Kranken praktizierenden Heilkundiger betrachteten ihn seine Zeitgenossen aber wohl kaum als außergewöhnlich.

Erst in späteren Generationen sind all die Legenden und Anekdoten in das hippokratische Corpus eingeflossen, die das künftige Bild des Arztes prägen sollten. Die Phantasie kannte hierbei keine Grenzen. Einem Überlieferungsstrang zufolge soll Hippokrates die Bibliothek von Kos verbrannt haben. Andere Stränge wiederum künden von seinen außergewöhnlichen Heilerfolgen. Nicht minder legendär sind die Beschreibungen seiner äußeren Erscheinung, die sich in einer Fülle fiktiver Darstellungen von der Büste bis zum Münzbild niedergeschlagen haben. Hippokrates wird als bärtiger Kahlkopf beschrieben, der sein Haupt stets zu bedecken pflegte. Angaben zu dem hohen Alter, das man ihm gemeinhin zubilligt, schwanken zwischen 85 und 109 Lebensjahren.

Ungeachtet dessen, welche der Schriften des hippokratischen Corpus tatsächlich aus der Feder des namengebenden Hippokrates stammen, beeinflussten diese Werke die Entwicklung des medizinischen Denkens im euro-mediterranen Raum für mehr als zwei Jahrtausende. Im Mittelpunkt der hippokratischen Lehre stehen die vier Körpersäfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle als menschliche Grundelemente. Solange diese Säfte im Gleichgewicht stehen, bleibt der Mensch gesund (Eukrasie). Geraten sie in ein Ungleichgewicht (Dyskrasie), wird er krank. Für die Hippokratiker sind jedoch nicht länger übernatürliche und magische Kräfte an der Entstehung solchen Ungleichgewichts verantwortlich. Vielmehr handelt es sich um natürliche Vorgänge, denen der Arzt mit seiner Kunst entgegenwirken kann, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Diese geistigen Grundprinzipien sollten in den folgenden Jahrhunderten immer weiter verfeinert werden. Verwiesen wurde dabei immer wieder auf ihren legendären Begründer, den idealen Arzt Hippokrates.

Kay P. Jankrift

PLATO

428–348 v. Chr.

Plato war der prägende Denker der antiken und der mittelalterlichen Kultur und wirkt in den christlichen Lehren fort. Geboren wurde er um 428 v. Chr. in Athen, seine Mutter entstammte altem Kriegeradel. Ungefähr zwei Jahre verbrachte er in Süditalien in einer griechischen Kolonie, dann gründete er in Athen eine Schule der Weisheit, die dem Heros Akademos (Akademie) geweiht war. In dieser Stadt starb er im Jahr 348 v. Chr. im Alter von 81 Jahren.

Plato hat uns eine Vielzahl von Schriften hinterlassen, die meisten in der Form von Dialogen (34 an der Zahl), dazu die Werke Gesetze und Staat. Sein Denken reicht noch weit in das mythische Weltbild hinein. Er geht von zwei Dimensionen der Wirklichkeit aus: Der raum-zeitlichen Welt des Werdens (a) steht die Welt des Seins jenseits von Zeit und Raum (b) gegenüber. Die Welt des Seins ist allein unserem Denken zugänglich, doch sie repräsentiert die Unwandelbarkeit und das Ewige. Die Welt des Werdens können wir mit unseren Wahrnehmungen erkennen.

Damit verbindet Plato die Weltdeutung der Eleaten (Metaphysiker) mit der des Philosophen Heraklit, der den ewigen Wandel gelehrt hatte. Die ewigen »Ideen« (eidos) bilden die Welt des Seins, sie sind von der Welt der Wahrnehmungen getrennt. Erst durch die Annahme von Ideen kann ein Zusammenhang zwischen dem Denken und der Sprache einerseits und der Wirklichkeit andererseits gefunden werden. Denn die Ideen liefern uns die Muster (paradeigmata) für die Dinge der Wirklichkeit. Diese Dinge (onta) gelten als zusammengesetzt, als zerstörbar, veränderlich und unsichtbar; sie haben nur eine Gestalt.

Zuerst gibt es das Schöne, das Gute und das Wahre an sich. Was unter uns Menschen als schön, als gut und als wahr gilt, hat Anteil an den ewigen Ideen des Schönen, des Guten und des Wahren. Unsere Aussagen über die instabile Welt der Erfahrungen erreichen immer nur Wahrscheinlichkeit, nie letzte Sicherheit. Die Welt (kosmos) wurde von einem guten und neidlosen »Weltbaumeister« (demiourgos) geschaffen, als Muster verwendete er bei der Erschaffung die ewigen und unveränderlichen »Ideen«. Die Ordnung der Welt folgt einer geometrischen Struktur.

