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MIGRATIONSLAND SCHWEIZ – 15 Vorschläge für die Zukunft – Christine Abbt (Hg.) Johan Rochel (Hg.) – HIER UND JETZT

INHALT

Einleitung

CHRISTINE ABBT, JOHAN ROCHEL

VORSCHLAG 1

Demokratische Rechte auf Nicht-Staatsbürger ausweiten

WALTER LEIMGRUBER

VORSCHLAG 2

Kein Stimmrecht – trotzdem mitstimmen

JOACHIM BLATTER, CLEMENS HAUSER, SONJA WYRSCH

VORSCHLAG 3

Loyalität erhöhen durch doppelte Staatsbürgerschaft

ANDREA SCHLENKER

VORSCHLAG 4

Eine dynamische Schutzklausel entwickeln

MICHAEL AMBÜHL, SIBYLLE ZÜRCHER

VORSCHLAG 5

Asylrecht und Grenzschutz auf Europa abstimmen

SARAH PROGIN-THEUERKAUF

VORSCHLAG 6

Die rechtliche Stellung der Sans-Papiers verbessern

MARTINA CARONI

VORSCHLAG 7

Das individuelle Potenzial von Asylsuchenden wahrnehmen

CONSTANTIN HRUSCHKA

VORSCHLAG 8

Migrationswege für Flüchtlinge legalisieren

MARGIT OSTERLOH, BRUNO S. FREY

VORSCHLAG 9

Migration mit einer Gebühr schrittweise liberalisieren

STEFAN SCHLEGEL, PHILIPP LUTZ, DAVID KAUFMANN

VORSCHLAG 10

Das Land für Hochqualifizierte attraktiv machen

RETO FÖLLMI, TIMO B. DÄHLER

VORSCHLAG 11

Migration als demografischen Ausgleichsfaktor nutzen

PHILIPPE WANNER

VORSCHLAG 12

Die Anerkennung von Berufsqualifikationen vereinfachen

MARGARITE HELENA ZOETEWEIJ

VORSCHLAG 13

Eine Grundannahme der Migrationsdebatte aufgeben

ANNA GOPPEL

VORSCHLAG 14

Die Errungenschaften der offenen Gesellschaft verteidigen

KATJA GENTINETTA

VORSCHLAG 15

Trau dich, Schweiz

AMINA ABDULKADIR

Einleitung

CHRISTINE ABBT, JOHAN ROCHEL

Ab Januar 2017, wenn in der Schweiz das neue Markenschutzgesetz in Kraft tritt,1 wird aus einer italienischen Kuh ohne Probleme, blitzschnell, eine Schweizer Kuh. Bedingung dafür ist, dass die Kuh die Schweizer Grenze ordentlich passiert. Ist dieser Schritt vollzogen, wird aus dem italienischen Tier ein einheimisches, das nach dem Übertritt unmittelbar «Schweizer» Käse produzieren kann. Was in Bezug auf Tiere in naher Zukunft reibungslos funktionieren wird, eben der problemlose Wechsel nationalstaatlicher Zugehörigkeit, vollzieht sich bei Personen offenkundig nicht im selben Mass unproblematisch. Ein- und Auswanderung, Niederlassung und Bürgerrecht, aber teilweise auch schon die Durchreise durch das Land sind in der Schweiz und auch international über anspruchsvolle Verfahren organisiert. Dass Waren, Dienstleistungen, Ideen, Tiere und Pflanzen heute einfacher durch die Welt zirkulieren als Menschen, ist nicht selbstverständlich. Noch bis ins 20. Jahrhundert war es zumindest in Teilen Europas andersherum. Personen konnten sich relativ frei durch unterschiedliche Gebiete bewegen. Die Waren allerdings wurden besteuert und mussten entsprechend verzollt werden. Statt Menschen wurden damals vor allem Warengüter geschmuggelt. Heute wird der jährliche Umsatz von Menschenschmugglern, sogenannten Schleppern, auf Hunderte von Millionen Franken geschätzt.2

Zurück zur heutigen Schweiz, zum Land der Berge, Uhren, Schokolade, der exzellenten Bildung, des starken Frankens, der humanitären Tradition; zur Schweiz als Beispiel für gelebten Föderalismus, direkte Demokratie, innovative Nachhaltigkeit, eines gelingenden Zusammenspiels und Nebeneinanders von technologischem Fortschritt, kultureller Innovation, verankerten Grundrechten und traditionsreichem Heimatschutz. Bei genauerer Betrachtung ist die Schweiz in all den erwähnten Belangen vor allem ein Land des regen Austauschs, ein Land der Zu-, Ein-, Durch- und Auswanderung, ein Migrationsland eben.

Aktuell lässt sich für die Schweiz als Migrationsland ein bemerkenswertes Bild ausmachen. Einerseits ist die öffentliche Diskussion stark geprägt von der Vorstellung der Schweiz als Zuwanderungsland. Insbesondere die Geflüchteten aus Syrien und anderen Ländern prägen die Debatte. Tatsächlich sind laut Angaben des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR 65 Millionen Menschen auf der Flucht, davon zwei Drittel im eigenen Land.3 Jeder Einzelne ist ein Individuum mit einer Geschichte, mit familiären Beziehungen, Angst vor Verletzung und Tod, Hoffnung auf ein besseres Leben sowie berechtigtem Anspruch auf Schutz vor Krieg und Verfolgung. Angesichts der vielen Personen, die seit einigen Jahren nun schon fliehen müssen und auf Aufnahme in einem sicheren Land hoffen, steht auch die Schweiz in der Pflicht.

