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Die Evolution des menschlichen Moralbewußtseins gehört zu den großen Rätseln der Wissenschaft. Es hat die Phantasie von Generationen von Forschern beflügelt, zahlreiche Theorien liegen auf dem Tisch, aber die Frage »Woher kommt die Moral?« ist nach wie vor offen. In Fortschreibung seiner faszinierenden Naturgeschichte des Menschen legt nun Michael Tomasello eine Antwort vor.

 Gestützt auf jahrzehntelange empirische Forschungen, rekonstruiert er die Entstehung des einzigartigen menschlichen Sinns für Werte und Normen als einen zweistufigen Prozeß. Dieser beginnt vor einigen hunderttausend Jahren, als die frühen Menschen gemeinsame Sache machen mußten, um zu überleben; und er endet beim modernen, ultrakooperativen homo sapiens sapiens, der beides besitzt: eine Moralität der zweiten Person, die unseren Umgang mit dem je einzelnen Gegenüber prägt, und eine gruppenbezogene »objektive« Moral, die sagt, was hier bei »uns« als gut oder gerecht gilt.

 In der Tradition von Mead, Kohlberg und Piaget zeigt Tomasello außerdem, wie sich die individuelle Moralentwicklung in einer bereits normengesättigten Welt vollzieht. Und so ist Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral der derzeit wohl umfassendste Versuch zu verstehen, wie wir das geworden sind, was nur wir sind: genuin moralische Wesen.

 

 

Michael Tomasello, geboren 1950, ist Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und leitet dort das Wolfgang-Köhler-Primaten-Forschungszentrum. Für seine Forschungen wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jean-Nicod-Preis, dem Hegel-Preis der Stadt Stuttgart und dem Max-Planck-Forschungspreis. 2015 erhielt er für sein Gesamtwerk den prestigeträchtigen Distinguished Scientific Contribution Award der American Psychological Association.

 

Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt erschienen:

Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition (stw 1827), Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation (2009 und stw 2004), Warum wir kooperieren (eu 36) und Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens (2014).

 

 

Michael Tomasello

   EINE NATURGESCHICHTE DER   
MENSCHLICHEN MORAL

Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder

SUHRKAMP

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.

 

Titel der Originalausgabe:

A Natural History of Human Morality

Die Originalausgabe in englischer Sprache, die dieser Übersetzung zugrunde liegt, erschien erstmals 2016 bei Harvard University Press

 

Copyright © 2016 by the President and Fellows of Harvard College

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© 2016 by the President and Fellows of Harvard College

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eISBN 978-3-518-74822-0

www.suhrkamp.de

 

 




Für Chiara, Leo, Anya und Rita

Inhalt

Vorwort

1 Die Interdependenzhypothese

2 Die Evolution der Kooperation

Grundlagen der Kooperation

Kooperation bei Menschenaffen

Verwandtschafts- und freundschaftsbasierte Prosozialität

3 Zweitpersonale Moral

Zusammenarbeit und Hilfe

Gemeinsame Intentionalität

Zweitpersonales Handeln

Gemeinsame Verpflichtung

Das ursprüngliche »Sollen«

4 »Objektive« Moral

Kultur und Loyalität

Kollektive Intentionalität

Kulturelles Handeln

Moralische Selbststeuerung

Das ursprünglich Richtige und Falsche

Koda: Nach dem Garten Eden

5 Menschliche Moral als Kooperation-plus

Theorien der Evolution der Moral

Geteilte Intentionalität und Moral

Die Rolle der Ontogenese

 

Schluß

 

Anmerkungen

Literatur

Register

 

 