So wie der menschliche Körper so hat auch die Welt eine unsichtbare »Seelenkraft« (psyche). Sie erschafft die Ordnung im Kosmos und vermittelt zwischen den Modalitäten des Seins. Diese Weltseele besteht aus dem Sein (ousia), der Identität (tauton) und der Verschiedenheit (theateron). Ähnlich besteht die menschliche Seele aus einem begehrenden, einem mutigen und einem denkenden Teil. Die Philosophie pflegt den Umgang mit der reinen Urgestalt des Wirklichen, durch die Methode der Dialektik wird die Überwindung des Hypothetischen möglich. Denn sie nivelliert die Voraussetzungen und macht sich auf den Weg zum Anfang selbst.

Unter allen Ideen ist die des Guten die höchste. Sie verleiht den Gegenständen der Erkenntnis die Wahrheit und die Erkennbarkeit. Dem erkennenden Subjekt gibt sie die Möglichkeit der Erkenntnis der Gegenstände. Den Gegenständen der Erkenntnis verleiht sie das Sein (einai) und die Seiendheit (ousia). Der Dialektiker kennt seine Gegenstände und vermag deren Wesens-Logos auszusagen. Wer unter uns Menschen als gut erscheint, hat Anteil an der höchsten Idee des Guten. Die Erkenntnis des Guten ist die notwendige und die hinreichende Bedingung für die Kenntnis aller anderen Ideen. Aber diese Idee des Guten hat die Züge des Unsagbaren, sie wird auf intuitive Weise erkannt. In der Lichtmetaphorik wird sie als das Glänzendste beschrieben, denn sie ist voll unvorstellbarer Schönheit und birgt als himmlischer Ort alle Wesenheiten – damit aber hat sie göttliche Qualitäten.

Wenn sich die menschliche Seele von den »Abbildern« des Körperlichen den »Urbildern« der Ideenwelt zuwendet, dann erfährt sie eine Angleichung an das Göttliche (homoiosis theou), denn der Bereich der ewigen Ideen ist die Heimat der unsterblichen Menschenseele. Sie wird als »innerer Mensch« verstanden und muss sich jenseits des Todes für alle Handlungen und Taten verantworten. Plato spricht vom Gott, den Göttern und vom Göttlichen, doch er stellt sich keinen persönlichen und menschenähnlichen Gott vor. So bezieht er sein Leben auf die ewigen Ideen.

Wenn wir etwas in der Welt erkennen, dann erinnern wir uns an die geschauten Ideen. Daher ist die Unsterblichkeit der Seele wahrscheinlich. Die Erfahrung des Schönen entfacht in uns den Eros nach den ewigen Ideen. Diese geben uns die festen Regeln des guten Lebens vor. Wer gut leben will, muss gerecht sein, es ist die Gerechtigkeit, die uns allen zu einem glücklichen Leben verhilft. Die Tugend (arete) erweist sich als die Gesundheit und Schönheit der Seele; die Bosheit aber ist der Ausdruck einer kranken und hässlichen Seele.

Es sind die Tugenden der Weisheit, der Mäßigung, der Tapferkeit und der Gerechtigkeit, die eine Seele gut werden lassen. Anderseits sind es die Laster der Unwissenheit, der Unmäßigkeit, der Feigheit und der Ungerechtigkeit, die eine Seele böse und hässlich machen. Weil die Seele sich selbst bewegt, muss sie unsterblich sein. Damit aber wird jede Menschenseele nach dem Tod des Körpers in einem neuen Körper wiedergeboren und folgt dem Kreislauf von Leben und Sterben. Da sie schön zusammengesetzt ist und sich aus sich selbst bewegt, muss sie unsterblich sein.

In der Menschenwelt gibt es drei Klassen von Menschen: den Adeligen und Kriegern ist Gold in die Seele gemischt, den freien Bürgern ist Silber beigemischt, und die Sklaven und Unfreien werden von der Beimischung von Erz und Eisen bestimmt. Jede Seele hat einen begehrenden, einen mutigen und einen denkenden Teil. Der Staat der Menschen ist hierarchisch geordnet, er wird von den ewigen Gesetzen regiert. Die Wissenden und Weisen sollen im Staat die Macht ausüben, denn wer das Gute erkennt, der kann es auch tun. So wird der beste Staat von den Philosophen gelenkt.