Migration betrifft heute darüber hinaus jedoch sehr viel mehr Menschen. 232 Millionen sind laut der Uno gegenwärtig international als Migrantinnen und Migranten zu registrieren; das sind all jene Menschen, die sich seit mehr als zwölf Monaten ausserhalb der Grenzen jenes Landes befinden, in dem sie geboren worden sind.4 Diese Zahl ist gemäss den Statistiken seit 1960 stabil bei drei Prozent der Weltbevölkerung.5 Darunter fallen, mit Blick auf die Schweiz, auch jene Personen, die sich dazu entschliessen, die Schweiz zu verlassen, um sich an einem anderen Ort niederzulassen. In den letzten Jahren hat diese Zahl der Auswanderungen aus der Schweiz kontinuierlich zugenommen.6 Zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung lebt gegenwärtig im Ausland.7 Diese sogenannte Fünfte Schweiz der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer umfasst mehr als 700 000 Bürger. Dass heute sogar ein Mitglied des Nationalrats offiziell seit Jahren in Berlin lebt und von dort jeweils zu den Sessionen anreist und danach wieder nach Deutschland heimkehrt, mag nur ein Indiz für die offene, weltverbundene, in Europa fest verankerte Schweiz sein, aber es ist eines.8 Dem unverstellten Blick zeigen sich unschwer viele weitere.

MOBILITÄT ALS FAKTUM UND TREIBENDE KRAFT

Die Grenzen der Schweiz waren stets durchlässig und Gegenstand von Aushandlungsprozessen. Die Menschen, die sich zwischen den Koordinaten der geografischen oder politischen Schweiz begegneten, bewiesen in unterschiedlichen Konstellationen immer wieder die Fähigkeit zur Adaption an neue Bedingungen, manchmal taten sie dies sogar fragwürdig wendig. Voraussetzung dazu war und ist die Bereitschaft und Fähigkeit, unvoreingenommen miteinander zu reden und in intensiver Auseinandersetzung gemeinsam nach tragfähigen – und das bedeutet für alle tragbaren – Lösungen für Gegenwart und Zukunft zu suchen. Das Eigeninteresse ist stets zusammen mit den Interessen anderer Beteiligter zu konzipieren und zu verfolgen. «Wenn wir zusammenspannen, sind wir stärker», könnte das politische Motto der Schweiz lauten. Denn in vielen Fällen haben die Bewohnerinnen und Bewohner Mitteleuropas dies getan und die besten Ideen unabhängig von ihrer jeweiligen Herkunft übernommen und in den Alltag integriert. Bei gewissen Gerichten wie etwa Spätzle, Kebab, Sushi oder Pizza scheint uns die nationale Herkunft noch einigermassen klar bestimmbar zu sein, obwohl es auch hier schnell einmal zu Täuschungen und Fehlzuordnungen kommen kann.9 Wer aber brachte in Schweizer Landen zum ersten Mal den Dill zum Lachs? Welcher Gedanke wurde an welcher Stelle der Welt zum ersten Mal gedacht? Wodurch war er inspiriert und wer war mit dabei? Die Frage nach dem Ursprung von Entwicklungen führt in ein schwer durchschaubares Geflecht aus Zusammenhängen. Aus dem permanenten Prozess von Austausch, Verständigung und Vernetzung unterschiedlicher Interessen ergeben sich immer wieder modifiziert konkrete, gerechte und effiziente Entscheidungen. Auf den Schultern von Riesen fragen wir schelmisch: «Wer hats erfunden?».

Die Schweizer! Natürlich. Bleibt die Frage, wer damit gemeint ist. Wer gehört dazu, wer nicht, wer bringt was ein, wer gestaltet wie mit, wer belastet, wer beglückt, ab wann und für wie lange? Hannah Arendt macht in «Wir Flüchtlinge» darauf aufmerksam, dass es bei Migrationsbewegungen keine klaren Grenzen gibt zwischen denen, die schon da sind, und denen die kommen, um zu bleiben; zwischen denen, die weggehen, und denen, die nur kurz zu Besuch sind.10 Es ist eine Fiktion, davon auszugehen, dass neue Umstände nur die einen betreffen und die anderen nicht. Vielmehr sind alle schon längst mittendrin und mit dabei, sich umzustellen, anzupassen, einzurichten und zu verändern, wenn noch darüber verhandelt oder lamentiert wird, dass die Bereitschaft zur Veränderung fehle. Dass sich die Dinge fortlaufend wandeln, können wir nicht verhindern. Es bleibt nicht alles beim Alten, ob wir das erfreulich finden oder nicht. Die Frage, die wir beantworten müssen, lautet, welche Veränderung wünschbar und wie das Gewünschte umzusetzen ist. Übertragen auf Migration bedeutet es, dass wir die nationale, regionale und internationale Mobilität gleichzeitig als Faktum unserer Welt und als treibende Kraft von tiefgreifenden Umwandlungen anerkennen und uns der Frage zuwenden müssen, wie wir diese Prozesse intelligent und fair gestalten können.