Vorwort

Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral ist das Pendant zu meinem Buch von 2014 Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens. Die parallelen Titel sind deshalb sachgerecht, weil ich in beiden Bänden dieselbe zweistufige Abfolge der Evolution des menschlichen Soziallebens vorschlage: zuerst neue Formen der Zusammenarbeit und dann neue Formen der Kulturgestaltung. Im ersten Band versuchte ich, die für die Spezies einzigartigen Weisen des Denkens auszubuchstabieren, die aus diesen neuen Formen des Gesellschaftslebens entstanden. Im vorliegenden Buch versuche ich nun zu erläutern, wie diese neuen Formen des Gesellschaftslebens die Art und Weise strukturierten, in der Frühmenschen sich an moralischen Handlungen beteiligten, die ihre eigenen Interessen den Interessen anderer entweder unterordneten oder sie als diesen gleichwertig behandelten, und sich dazu sogar ein Stück weit verpflichtet fühlten. Diese moralische Einstellung oder Haltung behielt – und behält – bei den tatsächlichen Entscheidungen von Einzelpersonen natürlich nicht durchweg die Oberhand, aber sie macht diese Entscheidungen, wie auch immer sie ausfallen mögen, zu moralischen Entscheidungen.

Ich habe meine Gedanken für dieses Buch in etwa im Laufe der letzten fünf Jahre gesammelt, wobei am Anfang ein Seminar über die Entwicklung der menschlichen Kooperation stand, das ich im Herbst 2009 hier am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie abhielt, woran sich ein ähnliches Seminar über die Entwicklung der menschlichen Moral im Winter 2012/2013 anschloß. Viele interessante und fruchtbare Diskussionen in diesen Seminaren haben mein Denken über diese Themen bedeutend geformt, und ich danke all jenen, die daran teilnahmen. Außerdem hatte ich in derselben Zeit eine Reihe sehr hilfreicher Diskussionen mit Sebastian Rödl, der mir bei einigen schwierigen philosophischen Begriffen half.

Darüber hinaus las eine Reihe von Leuten frühere Manuskriptfassungen und lieferte sehr hilfreiche Kommentare dazu. Insbesondere wurde die eine oder andere Fassung von Ivan Cabrera, Robert Hepach, Patricia Kanngiesser, Christian Kietzmann, Berislav Marusic, Cathal O'Madagain und Marco Schmidt gelesen. Ich danke ihnen allen für ihre äußerst hilfreichen Kommentare und Vorschläge. Besonders danken möchte ich Neil Roughley und Jan Engelmann, die sich mit mir und dem Manuskript besonders tiefgehend und mehrmals auseinandersetzten. Mit Sicherheit ist der Text aufgrund all ihrer Kenntnisse viel schlüssiger geworden. Außerdem danke ich Andrew Kinney, Richard Joyce und einem anonymen Gutachter von Harvard University Press für ihre Kommentare zum Manuskript.

Schließlich gebührt wie auch schon beim ersten Band meine tiefste Dankbarkeit Rita Svetlova, mit der ich ausführlich die wichtigsten Ideen besprochen habe – und andere, bei denen sie mir half, sie fahren zu lassen –, was dem Endprodukt sehr zugute kam. Ich widme dieses Buch ihr und unseren Kindern.

1
Die Interdependenzhypothese

 

Die Verpflichtungen, die uns mit der Gesellschaft verbinden, sind nur wegen ihrer Gegenseitigkeit zwingend; ihr Wesen ist, daß man bei ihrer Erfüllung nicht für andere arbeiten kann, ohne für sich selbst zu arbeiten.

JEAN-JACQUES ROUSSEAU, Der Gesellschaftsvertrag

 

Kooperation tritt in der Natur in zwei grundlegenden Formen auf: als altruistische Hilfe, bei der eine Person zugunsten einer anderen Person Opfer bringt, und als wechselseitige Zusammenarbeit, bei der alle Beteiligten gewisse Vorteile haben. Die einzigartig menschliche Variante der Kooperation, die wir als Moral kennen, tritt in der Natur in zwei analogen Formen auf. Einerseits kann eine Person Opfer bringen, um einer anderen Person zu helfen, und dies auf der Grundlage solcher selbstloser Motive wie Mitgefühl, Anteilnahme und Wohlwollen. Andererseits können miteinander interagierende Personen nach einer Möglichkeit suchen, damit alle einen ausgeglicheneren Nutzen haben, und zwar auf der Grundlage solcher unparteiischer Motive wie Fairneß, Billigkeit und Gerechtigkeit. Viele klassische Schilderungen in der Moralphilosophie erfassen diesen Unterschied, indem sie ein Wohltätigkeitsmotiv (das Gute) mit einem Gerechtigkeitsmotiv (das Richtige) kontrastieren; und viele moderne Darstellungen fassen den Unterschied, indem sie eine Moral des Mitgefühls einer Moral der Fairneß entgegensetzen.