Der zweitbeste Staat jedoch ist der, in dem das ewige Gesetz herrscht. Dieses wird von der Gottheit erlassen und hat absolute Gültigkeit. Ein »nächtlicher Rat« muss in jeder Stadt darüber wachen, dass die ewigen Gesetze von allen Bewohnern befolgt werden. Damit ist Plato zum Vordenker des geschlossenen und des totalen Staates geworden. Denn für ihn ist es die Aufgabe des Staates, die Moral und das Recht unter allen Menschen durchzusetzen. Dieses autoritäre Staatsmodell wurde von der christlichen Reichskirche verwirklicht und hat dort bis heute seine Gültigkeit.

Anton Grabner-Haider

ARISTOTELES

384–321 v. Chr.

Aristoteles wurde zum Vordenker der antiken und der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Geboren wurde er 384 v. Chr. auf der Halbinsel Chalkidiki, sein Vater Nikomachos war Arzt beim makedonischen König. Mit 17 Jahren zog er nach Athen, um in der Akademie Platos Philosophie zu studieren. Er blieb dort ungefähr 20 Jahre bis zum Tod des Lehrers. Danach lebte er kurz in Assos, später in Mytilini und kehrte dann in seine Heimatstadt Stageira zurück. Dort war er zwei bis drei Jahre der Lehrer und Erzieher des Prinzen Alexander, des späteren Feldherrn und Königs. Danach kehrte er nach Athen zurück und lehrte dort Philosophie am Lykeion, einem Gymnasium der Stadt. Im Alter von 63 Jahren starb er auf Euböa außerhalb Athens.

Die 19 zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Schriften sind uns verloren gegangen. Erhalten aber sind uns 106 Bücher (Corpus Aristotelicum), die von seinen Schülern veröffentlicht wurden. Es sind die Schriften über die Methode der Wissenschaft (Organon), über die Kategorien, die Hermeneutik, die Topik, die sophistischen Widerlegungen, über die Natur, den Himmel, die Seele, die Bewegung der Lebewesen, die Politik und drei große Schriften über die Ethik. Somit lehrte Aristoteles die Logik, die Erkenntnislehre, die Metaphysik, die Naturphilosophie, die Politik und die Ethik.

Die Philosophie geht nach Aristoteles in drei Schritten vor: Zuerst erfolgt die Bestandsaufnahme der Meinungen über einen Gegenstand. Dann werden diese Meinungen problematisiert; und im dritten Schritt wird nach Lösungen des Problems gesucht. Zu den Grundbegriffen für die Erschließung der Realität gehören: das Wesen (ousia), die Form (eidos), die Materie (hyle), das Subjekt (hypokeimonen), die Aktualität (energeia) und die Potenz (dynamis). Diese ontologischen Grundbegriffe werden als Instrumentarium zur Erschließung objektiver Strukturen verstanden. Den Bedeutungen der Begriffe entsprechen reale Gegebenheiten.

Die Dinge existieren unabhängig von unserem Bewusstsein, daher ist es sinnvoll, sog. Kategorien als Bedeutungsklassen einzuführen. Dazu zählen die Substanz, die Quantität, die Qualität, die Relation, der Ort, die Zeit, das Tun, das Erleiden, die Lage und das Haben. Diese natürlichen Klassen der Dinge stehen den Ausdrücken der Sprache gegenüber. Jede Substanz bedeutet ein bestimmtes Etwas. Die platonische Ideenlehre erweist sich als die Konsequenz eines Fehlers der Kategorienzuordnung.

Selbstständigkeit und Substanz sind Eigenschaften jener Dinge, die als Wesenheiten und Realitäten verstanden werden. In der Metaphysik wird zwischen dem Stofflichen (hyle) und der formenden Kraft (eidos) unterschieden.

Die höchste Wirklichkeit ist die Gottheit, denn sie ist reine Form und reines Denken, unbewegter Beweger und vollendete Selbstreflexion. Ein Wissen und Verstehen gibt es für uns nur dort, wo es um Ursachen (aitiai) und Gründe geht. Eine Ursache kann unter dem Aspekt des Inhalts, der Form, des Anfangs und des Zieles beschrieben werden.