MUT ZUM UMDENKEN

Das vorliegende Buch fragt nach konkreten Vorschlägen für eine offene, wohlwollende und prosperierende Schweiz. Es mischt sich damit ein in einen Diskurs über Migration, der heute ebenso von Ängsten und Befürchtungen geprägt ist wie von Idealisierung. Der Diskurs über Zuwanderung ist in vieler Hinsicht blockiert. Die Meinungen sind gemacht. Für sachliche Argumente, objektive Informationen oder neue Ideen gibt es wenig Spielraum. Um aus dieser diskursiven Sackgasse herauszukommen, braucht es einen Schritt zurück oder einen zur Seite, vermutlich sogar einen Sprung über den eigenen Schatten. Wir müssen uns zuerst von den vielen «Frames» lösen, die unsere Denkweise prägen. Wie der Linguist George Lakoff aufzeigte, wirken solche überwiegend unbewusst vermittelten Basisvorstellungen auf unsere Wahrnehmung der Realität, indem sie gewisse Eigenschaften stärker in den Fokus nehmen und andere verschwinden lassen.11 Ob wir es wollen oder nicht, wir setzen uns bestimmte Brillen auf, um die Realität überhaupt wahrnehmen zu können. Der Prozess des «Framing» bringt oft eine Metapher hervor, die allein einen grossen Teil der Realität zu erklären vermag. Die Schweiz sei ein «Boot», die Mobilität eine «Welle», das Land ein «Zu-Hause». Diese sprachlichen Bilder sind mächtig, sie prägen unsere Realität und wie wir sie wahrnehmen.

«Frames» gehören zur Sprache, zur Kommunikation. Sie bilden unser Vokabular, um Herausforderungen zu identifizieren und Ansätze zu formulieren. Um den Möglichkeiten des Migrationslands Schweiz gerecht zu werden, sollten wir den Sprachgebrauch kritisch hinterfragen. Wie wäre es, wenn wir jegliche wasserbasierten Analogien in der Migrationspolitik wie Fluss, Welle, Überschwemmung oder Tsunami konsequent in Frage stellten? Würden wir langsam anfangen, anders, und vermutlich angemessener, über Mobilität zu diskutieren?

Voraussetzung für dieses Umdenken ist Mut. Es braucht politischen Mut, um auf zu einfache Muster zu verzichten und konstruktiv an Lösungen zu arbeiten. Es braucht den Mut aus der Wissenschaft, sich dem öffentlichen Diskurs zu widmen. Erkenntnisse sind erst dann gesellschaftlich nützlich, wenn sie von einer Vielfalt engagierter Akteurinnen und Akteure weitergetragen werden. Und es braucht vor allem Mut von uns allen, die wir am Projekt Schweiz und am Projekt Weltgemeinschaft teilnehmen. Alle sind aufgefordert, aus ihrer Komfortzone rauszugehen, sich zu erklären und auf andere Meinungen einzugehen.

ANGEMESSENE, TRAGFÄHIGE UND TRAGBARE LÖSUNGSANSÄTZE

Dieses Buch leistet einen Beitrag zu dieser Debattenkultur. Es versammelt Stimmen, die möglichst unaufgeregt, eigenständig und zuversichtlich Antworten entwickeln. Wie lässt sich die Schweiz im Hinblick auf Migration zukunftsfähig gestalten? Was ist zu tun, um die humanitäre Tradition und das Interesse an Prosperität wirksam zu verbinden und die Schweiz weiterhin als solidarische und starke zu verwirklichen? In diesem Buch machen Personen aus Wissenschaft, Kultur und Politik Vorschläge. Ausgehend von ihrer Kenntnis, ihrer Forschung und Erfahrung formulieren sie in ihren Essays konstruktive Standpunkte und konkret umsetzbare Handlungsmöglichkeiten. Dabei sind sich die Autorinnen und Autoren nicht in jedem Fall einig. Manche Vorschläge stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, einzelne widersprechen sich sogar. Was die hier versammelten Texte verbindet, ist der Versuch, auf aktuell drängende Probleme angemessene, tragfähige und möglichst für alle tragbare Lösungen zu finden.

Das ist der gemeinsame Nenner der am Buch Mitwirkenden: der Wille, zusammen möglichst frei von Dogmen, Programmen und Vorurteilen nach Lösungen zu suchen, die Grausamkeit und Leid reduzieren und Freiheit, Zuverlässigkeit, Wachstum und Solidarität stärken. Diese minimale und hier nur allgemein skizzierte gemeinsame Grundlage legen wir den Leserinnen und Lesern mit diesem Band zur kritischen Prüfung vor, in 15, teils divergierenden Konkretisierungen. Wir möchten an dieser Stelle einen 16., im Titel nicht genannten, aber für eine zukunftsfähige und offene Schweiz in unseren Augen unverzichtbaren Vorschlag ergänzen: Jeder ernsthaft vorgebrachte Beitrag zur Lösung sollte wohlwollend geprüft und in die Lösungsfindung miteinbezogen werden.

Vor wenigen Jahren noch schien es zum Beispiel wenig realistisch, für Sans-Papiers eine deutliche Verbesserung ihres rechtlichen Status zu erreichen. Wie kann jemand, der sich nicht legal an einem Ort aufhält, trotzdem seine Grundrechte geltend machen? Wie lässt sich der Widerspruch zwischen international verankertem Menschenrecht und nationalstaatlich organisierter Durchsetzung von Recht und Gesetz in Einklang bringen? Wie kann verhindert werden, dass sich Schweizer Staatsbürger auf Kosten anderer ungeschoren bereichern, diese ausnehmen, vergewaltigen, erpressen? Immer wieder suchten Engagierte weltweit nach juristischen und politischen Lösungen für den für die Betroffenen und die gesamte Gesellschaft unhaltbaren Zustand. Seit 2015 gibt es nun in New York das Pilotprojekt «Urban Citizenship».12 Die Stadtbehörde stellt den Bewohnerinnen und Bewohnern eine Art Identitätskarte aus, die einen juristischen Status gewährleistet. Für viele Menschen in New York verbessern sich damit die Sicherheit und Lebensqualität massgebend.13 Für die gesamte Stadtbevölkerung ist es zudem gut, wenn sich niemand folgenlos auf Kosten anderer bereichern kann, indem Rechtsgleichheit durchgesetzt wird. Ein zukunftsweisendes Projekt – und eine politische Inspiration, die bis in die Schweizer Städte ausstrahlt.14 Um vergleichbare Ansätze geht es in den nachfolgenden Essays, die sich bei aller sonstigen Verschiedenheit in Bezug auf das Vertrauen in die Überzeugungskraft guter Gründe und die Plausibilität allgemein nachweisbarer Fakten ähnlich sind.