Die Moral des Mitgefühls ist am grundlegendsten, da die Sorge um das Wohlergehen anderer die notwendige Bedingung alles Moralischen ist. Die evolutionäre Quelle der mitfühlenden Anteilnahme besteht mit größter Sicherheit in der elterlichen Fürsorge für die Nachkommen, die auf der Verwandtschaftsselektion beruht. Bei Säugetieren bedeutet das alles mögliche, von der Versorgung der eigenen Nachkommen mit Nahrung durch Säugen bzw. Stillen – was durch das »Liebeshormon« von Säugetieren, Oxytocin, reguliert wird – bis zu deren Schutz vor Raubtieren und anderen Gefahren. In diesem Sinne zeigen im Grunde alle Säugetiere eine mitfühlende Anteilnahme, zumindest für ihre Nachkommen, aber bei manchen Arten auch für ausgewählte Gruppen, die nicht zu ihren Verwandten gehören. Im allgemeinen ist der Ausdruck des Mitgefühls relativ unkompliziert. Es mag zwar eine gewisse kognitive Komplexität bei der Bestimmung geben, was für die eigenen Nachkommen oder andere gut ist, aber sobald das entschieden ist, ist Hilfe eben Hilfe, wobei der einzige ernsthafte Konflikt darin besteht, ob das Mitgefühl, das den Hilfeakt motiviert, stark genug ist, um irgendwelche eigennützigen Motive, die außerdem noch beteiligt sind, zu überwinden. Hilfeakte, die durch mitfühlende Anteilnahme motiviert sind, sind frei vollzogene, altruistische Akte und werden in ihrer reinsten Form nicht von einem Gefühl der Pflicht begleitet.

Im Gegensatz dazu ist die Moral der Fairneß weder ebenso grundlegend noch ebenso unkompliziert – außerdem mag sie durchaus auf die menschliche Spezies beschränkt sein. Das Grundproblem besteht darin, daß es in Situationen, die Fairneß verlangen, typischerweise eine komplexe Interaktion zwischen kooperationsbezogenen und wettbewerbsorientierten Motiven mehrerer Individuen gibt. Der Versuch, fair zu sein, bedeutet, daß man versucht, ein gewisses Gleichgewicht zwischen all diesen Motiven herzustellen, und um dies zu bewerkstelligen, gibt es normalerweise viele Möglichkeiten, die auf vielen verschiedenen Kriterien beruhen. Menschen treten somit in solche komplexen Situationen ein mit der Bereitschaft, moralische Urteile darüber ins Feld zu führen, was die beteiligten Personen, einschließlich sie selbst, »verdienen«,1 aber sie sind auch zugleich mit stärker auf Strafe bezogenen moralischen Einstellungen gegenüber unfairen anderen bewaffnet, beispielsweise Groll oder Empörung. Darüber hinaus besitzen sie noch andere moralische Einstellungen, die zwar nicht gerade strafbezogen sind, aber doch streng, durch die sie danach trachten, Interaktionspartner für ihre Handlungen rechenschaftspflichtig zu machen, indem sie sich auf zwischenmenschliche Urteile von Verantwortlichkeit, Verpflichtung, Verbindlichkeit, Vertrauen, Respekt, Schuldigkeit, Tadel und Schuld berufen. Die Moral der Fairneß ist daher viel komplizierter als die Moral des Mitgefühls. Außerdem, und wahrscheinlich damit zusammenhängend, führen ihre Urteile typischerweise ein Gefühl der Verantwortlichkeit oder Pflicht mit sich: Es ist nicht nur so, daß ich allen Beteiligten gegenüber fair sein will, sondern es ist auch so, daß man allen Beteiligten gegenüber fair sein soll. Allgemein gesagt: Das Mitgefühl ist reine Kooperation, wohingegen Fairneß eine Art von Kooperativierung des Wettbewerbs ist, bei der die einzelnen Personen nach ausgewogenen Lösungen für die vielen und miteinander im Konflikt stehenden Ansprüche suchen, die sich aus den verschiedenartigen Motiven mehrerer Beteiligter ergeben.