Das Werden im Kosmos und in der Welt wird als Übergang vom möglichen zum wirklichen Seienden verstanden. Die Aktualität und die Möglichkeit (Potenz) werden als unterschiedliche Zuständigkeiten eines Dinges gesehen. Eine Bewegung gibt es nur so lange, als Möglichkeiten existieren. In der »ersten « Philosophie wird nach dem Seienden als Seiendem gefragt, dieses wird mit der göttlichen Substanz gleichgesetzt. Die erste Philosophie ist göttlich und ehrwürdig, denn sie kommt dem göttlichen Wissen sehr nahe; zum andern beinhaltet sie ein Wissen über das Göttliche. Denn wenn die ersten Dinge nicht wären, dann wäre gar nichts. Es ist die Aufgabe der Metaphysik, Betrachtungen über das Seiende als Seiendes anzustellen. Damit werden die allgemeine Seinswissenschaft und die Rede vom Göttlichen (theologia) miteinander verwoben.

Für Aristoteles wird die Ethik eine eigene philosophische Disziplin, die sich von allen anderen Wissensgebieten unterscheidet. Die Ethik hat es mit den Dingen zu tun, die ihre Ursache nicht in sich selbst haben, sondern in den Entscheidungen der handelnden Menschen. Die Dinge sind nicht ewig, denn sie können sich so oder auch anders verhalten. Die Ethik ist als praktische Wissenschaft nicht auf das Erkennen, sondern auf das Handeln angelegt. Sie fragt, was die Tugend sei, damit wir in unserem Leben tugendhaft werden.

Damit trennt Aristoteles deutlich zwischen der theoretischen (sophia) und der praktischen Vernunft (phronesis). Aus der theoretischen Philosophie lassen sich keine Folgerungen für die Lebenspraxis ziehen. Das letzte und umfassende Ziel des menschlichen Handelns ist die Glückseligkeit (eudaimonia). Jeder Mensch strebt von seiner Natur her nach dem Wohlergehen und damit nach dem Guten. So gibt es für jedes Streben ein Gutes, auf das es gerichtet ist. Mittels der Tugend setzen wir die richtigen Ziele für unser Handeln. Doch mittels der Klugheit erkennen wir den richtigen Weg, der zu diesem Ziel führt.

Der reife und einsichtige Mensch kann zwischen dem Guten und dem Schlechten klar unterscheiden. Seine sittliche Tüchtigkeit setzt in allen Bereichen die rechte Norm. Es ist die richtige Vernunft (logos), die den Maßstab und die Regeln für das sittliche gute Handeln setzt. Wir begehren das scheinbar Schöne, aber im Tiefsten wünschen wir das wirklich Schöne. Wenn das richtige Streben und das richtige Denken übereinstimmen, dann setzen wir eine gute Tat, wobei jede Handlung eine Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten impliziert.

Allerdings gibt es den willensschwachen Menschen, der wider sein besseres Wissen handelt. Er handelt unter dem Einfluss von starken Begierden. Das kontemplative Leben des Geistes und das Leben der sittlichen Tüchtigkeit sind die beiden Ziele des glücklichen Lebens. Der Kontemplative betrachtet zeitlose Wahrheiten und übersteigt damit seine Endlichkeit. Doch die Wissenschaft sucht immer nach dem gut begründeten Wissen. Wenn unser Verstand bestimmte Gegenstände erfasst, dann erfasst er sich gleichzeitig immer auch selbst.

Mit dieser Konzeption ist Aristoteles zum großen Anreger der antiken Naturforschung geworden. Er hat das Wissen seiner Zeit über die Natur gesammelt und weiterentwickelt. Für ihn sind wir Menschen gesellige Wesen (zoon politikon), deswegen brauchen wir das Leben in der Gemeinschaft. Im Staat soll mit den vernünftigen und bestmöglichen Gesetzen regiert werden, doch ideale politische Verhältnisse sind für uns nie erreichbar.

Anton Grabner-Haider

AVICENNA

(Abū ‘Alī Al-usain Ibn ‘Abdullāh Ibn Sīnā Al-Qānūnī)

980–1037

Die Wissenschaft kenne noch keinen großen Lehrer außer ihm selbst, schrieb Abū ‘Alī al-usain ibn ‘Abdullāh ibn Sīnā al-Qānūnī in einem seiner selbstverfassten Gedichte. Wie Galen einige Jahrhunderte zuvor hatte der Heilkundige augenscheinlich keine Zweifel an seinen herausragenden Fähigkeiten. Dennoch dürfte er wohl kaum geahnt haben, dass sein Werk unter dem latinisierten Namen Avicenna weit über den Orient hinaus die Medizin und Philosophie des mittelalterlichen Abendlandes prägen und er selbst viele Jahrhunderte später gar eine Hauptrolle in Noah Gordons Bestseller-Roman Der Medicus spielen sollte.