In manchen Teilen der Gesellschaft wird im Zusammenhang mit Migration öffentlich vorwiegend im Modus des Imperativs gesprochen. «Ausländer raus!», «Grenzen zu!», «Haut ab!». Diese Art des Sprechens verweigert sich offensichtlich einer Kommunikation zwischen Personen auf Augenhöhe. Der Andere ist in dieser Form bereits erledigt. Das Gespräch, öffentlich oder privat, wird als überflüssig denunziert. Aber auch dort, wo der Dialog oder die Debatte über Migrationsfragen zustande kommt, wird auffallend oft im Modus des Negativen gesprochen. Auf der einen Seite heisst es: «Sie dürfen nicht kommen!», «Sie integrieren sich nicht!», «Sie sprechen kein Deutsch!», «Sie dürfen uns die Arbeitsplätze und Wohnungen nicht wegnehmen!». Auf der anderen Seite ist zu vernehmen: «Wir dürfen keine Mauern bauen!», «Wir respektieren sie zu wenig!», «Wir bieten den Ankommenden keine Unterstützung!», «Wir behandeln Flüchtlinge nicht wie Menschen!». Dieser negativen Sprechweise setzt der vorliegende Band eine möglichst positive entgegen. Von Interesse ist weniger, was nicht getan werden darf oder was unmöglich ist. Von Interesse ist das Mögliche und Machbare. Es geht um Sichtweisen und Ideen, die aufzeigen, was unvoreingenommen betrachtet getan werden kann und soll, zum Wohle möglichst aller.

DEN SINN FÜR DAS POLITISCH MÖGLICHE SCHÄRFEN

Was sollen wir tun? Diese Frage stellen sich Politiker häufig. Auch als Bürgerinnen und Bürger sind wir damit konfrontiert. Forschende haben sich mit dieser Frage ebenfalls auseinandergesetzt. Sie sind ständig auf der Suche nach besseren Erklärungen, Hypothesen, Modellen, um der Realität gerecht zu werden. Ihre Forschung liefert auch Antworten auf die Frage, was getan werden soll. Nur werden diese Antworten selten direkt ins Politische übersetzt. Einerseits sind die Forscherinnen und Forscher ihrerseits an diesem Dialog nicht immer interessiert und sehen häufig keinen Anreiz, daran teilzunehmen. Auf der anderen Seite neigen die politischen Entscheidungsträger oft dazu, solide Erkenntnisse der Wissenschaft ausser Acht zu lassen. Dieser verpasste Dialog äussert sich in vieler Hinsicht nachteilig und verursacht nicht zuletzt Kosten für die Gesamtgesellschaft. Wenn Ökonomen beispielsweise darlegen können, dass die einzelnen Stücke des gemeinsamen Kuchens nicht zwingend kleiner werden, wenn mehr Leute am Tisch sitzen und mitessen, weil nämlich der ganze Kuchen auch grösser wird, wenn mehr Leute mitbacken, dann liefern diese ökonomischen Ergebnisse durchaus Anhaltspunkte für eine Politik der Öffnung.15 Oder wenn Philosophen überzeugend nachweisen können, dass die Argumentation für eine restriktive Zuwanderung systematische Parallelen aufweist zur Argumentation der feudalen Oberschicht gegenüber Forderungen nach politischer Partizipation im 18. Jahrhundert, dann hat das durchaus aktuelle Implikationen.16 Oder wenn ein Team von Politikwissenschaftlern empirisch belegt, dass ein erfolgreiches Einbürgerungsverfahren die Bereitschaft, sich zu engagieren, massiv erhöht, dann könnten daraus konkrete politische Schlüsse gezogen werden.17 Diese fundierte Kenntnis kann ebenso öffentliche Relevanz beanspruchen wie etwa die Ergebnisse einer soziologischen Erhebung, die ergibt, dass der Grad an Selbstdiskriminierung ausländischer Jugendlicher und junger Erwachsener stark mit deren beruflichen Chancen korreliert.18 Der Sinn für das politisch Mögliche wird geschärft, wenn ein Historiker zeigen kann, dass die sympathischen Nachbarn von heute die unerwünschten Zuwanderer von damals sind,19 oder wenn ein Künstler mit seiner Installation einen Raum so zu verwandeln vermag, dass aus einem gefährlichen Spielplatz im Problemquartier ein belebter Ort der Begegnung und des Zusammenseins resultiert.20 Der Einbezug von Erfahrung, Wissen, Reflexion, Kreativität, Sprachvermögen und Risikobereitschaft ist zentral für Forschung und Innovation. Er ist unverzichtbar und orientierend auch für die Politik und für die Debattenkultur eines Landes.

Die Autorinnen und Autoren dieses Buches tragen zu dieser Debattenkultur bei. Sie analysieren Problemfelder und zeigen Handlungsmöglichkeiten auf. Sie formulieren 15 Vorschläge für die Zukunft und richten sich damit fragend und zum Gespräch einladend an alle.

Christine Abbt ist SNF-Förderprofessorin für Philosophie an der Universität Luzern. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Demokratietheorie und Kulturphilosophie. Johan Rochel ist Assoziiertes Mitglied des Ethik-Zentrums der Universität Zürich, Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen, Vizepräsident des Think-Tanks foraus – Forum Aussenpolitik und Gründer des Projekts «Ethik in Action».