Unser Ziel in diesem Buch besteht darin, eine evolutionäre Erklärung für die Entstehung der menschlichen Moral zu liefern, und zwar sowohl in puncto Mitgefühl als auch in puncto Fairneß. Wir gehen von der Annahme aus, daß die menschliche Moral eine Form der Kooperation ist, insbesondere diejenige Form, die entstand, als Menschen sich an neue und für die Spezies einzigartige Formen der sozialen Interaktion und Organisation angepaßt haben. Weil Homo sapiens ein ultrakooperativer Primat ist und vermutlich auch der einzige moralische, nehmen wir weiter an, daß die menschliche Moral ebenjene einzigartigen artspezifischen und proximalen Mechanismen umfaßt – psychologische Prozesse der Kognition, sozialen Interaktion und Selbstregulation –, die es den Menschen ermöglichen, in ihren besonders kooperativen sozialen Arrangements zu überleben und zu gedeihen. Vor dem Hintergrund dieser Annahmen besteht unser Versuch in diesem Buch darin, erstens auf der Grundlage experimenteller Forschung so detailliert wie möglich anzugeben, wie die Kooperation von Menschen sich von der Kooperation ihrer nächsten Primatenverwandten unterscheidet; und zweitens ein plausibles evolutionäres Szenario dafür zu entwerfen, wie eine solche einzigartige menschliche Kooperation die menschliche Moral hervorbrachte.

Der Ausgangspunkt sind nichtmenschliche Primaten, insbesondere die nächsten lebenden Verwandten der Menschen, die Menschenaffen. Wie bei allen sozialen Spezies sind Menschenaffen, die in derselben sozialen Gruppe leben, im Hinblick auf ihr Überleben voneinander abhängig – sie sind interdependent (Roberts, 2005) –, und deshalb ist es für sie sinnvoll, einander zu helfen und füreinander zu sorgen. Außerdem formen Menschenaffen wie viele Primatenspezies langfristige prosoziale Beziehungen zu spezifischen anderen Angehörigen ihrer Gruppe. In manchen Fällen bestehen diese Beziehungen zu Verwandten, aber in anderen bestehen sie zu nichtverwandten Gruppenmitgliedern oder »Freunden« (Seyfarth und Cheney, 2012). Weil sie ihre biologische Fitness befördern, sind die Individuen von diesen besonderen Beziehungen abhängig, und deshalb investieren sie in sie, indem sie beispielsweise bevorzugt ihre Freunde lausen oder sie beim Kampf unterstützen. Der evolutionäre Ausgangspunkt unserer Naturgeschichte der menschlichen Moral ist daher das prosoziale Verhalten, das Menschenaffen im allgemeinen denen gegenüber zeigen, von denen sie abhängig sind, nämlich gegenüber Verwandten und Freunden. 

Tomasello et al. (2012) liefern eine Darstellung der Evolution der einzigartig menschlichen Kooperation, die sich darauf konzentriert, wie die Frühmenschen von diesem Ausgangspunkt bei den Menschenaffen aus immer stärker im Hinblick auf kooperative Unterstützung voneinander abhängig wurden. Die Interdependenzhypothese – deren grundsätzlichen Rahmen wir hier übernehmen – besagt, daß dieser Vorgang sich in zwei entscheidenden Schritten vollzog, wobei bei beiden neue ökologische Umstände eine Rolle spielen, die die Frühmenschen zu neuen Weisen der sozialen Interaktion und Organisation zwangen: zuerst Zusammenarbeit und dann Kultur. In diesen neuen sozialen Umständen schnitten diejenigen Individuen am besten ab, die diese wechselseitigen Abhängigkeiten erkannten und entsprechend handelten, also eine Art kooperativer Rationalität ausbildeten. Obwohl die Angehörigen vieler Tierarten auf unterschiedliche Weisen voneinander abhängig sind, beruhten die Interdependenzen der Frühmenschen somit auf einem neuen und einzigartigen Repertoire proximaler psychologischer Mechanismen. Diese Mechanismen versetzten die Individuen in die Lage, mit anderen einen pluralen Akteur, ein »wir« zu erzeugen, wie er beispielsweise auftritt, wenn es darum geht, was »wir« tun müssen, um ein Beutetier zu fangen, oder wie »wir« unsere Gruppe gegen andere Gruppen verteidigen sollten. Die zentrale These des vorliegenden Erklärungsversuchs ist, daß es die Fertigkeiten und die Motivation waren, mit anderen ein interdependentes, im Plural handelndes »wir« zu konstruieren – das heißt sich mit anderen an Akten geteilter Intentionalität (Bratman, 1992; 2014; Gilbert, 1990, 2014) zu beteiligen –, die die menschliche Spezies von der strategischen Kooperation zur echten Moral getrieben haben.