Dank seiner überlieferten Autobiografie sind wir verhältnismäßig gut über den Werdegang des Avicenna unterrichtet. Seinen Ausführungen zufolge stammte sein Vater aus Balh, von wo er nach Buchara übersiedelte und in Diensten des Emirs als Verwaltungsbeamter wirkte. Bald darauf heiratete Avicennas Vater und ließ sich mit seiner Frau in dem Dorf Afšana nahe Buchara im heutigen Usbekistan nieder. Dort wurde Avicenna als erstes Kind im Jahre 980 geboren. Nach der Geburt des Bruders siedelte die junge Familie nach Buchara über, wo zur Ausbildung der Knaben Lehrer zur Unterweisung im Koran und in der schönen Literatur bestellt wurden. Seinen eigenen Worten zufolge beherrschte Avicenna den Koran und viele Texte der schöngeistigen Literatur schon im Alter von zehn Jahren so gut, dass er seine Umwelt mit seinem herausragenden Wissen beeindruckte. In den folgenden Jahren eignete sich der junge Avicenna einen universalen Wissensschatz an, der auch die Medizin mit einschloss. Als einer seiner Lehrer erscheint al-Qumrī, der Leibarzt des Emirs Mansūr ibn Nūh. Angesichts seiner hohen Selbsteinschätzung verwundert es nicht, in seiner Autobiographie zu lesen, die Medizin gehöre nicht zu den schweren Wissenschaften. Innerhalb kürzester Zeit habe er darin so brilliert, dass tüchtige Heilkundige sich von ihm unterrichten ließen. Zu dieser Zeit war Avicenna 16 Jahre alt! Um Kranke habe er sich gekümmert, fährt er in seinem Bericht fort, und dabei wertvolle Einsichten in die Behandlungsmethoden gewonnen.

Streicht man die Übertreibungen aus seinem Werk heraus, erscheint Avicenna noch immer als ein offenbar außergewöhnlich talentierter Heilkundiger. Noch in jungen Jahren wurde er zu ärztlichen Konsultationen bei Hof hinzugezogen. Nach dem Ableben des Vaters erbte er dessen stattliches Vermögen. Eine Zeit der Wanderschaft begann, die den Gelehrten an verschiedene Höfe bringen sollte. Dort wirkte er in politischen Ämtern, als Astronom und Arzt. Im Jahre 1015 wurde er Wesir am Hof des Emirs Šams ad-Daula in Hamadan, nachdem er diesen bei einer schweren Kolik behandelt hatte. Doch sollte Avicenna das Amt nicht lange bekleiden. Das Heer war offenbar unzufrieden mit dem neuen Wesir und rebellierte. Avicenna wurde verhaftet und sein Haus geplündert. Als Hamadan nur wenig später durch die Truppen des Emirs von Isfahan eingenommen wurde, gelang es dem klugen Taktiker Avicenna sein Leben zu retten. Eine erneute Kolik Šams ad-Daula war für ihn die glückliche Fügung, in Ehren wieder aufgenommen und in seinem Amt als Wesir bestätigt zu werden.

Die nächsten Jahre verliefen weniger turbulent, und so fand der Gelehrte ausreichend Zeit sich um die Abfassung wissenschaftlicher Werke zu kümmern. Zur Zerstreuung pflegte er einen ausschweifenden Lebenswandel zwischen Wein, Tafelfreuden und Gesang. Als Šams ad-Daula im Jahre 1021 auf einem Kriegszug abermals von Koliken heimgesucht wurde, vermochte auch Avicenna sein Leben nicht mehr zu retten. Nachdem er nicht in die Dienste von Šams ad-Daulas Sohn und Nachfolger treten wollte, tauchte der Heilkundige einige Zeit in Hamadan unter und bereitete seinen Wechsel an den Hof des verfeindeten Emirs von Isfahan vor. Dort sollte er die letzten Jahre seines Lebens verbringen. Im Jahre 1037 starb er auf einem Feldzug seines neuen Herrn, des Emirs ›Alā‹ ad-Daula.