VORSCHLAG 1

Demokratische Rechte auf Nicht-Staatsbürger ausweiten

WALTER LEIMGRUBER

Spricht man mit Auslandschweizerinnen und -schweizern, bekommt man in der Regel dezidierte Meinungen zur Schweiz zu hören. Manche sind schon seit vielen Jahren ausgewandert, andere erst seit kurzem, manche besuchen das Land regelmässig und unterhalten intensive Kontakte, andere beobachten es eher aus der Ferne und mit Hilfe verschiedener Medien. Aber kaum jemanden lässt sein Herkunftsland kalt. Die Meinungen dazu sind vielfältig, sehr häufig differenziert. Meist werden die gleichen positiven Punkte herausgestrichen: die Stabilität und Zuverlässigkeit, die demokratischen Rechte, die gute und nicht ruinös teure Ausbildung. Und in fast ebenso vielen Fällen kommen ähnliche Kritikpunkte: Das Land sei zu sehr auf sich selbst fokussiert, nehme die Chancen in einer sich wandelnden Welt zu wenig wahr, sehe die Möglichkeiten nicht, die sich gerade auch dank der weltweiten Community von Schweizerinnen und Schweizern bieten. Mehr Mut, mehr Offenheit wünschen sich viele Auslandschweizerinnen und -schweizer von ihrem Herkunftsland. Das sind einige erste Resultate von zwei Forschungsprojekten zur Auswanderung aus der Schweiz, die am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel durchgeführt werden und die unter anderem Interviews mit rund 150 Auswanderinnen und Auswanderern in zehn Staaten beinhalten.

Über 760 000 Personen, das sind mehr als zehn Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer, leben im Ausland. Nicht alle sind selbst emigriert, viele Familien leben seit Generationen nicht mehr in der Schweiz. Seit Anfang der 1990er-Jahre verlassen jährlich 70 000 bis 110 000 Personen das Land, davon sind knapp ein Drittel Schweizer Staatsangehörige. Deren Wanderungssaldo ist seit vielen Jahren negativ, das heisst, es wandern mehr Schweizer Bürgerinnen und Bürger aus als ein.1 Diese Auswanderung findet politisch und medial praktisch keine Beachtung. Migration ist zwar ein Dauerthema, aber nur in die eine Richtung; Auswanderer scheinen nicht zu interessieren. Natürlich gibt es aber doch die eine oder andere Aktivität: Die Politik verbessert die Beteiligungsmöglichkeiten für Auslandschweizer, indem sie elektronische Abstimmungen fördert, gelegentlich beschäftigt sich das Parlament mit der freiwilligen AHV oder einem anderen Problem, ab und zu hält ein Bundesrat eine Ansprache an einer Versammlung der Auslandschweizer-Organisation (ASO) und lobt die Verbundenheit der Ausgewanderten mit der Schweiz. Aber verglichen mit der Aufmerksamkeit für die Einwanderung ist Auswanderung kein Thema.

Dabei sind die Verbindungen zwischen den beiden vielfältig: Wer aus der Schweiz auswandert, öffnet Raum für Einwandernde, und wer von hier weggeht, ist anderswo ein Einwanderer, also ähnlichen Rahmenbedingungen ausgesetzt wie die Immigrantinnen und Immigranten, die in die Schweiz kommen. Ein Blick auf die Auswandernden dürfte daher auch in Bezug auf die Einwandernden aufschlussreich sein. Und beide Gruppen gehören zum Phänomen der Globalisierung, die durch eine zunehmende Mobilität von Gütern, Finanzen, Ideen und eben auch Menschen gekennzeichnet ist. Was passiert mit der Politik, wenn immer mehr Menschen mobil werden und nicht mehr dort leben, wo sie geboren sind oder wo sie ihre Staatsbürgerschaft besitzen? Und was bedeutet es für das politische System, das bisher auf den einzelnen Staat ausgerichtet war, sowie speziell für die Demokratie als das zentrale politische Element unseres politischen Systems?

CITOYENNETÉ

Die Auslandschweizerinnen und -schweizer sind oftmals Ausländer in den Ländern, in denen sie leben. Viele haben sich aber auch dort einbürgern lassen, besitzen zwei oder mehr Pässe. Die Gründe für die eine oder andere Entscheidung sind vielfältig, aber in aller Regel sehr pragmatisch. Ein zweiter Pass ist hilfreich, unterstützt meine Karriere, lässt mich am Leben am neuen Ort besser teilhaben, wird etwa gesagt. Der zweite Pass hat wenig Einfluss auf das Verhältnis zum Herkunftsland. Diesem verdankt man etwas, diesem bleibt man verbunden – und sei es nur als möglicher Rückzugsort, wenn sonst alles schiefgehen sollte.

Ganz selbstverständlich nehmen die Auslandschweizerinnen und -schweizer aber auch am politischen und gesellschaftlichen Leben im neuen Land teil, die einen aktiver, die anderen weniger, wie das auch bei den Schweizern im eigenen Land der Fall ist. In den meisten Fällen erhalten sie das neue Bürgerrecht sehr viel schneller im Vergleich zu Ausländern in der Schweiz, und sie finden das gerechtfertigt; nach einigen Jahren Leben vor Ort gehöre man dazu, argumentieren sie.