Der erste Schritt fand vor Hunderttausenden von Jahren statt, als eine Veränderung der Ökologie die Frühmenschen vor die Alternative stellte, gemeinsam mit einem Partner auf Nahrungssuche zu gehen oder zu verhungern. Diese neue Form der Interdependenz bedeutete, daß die Frühmenschen jetzt ihr Mitgefühl über die Verwandten und Freunde hinaus auf Partner ausdehnten, mit denen sie zusammenarbeiteten. Um ihre gemeinschaftlichen Aktivitäten kognitiv zu koordinieren, entwickelten sie Fertigkeiten und Motivationen einer gemeinsamen Intentionalität, wodurch sie imstande waren, zusammen mit einem Partner ein gemeinsames Ziel zu bilden und gemeinsam mit ihm über Dinge in ihrem persönlichen gemeinsamen Hintergrund Bescheid zu wissen (Tomasello, 2014). Auf der individuellen Ebene hatte jeder Partner bei einer bestimmten gemeinschaftlichen Aktivität (zum Beispiel Antilopen jagen) eine eigene Rolle zu spielen, und im Lauf der Zeit entwickelte sich ein auf den gemeinsamen Hintergrund bezogenes Verständnis der idealen Art und Weise, wie jede Rolle im Sinne des gemeinsamen Erfolgs gespielt werden mußte. Diese Rollenideale des gemeinsamen Hintergrunds kann man sich als die Urform sozial geteilter normativer Standards vorstellen. Diese idealen Standards waren unparteiisch in dem Sinne, daß sie angaben, was jeder Partner, wer auch immer von uns es sein mag, seiner Rolle entsprechend tun muß. Die Unparteilichkeit der Rollenstandards zu erkennen bedeutete zu erkennen, daß man selbst und der andere in dem gemeinschaftlichen Unternehmen eine gleichwertige Stellung und Bedeutung innehaben.

Im Kontext der Partnerwahl, in dem alle Individuen Verhandlungsmacht hatten, führte diese Anerkennung der Gleichwertigkeit von Selbst und anderem dazu, daß sich die Partner gegenseitig respektierten. Und da es für sie entscheidend war, Trittbrettfahrer auszuschließen, entwickelte sich auch die Einsicht, daß nur kollaborative Partner (und keine Trittbrettfahrer) die Beute verdienen. Das Gesamtergebnis war, daß Partner dahin gelangten, einander zu achten, sich als zweitpersonale Handelnde zu betrachten, die gleichermaßen anspruchsberechtigt sind (siehe Darwall, 2006). Sie waren nun in der Position, eine gemeinsame Verpflichtung zur Zusammenarbeit zu bilden (siehe Gilbert, 2003). Der Inhalt einer gemeinsamen Verpflichtung bestand darin, daß jeder Partner sein Rollenideal erfüllen werde und daß beide Partner die legitime Autorität besitzen, den anderen darüber hinaus zurechtzuweisen, falls seine Leistung hinter dem Ideal zurückbleiben sollte. Der Sinn für gegenseitige Achtung und Fairneß im Umgang mit Partnern bei den Frühmenschen entsprang also hauptsächlich einer neuen Art kooperativer Rationalität, bei der es sich als sinnvoll erwies, die eigene Abhängigkeit von einem Kollaborationspartner anzuerkennen – bis hin zu dem Punkt, an dem zumindest ein Teil der Kontrolle über die eigenen Handlungen an das selbstregulierende, durch eine gemeinsame Verpflichtung erzeugte »wir« abgegeben wurde. Dieses »wir« war eine moralische Kraft, weil beide Partner es als legitim betrachteten, da sie es selbst eigens zum Zweck der Selbstregulierung geschaffen hatten, und da beide ihren Partner so sahen, daß er der Zusammenarbeit wirklich würdig war. Sie fühlten sich daher gegenüber dem anderen für den gemeinsamen Erfolg verantwortlich, und sich vor dieser Verantwortung zu drücken bedeutete praktisch, auf die eigene kooperative Identität zu verzichten.