Avicennas medizinisches Hauptwerk unter dem arabischen Titel Al-Qānūn fī -ibb, was wörtlich etwa soviel wie »Grundregel der Gesundheit« bedeutet, avancierte im Orient wie im Abendland für Jahrhunderte zu einem medizinischen Standardwerk. In Toledo durch Gerhard von Cremona († 1187) erstmals ins Lateinische übersetzt, überflügelte der Canon medicinae alsbald den Liber Regius des Haly Abbas (Mitte des 10. Jh.). Die beiden ersten Bücher des umfangreichen Werkes behandeln Anatomie, Physiologie und Arzneimittellehre. Im dritten Buch sind nach galenischem Schema die Krankheiten von Kopf bis Fuß sowie die Empfehlungen zu deren Behandlung aufgeführt. Das vierte Buch gilt der Fieberlehre, das fünfte und letzte schließlich den Heilmitteln. Dem Verfasser kam es darauf an, mit seinem Werk eine systematische und untergliederte Übersicht zu präsentieren, die sich in besonderem Maße für den medizinischen Unterricht eignete. Trotz der hohen Bedeutung des Werkes für die Entwicklung der mittelalterlichen Medizin fehlt erstaunlicherweise eine moderne kritische und kommentierte Textedition. Bei der punktuellen wissenschaftshistorischen Untersuchung von Avicennas Ausführungen zur Augenheilkunde stellte sich heraus, dass dieser große Textmengen wortwörtlich von Galen übernommen hat. Die eigenen Erfahrungen und Beobachtungen, die Avicenna dem Text hinzufügen wollte, sind nach dem Zeugnis eines seiner Schüler verloren gegangen.

Kay P. Jankrift

HILDEGARD VON BINGEN

1098–1179

Hildegard von Bingen gehörte im 12. Jahrhundert zu den meistbeachteten Persönlichkeiten der Kirchenwelt.

Die Eltern von Hildegard waren Hildebert und Mechthild von Bermersheim bei Alzey in Rheinhessen. Schon als kleines Mädchen verhielt sie sich oft sonderlich, und die Eltern brachten die Achtjährige der Nonne Jutta von Spanheim in die Frauenklause auf dem Disibodenberg. Dort erkannten die Nonnen bald, dass Hildegard regelmäßig Visionen hatte. Mit etwa fünfzehn Jahren legte das Mädchen das Gelübde des Ordens der Benediktinerinnen ab. Sie studierte die Schriften des Alten und Neuen Testaments und wurde sehr geprägt durch Liturgie und Stundengebet. Die Arbeit im Kräutergarten gefiel ihr aber ebenso.

1136 wählten die Frauen sie zur Magistra, zur Leiterin der zum Konvent angewachsenen Frauengemeinschaft. Trotz des erheblichen Widerstands der Benediktinermönche wurde unter Hildegard von Bingen zwischen 1147 und 1152 der Bau des Frauenklosters auf dem Rupertsberg bei Bingen vorangetrieben. Hildegard wollte die innere geistliche Unabhängigkeit wahren, sich nach außen von den adeligen Schutzherren befreien und das Kloster dem Erzbischof von Mainz unterstellen. 1152 weihte Erzbischof Heinrich I. von Mainz die große dreischiffige Kirche. Der Mönch Wibert von Gembloux, später Hildegards hochgebildeter Sekretär, äußerte sich 1177 sehr lobend über das Kloster. Er berichtete von einer wunderbaren Harmonie: »Die Mutter umfängt ihre Töchter mit solcher Liebe … An Werktagen widmen sie sich in geeigneten Räumen dem Abschreiben von Büchern, dem Anfertigen von liturgischen Gewändern oder anderen Hausarbeiten …«

Zu dem Kloster zogen »Prozessionen« von Hilfesuchenden aus Deutschland, Frankreich und Flandern. Menschen aller Stände holten sich Rat bei der Äbtissin. Sie pflegte einen regen Briefwechsel mit drei Päpsten, der heute noch mit 300 erhaltenen Dokumenten belegt ist, sowie mit den Bischöfen von Mainz bis Prag, mit Herrschern und vielen Laien. In der nahe dem Rupertsberg gelegenen Pfalz Ingelheim erwartete 1154 Kaiser Friedrich Barbarossa die Äbtissin. Nichts ist über das vertrauliche Gespräch der beiden bekannt geworden. Verbürgt sind Briefe, in denen Hildegard den Kaiser zunächst mit freundschaftlichen, später mit scharfen Formulierungen an seine Pflicht ermahnte.

Ordo virtutum