Die Auslandschweizerinnen und -schweizer sind ein gutes Beispiel dafür, welche Bedeutung politische Rechte für Migrantinnen und Migranten haben können. Man wandert ja nicht aus, um anderswo abseitszustehen, sondern um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Zu diesem Leben gehört eine gesellschaftliche Teilhabe, die aus vielen Facetten, auch einer politischen, besteht. Im Französischen gibt es einen schönen Ausdruck für diese Art von Teilhabe: «citoyenneté». Ein «citoyen» ist nicht einfach jemand, der zufällig und ohne sein Zutun Bürger eines Landes ist, sondern jemand, der sich kümmert. Die Gesellschaft und der Staat werden nach dieser Sicht getragen von den «citoyens» und «citoyennes», die mit ihrer Haltung und ihrem Engagement die Gesellschaft und den Staat erst ausmachen. «Citoyenneté» ist eine Form der Partizipation, die nicht an einen besonderen legalen Status gebunden sein muss; vielmehr soll jeder und jede im Rahmen der Legalität das Spektrum der Rechte und Handlungsmöglichkeiten in Anspruch nehmen. Diese stark von der französischen Aufklärung geprägte Sicht ist in der Westschweiz stärker verankert als in der Deutschschweiz, die eher in der deutschen Tradition der kulturellen Zugehörigkeit steht.

Die Auslandschweizerinnen und -schweizer sind häufig «citoyens» und «citoyennes», und zwar von zwei Staaten. Sie kümmern sich nach wie vor um die Belange ihres Herkunftslands – was Bundesräte in entsprechenden Feiern auch gerne positiv herausstreichen –, setzen sich aber auch für die Belange in ihrer neuen Heimat ein. Kann man sich in und für zwei Staaten und Gesellschaften engagieren? Man kann, wie viele Beispiele zeigen. Bei manchen Menschen ist gerade das Erfahren dieser Vielfalt Ausgangspunkt einer intensiven Auseinandersetzung mit der Gesellschaft. Der «citoyen» und die «citoyenne», die um die Möglichkeiten der Welt wissen, wissen auch, wie sehr es auf jeden Einzelnen ankommt.

Sehen wir uns einmal die Entwicklungen dieser Vielfalt hierzulande anhand von ein paar Fakten an:

– Der Anteil der Ausländerinnen und Ausländer nimmt zu, gegenwärtig liegt er bei einem Viertel der Bevölkerung.

– Die Verflechtung auf allen Ebenen – Wirtschaft, Technik, Kultur, Kommunikation – ist enorm. Konzernchefs wie auch Arbeitskräfte werden global rekrutiert und eingesetzt. Die Bindung der Wirtschaft an den Nationalstaat ist bisweilen kaum mehr vorhanden. Der Unterschied zum Zustand noch vor einer Generation, der von einer engen Verflechtung dieser Ebenen geprägt war, ist enorm. Die globale Verflechtung führt offenbar zur Entflechtung der einzelnen gesellschaftlichen Ebenen.

– Fast die Hälfte der Eheschliessungen ist binational, bald sind in jedem zweiten Haushalt zwei oder mehr Pässe vorhanden.

Generell ist eine Transnationalisierung des Lebensstils festzustellen, eine Verbundenheit mit zwei und mehr Ländern, aus denen Teile der Familie stammen, mit denen man soziale oder wirtschaftliche Beziehungen pflegt, in denen man sich kulturell verankert fühlt. Die Menschen werden «multilokal» oder «ortspolygam», bauen sich soziale Netze auf, die sich über die Staaten hinweg aufspannen.2 In der Regel dominiert daher auch ein pragmatisches Verhältnis zu Staatsbürgerschaften.

Doppelte Staatsbürgerschaften erfahren durch diese Entwicklung politisch zunehmend Anerkennung. Lange Zeit war der Widerstand dagegen heftig. Vor allem Auswanderungsländer fördern aber inzwischen die doppelte Staatsbürgerschaft, weil sie befürchten, sonst die Verbindung zu ihren ausgewanderten Bürgerinnen und Bürgern zu verlieren. Immer intensiver pflegen sie die Beziehungen zu ihren Auswanderern, gründen sogar eigene Ministerien. In diversen Ländern sind Ausland-Staatsangehörige mit eigenen Sitzen in den Parlamenten vertreten. Man spricht von einer «extraterritorialen Staatsbürgerschaft». Wäre auch das Umgekehrte denkbar? Sitze für Ausländer im Parlament der Einwanderungsstaaten auf der Basis einer allgemeinen «citoyenneté»?

Globalisierung, Interdependenz und Transnationalisierung vervielfältigen also die staatlichen Zugehörigkeiten. Entsprechend müssen wir die politischen Rechte neu denken, nicht mehr bloss national ausgerichtet, sondern vernetzt: Die Menschen, die hier leben, sind immer häufiger auch Bürger oder Beteiligte anderer staatlicher Systeme, während viele Menschen mit Schweizer Pass nicht hier leben und ebenfalls Teil anderer Einheiten sind. Diese verschiedenen Systeme wirken aufeinander ein. Wenn ein Auswanderungsstaat mit viel Aufwand versucht, seine ausgewanderten Bürger an sich zu binden und ihnen Beteiligung, Schutz, auch Zugehörigkeit anbietet, wir hingegen nichts dergleichen tun: Wohin wendet sich die betroffene Person, von wem fühlt sie sich ernst genommen, identitätsmässig bestätigt? Wir beteiligen uns zunehmend an einer Art internationalem Schaulaufen, einem Schaulaufen, von dem wir annehmen können, dass wir gute Startbedingungen haben, da unser politisches System, davon sind wir überzeugt, attraktiv ist. Aber dies zu sagen, genügt nicht mehr: Wir müssen die Menschen abholen, um sie in dieses angeblich attraktive System zu integrieren.