Auf diese Weise erzeugte die Beteiligung an gemeinsamen intentionalen Tätigkeiten – die sowohl die Anerkennung von Partnern als gleichwertige zweitpersonal Handelnde als auch die kooperative Rationalität der Unterordnung des »ich« unter das »wir« im Rahmen einer gemeinsamen Verpflichtung hervorbrachte – eine in evolutionärer Hinsicht neue Form der Moralpsychologie. Diese beruhte nicht auf dem strategischen Vermeiden von Strafe oder Angriffen auf den eigenen Ruf von »denen«, sondern vielmehr auf einem echten Versuch, sich im Einklang mit unserem »wir« tugendhaft zu verhalten. Und so wurde eine normativ konstituierte Gesellschaftsordnung geboren, in der kooperativ rationale Akteure nicht nur darauf achteten, wie Personen tatsächlich handeln, oder darauf, wie ich gerne hätte, daß sie handeln, sondern vielmehr darauf, wie sie handeln sollten, wenn sie einer von »uns« sein wollen. Schließlich lief das Ergebnis all dieser neuen Weisen, sich in gemeinsamen intentionalen Tätigkeiten zu einem Partner in Beziehung zu setzen, für die Frühmenschen auf eine Art natürlicher, zweitpersonaler Moral hinaus.

Der zweite Evolutionsschritt in dieser hypothetischen Naturgeschichte – der mit dem Auftauchen von Homo sapiens sapiens vor etwa 150 ‌000 Jahren begann – wurde von einer sich ändernden Demographie ausgelöst. Als die Gruppen moderner Menschen größer zu werden begannen, spalteten sie sich in kleinere Verbände auf, die auf der Stammesebene immer noch in sich geschlossen waren. Eine Stammesgruppe – nennen wir sie eine Kultur – konkurrierte mit anderen derartigen Gruppen um Ressourcen und funktionierte daher als ein großes, interdependentes »wir«, insofern alle Gruppenmitglieder sich mit ihrer Gruppe identifizierten und ihre arbeitsteiligen Rollen erfüllten, die das Überleben und Wohlergehen der Gruppe zum Ziel hatten. Bei den Mitgliedern einer solchen Kulturgruppe waren daher das Mitgefühl und die Loyalität zu ihren Kulturgenossen auf besondere Weise ausgeprägt, wohingegen sie Außenseiter als Trittbrettfahrer oder Konkurrenten betrachteten, die daher die Vorteile der Kultur nicht verdienten. Um ihre Gruppenaktivitäten kognitiv zu koordinieren und ein gewisses Maß an sozialer Kontrolle in motivationaler Hinsicht zu gewährleisten, entwickelten die modernen Menschen neue kognitive Fertigkeiten und Motive der kollektiven Intentionalität – was die Schaffung kultureller Konventionen, Normen und Institutionen ermöglichte (siehe Searle, 1995) –, die auf einem kulturellen gemeinsamen Hintergrund beruhten. In diesem Sinne konventionelle Kulturpraktiken waren mit Rollenidealen verknüpft, die insofern völlig »objektiv« waren, als jeder innerhalb des kulturellen gemeinsamen Hintergrunds wußte, wie eine beliebige Person, die eine von »uns« wäre, diese Rollen im Hinblick auf den kollektiven Erfolg zu spielen hätte. Sie stellten die richtigen und die falschen Weisen dar, wie man etwas tat.