In der Westschweiz sieht man diese Zusammenhänge deutlicher. Es ist deshalb kein Zufall, dass Westschweizer Kantone das Stimm- und Wahlrecht für Ausländer auf lokaler und einzelne sogar auf kantonaler Ebene verankert haben. Doch es geht nicht nur um das Stimm- und Wahlrecht. Ein «citoyen» ist nicht einfach eine Person, die zur Urne geht. Sie kümmert sich auf vielfältige Art und Weise um ihr Umfeld und ihre Mitwelt. Ihr politisches und gesellschaftliches Engagement fällt nicht einfach vom Himmel. Es wird ausgelöst durch Erfahrungen, angefangen bei den Diskussionen am familiären Esstisch über die staatspolitische Bildung in den Schulen bis hin zu ganz konkreten Ereignissen, die gerade bei jungen Menschen entscheidend dafür sind, ob sie sich beteiligen oder nicht. «Citoyens» müssen also geformt werden. Wir aber gehen davon aus, dass Ausländerinnen und Ausländer sich aus allen politischen Geschäften heraushalten, um sich nach zehn oder zwölf Jahren einbürgern zu lassen und ab diesem Zeitpunkt die Rolle des engagierten Bürgers zu spielen. Offensichtlich herrscht die Auffassung, das Engagement würde bei der Übergabe des roten Passes vom Himmel fallen wie die Gesetzestafeln bei Moses. Diese Vorstellung, dass man sich ein Jahrzehnt lang abstinent verhalten kann und soll, um danach voller Begeisterung politisch zu partizipieren, ist naiv. Das Engagement muss reifen wie ein Schweizer Käse. Aus einem Eunuchen wird kaum ein guter Liebhaber.

BREITE TEILHABE – BREITER NUTZEN

Daher ist es nötig, politische Teilhabe offener und breiter zu denken. «Citoyenneté» heisst das Programm der Eidgenössischen Migrationskommission (EKM),3 mit dem in den letzten Jahren rund 60 Projekte unterstützt wurden, die darauf hinzielen, politische Beteiligungsmöglichkeiten auszuloten, zugänglich zu machen und möglichst breite Bevölkerungsschichten unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft in politische Prozesse einzubeziehen.

Die Gesellschaft bietet heute grundsätzlich viele Möglichkeiten der Partizipation: Man wird Mitglied in Vereinen, man arbeitet freiwillig in Institutionen, man tut mit in Schul- oder Gemeindekommissionen, in denen häufig keine Beschränkungen bezüglich nationaler Zugehörigkeit bestehen. All dies geschieht auch, doch in viel zu kleinem Ausmass. Die Gründe dafür sind das Unwissen der Einen und die Untätigkeit der Anderen: Viele, die in die Schweiz einwandern, kennen die Mechanismen der Gesellschaft zu wenig, weil es in ihren Herkunftsländern anders läuft. Die wesentliche Rolle von Vereinen etwa ist eine schweizerische Eigenheit, die vielerorts fehlt. Die demokratischen Mitsprache- und Mitgestaltungsrechte sind oft nicht markiert als offen für alle, sondern werden in der Wahrnehmung der Menschen automatisch mit der Staatszugehörigkeit verbunden.

Die Einheimischen ihrerseits tun wenig dafür, das Wissen um das Funktionieren dieser Gesellschaft zu vermitteln. Einerseits ist es ihnen so vertraut, dass sie gar nicht realisieren, dass es anderen unvertraut ist, andererseits gehen sie von einer Hol-, nicht von einer Bringschuld aus: Sie sind der Ansicht, die anderen müssten sich halt informieren. Das ist aber im feinmaschigen Netz schweizerischer Assoziierungen gar nicht so einfach. Man braucht ein grosses Wissen, um herauszufinden, wo man mittun kann, welche Kommission neu bestellt wird. Hier wäre der erste Ansatzpunkt für die Herausbildung von «citoyenneté» auch der Zugewanderten: Es gilt, diesen unser System zu erklären und sie in unser politisches Netzwerk einzuführen, so wie wir damals am Mittagstisch, in der Schule, am Arbeitsort eingeführt worden sind.

«Warum sollen wir das alles tun, was bringt uns das?», lautet eine häufige Frage zu dieser Aufforderung. Der erste Grund für eine breite politische Partizipation ist ein ganz praktischer: Ohne dieses Einbinden möglichst vieler Bewohnerinnen und Bewohner wird das System Schaden nehmen. Wenn immer mehr Leute abseitsstehen, wenn immer mehr Menschen sich nicht für die allgemeinen Belange interessieren und engagieren, ist ein politisches System, das derart föderalistisch, partizipativ und subsidiär wie das schweizerische aufgebaut ist, nicht mehr funktionsfähig. Wir brauchen die Köpfe und Ideen von möglichst vielen Bewohnerinnen und Bewohnern, um all die Aufgaben zwischen Vereinen, Institutionen, Schulen, Kommissionen, Gemeinderäten, kantonalen Interessensorganisationen und gesamtschweizerischen Verbänden bewältigen zu können. Schon heute klagen viele Gemeinden darüber, dass sie kaum noch Personen finden für ihre Ämter; Vereine und gemeinnützige Organisationen sehen sich mit Mitgliederschwund konfrontiert.

Hier gilt es aktiv zu werden: Gemeinden, Verbände, Kantone sollten alle Bewohnerinnen und Bewohner ohne Schweizer Pass ansprechen und sie über die Möglichkeiten der Partizipation in verschiedenen Gremien informieren. Sie sollten Veranstaltungen organisieren, um die Interessierten in die Funktionsweise der Institutionen einzuführen, und sie sollten sie aktiv ermutigen, sich zu engagieren und sich für Ämter und Aufgaben zu bewerben.4 Viele Menschen, die seit langem hier leben, sind mit der Funktionsweise von Gemeinden, Ämtern und Organisationen wenig vertraut, weil sie sie nie wirklich kennengelernt haben. Angebote, die staatsbürgerliches Wissen anschaulich und praxisnah vermitteln, könnten hier Abhilfe schaffen. Auch in den Schulen müsste der staatsbürgerliche Unterricht wieder eine grössere Rolle spielen.

Neben diesen eher pragmatischen Gründen für eine politische Einbindung der Migrantinnen und Migranten gibt es aber auch prinzipielle. Es stellt sich die Frage, ob ein politisches System, in dem grosse Teile der Bevölkerung von der Mitsprache ausgeschlossen sind, als Demokratie bezeichnet werden kann. Aktuell ist gut ein Viertel der Bevölkerung ohne politische Rechte. Gibt es eine Grenze, ab der eine Gesellschaft nicht mehr als demokratisch bezeichnet werden kann? Dazu liegen meines Wissens keine Arbeiten vor, die eine Zahl liefern würden. Aber demokratietheoretisch lässt sich kaum begründen, dass wesentlichen Teilen der Bevölkerung entsprechende Rechte vorbehalten werden. Demokratie basiert auf einer universalistischen Logik, nationalstaatliche Zugehörigkeit hingegen auf einer exkludierenden. Hier liegt ein wesentlicher Widerspruch nationalstaatlicher Demokratie, der sich mit der zunehmenden Mobilität immer grösserer Gruppen stärker akzentuiert.

Die demokratische Entwicklungsgeschichte der Schweiz ist in dieser Hinsicht aufschlussreich, denn sie ist geprägt vom langwierigen, aber doch erfolgreichen Einschluss immer weiterer Gruppen. Waren in einer frühen Phase nur Männer, die an einem Ort über Heimatrechte und über einen Mindestbesitz verfügten, mitspracheberechtigt, weitete sich dies mit der Zeit auf alle erwachsenen Männer aus.1848 waren allerdings die nichtchristlichen Männer, das hiess damals praktisch ausschliesslich Männer jüdischen Glaubens, noch ausgeschlossen; sie wurden erst 1866 (auf Druck Frankreichs) als Bürger anerkannt. Es dauerte in der Schweiz dann überaus lange, bis die weibliche Hälfte der Bevölkerung integriert wurde, wie wir wissen (es waren übrigens auch hier die Westschweizer Kantone, die als erste die Trendwende vollzogen).

Seit 1975, vier Jahre nach dem Frauenstimmrecht, dürfen auch Auslandschweizerinnen und -schweizer stimmen und wählen. Bis zur Briefwahl konnten das aber nur wenige wirklich nutzen. Der Bundesrat hatte sich lange gegen diese Möglichkeit gewehrt, weil er sonst auch Ausländern in der Schweiz gleiche Rechte hätte zugestehen müssen. Daher wurde die Briefwahl erst 1989 eingeführt. Seither können Ausländerinnen und Ausländer auch hierzulande an Wahlen ihrer Heimatländer teilnehmen, seit 1994 auch direkt in Botschaften und Konsulaten.

Schliesslich hat man auch die Altersgrenzen verschoben, um jüngeren Menschen die Partizipation zu ermöglichen: 1997 wurde das Stimm- und Wahlrechtsalter auf 18 Jahre gesenkt.

Ein weiteres Argument für ein ausgeweitetes Stimmrecht liegt in der Erfahrung, dass eine breit abgestützte Entscheidungsfindung eine Gesellschaft friktionsärmer, im Idealfall harmonischer funktionieren lässt. Fehlende Partizipation von immer grösseren Gruppen wird die Demokratie mit der Zeit beeinträchtigen, weil diese Gruppen anfangen, ihre Interessen auf andere Art durchzusetzen und weil innerhalb des Systems Partikulärinteressen die Oberhand gewinnen. Im Extremfall entstehen Parallelgesellschaften, wie wir sie aus anderen Ländern bereits kennen, mit all ihren verheerenden Folgen. Politische Partizipation möglichst aller, die von Entscheiden betroffen sind, ist also kein Gnadenakt für diejenigen, denen die Mitsprache gewährt wird – und sie war es auch 1975 nicht für die Frauen, wie im Wahlkampf vor der Abstimmung oft behauptet wurde. Vielmehr ist politische Partizipation möglichst aller von direktem Interesse für das Staatswesen und die Gesellschaft.

Übrigens ist es interessant, dass gegen die politische Partizipation von Ausländern häufig die gleichen Vorbehalte vorgebracht werden wie damals bei den Frauen. Widerspricht es auch dem Naturell der Ausländer, sich politisch zu betätigen, wie es damals von den Frauen behauptet wurde? Sind auch sie, wie damals die Frauen, so zufrieden mit dem Staat und der Gesellschaft, dass sie gar kein Interesse an einer Mitsprache haben? Sind sie einfach nur auf Arbeit und Verdienst, auf Freizeit und Konsum aus wie die Frauen damals angeblich auf Kinder, Küche und Kirche konzentriert waren? Ein weiteres häufig wiederkehrendes Argument besagt, die Zeit sei noch nicht reif dafür. Auch beim Frauenstimmrecht wurde immer wieder bemerkt, die Zeit sei noch nicht reif. Wann genau wäre sie bei den Frauen reif gewesen? Vermutlich etwa hundert Jahre vor der tatsächlichen Einführung.

WELCHE RECHTE FÜR WEN, WELCHE MITSPRACHE FÜR WEN?

Die bürgerlichen Rechte, die politischen Rechte und die sozialen Rechte bildeten seit dem Beginn des Sozialstaats die Trias der staatlichen Zugehörigkeit, erklärte Thomas H. Marshall in seinem berühmten, 1950 publizierten Essay.5