Im Unterschied zu den Frühmenschen mußten die modernen Menschen ihre größten und bedeutendsten sozialen Verpflichtungen nicht erst schaffen; sie wurden vielmehr in sie hineingeboren. Am wichtigsten ist jedoch, daß die Menschen ihre Handlungen selbst regulieren mußten, und zwar vermittels jener sozialen Normen der Gruppe, deren Verletzung nicht nur von den davon betroffenen Personen getadelt wurde, sondern auch von Dritten. Abweichungen von einer rein konventionellen Praxis signalisierten eine Schwäche des Sinns für kulturelle Identität, aber die Verletzung einer moralischen Norm – die in der zweitpersonalen Moral gründete – signalisierte einen moralischen Verstoß (siehe Nichols, 2004). Moralische Normen wurden als legitim angesehen, weil sich die Person erstens mit der Kultur identifizierte und daher eine Art von Mitverantwortung für sie übernahm und sie zweitens der Ansicht war, daß ihre Kulturgenossen ihre Kooperation verdienten. Mitglieder von Kulturgruppen fühlten sich daher dazu verpflichtet, soziale Normen als Teil ihrer moralischen Identität sowohl zu befolgen als auch durchzusetzen: um zu bleiben, wer man war – in den Augen der moralischen Gemeinschaft und somit auch in den eigenen – , war man gehalten, sich mit den Urteilen über die richtigen und falschen Weisen, die Dinge zu tun, zu identifizieren (siehe Korsgaard, 1996a). Man konnte von diesen Normen nur dann abweichen und dennoch die eigene moralische Identität bewahren, wenn man die Devianz den anderen gegenüber und somit auch vor sich selbst im Sinne der geteilten Werte der moralischen Gemeinschaft rechtfertigte (siehe Scanlon, 1998).

Auf diese Weise erzeugte die Teilnahme am Kulturleben – die sowohl die Erkenntnis hervorbrachte, daß allen Gruppenangehörigen Anerkennung gebührte, als auch das Gefühl, daß die kollektiven Verpflichtungen der Kultur von »uns« für »uns« geschaffen wurden – eine zweite neue Form der Moralpsychologie. Es handelte sich in drei Hinsichten um eine Art vergrößerte Variante der zweitpersonalen Moral der Frühmenschen: die normativen Standards waren völlig »objektiv«, die kollektiven Verpflichtungen waren von allen Gruppenmitgliedern geschaffen worden, und für alle war das Gefühl von Verpflichtung rational im Sinne des Gruppengeistes, insofern es sich aus der eigenen moralischen Identität und der empfundenen Notwendigkeit ableitete, die eigenen moralischen Entscheidungen gegenüber der moralischen Gemeinschaft, sich selbst eingeschlossen, zu rechtfertigen. Am Ende liefen all diese neuen Weisen, in kollektiv strukturierten kulturellen Kontexten zueinander in Beziehung zu treten, für die modernen Menschen auf eine Art von kultureller und von einem Gruppengeist getragener, »objektiver« Moral hinaus.

Eine Folge dieses zweistufigen Evolutionsprozesses jenseits der Menschenaffen – zuerst zur Zusammenarbeit und dann zur Kultur – besteht darin, daß die heutigen Menschen unter dem Einfluß von mindestens drei verschiedenen Arten von Moral stehen. Die erste wird einfach von den kooperativen Neigungen der Menschenaffen im allgemeinen bestimmt und ist um ein besonderes Mitgefühl für Verwandte und Freunde herum organisiert: Wenn die Hütte (oder das Haus) brennt, rette ich als erstes mein Kind oder meinen Ehepartner, und zwar ohne darüber nachdenken zu müssen. Die zweite Art ist eine gemeinsame Moral der Zusammenarbeit, bei der ich spezifische Verantwortlichkeiten in spezifischen Umständen gegenüber spezifischen Individuen habe: Die Person, die ich als nächstes rette, ist diejenige, die mit mir zusammen den Brand bekämpft, mit der ich also gegenwärtig kollaboriere (und mit der ich eine gemeinsame Verpflichtung habe), um das Feuer zu löschen. Die dritte ist eine stärker unpersönliche kollektive Moral kultureller Normen und Institutionen, der zufolge alle Mitglieder der Kulturgruppe gleichermaßen wertvoll sind: Ich rette alle anderen Gruppenmitglieder gleichermaßen und unparteiisch vor dem Unglück (oder vielleicht auch alle anderen Menschen, wenn meine moralische Gemeinschaft die ganze Menschheit ist), wobei ich vielleicht den Verletzlichsten von uns (zum Beispiel Kindern) besondere Aufmerksamkeit widme. Die Koexistenz dieser drei verschiedenen Arten von Moral – moralischen Orientierungen oder Haltungen – ist natürlich alles andere als friedlich. Konflikte zwischen ihnen sind die Quelle vieler der verwirrendsten moralischen Dilemmata, mit denen Menschen konfrontiert sind – sollte ich das Medikament stehlen, um meinen Freund zu retten? Sollte ich mein Versprechen halten, wenn dadurch Schaden für unbekannte andere entsteht? – und für die wir anscheinend keine völlig befriedigenden Lösungen haben (Nagel, 1986). Daß solche unlösbaren Unvereinbarkeiten bei den Diktaten der Moral auftreten, deutet auf eine komplexe und nicht ganz einheitliche Naturgeschichte hin, bei der verschiedenen kooperativen Herausforderungen zu verschiedenen Zeiten auf unterschiedliche Weise begegnet wurde.

Die Möglichkeit, daß Menschen mit mehreren verschiedenen und manchmal inkompatiblen Arten von Moral operieren – und daß diese zumindest teilweise auf Prozesse der natürlichen Selektion zurückgehen –, beschwört das Schreckgespenst herauf, das von vielen nachdenklichen Menschen seit der Zeit Darwins gefürchtet wurde, nämlich daß evolutionäre Erklärungen dazu dienen können, die ganze Idee der Moral zu untergraben. Aber das muß nicht so sein. Der springende Punkt lautet: Die letztendlichen Ursachen von Evolutionsprozessen sind unabhängig von den tatsächlichen Entscheidungsprozessen von Personen, die ihre persönlichen Ziele und Werte verwirklichen wollen. Das Lehrbuchbeispiel hierfür ist Sex, dessen evolutionäre Daseinsberechtigung zwar die Fortpflanzung ist, dessen proximale Motivation jedoch meistens in anderem besteht. Die Tatsache, daß diejenigen Frühmenschen, die sich um das Wohlergehen von anderen sorgten und die andere fair behandelten, die meisten Nachkommen hatten, berührt weder meine eigenen persönlichen moralischen Entscheidungen noch meine Identität. Ich bin zwar nur aufgrund meiner evolutionären, kulturellen und persönlichen Geschichte fähig, die englische Sprache zu sprechen, aber dadurch ist nicht festgelegt, was genau zu sagen ich mich zu einem bestimmten Zeitpunkt entschließe. Aufs Ganze gesehen, sollten wir einfach über die Tatsache staunen, daß moralisches Verhalten für die menschliche Spezies irgendwie richtig ist und zum beispiellosen evolutionären Erfolg der Menschen ebenso beiträgt wie dazu, daß jeder einzelne von uns das Gefühl hat, eine persönliche moralische Identität zu besitzen.

Daher möchte ich mit dieser Apologie im Hintergrund eine Geschichte erzählen, eine Naturgeschichte darüber, wie die menschliche Moral entstand. Sie beginnt bei unseren Menschenaffenvorfahren und ihrem Mitgefühl für Verwandte und Freunde, geht dann über zu gewissen Frühmenschen, die in wechselseitiger Abhängigkeit unter gemeinsamen Verpflichtungen und einem Sinn für die Gleichwertigkeit von Partnern miteinander zusammenzuarbeiten anfingen, um schließlich bei den modernen Menschen mit ihren kulturell konstituierten sozialen Normen und einem objektivierten Sinn für richtig und falsch zu enden.